Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Symbolverzeichnis
1. Einleitung
2. Grundlagen der Prospect Theorie
2.1 Präferenzrelationen
2.2 Nutzenfunktion
2.3 Entscheidungen unter Unsicherheit
2.4 Erwartungsnutzentheorie
2.5 Kritik an der Erwartungsnutzentheorie
2.5.1 Sicherheits- und Möglichkeitseffekt
2.5.2 Spiegelungseffekt
2.5.3 Referenzpunktabhängigkeit
3. Ursprüngliche Formulierung der Prospect Theorie 1979
3.1 Editierungsphase
3.2 Bewertungsphase
3.3 Das viergeteilte Muster
3.4 Formale Kritik an der Prospect Theorie
4. Kumulative Prospect Theorie 1992
4.1 Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion der kumulativen Prospect Theorie
4.2 Verlauf der Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion
4.3 Wahrscheinlichkeitsgewichtung unter Ungewissheit
4.4 Kritik an der (kumulativen) Prospect Theorie
5. Anwendungen der Prospect Theorie
5.1 Endowment-Effekt
5.2 Versicherungswesen
5.3 Dispositionseffekt
5.4 Save More Tomorrow
6. Diskussion
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Beispiel des Unabhängigkeitsaxioms
Abbildung 2: Allais-Paradox
Abbildung 3: Präferenzen bei positiven und negativen Gewinnaussichten
Abbildung 4: Verlauf der Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion
Abbildung 5: Verlauf der Wertfunktion
Abbildung 6: Verlauf der Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktionen
Abbildung 7: Dispositionseffekt
Abbildung 8: Sparquoten mit und ohne Save More Tomorrow
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Sicherheitseffekt
Tabelle 2: Allais-Paradox
Tabelle 3: Framing-Effekt
Tabelle 4:Framing-Effekt
Tabelle 5: Das viergeteilte Muster
Tabelle 6: Verletzung des Dominanzaxioms
Tabelle 7:Bereuen
Tabelle 8: Enttäuschung
Symbolverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Jeden Tag müssen Menschen Entscheidungen treffen, um ihre Ziele zu erreichen oder sich ihrer Umwelt anzupassen. Dabei handelt es sich um die unterschiedlichsten Arten von Entscheidungen. Von alltäglichen Situationen, wie dem Einkauf im Supermarkt und der damit verbundenen Produktauswahl, bis hin zu lebensverändernden Entscheidungen wie der Partner- oder Berufswahl. Neben der Vielzahl möglicher Alternativen ist vor allem Unsicherheit bezüglich zukünftiger Folgen einer Handlungsalternative verantwortlich dafür, dass Menschen Schwierigkeiten damit haben, Entscheidungen zu treffen.[1] So geht beispielsweise die Einführung eines neuen Produkts im Markt normalerweise mit einer hohen Unsicherheit über den Erfolg beim Kunden einher. Ähnlich liegt der Fall eines geschädigten Kunden, der vor Gericht einen Schadenersatz erwirken will. Sichere Aussagen darüber, ob er damit Erfolg haben wird, sind im Vorfeld der Verhandlung meist nicht zu treffen. In komplexen Entscheidungssituationen, in denen die Anzahl der Handlungsalternativen hoch ist und große Unsicherheiten bestehen, gewinnen deshalb Verfahren an Bedeutung, die eine systematische Entscheidungsfindung unterstützen.[2] Ein Modell, das diesen Zweck in den Wirtschaftswissenschaften lange Zeit über erfüllte, stellt die sogenannte Erwartungsnutzentheorie dar. Basierend auf einem streng definierten Rationalitätskonzept, liefert sie Aussagen darüber, wie sich rationale Menschen verhalten sollen, um ihren Nutzen zu maximieren.[3] Dementsprechend trifft die Erwartungsnutzentheorie also normative Aussagen über das Entscheidungsverhalten von Menschen.