Entscheidungen unter Unsicherheit, Prospect Theory und ökonomische Implikationen


Masterarbeit, 2017

53 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Symbolverzeichnis

1. Einleitung

2. Grundlagen der Prospect Theorie
2.1 Präferenzrelationen
2.2 Nutzenfunktion
2.3 Entscheidungen unter Unsicherheit
2.4 Erwartungsnutzentheorie
2.5 Kritik an der Erwartungsnutzentheorie
2.5.1 Sicherheits- und Möglichkeitseffekt
2.5.2 Spiegelungseffekt
2.5.3 Referenzpunktabhängigkeit

3. Ursprüngliche Formulierung der Prospect Theorie 1979
3.1 Editierungsphase
3.2 Bewertungsphase
3.3 Das viergeteilte Muster
3.4 Formale Kritik an der Prospect Theorie

4. Kumulative Prospect Theorie 1992
4.1 Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion der kumulativen Prospect Theorie
4.2 Verlauf der Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion
4.3 Wahrscheinlichkeitsgewichtung unter Ungewissheit
4.4 Kritik an der (kumulativen) Prospect Theorie

5. Anwendungen der Prospect Theorie
5.1 Endowment-Effekt
5.2 Versicherungswesen
5.3 Dispositionseffekt
5.4 Save More Tomorrow

6. Diskussion

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Beispiel des Unabhängigkeitsaxioms

Abbildung 2: Allais-Paradox

Abbildung 3: Präferenzen bei positiven und negativen Gewinnaussichten

Abbildung 4: Verlauf der Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion

Abbildung 5: Verlauf der Wertfunktion

Abbildung 6: Verlauf der Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktionen

