Gewalterfahrung in der Jugendphase. Datenanalyse eines Fallbeispiels


Studienarbeit, 2016

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Aufbau des Seminars & Forschungsmethoden

2. Der Gewaltbegriff
2.1 Phasen der Gewaltbereitschaft und ihre Entwicklung

3. Interviewanalyse

4. Vergleiche anderer Gewalterfahrungen zur Datenerhebung

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Aufbau des Seminars & Forschungsmethoden

Im Rahmen des Kulturpädagogikstudiums an der Hochschule Niederrhein und dem dazugehörigen Wahlpflichtseminar der Praxisforschung/Forschungsmethodik, spezialisiert auf die Gewalterfahrungen von Jugendlichen, setzten sich die Teilnehmer mit Methoden der Sozialforschung auseinander. Neben theoretischen Zusatzuntersuchungen der empirischen Forschung in der gesamten Breite und praktischen Gruppenarbeiten zum Thema des Gewaltbegriffs, war ein transkribiertes Interview mit einem unbekannten Jugendlichen zwischen sechzehn und vierungszwanzig Jahren vorgesehen, bei dem die Forschung in Bezug auf die Wahrnehmung von Beobachtungen und Interpretationen der Befragten und dessen Erfahrungen bezüglich ihrer Gewalterlebnisse, lag. Es sollte eine Reihe von Fallstudien sein, die durch eine inhaltliche Beobachtungs- und Interpretationsanalyse zu repräsentativen Erkenntnissen kommen soll. Da der Forschungsgegenstand die Methode bestimmt, die Basisformen der sozialwissenschaftlichen Datenerhebung Befragungen, Beobachtungen und Inhalts bzw. Dokumentenanalysen sind, wurden am Anfang des Seminars Forschungsmethoden vorgestellt, welche für dieses Forschungsziel am geeignetsten sind.

Das Ziel war es nicht einen groben, standardisierenden Querschnitt der Lebenswelt von Jugendlichen zu skizzieren, sondern deren Erfahrungen, Bereitschaften und Ängste bezüglich Gewalterlebnissen zu verstehen und sinnhaft aufeinander zu beziehen, um eine Vorstellung von dem zu bekommen, wie es zu solchen Umständen und Zuständen kommen kann und wie die kulturpädagogische Praxis mit Jugendlichen aussehen kann, die davon geprägt sind. Was geht in ihnen vor, was treibt sie an und was empfinden sie dabei, Gewalt selber zu verüben oder ihr ausgesetzt zu sein? Wie erklären sie selbst diesen Zustand, wie kommt er zustande und in welchen Situationen und Milieus treffen sie auf Gewalt? Um einen authentischen Einblick in diese Erlebnisse zu gelangen, galt die Entscheidung der Forschungsmethodik der qualitativen Forschungsstrategie, um durch intensive, weniger unpersönliche Befragungen in einem narrativen Interview, hinlängliche Informationen zu gewinnen. Im Gegensatz zur quantitativen Forschungsweise, der es reicht durch repräsentative Erhebungen, z. B vorgefertigte Fragebögen mit wenig ausführlichen Antwortmöglichkeiten einen skizzenhaften Querschnitt bezüglich eines Erkenntnisziels zu regional oder sozial verbreiteten Phänomenen zu gewinnen. Auch wenn die Methodiken der beiden unterschiedlichen Forschungsstrategien in erster Linie verschiedenen Erkenntniszielen nacheifern, bedienen sie sich beiderseits einer Informationsgewinnung der Befragten, können sich ergänzen und unterlegen dem Konzept des Erklärens und Verstehens. Um trotzdem eine grobe Vergleichbarkeit zu gewährleisten, waren die Interviewfragen einem Leitfaden unterlegen und die Bedingungen an den Befragten bis auf die Altersbegrenzung und den Fragenkatalog, an dem wir Anlehnung nehmen sollten, frei entscheidbar. Ethische Herkunft, sozialer Status und Geschlecht waren also einzeln auswählbar.