[4] Bemerkenswerterweise wurde die Erwartungsnutzentheorie jedoch, trotz strenger Verhaltensannahmen, nicht auf ihre normative Aussagekraft beschränkt. Im gleichen Maße wurde ihr im Allgemeinen ebenso eine deskriptive Bedeutung zugesprochen.[5] Neben der Aussage, welche Entscheidung ein rationaler Mensch trifft, wurde mit ihrer Hilfe somit zudem beschrieben, wie sich Menschen in bestimmten Situationen wirklich verhalten bzw. welche intuitiven Entscheidungen sie treffen. Inwiefern die Erwartungsnutzentheorie aber tatsächlich diese deskriptive Rolle einnehmen kann, wurde von den beiden israelischen Psychologen, Daniel Kahneman und Amos Tversky, stark angezweifelt. In Folge ihrer Untersuchungen zu diesem Thema veröffentlichten sie im Jahr 1979 einen Artikel mit dem Titel „Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk", worin sie diese Zweifel untermauerten. Einerseits zeigte ihre Studie, dass die von der Erwartungsnutzentheorie getroffenen Annahmen in Laborexperimenten systematisch verletzt werden, wodurch erhebliche Unterschiede zwischen den Vorhersagen der Erwartungsnutzentheorie und tatsächlich getroffenen Entscheidungen bestehen. Andererseits präsentierten sie ihr eigenes Modell zur Beschreibung von Entscheidungen unter Risiko, die sogenannte Prospect Theorie, in welcher sie die während der Experimente gewonnenen Erkenntnisse mit einfließen ließen, um Entscheidungen realistisch abbilden zu können. Fast vierzig Jahre nach ihrem Erscheinen gilt die Prospect Theorie einschließlich ihrer Erweiterung, die kumulative Prospect Theorie aus dem Jahr 1992, gemeinhin als wichtigster Vertreter deskriptiver Entscheidungstheorien.[6] Ihre Bedeutung spiegelt sich dabei nicht nur in zahlreichen Zitierungen in Fachzeitschriften, sondern auch in der Verleihung des Nobelpreises an Daniel Kahneman im Jahr 2002 wider.
Ein Ziel dieser Arbeit soll sein, die Entwicklung und Wandlung der Prospect Theorie über die Jahre hinweg herauszuarbeiten und Unterschiede zur Erwartungsnutzentheorie zu verdeutlichen. Im Fokus des nachfolgenden zweiten Kapitels steht daher zunächst die Entwicklung eines formalen Grundgerüsts, um anschließend die Funktionsweise der Erwartungsnutzentheorie sowie deren Annahmen erläutern zu können. Inwiefern es in der Realität zu Verletzungen dieser Annahmen kommt, soll ebenfalls Teil dieses Abschnitts sein. Aufbauend darauf wird im dritten Kapitel die Prospect Theorie in ihrer ursprünglichen Fassung aus dem Jahr 1979 vorgestellt. Neben einer detaillierten Analyse der Funktionsweise sowie einer Abgrenzung des Modells zur Erwartungsnutzentheorie soll dabei auch auf formale Kritik am Modell eingegangen werden. In Folge dieser Kritik haben Kahneman und Tversky das ursprüngliche Modell der Prospect Theorie zur kumulativen Prospect Theorie weiterentwickelt. Welche Unterschiede diese Weiterentwicklung aufweist, wird im vierten Kapitel aufgezeigt. Am Ende des vierten Kapitels erfolgt eine Diskussion über bestehende Kritikpunkte an der Prospect Theorie. Dabei soll besonders die Frage im Mittelpunkt stehen, weshalb trotz der Popularität der Prospect Theorie lange Zeit nur relativ wenige ökonomische Anwendungsbeispiele bekannt wurden. Im letzten Kapitel des Hauptteils sollen dann Anwendungsbeispiele vorgestellt und einer kritischen Untersuchung unterzogen werden. Den Abschluss der Arbeit bildet ein Diskussionsteil, in welchem die Ergebnisse zusammengefasst werden und zukünftige Forschungsschwerpunkte der Prospect Theorie erläutert werden.