Abbildung 7: Dispositionseffekt

Abbildung 8: Sparquoten mit und ohne Save More Tomorrow

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Sicherheitseffekt

Tabelle 2: Allais-Paradox

Tabelle 3: Framing-Effekt

Tabelle 4:Framing-Effekt

Tabelle 5: Das viergeteilte Muster

Tabelle 6: Verletzung des Dominanzaxioms

Tabelle 7:Bereuen

Tabelle 8: Enttäuschung

Symbolverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Jeden Tag müssen Menschen Entscheidungen treffen, um ihre Ziele zu erreichen oder sich ihrer Umwelt anzupassen. Dabei handelt es sich um die unterschiedlichsten Arten von Ent­scheidungen. Von alltäglichen Situationen, wie dem Einkauf im Supermarkt und der damit verbundenen Produktauswahl, bis hin zu lebensverändernden Entscheidungen wie der Partner- oder Berufswahl. Neben der Vielzahl möglicher Alternativen ist vor allem Unsicher­heit bezüglich zukünftiger Folgen einer Handlungsalternative verantwortlich dafür, dass Menschen Schwierigkeiten damit haben, Entscheidungen zu treffen.[1] So geht beispiels­weise die Einführung eines neuen Produkts im Markt normalerweise mit einer hohen Unsi­cherheit über den Erfolg beim Kunden einher. Ähnlich liegt der Fall eines geschädigten Kunden, der vor Gericht einen Schadenersatz erwirken will. Sichere Aussagen darüber, ob er damit Erfolg haben wird, sind im Vorfeld der Verhandlung meist nicht zu treffen. In kom­plexen Entscheidungssituationen, in denen die Anzahl der Handlungsalternativen hoch ist und große Unsicherheiten bestehen, gewinnen deshalb Verfahren an Bedeutung, die eine systematische Entscheidungsfindung unterstützen.[2] Ein Modell, das diesen Zweck in den Wirtschaftswissenschaften lange Zeit über erfüllte, stellt die sogenannte Erwartungsnutzen­theorie dar. Basierend auf einem streng definierten Rationalitätskonzept, liefert sie Aussa­gen darüber, wie sich rationale Menschen verhalten sollen, um ihren Nutzen zu maximie­ren.[3] Dementsprechend trifft die Erwartungsnutzentheorie also normative Aussagen über das Entscheidungsverhalten von Menschen.[4] Bemerkenswerterweise wurde die Erwar­tungsnutzentheorie jedoch, trotz strenger Verhaltensannahmen, nicht auf ihre normative Aussagekraft beschränkt. Im gleichen Maße wurde ihr im Allgemeinen ebenso eine deskrip­tive Bedeutung zugesprochen.[5] Neben der Aussage, welche Entscheidung ein rationaler Mensch trifft, wurde mit ihrer Hilfe somit zudem beschrieben, wie sich Menschen in be­stimmten Situationen wirklich verhalten bzw. welche intuitiven Entscheidungen sie treffen. Inwiefern die Erwartungsnutzentheorie aber tatsächlich diese deskriptive Rolle einnehmen kann, wurde von den beiden israelischen Psychologen, Daniel Kahneman und Amos Tversky, stark angezweifelt. In Folge ihrer Untersuchungen zu diesem Thema veröffentlich­ten sie im Jahr 1979 einen Artikel mit dem Titel „Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk", worin sie diese Zweifel untermauerten. Einerseits zeigte ihre Studie, dass die von der Erwartungsnutzentheorie getroffenen Annahmen in Laborexperimenten systema­tisch verletzt werden, wodurch erhebliche Unterschiede zwischen den Vorhersagen der Er­wartungsnutzentheorie und tatsächlich getroffenen Entscheidungen bestehen. Anderer­seits präsentierten sie ihr eigenes Modell zur Beschreibung von Entscheidungen unter Ri­siko, die sogenannte Prospect Theorie, in welcher sie die während der Experimente ge­wonnenen Erkenntnisse mit einfließen ließen, um Entscheidungen realistisch abbilden zu können. Fast vierzig Jahre nach ihrem Erscheinen gilt die Prospect Theorie einschließlich ihrer Erweiterung, die kumulative Prospect Theorie aus dem Jahr 1992, gemeinhin als wich­tigster Vertreter deskriptiver Entscheidungstheorien.[6] Ihre Bedeutung spiegelt sich dabei nicht nur in zahlreichen Zitierungen in Fachzeitschriften, sondern auch in der Verleihung des Nobelpreises an Daniel Kahneman im Jahr 2002 wider.

Ein Ziel dieser Arbeit soll sein, die Entwicklung und Wandlung der Prospect Theorie über die Jahre hinweg herauszuarbeiten und Unterschiede zur Erwartungsnutzentheorie zu ver­deutlichen. Im Fokus des nachfolgenden zweiten Kapitels steht daher zunächst die Ent­wicklung eines formalen Grundgerüsts, um anschließend die Funktionsweise der Erwar­tungsnutzentheorie sowie deren Annahmen erläutern zu können. Inwiefern es in der Reali­tät zu Verletzungen dieser Annahmen kommt, soll ebenfalls Teil dieses Abschnitts sein. Aufbauend darauf wird im dritten Kapitel die Prospect Theorie in ihrer ursprünglichen Fas­sung aus dem Jahr 1979 vorgestellt. Neben einer detaillierten Analyse der Funktionsweise sowie einer Abgrenzung des Modells zur Erwartungsnutzentheorie soll dabei auch auf for­male Kritik am Modell eingegangen werden. In Folge dieser Kritik haben Kahneman und Tversky das ursprüngliche Modell der Prospect Theorie zur kumulativen Prospect Theorie weiterentwickelt. Welche Unterschiede diese Weiterentwicklung aufweist, wird im vierten Kapitel aufgezeigt. Am Ende des vierten Kapitels erfolgt eine Diskussion über bestehende Kritikpunkte an der Prospect Theorie. Dabei soll besonders die Frage im Mittelpunkt stehen, weshalb trotz der Popularität der Prospect Theorie lange Zeit nur relativ wenige ökonomi­sche Anwendungsbeispiele bekannt wurden. Im letzten Kapitel des Hauptteils sollen dann Anwendungsbeispiele vorgestellt und einer kritischen Untersuchung unterzogen werden. Den Abschluss der Arbeit bildet ein Diskussionsteil, in welchem die Ergebnisse zusammen­gefasst werden und zukünftige Forschungsschwerpunkte der Prospect Theorie erläutert werden.