Die Interviewsituation mit dem Befragten selber, sollte einem offen, natürlichen Gespräch gleichen und Unterschiedlichkeiten verschiedener Gesichtspunkte herausstellen, die bei der Rekonstruktion von Sinnzusammenhängen, Beurteilungen liefern sollen. Bei der Datenerhebung werde ich auf mein Vorwissen und meine Sinnkonstruktionen zurückgreifen und subjektive Beobachtungen kennzeichnen, aber auch mit einbeziehen. Während des Interviews habe ich eine Teilnehmerperspektive eingenommen und versucht trotz des Fragenkatalogs und dem Aufnahmegerät, die Befragungssituation nicht gekünstelt wirken zu lassen und dem Interviewten seine soziale Wirklichkeit ohne Einschränkungen verbalisieren lassen. In einer kleinen Aufwärmphase schaffte ich eine alltagsnahe, kommunikative Basis, erklärte ihm den Forschungsgegenstand und versicherte ihm die Anonymisierung seiner persönlichen Angaben. Die Betonung der ganzheitlichen Relevanz seiner Aussagen, förderte eine vertrauensvolle, freie Formulierung, die mir ein intensives Zuhören und eine sensible Aufmerksamkeit ermöglichte, um detaillierte Nachfragen nicht im Gesprächsfluss, sondern durch immanente Erkundigen zum Schluss zu stellen.

Mein Interesse gilt der Kausalität zwischen sozialen Zusammenhängen und dem handelnden Individuum, dessen Handlungsmuster, wie es sich in seiner Lebensweise orientiert und wie es Gewalt definiert, wie es vorzubeugen, auszuweichen oder zu provozieren versucht.

Im Zuge meines Informationsmaterials, widme ich mich nun dem Gewaltbegriff in seiner Definition, während ich mich im Anschluss auf die Datenauswertung meines geführten Interviews beziehe und diese aufgrund meiner dann aufgestellten Thesen, mit zwei bis drei anderen Interviews hin vergleiche. Meine Begriffs- und Hypothesenbildung hinsichtlich der Gegenüberstellung von Gewalterlebnissen, deren Konsequenzen und ihre sozialen Zusammenhänge werde ich während meiner Datenanalyse stellen, um keine vorzeitigen Verzerrungen meiner Sinnkonstruktionen hervorzurufen.

2. Der Gewaltbegriff

Der Begriff leitet sich ab aus dem lateinischen; valere und bedeutet in seinen Ursprüngen so viel wie Verfügungsfähigkeit, im breiteren Verständnis; Kraft, Macht haben oder über etwas verfügen und beherrschen zu können. Die Gesichter und Wesenszüge von Gewalt sind zeitlich, zivilisatorisch bedingt und von einem kulturellen Kontext abhängig. Auch wenn es keine Gesellschaft gibt, die bisher auf Gewaltformen verzichtet konnten, sind die Ausmaße und ihre Legitimation stark unterschiedlich zu bewerten. Allein im deutschsprachigen Raum verwendet man den Begriff der Gewalt für persönlich, individuelle Gewalt, wie auch für die staatliche, institutionelle Gewalt. Am Ende des Mittelalters im Übergang zur Neuzeit, kam es erstmals zu einer klaren Unterscheidung des Gewaltverständnisses. Man differenzierte auf einmal eine rechtsgebundene, öffentliche Herrschaftsgewalt mit ihren Staatsmächten und der institutionellen Führung, Gewalt im Sinne von Besitz- und Verfügungsverhältnissen und zum Schluss die psychische Gewaltanwendung und die Umschreibung jeglicher gewalttätigen Handlungen im subjektiven Sinne (vgl. P. Imbusch, 2002; 28 f.).