2. Grundlagen der Prospect Theorie
Ziel dieses Abschnitts ist es, einen Überblick über die wichtigsten Eigenschaften der Erwartungsnutzentheorie zu erhalten. Dazu ist es zunächst erforderlich, ein formales Grundgerüst zu definieren.
2.1 Präferenzrelationen
Steht ein Individuum vor einer Entscheidung, so muss eine Wahl getroffen werden aus der zur Verfügung stehenden Menge an Alternativen. Diese Menge soll im Folgenden mit A bezeichnet werden und besteht aus einer endlichen Anzahl, sich gegenseitig ausschließender Konsequenzen A = {a1,a2, ...,an} [7] Die Wahl einer bestimmten Alternative erfordert, dass sich der Entscheider darüber bewusst ist, welche Handlung er gegenüber den anderen Handlungen bevorzugt. In diesem Zusammenhang spricht man deshalb auch von einer sogenannten „Präferenzrelation“, welche mit á bezeichnet wird.[8] Dementsprechend ist der Ausdruck a > b zu lesen als „a ist wenigstens so gut wie b“. Gilt sowohl a > b als auch b > a, so gilt a ~ b und man spricht von einer Indifferenz zwischen den beiden Alternativen, während eine strikte Präferenz von a gegenüber b vorliegt, wenn a > b.[9] Trifft man nun zwei zusätzliche Annahmen betreffend der Präferenzrelation á, so wird sie als Präferenzordnung bzw. rationale Präferenzrelation bezeichnet.[10] Bei den beiden Annahmen handelt es sich einerseits um Vollständigkeit und andererseits um Transitivität, welche ebenso formal beschrieben werden können.
(i) Vollständigkeit: für jede beliebige Kombination von a, b e A gilt a > b oder a á b (oder beides). Ein Entscheider ist somit in der Lage, für jedes Paar zweier möglicher Alternativen eine Präferenz zu bilden.
(ii) Transitivität: für alle a, b, c e X gilt, wenn a > b und b > c, dann a > c. Ziel dieser Annahme ist es, zirkuläre Präferenzen zu vermeiden. Ein Beispiel dafür ist etwa ein Entscheider, der einen Apfel wenigstens so gut wie eine Banane, die Banane wenigstens so gut wie eine Orange, die Orange jedoch wenigstens so gut wie den Apfel findet.[11]
2.2 Nutzenfunktion
In der wissenschaftlichen Praxis bereitet die Arbeit anhand einer Präferenzrelation á oftmals Schwierigkeiten, da die paarweisen Vergleiche aller Alternativen in Betracht gezogen werden müssen. Um dieses Problem zu umgehen, hat sich deshalb die Verwendung einer „Nutzenfunktion“ durchgesetzt, welche jeder Alternative a eine reelle Zahl zuordnet. Dabei ist dieser Wert genau dann höher als der Wert einer Alternative b, wenn der Entscheider a gegenüber b strikt präferiert.
Nutzenfunktion: Eine Funktion [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] ist eine Nutzenfunktion, welche konsistent mit der Präferenzrelation eines Entscheidungsproblems (A, <) ist, wenn für alle a, b e A gilt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In der Folge können die zugeordneten Werte in aufsteigender Reihenfolge geordnet werden und spiegeln dabei die in der Präferenzrelation festgelegten Präferenzen wider.[12] Im Gegensatz zum paarweisen Vergleich hat dies den Vorteil, dass hierbei nur n reelle Zahlen [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] in Erinnerung behalten werden müssen.