2. Grundlagen der Prospect Theorie

Ziel dieses Abschnitts ist es, einen Überblick über die wichtigsten Eigenschaften der Erwar­tungsnutzentheorie zu erhalten. Dazu ist es zunächst erforderlich, ein formales Grundge­rüst zu definieren.

2.1 Präferenzrelationen

Steht ein Individuum vor einer Entscheidung, so muss eine Wahl getroffen werden aus der zur Verfügung stehenden Menge an Alternativen. Diese Menge soll im Folgenden mit A bezeichnet werden und besteht aus einer endlichen Anzahl, sich gegenseitig ausschließen­der Konsequenzen A = {a1,a2, ...,an} [7] Die Wahl einer bestimmten Alternative erfordert, dass sich der Entscheider darüber bewusst ist, welche Handlung er gegenüber den anderen Handlungen bevorzugt. In diesem Zusammenhang spricht man deshalb auch von einer so­genannten „Präferenzrelation“, welche mit á bezeichnet wird.[8] Dementsprechend ist der Ausdruck a > b zu lesen als „a ist wenigstens so gut wie b“. Gilt sowohl a > b als auch b > a, so gilt a ~ b und man spricht von einer Indifferenz zwischen den beiden Alternativen, während eine strikte Präferenz von a gegenüber b vorliegt, wenn a > b.[9] Trifft man nun zwei zusätzliche Annahmen betreffend der Präferenzrelation á, so wird sie als Präferenzordnung bzw. rationale Präferenzrelation bezeichnet.[10] Bei den beiden Annahmen handelt es sich einerseits um Vollständigkeit und andererseits um Transitivität, welche ebenso formal be­schrieben werden können.

(i) Vollständigkeit: für jede beliebige Kombination von a, b e A gilt a > b oder a á b (oder beides). Ein Entscheider ist somit in der Lage, für jedes Paar zweier mög­licher Alternativen eine Präferenz zu bilden.
(ii) Transitivität: für alle a, b, c e X gilt, wenn a > b und b > c, dann a > c. Ziel die­ser Annahme ist es, zirkuläre Präferenzen zu vermeiden. Ein Beispiel dafür ist etwa ein Entscheider, der einen Apfel wenigstens so gut wie eine Banane, die Banane wenigstens so gut wie eine Orange, die Orange jedoch wenigstens so gut wie den Apfel findet.[11]

2.2 Nutzenfunktion

In der wissenschaftlichen Praxis bereitet die Arbeit anhand einer Präferenzrelation á oft­mals Schwierigkeiten, da die paarweisen Vergleiche aller Alternativen in Betracht gezogen werden müssen. Um dieses Problem zu umgehen, hat sich deshalb die Verwendung einer „Nutzenfunktion“ durchgesetzt, welche jeder Alternative a eine reelle Zahl zuordnet. Dabei ist dieser Wert genau dann höher als der Wert einer Alternative b, wenn der Entscheider a gegenüber b strikt präferiert.

Nutzenfunktion: Eine Funktion [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] ist eine Nutzenfunktion, welche konsistent mit der Präferenzrelation eines Entscheidungsproblems (A, <) ist, wenn für alle a, b e A gilt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der Folge können die zugeordneten Werte in aufsteigender Reihenfolge geordnet werden und spiegeln dabei die in der Präferenzrelation festgelegten Präferenzen wider.[12] Im Ge­gensatz zum paarweisen Vergleich hat dies den Vorteil, dass hierbei nur n reelle Zahlen [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] in Erinnerung behalten werden müssen.