So kann Gewalt in vielen Facetten auftreten, dessen Begriffsbedeutungen in unterschiedlichen Synonymverknüpfungen aus rein subjektiver Sicht ihren qualitativen, kontextualen Sinn bekommen. Oft wird die Bedeutung von Gewalt noch mit anderen Verwendungsweisen in Zusammenhang gebracht, wie etwa mit Macht- und Ohnmachtszuständen, Konflikten, Angst oder Zwang. Diese Vermischung macht eine klare Definition von verschiedenen Gewaltzuständen schwer, wenn es um die Beurteilung von Verantwortungs- und Rechenschaftsbereichen mindestens zweier Parteien geht, die sich in einem Verhältnis befinden, indem Gewalt ausgeübt wird. So geht es heute darum, die Vielschichtigkeit und die unterschiedlichen Verwendungsbereiche weiter aus zu dividieren, um ein besseres Verständnis der Typen und Formen, Dynamiken und Kontexten der Gewalterscheinungen hinsichtlich ihrer Illegalität oder Legalität zu bestimmen und zu vergleichen. Sinnerscheinungen lassen sich am besten durch gezielte Fragestellungen bestimmen; Wer übt Gewalt aus? Was geschieht, wenn Gewalt ausgeübt wird? Wie wird Gewalt ausgeübt? Wem gilt die Gewalt? Warum wird Gewalt ausgeübt? Wozu wird Gewalt ausgeübt? Und weshalb wird Gewalt ausgeübt? Erstere beschäftigt sich mit der Frage nach dem subjektiven oder institutionellen Tätigen einer Gewalttat. Hier geht es um die einseitige Durchsetzung der Ambitionen und Erwartungen in direkter oder indirekter Auseinandersetzung körperlicher oder seelischer Gewalt betreffend seines Opfers. Zweitere fragt nach den offensichtlichen Abläufen einer Gewalthandlung, sowie die Körperlichkeit, Stärke und Ausmaß dieses Geschehens. Während drittens nach der Art und Weise wie eine solche Handlung umgesetzt wird und mit welchen Mittel es geschieht, fragt. Die vierte Frage umfasst die Bestimmung des Opfers, in welcher Rolle es sich zu diesem Akt befindet und wie der Interaktionsprozess verlief. Unterdessen sich die fünfte Frage danach beruft, welche Gründe, Motive und Ambitionen nötig waren, um eine gewalttätige Handlung zu begehen und welche qualitativen Zweckhaftigkeiten vorlagen oder ob sie grundlos geschehen ist. Sechstens erkundigt sich nach den Rahmenbedingungen, welche Vorfälle passiert sind und ob es eine expressive oder kommunikative Absicht gab. Weshalb überhaupt eine solche Tat vollzogen wird, fragt die siebte Frage nach dem Rechtfertigungsmuster oder Legitimationsstrategien von Gewaltinhalten. Diese doch sehr komplexen Verhältnisse in den Täter-Opfer Konstellationen ergänzen sich in Handlungs- bzw. Strukturkomponenten, während sich die ursprüngliche Trennung der Begriffsbedeutungen schon lange nicht mehr als haltbar erweisen, wenn es darum geht, Deutungen einer Konfliktsituation von einzelnen oder kollektiven Gewalthandelns und die Freiheitsgratifikationen einzuordnen. Eine zweite Dimension der Einteilung von Synonymen der Gewaltbedeutungen sind die Anwendungs- bzw. Ebenenbereiche in welcher Form Gewalt auftreten kann.