2.3 Entscheidungen unter Unsicherheit
Die bisherige Betrachtung von Entscheidungen basierte auf Entscheidungsproblemen, bei denen die Konsequenzen einer Alternative mit Sicherheit vorhergesagt werden konnten. In der Realität besteht jedoch meist Unsicherheit bezüglich der Auswirkung einer Wahl, weshalb man oft vor Entscheidungen unter Unsicherheit steht. Diese wiederum lassen sich in Entscheidungen unter Risiko und Entscheidungen unter Ungewissheit unterteilen. Während einem Individuum bei Entscheidungen unter Risiko objektive Wahrscheinlichkeiten bekannt sind, mit denen mögliche Konsequenzen einer Alternative eintreten, sind diese bei Entscheidungen unter Ungewissheit nicht bekannt.[13] Analog zum vorhergegangenen Abschnitt lässt sich für Entscheidungen unter Risiko, welche hier im Fokus stehen, eine Menge [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] definieren, die aus der Anzahl möglicher Konsequenzen besteht. Das Konzept der „Lotterie“ wird nun genutzt, um riskante Alternativen abzubilden. Formal beschrieben wird diese mit [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] für alle n.[14] Ein einfaches Beispiel einer Lotterie stellt das Werfen einer Münze dar. Zeigt diese „Kopf“, so verliert man einen Dollar, während „Zahl“ zum Gewinn eines Dollars führt. Ausgedrückt als Lotterie entspricht dies: [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]. Ähnlich wie bei Entscheidungen unter Sicherheit lassen sich die Präferenzen eines Entscheiders bezüglich der Wahl zwischen verschiedenen Lotterien anhand einer Präferenzrelation á beschreiben.
2.4 Erwartungsnutzentheorie
Die im Folgenden beschriebene Erwartungsnutzentheorie basiert in ihren Grundzügen unter anderen auf den Überlegungen des Schweizers Daniel Bernoulli.[15] Axiomatisch begründet wurde sie jedoch von den beiden Wissenschaftlern von Neumann und Morgenstern.[16] Sie definierten dazu mehrere Rationalitätsregeln („Axiome"), denen die Präferenzen eines rationalen Entscheiders gehorchen müssen, um durch die sogenannte Erwartungsnutzenfunktion repräsentierbar zu sein. Da sich ein Großteil der Kritik an der Erwartungsnutzentheorie an drei dieser Axiome festmachen lässt, werden diese hier kurz vorgestellt.[17] Dabei ist zu erwähnen, dass die beiden letzteren Axiome zwar nicht explizit von den beiden Autoren erwähnt wurden, sie jedoch logisch aus anderen getroffenen Annahmen der Erwartungsnutzentheorie folgen.
Axiom 1: Unabhängigkeit
Wenn für zwei Lotterien a > b gilt, so muss auch für alle Lotterien c und die Wahrscheinlichkeiten p e [0,1] gelten:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Dem Unabhängigkeitsaxiom liegt somit die Idee zu Grunde, dass sich die Präferenzen zwischen zwei Lotterien nicht ändern, sofern beide mit einer dritten vermengt werden. Stellt man sich etwa einen Fall vor, in dem ein Entscheider die Lotterie a = (100, 0.5; 0, 0.5) der Lotterie b=(60, 0.7; 10, 0.3) vorzieht, so muss diese Präferenz auch dann gelten, wenn beide Lotterien mit einer beliebigen Wahrscheinlichkeit für Lotterie c=(50,1) verknüpft werden.[18] Ein mögliches Beispiel für eine derartige Verknüpfung zweier Lotterien mit einer dritten (für die Entscheidung irrelevanten) Alternative wird in Abbildung 1 dargestellt, wobei p=0.2 gilt.