2.3 Entscheidungen unter Unsicherheit

Die bisherige Betrachtung von Entscheidungen basierte auf Entscheidungsproblemen, bei denen die Konsequenzen einer Alternative mit Sicherheit vorhergesagt werden konnten. In der Realität besteht jedoch meist Unsicherheit bezüglich der Auswirkung einer Wahl, wes­halb man oft vor Entscheidungen unter Unsicherheit steht. Diese wiederum lassen sich in Entscheidungen unter Risiko und Entscheidungen unter Ungewissheit unterteilen. Während einem Individuum bei Entscheidungen unter Risiko objektive Wahrscheinlichkeiten bekannt sind, mit denen mögliche Konsequenzen einer Alternative eintreten, sind diese bei Ent­scheidungen unter Ungewissheit nicht bekannt.[13] Analog zum vorhergegangenen Abschnitt lässt sich für Entscheidungen unter Risiko, welche hier im Fokus stehen, eine Menge [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] definieren, die aus der Anzahl möglicher Konsequenzen besteht. Das Kon­zept der „Lotterie“ wird nun genutzt, um riskante Alternativen abzubilden. Formal beschrie­ben wird diese mit [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] für alle n.[14] Ein einfaches Beispiel einer Lotterie stellt das Werfen einer Münze dar. Zeigt diese „Kopf“, so verliert man einen Dollar, während „Zahl“ zum Gewinn eines Dollars führt. Ausgedrückt als Lotterie entspricht dies: [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]. Ähnlich wie bei Entscheidungen unter Sicherheit lassen sich die Präferenzen eines Entscheiders bezüglich der Wahl zwischen verschiede­nen Lotterien anhand einer Präferenzrelation á beschreiben.

2.4 Erwartungsnutzentheorie

Die im Folgenden beschriebene Erwartungsnutzentheorie basiert in ihren Grundzügen un­ter anderen auf den Überlegungen des Schweizers Daniel Bernoulli.[15] Axiomatisch begrün­det wurde sie jedoch von den beiden Wissenschaftlern von Neumann und Morgenstern.[16] Sie definierten dazu mehrere Rationalitätsregeln („Axiome"), denen die Präferenzen eines rationalen Entscheiders gehorchen müssen, um durch die sogenannte Erwartungsnutzen­funktion repräsentierbar zu sein. Da sich ein Großteil der Kritik an der Erwartungsnutzen­theorie an drei dieser Axiome festmachen lässt, werden diese hier kurz vorgestellt.[17] Dabei ist zu erwähnen, dass die beiden letzteren Axiome zwar nicht explizit von den beiden Auto­ren erwähnt wurden, sie jedoch logisch aus anderen getroffenen Annahmen der Erwar­tungsnutzentheorie folgen.

Axiom 1: Unabhängigkeit

Wenn für zwei Lotterien a > b gilt, so muss auch für alle Lotterien c und die Wahrschein­lichkeiten p e [0,1] gelten:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dem Unabhängigkeitsaxiom liegt somit die Idee zu Grunde, dass sich die Präferenzen zwi­schen zwei Lotterien nicht ändern, sofern beide mit einer dritten vermengt werden. Stellt man sich etwa einen Fall vor, in dem ein Entscheider die Lotterie a = (100, 0.5; 0, 0.5) der Lotterie b=(60, 0.7; 10, 0.3) vorzieht, so muss diese Präferenz auch dann gelten, wenn beide Lotterien mit einer beliebigen Wahrscheinlichkeit für Lotterie c=(50,1) verknüpft wer­den.[18] Ein mögliches Beispiel für eine derartige Verknüpfung zweier Lotterien mit einer drit­ten (für die Entscheidung irrelevanten) Alternative wird in Abbildung 1 dargestellt, wobei p=0.2 gilt.

Abbildung 1: Beispiel des Unabhängigkeitsaxioms Quelle: Eisen führ und Weber (2003), S. 215

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Axiom 2: Dominanz

Gemäß des Dominanzaxioms muss eine Wahlalternative A der Alternative B vorgezogen werden, wenn sie die Option B dominiert bzw. schwach dominiert. Schwache Dominanz bedeutet hierbei, dass eine Option in mindestens einem möglichen Umweltzustand im Ver­gleich zur anderen Option strikt präferiert wird und in allen anderen Zuständen mindestens so gut wie die andere Alternative ist. Dominanz wird erreicht, wenn eine Alternative in allen möglichen Umweltzuständen der anderen Alternative vorgezogen wird.[19]

Axiom 3: Invarianz

Laut des Invarianzaxioms werden die Präferenzen eines Entscheiders nicht durch die Art und Weise der Darstellung bzw. Formulierung eines Entscheidungsproblems beeinflusst.[20] Beispielsweise sollten sich die Präferenzen bezüglich des Kaufs eines Produkts nicht än­dern, wenn ein angebotener Rabatt unterschiedlich dargestellt wird. Einerseits ist es mög­lich, diesen als prozentuale Preisreduzierung anzugeben, andererseits kann dies aber auch durch Angabe der absoluten Preisreduzierung geschehen.