Hier charakterisiert man die physische und psychische Gewalt, institutionelle und strukturelle Gewalt, die symbolische und kulturelle Gewalt und die rituelle Gewalt. Bei der physischen Gewalt geht es hauptsächlich um eine direkte körperliche Einwirkung, Verletzungen jeglicher Art bis hin zu einer Tötung des Opfers, das meist, aber nicht zwangsläufig auf eine bekannte Person abzielt und dann in einem Beziehungskonflikt stattfindet. Meist resultierend aus einer Affekthandlung des Täters heraus, miteingehend eines Kontrollverlusts und einer Befreiung seiner situativen Zwänge. Diese Dimension eines Machtmittels ist kulturell unabhängig, jederzeit ausführbar und universell wirksam. Der Gegensatz zur körperlichen ist die seelische Gewalttätigkeit, ebenfalls meist eines bekannten Opfers zu gefügt und auf langanhaltendem psychischem Druck auch auf körperlicher Ebene ersichtlich. Gewaltmittel wären hier Worte, Handlungen oder der Entzug von Existenzbedingungen. Missachtung, Verachtung, Einschüchterungen und Angst gehören hier zu Werkzeugen an die sich der Täter bedient. Es zeigt sich eine hohe kausale Wirkung zwischen den Gewalttaten und Auswirkungen auf das Opfer und ist hoch komplex nach zuweisen, weil sich seelische Verletzungen lange Zeit nicht bemerkbar machen und über kulturelle, symbolische Decodierung funktioniert und Opfer mit Verdrängungen oder anderen Abwehrmechanismen sich selbst schützen und diese Folgen selten an die Öffentlichkeit geraten. Die institutionelle Gewalt schließt staatliche und organisatorische Gewalten ein, die dem Opfer dauerhaft unterlegen ist und es sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befindet, obwohl Durchführungen dieser Gewaltform gesellschaftlich-rechtlich als legitimiert angesehen werden. Eine Willkür kann trotzdem nicht ausgeschlossen werden, weshalb sie je nach Form eine starke qualitative Unterscheidung aufweist. Strukturelle Gewalt umfasst alle Gewalt die keinen direkten Täter vorweisen kann und in unablässige, soziale, systemischen Strukturen einer Gesellschaft verläuft, wie z. B. eine globale Volksaufhetzung, Massenverelendung- oder auch sterben. Auswirkungen zeigen hier eine Massenbeeinflussung und eine geringe bis gar keine Chance auf eine positive Umsetzung individueller Wirkungsfähigkeiten.

Kreise dieser Gewalt ziehen sich in eine ungleichmäßige Verteilung der Ressourcen, Güter, Machtverhältnisse und geringe Möglichkeiten sein Potenzial auszunutzen. Kulturelle Gewalt ist eine Erweiterung der strukturellen Gewalt, die gesellschaftliche Strukturen als kulturell legitimiert ansieht. Regelmäßige, sowie vorhandene gesellschaftliche Gefüge werden als gemeinschaftlich akzeptabel und nicht als Unrecht betrachtet, während augenscheinlich, außergesetzliche Tatsachen eher verschleiert und als still hingegeben angesehen werden. Als symbolische Gewalt betrachtet man die Macht der sprachlichen, symbolischen Verständigung durch kulturell geprägte Muster, geistige Gewaltakte und Sprechhandlungen. Rituelle Gewaltakte sind grob in psychischen Gewalthandlungen anzusiedeln, die sämtliche Kommunikation mit einschließt und Handlungen oder Interaktionsgeschehen in ein Ritual einbauen, sich somit leicht inszenieren lassen und die Einstimmigkeit des Opfers voraussetzt. Es entstehen keine ernstzunehmenden Verletzungen und wirken eher gemeinschaftsbildend-, als zerstörend. In Kollektiven und Gemeinschaften bilden sie ein Zugehörigkeitsgefühl und fördern den Lustgewinn an gemeinsamen Interessen (vgl. P. Imbusch, 2002; 34 f. ebd.).

2.1 Phasen der Gewaltbereitschaft und ihre Entwicklung

Wie in der Einleitung schon erwähnt, werde ich mich mit Gewalterlebnissen von Jugendlicher auseinander setzen, die ihre individuellen Erfahrungen mit diesem Thema gemacht haben. Zur Unterstützung meiner Datenanalyse führe ich vorab noch einige typische Phasen auf, die Bereitschaften gewalttätiger Handlungen begleiten und welche sozial begünstigten Ursprünge gewaltbereite Neigungen mit sich ziehen. Dabei gehen Sozialwissenschaftler, wie Ferdinand Sutterlüty, der sich mit der Gewalt- und Kriminalsoziologie befasst, davon aus, dass jede vollzogene oder geplante Handlung eines Menschen auf dessen subjektive Deutungsdefinition einer Situationskonstellation zu Grunde liegt. So vermutet er, dass Wiederholungstäter meist als rational, strategisch planende Akteure eingestuft werden, dessen Handeln intentional und zukunftsorientiert stattfindet. Die Absicht ausgeführte Gewalthandlungen keimt auf einem Nährboden von sozialen und familiären Erlebnissen, Erfahrungen und Schicksalsschlägen, auf die Jugendliche im Kindesalter noch keinen rationalen Einfluss hatten; aufgrund ihrer kindlich eingeschränkten Möglichkeiten und ihrem eingeschränktem Handlungsrepertoire.