Abbildung 1: Beispiel des Unabhängigkeitsaxioms Quelle: Eisen führ und Weber (2003), S. 215
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Axiom 2: Dominanz
Gemäß des Dominanzaxioms muss eine Wahlalternative A der Alternative B vorgezogen werden, wenn sie die Option B dominiert bzw. schwach dominiert. Schwache Dominanz bedeutet hierbei, dass eine Option in mindestens einem möglichen Umweltzustand im Vergleich zur anderen Option strikt präferiert wird und in allen anderen Zuständen mindestens so gut wie die andere Alternative ist. Dominanz wird erreicht, wenn eine Alternative in allen möglichen Umweltzuständen der anderen Alternative vorgezogen wird.[19]
Axiom 3: Invarianz
Laut des Invarianzaxioms werden die Präferenzen eines Entscheiders nicht durch die Art und Weise der Darstellung bzw. Formulierung eines Entscheidungsproblems beeinflusst.[20] Beispielsweise sollten sich die Präferenzen bezüglich des Kaufs eines Produkts nicht ändern, wenn ein angebotener Rabatt unterschiedlich dargestellt wird. Einerseits ist es möglich, diesen als prozentuale Preisreduzierung anzugeben, andererseits kann dies aber auch durch Angabe der absoluten Preisreduzierung geschehen.
Gehorchen die Präferenzen bezüglich riskanter Optionen den beschriebenen Axiomen, so existiert dann eine Erwartungsnutzenfunktion u, mit deren Hilfe der sogenannte Erwartungsnutzen einer Lotterie а = (а1,р1;а2/р2; ап,рп) berechnet werden kann. Dieser ist dabei folgendermaßen definiert:[21]
Der Erwartungsnutzen einer Lotterie entspricht somit der Summe der Nutzenwerte einer sicheren Konsequenz u(at), gewichtet mit deren Eintrittswahrscheinlichkeit. Damit eine Lotterie jedoch von einem Entscheider akzeptiert wird, trifft die Erwartungsnutzentheorie eine weitere wichtige Annahme.[22] Diese sogenannte Annahme der Asset Integration besagt, dass bei einer gegenwärtigen Vermögensausstattung, bezeichnet als w, eine Lotterie nur dann vom Entscheider akzeptiert wird, wenn deren Nutzen unter Einbezug der Vermögensausstattung größer ist als der alleinige Nutzen des Vermögens. Somit muss gelten:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Annahme der Asset Integration impliziert, dass die Wertträger des Nutzens innerhalb der Erwartungsnutzentheorie finale Vermögenszustände sind. Dies wiederum hat wichtige Konsequenzen für die Bewertung von Gewinnen und Verlusten. Der Nutzen eines Gewinns oder Verlusts kann dadurch nämlich nur durch den Vergleich der Nutzen zweier Vermögensendzustände beurteilt werden.[23] Liegt das gegenwärtige Vermögen bei 1000€, so wird der Nutzen eines Gewinns von 50€ als Differenz der beiden Nutzen von u(1050€) und u(1000€) berechnet. Gleichzeitig muss der (negative) Nutzen, welchen man aus einem Verlust von 50€ zieht, bei einem Vermögen von 1050€, betragsmäßig gleich hoch sein. Der Nutzen eines Gewinns oder Verlusts gleicher Höhe unterscheidet sich somit innerhalb der Erwartungsnutzentheorie lediglich im Vorzeichen.