Gehorchen die Präferenzen bezüglich riskanter Optionen den beschriebenen Axiomen, so existiert dann eine Erwartungsnutzenfunktion u, mit deren Hilfe der sogenannte Erwar­tungsnutzen einer Lotterie а = (а1,р1;а2/р2; ап,рп) berechnet werden kann. Dieser ist dabei folgendermaßen definiert:[21]

Der Erwartungsnutzen einer Lotterie entspricht somit der Summe der Nutzenwerte einer sicheren Konsequenz u(at), gewichtet mit deren Eintrittswahrscheinlichkeit. Damit eine Lot­terie jedoch von einem Entscheider akzeptiert wird, trifft die Erwartungsnutzentheorie eine weitere wichtige Annahme.[22] Diese sogenannte Annahme der Asset Integration besagt, dass bei einer gegenwärtigen Vermögensausstattung, bezeichnet als w, eine Lotterie nur dann vom Entscheider akzeptiert wird, wenn deren Nutzen unter Einbezug der Vermögens­ausstattung größer ist als der alleinige Nutzen des Vermögens. Somit muss gelten:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Annahme der Asset Integration impliziert, dass die Wertträger des Nutzens innerhalb der Erwartungsnutzentheorie finale Vermögenszustände sind. Dies wiederum hat wichtige Konsequenzen für die Bewertung von Gewinnen und Verlusten. Der Nutzen eines Gewinns oder Verlusts kann dadurch nämlich nur durch den Vergleich der Nutzen zweier Vermö­gensendzustände beurteilt werden.[23] Liegt das gegenwärtige Vermögen bei 1000€, so wird der Nutzen eines Gewinns von 50€ als Differenz der beiden Nutzen von u(1050€) und u(1000€) berechnet. Gleichzeitig muss der (negative) Nutzen, welchen man aus einem Ver­lust von 50€ zieht, bei einem Vermögen von 1050€, betragsmäßig gleich hoch sein. Der Nutzen eines Gewinns oder Verlusts gleicher Höhe unterscheidet sich somit innerhalb der Erwartungsnutzentheorie lediglich im Vorzeichen.

Wie aus obiger Formel ersichtlich wird, ist nicht der objektive Wert einer Konsequenz, son­dern der individuelle Nutzen, den eine Person einer Konsequenz zuweist, entscheidend für die Bewertung einer Alternative. Bernoulli, der sich bereits früh mit den Unterschieden zwi­schen objektiven Geldbeträgen und den zugewiesenen Nutzenwerten beschäftigte, be­tonte, dass der individuelle Nutzen kontextabhängig sei und von der jeweiligen Situation eines Entscheiders abhänge.[24] Er beobachtete, dass die meisten Menschen zu risiko­scheuen Entscheidungen neigen.[25] Diese sind derart definiert, dass der Nutzen der siche­ren Auszahlung des Erwartungswerts (E) einer Lotterie a höher ist als der Erwartungsnut­zen derselben Lotterie. Im Gegensatz zum Erwartungsnutzen wird der Erwartungswert dadurch ermittelt, dass eine mit den Eintrittswahrscheinlichkeiten gewichtete Summe der monetären Konsequenzen, anstatt über deren Nutzwerte, gebildet wird. Der Erwartungs­wert einer Lotterie (100, 0.8; 10, 0.2) ist demnach:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dementsprechend spricht man von risikofreudigem Verhalten, wenn der Erwartungsnutzen einer Lotterie größer als der Nutzen des Erwartungswerts ist EU(a) > u(E(a)). Liegen die Nutzwerte dagegen gleichauf, so wird dies als risikoneutrales Entscheiden interpretiert.[26] Mathematisch lässt sich zeigen, dass risikoscheue Entscheidungen stets mit einer konka­ven Nutzenfunktion über die Vermögensausstattung einhergehen, während bei risikofreu­digem Verhalten ein konvexer und bei risikoneutralen Entscheidungen ein linearer Verlauf zu beobachten ist.[27] Ausgehend von seinen Beobachtungen, wonach Menschen meist zu risikoscheuen Entscheidungen neigen, nahm Bernoulli deshalb an, dass Menschen im All­gemeinen eine über den gesamten Vermögensbereich konkave Nutzenfunktion besitzen und Geld somit einen abnehmenden Grenznutzen besitzt.[28] Mit zunehmendem Reichtum sinkt also der subjektive Nutzen, der mit einem konstanten Geldbetrag einhergeht. Intuitiv sinnvoll erscheint daher die Vorstellung, dass der Gewinn von 100€ im Lotto für einen Mil­lionär im Vergleich zum Sozialhilfeempfänger einen deutlich geringeren Nutzen schafft. Diese Annahme einer konkaven Nutzenfunktion stellte eine wichtige Annahme der Erwar­tungsnutzentheorie dar und wurde in den meisten Anwendungen der Erwartungsnutzen­theorie übernommen.[29]