Akteure durchlaufen Phasen, die sich in der späteren Entwicklung gewaltbereiter Handlungen zu bewussten Entscheidungen, zwanghaften Verhaltensweisen, gebündelt mit tragischen Erlebnissen auffassen lassen. Versuche sich der Situation in denen sie eine Ohnmacht oder eine Verletzung verspüren Herr werden wollen, um das eigene Leben wieder zurück zu gewinnen, lassen misshandelte Kinder und Jugendliche, die familiäre Gewalt, Missachtung und ein Gefühl von psychischer oder physischer Wehrlosigkeit erleben mussten, Gewalttaten begehen, um ihre Handlungsverluste zu kompensieren und ihre Selbstwirksamkeit zu demonstrieren, um sich der Wiedergewinnung ihrer Handlungsfähigkeiten zu bemächtigen. Sie gleichen damit die frühere Opfer-Täterrolle aus und wechseln die Seite, sobald sie ihrer Handlungsmacht sehen. Norman K. Denzins bestimmt hier den Begriff der „Epiphanie“ der den Rückschlag der Opfer zur Täterrolle und die vorhereingegangene Verlaufskurve des Erleidens zu einem gewaltbereiten Handlungsschema aufzeigt. Die erlittenen Ereignisse von Kindern und Jugendlichen lassen sich nicht getrennt voneinander beleuchtet, sondern folgen einem zirkulären Prozess, bei dem es immer wieder zu einer Wechselhaltung zwischen Erleiden und stetig werdender Auflehnung kommt. Aggressionen können sich irgendwann nicht nur gegen die Personen denen diese Wut gilt richten, sondern je nach menschlicher Konstitution auch schuldlosen Menschen, die eventuell nur mit ihren erfahrungsgemäßen Situationen assoziiert werden. Die vorangegangen Ohnmachtserfahrungen werden dann später in Gegengewalt projiziert. Menschen die in eine solche Verlaufskurve eingebunden sind, können bestimmte Ereignisse dann nicht mehr abwehren und erleiden damit einen Handlungskontrollverlust, der sie gewalttätig werden lässt und sie damit ihr Handlungsvermögen mit Gewalt an sich selbst wieder zurück reißen wollen. Dann reagieren sie mehr affektuell, als das sie aktiv agieren und die richtige Einschätzung der Situation bewältige können. Meist spüren sie selbst, dass sie sich entgleist fühlen. Das hat zur Folge, dass es zu Prozessen destruktiver Identitätsbildung, Selbsthassphantasien und Angstzuständen kommen kann. Missachtungserfahrungen beruhen auf nicht befriedigte Anerkennungsbedürfnisse und Ansprüche der Zuwendung, Achtung und Wertschätzung, die das Selbst- und Fremdvertrauen verletzt haben und negative Selbstbilder evozieren. Familiäre Despoten und Aggressoren verunsichern die Identität des Kindes, dessen Irritationen sie mit in ihre Welt nehmen und sich damit selbst abwerten oder als minderwertig betrachten. Gewalt ist hier ein unbewusster Akt der Entschädigung.

Ferdinand Sutterlüty teilt die Bereitschaft zu eine „Gewaltkarriere“ in drei Phasen ein. Verlaufskurven des Erleidens durch familiäre Missstände, ausgelassen auf Kinder und ihre irgendwann entwickelten biographischen Wendepunkte (Epiphanische Erfahrungen) sind einem gewissen Handlungsschemata der Gewaltausübung unterlegen.