Wie aus obiger Formel ersichtlich wird, ist nicht der objektive Wert einer Konsequenz, sondern der individuelle Nutzen, den eine Person einer Konsequenz zuweist, entscheidend für die Bewertung einer Alternative. Bernoulli, der sich bereits früh mit den Unterschieden zwischen objektiven Geldbeträgen und den zugewiesenen Nutzenwerten beschäftigte, betonte, dass der individuelle Nutzen kontextabhängig sei und von der jeweiligen Situation eines Entscheiders abhänge.[24] Er beobachtete, dass die meisten Menschen zu risikoscheuen Entscheidungen neigen.[25] Diese sind derart definiert, dass der Nutzen der sicheren Auszahlung des Erwartungswerts (E) einer Lotterie a höher ist als der Erwartungsnutzen derselben Lotterie. Im Gegensatz zum Erwartungsnutzen wird der Erwartungswert dadurch ermittelt, dass eine mit den Eintrittswahrscheinlichkeiten gewichtete Summe der monetären Konsequenzen, anstatt über deren Nutzwerte, gebildet wird. Der Erwartungswert einer Lotterie (100, 0.8; 10, 0.2) ist demnach:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Dementsprechend spricht man von risikofreudigem Verhalten, wenn der Erwartungsnutzen einer Lotterie größer als der Nutzen des Erwartungswerts ist EU(a) > u(E(a)). Liegen die Nutzwerte dagegen gleichauf, so wird dies als risikoneutrales Entscheiden interpretiert.[26] Mathematisch lässt sich zeigen, dass risikoscheue Entscheidungen stets mit einer konkaven Nutzenfunktion über die Vermögensausstattung einhergehen, während bei risikofreudigem Verhalten ein konvexer und bei risikoneutralen Entscheidungen ein linearer Verlauf zu beobachten ist.[27] Ausgehend von seinen Beobachtungen, wonach Menschen meist zu risikoscheuen Entscheidungen neigen, nahm Bernoulli deshalb an, dass Menschen im Allgemeinen eine über den gesamten Vermögensbereich konkave Nutzenfunktion besitzen und Geld somit einen abnehmenden Grenznutzen besitzt.[28] Mit zunehmendem Reichtum sinkt also der subjektive Nutzen, der mit einem konstanten Geldbetrag einhergeht. Intuitiv sinnvoll erscheint daher die Vorstellung, dass der Gewinn von 100€ im Lotto für einen Millionär im Vergleich zum Sozialhilfeempfänger einen deutlich geringeren Nutzen schafft. Diese Annahme einer konkaven Nutzenfunktion stellte eine wichtige Annahme der Erwartungsnutzentheorie dar und wurde in den meisten Anwendungen der Erwartungsnutzentheorie übernommen.[29]
Gesamt betrachtet liegt die besondere Stärke der Erwartungsnutzentheorie darin, dass sie eine systematische Methode zur Maximierung des Nutzens von Personen über die Zeit hinweg liefert. Akzeptiert ein Individuum die oben dargelegten Axiome rationalen Handelns, so muss es bei Entscheidungen gemäß der Erwartungsnutzentheorie handeln und diejenige Alternative auswählen, welche den höchsten Erwartungsnutzen besitzt.[30] Insofern stellt sie eine normative Theorie dar, die Aussagen darüber trifft, wie Entscheidungen getroffen werden sollten.
2.5 Kritik an der Erwartungsnutzentheorie
Wie oben bereits erwähnt, wurde die Erwartungsnutzentheorie sowohl genutzt, um normative als auch deskriptive Aussagen über Entscheidungen treffen. Allerdings wurde vor allem die deskriptive Deutung der Erwartungsnutzentheorie von Kahneman und Tversky als problematisch angesehen.[31] Sie führten deshalb während der 1960er und 1970er Jahre verschiedene Experimente durch, in denen sie die Vorhersagen der Erwartungsnutzentheorie mit dem tatsächlich beobachtbaren Entscheidungsverhalten von Menschen verglichen. Dabei stützten sie sich auf die Beobachtungen anderer Wissenschaftler, die bereits vorher über risikoaffines Verhalten bei ausschließlich negativen Konsequenzen und die unterschiedliche Gewichtung von Wahrscheinlichkeiten berichtet hatten.[32] Ein weiterer wichtiger Anknüpfungspunkt war außerdem die Arbeit des Franzosen Maurice Allais, der im sogenannten „Allais-Paradox" Verstöße gegen die Annahmen der Erwartungsnutzentheorie nachweisen konnte.[33] Die Ergebnisse der Experimente belegten, dass es häufig zu Abweichungen zwischen den theoretischen Vorhersagen der Erwartungsnutzentheorie und den tatsächlich beobachtbaren Entscheidungen kommt. Als Grund dieser Abweichungen identifizierten Kahneman und Tversky verschiedene Effekte, welche zu Verletzungen der Annahmen der Erwartungsnutzentheorie führen. Auf diese Effekte soll in den nächsten Abschnitten näher eingegangen werden.