Gesamt betrachtet liegt die besondere Stärke der Erwartungsnutzentheorie darin, dass sie eine systematische Methode zur Maximierung des Nutzens von Personen über die Zeit hinweg liefert. Akzeptiert ein Individuum die oben dargelegten Axiome rationalen Handelns, so muss es bei Entscheidungen gemäß der Erwartungsnutzentheorie handeln und dieje­nige Alternative auswählen, welche den höchsten Erwartungsnutzen besitzt.[30] Insofern stellt sie eine normative Theorie dar, die Aussagen darüber trifft, wie Entscheidungen ge­troffen werden sollten.

2.5 Kritik an der Erwartungsnutzentheorie

Wie oben bereits erwähnt, wurde die Erwartungsnutzentheorie sowohl genutzt, um norma­tive als auch deskriptive Aussagen über Entscheidungen treffen. Allerdings wurde vor allem die deskriptive Deutung der Erwartungsnutzentheorie von Kahneman und Tversky als prob­lematisch angesehen.[31] Sie führten deshalb während der 1960er und 1970er Jahre ver­schiedene Experimente durch, in denen sie die Vorhersagen der Erwartungsnutzentheorie mit dem tatsächlich beobachtbaren Entscheidungsverhalten von Menschen verglichen. Da­bei stützten sie sich auf die Beobachtungen anderer Wissenschaftler, die bereits vorher über risikoaffines Verhalten bei ausschließlich negativen Konsequenzen und die unter­schiedliche Gewichtung von Wahrscheinlichkeiten berichtet hatten.[32] Ein weiterer wichtiger Anknüpfungspunkt war außerdem die Arbeit des Franzosen Maurice Allais, der im soge­nannten „Allais-Paradox" Verstöße gegen die Annahmen der Erwartungsnutzentheorie nachweisen konnte.[33] Die Ergebnisse der Experimente belegten, dass es häufig zu Abwei­chungen zwischen den theoretischen Vorhersagen der Erwartungsnutzentheorie und den tatsächlich beobachtbaren Entscheidungen kommt. Als Grund dieser Abweichungen iden­tifizierten Kahneman und Tversky verschiedene Effekte, welche zu Verletzungen der An­nahmen der Erwartungsnutzentheorie führen. Auf diese Effekte soll in den nächsten Ab­schnitten näher eingegangen werden.

2.5.1 Sicherheits- und Möglichkeitseffekt

Laut Erwartungsnutzentheorie wird der Nutzen möglicher Konsequenzen anhand ihrer Ein­trittswahrscheinlichkeit gewichtet. In der Realität unterliegen Menschen allerdings dem so­genannten Sicherheitseffekt sowie dem Möglichkeitseffekt. Aufgrund des Sicherheitseffekts neigen Menschen dazu, fast sichere Konsequenzen im Vergleich zu sicheren Konsequen­zen relativ unterzugewichten, während der Möglichkeitseffekt dazu führt, dass niedrige Wahrscheinlichkeiten übergewichtet werden.[34] Folgendes Beispiel, in dem die Wahrschein­lichkeit, 1 Million Euro zu gewinnen, um jeweils 5% erhöht wird, verdeutlicht die Effekte.