Gewaltaffine Interpretationsregimes sind erworbene familiäre Handlungsmuster, die in späteren Interaktionssituationen frühere Ohnmachts- und Missachtungserfahrungen wach rufen. Wie die Gewalttäter genau diese Momente definieren, bestimmt die Wahl der Handlungsakte, verlaufen aber unbewusst und wird von ihren Opfererfahrungen beherrscht. Der Familienkontext wird in andere Situationskonstellationen übertragen und gibt damit die Impulse zu gewaltsamen Handeln. Trotzdem findet kein Automatismus statt, weil der situative Kontext von den jeweiligen Gelegenheitsmöglichkeiten abhängig ist.

Bei mehrmaligen Gewalthandlungen, bleibt es nicht mehr nur bei den Situationsdefinitionen, ihren darauf folgenden Interpretationen und deren Akten, sondern hier gewinnt die Gewalt eine Eigendynamik, die nicht selten zur Willkürlichkeit bis hin zur Grausamkeit geht und keine nachvollziehbaren Motive mehr zu erkennen sind. Diese Intrinsischen Gewaltmotive dienen keinen Zielen oder Zwecken mehr. Befragungen Sutterlütys ergeben, dass Jugendliche davon berichten, einen gewinnbringenden und intensiven Moment in einer Gewalthandlung zu erleben. Dabei empfinden sie die Gewaltausübung als ein faszinierendes Erlebnis, das dazu initiiert weitere Gewaltsituationen gewollt herbei zu führen und somit der Aspekt der Gewalttätigkeit einen Selbstzweck annimmt. Es ist „[…] der Triumpf der physischen Überlegenheit, die Schmerzen des Opfers und die Überschreitung des Alltäglichen“ (F. Sutterlüty, 2004; 277). Damit kompensieren sie ihr gebrochenes Selbstwertgefühl mit der Euphorie der körperlichen Überlegenheit des Opfers und empfinden ein Genuss dabei Schmerzen zu zufügen, was nach Sutterlüty allerdings „eine gewisse Empathie des Täters mit dem Opfer voraussetzt“. Diese Abnormalität der Verhaltensmotive erkennen manchmal die Täter sogar selbst und erfreuen sich daran, das Alltägliche so zu überschreiten. Diese Wertevorstellung gleicht einer Mythologie der Gewaltausübung. Das Selbstverständnis der Täter ist im Zuge dessen, verzerrt und die Wahrnehmung gegenüber solcher Taten bekommt einen positiven Wert ihrer Lebensqualität, für andere eine Einschüchterung und Bedrohung darzustellen. Sie betrachtet andere Mittäter in ihrer Grausamkeit als Idol, idealisieren Gewalt zu einem motivierenden Handlungszug und glauben durch eine Steigerung ihrer Erbarmungslosigkeit zu mehr Anerkennung, Respekt und Ruhm in ihrer Peer Group zu gelangen und von anderen nicht nur gefürchtet, sondern auch gehasst zu werden. Trotzdem bleiben die Angst und das Bewusstsein vor Ablehnung und verpasster Chancen. Diese hellen Erkenntnisse und der Drang nach weiteren Gewaltausübungen, lässt einen nicht vorstellbaren Rattenschwanz einer nicht sozialen Einstimmigkeit nur bitter erahnen.

In Anbetracht der Untersuchungen von Ferdinand Sutterlüty, den Gewaltdefinitionen von Peter Imbusch und den Strukturen der qualitativen Forschungsmethode von Uwe Flick, werde ich im folgenden Abschnitt, mein durchgeführtes Interview analysieren, mit weiteren transkribierten Gesprächen gegenüberstellen und diese auf ihre Gewaltformen, Absichten und Erfahrungen hin untersuchen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Gewalterfahrung in der Jugendphase. Datenanalyse eines Fallbeispiels
Hochschule
Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach
Veranstaltung
Praxisforschung
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
22
Katalognummer
V374059
ISBN (eBook)
9783668519848
ISBN (Buch)
9783668519855
Dateigröße
642 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Forschungsmethodik, Gewalt, Jugendphase, Datenanalsye, Interview, Fallbeispiel, qualitative Forschung, narrative Erzählung
Arbeit zitieren
Sarah Schulz (Autor:in), 2016, Gewalterfahrung in der Jugendphase. Datenanalyse eines Fallbeispiels, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/374059

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