2.5.1 Sicherheits- und Möglichkeitseffekt
Laut Erwartungsnutzentheorie wird der Nutzen möglicher Konsequenzen anhand ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit gewichtet. In der Realität unterliegen Menschen allerdings dem sogenannten Sicherheitseffekt sowie dem Möglichkeitseffekt. Aufgrund des Sicherheitseffekts neigen Menschen dazu, fast sichere Konsequenzen im Vergleich zu sicheren Konsequenzen relativ unterzugewichten, während der Möglichkeitseffekt dazu führt, dass niedrige Wahrscheinlichkeiten übergewichtet werden.[34] Folgendes Beispiel, in dem die Wahrscheinlichkeit, 1 Million Euro zu gewinnen, um jeweils 5% erhöht wird, verdeutlicht die Effekte.
Tabelle 1: Sicherheitseffekt Quelle: Kahneman (2011), S. 382
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Laut Erwartungsnutzentheorie sollte sich der Nutzen in allen Fällen um jeweils 5 Prozent des Nutzens erhöhen, der mit dem Erhalt einer Million Euro verknüpft wird. Intuitiv werden den Alternativen A und D jedoch deutlich größere Nutzenzuwächse zugeschrieben als den Alternativen B und C. Als möglichen Grund dafür nennt Kahneman die Tatsache, dass in Fall A eine Hoffnung entsteht, überhaupt einen Preis zu gewinnen. Dies wiederum spiegele sich in der Übergewichtung niedriger Wahrscheinlichkeiten aufgrund des Möglichkeitseffekts wider. Der Grund der höheren Bewertung in D liege dagegen darin, dass dort das Risiko, nichts zu gewinnen, vollständig vermieden wird und damit eine Enttäuschung ausgeschlossen werden kann. Der Sicherheitseffekt reflektiert daher eine besondere Abneigung von Menschen gegenüber Enttäuschungen, wodurch fast sichere Konsequenzen geringer gewichtet werden, als es durch ihre Wahrscheinlichkeit gerechtfertigt ist.[35]
Ein bekanntes Beispiel, das auf dem Möglichkeitseffekt beruht, ist das sogenannte AllaisParadox. Dieses gilt als eines der wichtigsten Gegenbeispiele der Erwartungsnutzentheorie, da Entscheidungen dieser Art zu systematischen Verletzungen des Unabhängigkeitsaxioms führen.[36] In einer etwas abgewandelten Form wurde dieses Entscheidungsproblem auch von Kahneman und Tversky untersucht. Die Versuchsteilnehmer mussten dabei hintereinander zwischen den folgenden Lotterien auswählen.
Tabelle 2: Allais-Paradox Quelle: Kahneman und Tversky (1979), S. 266
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Allais-Paradox Quelle: Eigene Darstellung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Betrachtet man die Darstellung der Entscheidungsprobleme in Abbildung 2, so wird deutlich, dass sich die beiden Probleme lediglich in einem Punkt unterscheiden. Während im linken Teil, also Entscheidung 1, eine 66% Chance besteht, 2.400 Dollar zu gewinnen, führt dies bei den beiden Optionen im rechten Teil mit den gleichen Wahrscheinlichkeiten zu keinem Gewinn. Laut Unabhängigkeitsaxiom dürfen identische Konsequenzen keinerlei Einfluss auf die Präferenzen eines Individuums haben, weshalb die durch Unterstreichen hervorgehobenen Konsequenzen quasi gestrichen werden können. Dadurch ergeben sich dann zwei äquivalente Entscheidungsprobleme, welche bei einem rationalen Individuum die gleichen Präferenzen hervorrufen müssten. Bemerkenswerterweise wiesen Kahneman und Tversky jedoch nach, dass sich die Mehrzahl aller Teilnehmer dieses Experiments bei
Entscheidung 1 für B entscheidet, sich deren Präferenz bei Entscheidung 2 aber ändern und sie dort Option A' bevorzugen.[37] Entsprechend der Erwartungsnutzentheorie führen diese Präferenzen damit jedoch zu einem Widerspruch.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Allais-Paradoxon ist damit ein Beispiel dafür, dass Menschen in der Realität nicht immer den Annahmen der Erwartungsnutzentheorie gehorchen. Die Erwartungsnutzentheorie ist daher nicht geeignet, zu beschreiben, wie Menschen Wahrscheinlichkeiten riskanter Alternativen tatsächlich einschätzen.