Tabelle 1: Sicherheitseffekt Quelle: Kahneman (2011), S. 382

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Laut Erwartungsnutzentheorie sollte sich der Nutzen in allen Fällen um jeweils 5 Prozent des Nutzens erhöhen, der mit dem Erhalt einer Million Euro verknüpft wird. Intuitiv werden den Alternativen A und D jedoch deutlich größere Nutzenzuwächse zugeschrieben als den Alternativen B und C. Als möglichen Grund dafür nennt Kahneman die Tatsache, dass in Fall A eine Hoffnung entsteht, überhaupt einen Preis zu gewinnen. Dies wiederum spiegele sich in der Übergewichtung niedriger Wahrscheinlichkeiten aufgrund des Möglichkeitsef­fekts wider. Der Grund der höheren Bewertung in D liege dagegen darin, dass dort das Risiko, nichts zu gewinnen, vollständig vermieden wird und damit eine Enttäuschung aus­geschlossen werden kann. Der Sicherheitseffekt reflektiert daher eine besondere Abnei­gung von Menschen gegenüber Enttäuschungen, wodurch fast sichere Konsequenzen ge­ringer gewichtet werden, als es durch ihre Wahrscheinlichkeit gerechtfertigt ist.[35]

Ein bekanntes Beispiel, das auf dem Möglichkeitseffekt beruht, ist das sogenannte Allais­Paradox. Dieses gilt als eines der wichtigsten Gegenbeispiele der Erwartungsnutzentheo­rie, da Entscheidungen dieser Art zu systematischen Verletzungen des Unabhängigkeits­axioms führen.[36] In einer etwas abgewandelten Form wurde dieses Entscheidungsproblem auch von Kahneman und Tversky untersucht. Die Versuchsteilnehmer mussten dabei hin­tereinander zwischen den folgenden Lotterien auswählen.

Tabelle 2: Allais-Paradox Quelle: Kahneman und Tversky (1979), S. 266

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Allais-Paradox Quelle: Eigene Darstellung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Betrachtet man die Darstellung der Entscheidungsprobleme in Abbildung 2, so wird deut­lich, dass sich die beiden Probleme lediglich in einem Punkt unterscheiden. Während im linken Teil, also Entscheidung 1, eine 66% Chance besteht, 2.400 Dollar zu gewinnen, führt dies bei den beiden Optionen im rechten Teil mit den gleichen Wahrscheinlichkeiten zu keinem Gewinn. Laut Unabhängigkeitsaxiom dürfen identische Konsequenzen keinerlei Einfluss auf die Präferenzen eines Individuums haben, weshalb die durch Unterstreichen hervorgehobenen Konsequenzen quasi gestrichen werden können. Dadurch ergeben sich dann zwei äquivalente Entscheidungsprobleme, welche bei einem rationalen Individuum die gleichen Präferenzen hervorrufen müssten. Bemerkenswerterweise wiesen Kahneman und Tversky jedoch nach, dass sich die Mehrzahl aller Teilnehmer dieses Experiments bei

Entscheidung 1 für B entscheidet, sich deren Präferenz bei Entscheidung 2 aber ändern und sie dort Option A' bevorzugen.[37] Entsprechend der Erwartungsnutzentheorie führen diese Präferenzen damit jedoch zu einem Widerspruch.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Allais-Paradoxon ist damit ein Beispiel dafür, dass Menschen in der Realität nicht im­mer den Annahmen der Erwartungsnutzentheorie gehorchen. Die Erwartungsnutzentheorie ist daher nicht geeignet, zu beschreiben, wie Menschen Wahrscheinlichkeiten riskanter Al­ternativen tatsächlich einschätzen.