2.5.2 Spiegelungseffekt
Eine der wichtigsten Annahmen der Erwartungsnutzentheorie ist üblicherweise die Verwendung einer Nutzenfunktion, welche über den gesamten Vermögensbereich konkav verläuft (u'< 0).[38] In Folge dieser Annahme sollten Individuen deshalb sowohl bei positiven als auch bei negativen Gewinnaussichten risikoscheue Entscheidungen treffen.[39] Inwiefern dies jedoch tatsächlich zutrifft, wurde von Kahneman und Tversky anhand verschiedener Experimente getestet. Die Teilnehmer sollten zunächst zwischen Lotterien mit positiven Gewinnaussichten, ausgedrückt in Dollarbeträgen, auswählen. Im Anschluss daran wurden ihnen dann Lotterien vorgelegt, bei denen die Wahrscheinlichkeiten zwar den vorherigen glichen, es sich nun aber um negative Gewinnaussichten handelte.[40] Die Ergebnisse dieser Experimente sind in Tabelle 1 zusammengefasst, wobei < dazu verwendet wird, die von den Teilnehmern mehrheitlich bevorzugte Lotterie anzugeben.
[...]
[1] Vgl. Eisenführ und Weber (2003), S. 2.
[2] Vgl. Eisenführ und Weber (2003), S. 2.
[3] Vgl. Jehle und Reny (2011), S. 103.
[4] Vgl. Rapoport (1998), S. 4.
[5] Vgl. Tversky und Kahnman (1992), S. 297.
[6] Vgl. Eisenführ und Weber (2003), S. 375.
[7] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 6.
[8] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 7.
[9] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 7.
[10] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 6.
[11] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 7.
[12] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 7.
[13] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 167.
[14] Vgl. Jehle und Reny (2000), S. 98.
[15] Vgl. Bernoulli (1738).
[16] Vgl. von Neumann und Morgenstern (1947).
[17] Vgl. Tversky und Kahneman (1986), S. 252.
[18] Vgl. Eisenführ und Weber (2003), S. 215.
[19] Vgl. Tversky und Kahneman (1986), S. 253.
[20] Vgl. Tversky und Kahneman (1986), S. 253.
[21] Vgl. Eisenführ und Weber (2003), S. 211.
[22] Vgl. Kahneman und Tversky (1979), S. 264.
[23] Vgl. Kahneman (2011), S. 343.
[24] Vgl. Bernoulli (1738), S.24.
[25] Vgl. Kahneman (2011), S. 336.
[26] Vgl. Jehle und Reny (2000), S.110f.
[27] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S.186.
[28] Vgl. Kahneman (2011), S. 336.
[29] Vgl. Kahneman und Tversky (1979), S. 264.
[30] Vgl. Eisenführ und Weber (2003), S. 212.
[31] Vgl. Tverksy und Kahneman (1986), S. 251.
[32] Vgl. Markowitz (1953), Edwards (1962).
[33] Vgl. Allais (1953).
[34] Vgl. Kahneman und Tversky (1979), S. 264ff.
[35] Vgl. Kahneman (2011), S. 382.
[36] Vgl. Eisenführ und Weber (2003), S. 359f.
[37] Vgl. Kahneman und Tversky (1979), S. 266.
[38] Vgl. Kahneman und Tversky (l979), S. 264.
[39] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 186.
[40] Vgl. Kahneman und Tversky (1979), S. 268.