2.5.2 Spiegelungseffekt

Eine der wichtigsten Annahmen der Erwartungsnutzentheorie ist üblicherweise die Verwen­dung einer Nutzenfunktion, welche über den gesamten Vermögensbereich konkav verläuft (u'< 0).[38] In Folge dieser Annahme sollten Individuen deshalb sowohl bei positiven als auch bei negativen Gewinnaussichten risikoscheue Entscheidungen treffen.[39] Inwiefern dies je­doch tatsächlich zutrifft, wurde von Kahneman und Tversky anhand verschiedener Experi­mente getestet. Die Teilnehmer sollten zunächst zwischen Lotterien mit positiven Gewinn­aussichten, ausgedrückt in Dollarbeträgen, auswählen. Im Anschluss daran wurden ihnen dann Lotterien vorgelegt, bei denen die Wahrscheinlichkeiten zwar den vorherigen glichen, es sich nun aber um negative Gewinnaussichten handelte.[40] Die Ergebnisse dieser Experi­mente sind in Tabelle 1 zusammengefasst, wobei < dazu verwendet wird, die von den Teil­nehmern mehrheitlich bevorzugte Lotterie anzugeben.

[...]


[1] Vgl. Eisenführ und Weber (2003), S. 2.

[2] Vgl. Eisenführ und Weber (2003), S. 2.

[3] Vgl. Jehle und Reny (2011), S. 103.

[4] Vgl. Rapoport (1998), S. 4.

[5] Vgl. Tversky und Kahnman (1992), S. 297.

[6] Vgl. Eisenführ und Weber (2003), S. 375.

[7] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 6.

[8] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 7.

[9] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 7.

[10] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 6.

[11] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 7.

[12] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 7.

[13] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 167.

[14] Vgl. Jehle und Reny (2000), S. 98.

[15] Vgl. Bernoulli (1738).

[16] Vgl. von Neumann und Morgenstern (1947).

[17] Vgl. Tversky und Kahneman (1986), S. 252.

[18] Vgl. Eisenführ und Weber (2003), S. 215.

[19] Vgl. Tversky und Kahneman (1986), S. 253.

[20] Vgl. Tversky und Kahneman (1986), S. 253.

[21] Vgl. Eisenführ und Weber (2003), S. 211.

[22] Vgl. Kahneman und Tversky (1979), S. 264.

[23] Vgl. Kahneman (2011), S. 343.

[24] Vgl. Bernoulli (1738), S.24.

[25] Vgl. Kahneman (2011), S. 336.

[26] Vgl. Jehle und Reny (2000), S.110f.

[27] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S.186.

[28] Vgl. Kahneman (2011), S. 336.

[29] Vgl. Kahneman und Tversky (1979), S. 264.

[30] Vgl. Eisenführ und Weber (2003), S. 212.

[31] Vgl. Tverksy und Kahneman (1986), S. 251.

[32] Vgl. Markowitz (1953), Edwards (1962).

[33] Vgl. Allais (1953).

[34] Vgl. Kahneman und Tversky (1979), S. 264ff.

[35] Vgl. Kahneman (2011), S. 382.

[36] Vgl. Eisenführ und Weber (2003), S. 359f.

[37] Vgl. Kahneman und Tversky (1979), S. 266.

[38] Vgl. Kahneman und Tversky (l979), S. 264.

[39] Vgl. Mas-Colell, Whinston und Green (1995), S. 186.

[40] Vgl. Kahneman und Tversky (1979), S. 268.

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Entscheidungen unter Unsicherheit, Prospect Theory und ökonomische Implikationen
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Note
2,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
53
Katalognummer
V373518
ISBN (eBook)
9783668508934
ISBN (Buch)
9783668508941
Dateigröße
1272 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Prospect Theorie, Prospect Theory, Decision Theory, Cumulative Prospect Theory, Kumulative Prospect Theorie, Erwartungsnutzentheorie, Entscheidungen unter Unsicherheit, Kaheman, Tversky, Wahrscheinlichkeitsgewichtung, Kahneman, Schnelles Denken, Langsames Denken
Arbeit zitieren
Claudius Hini (Autor:in), 2017, Entscheidungen unter Unsicherheit, Prospect Theory und ökonomische Implikationen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/373518

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