Der erste Weltkrieg in der zeitgenössischen deutschen Mädchenliteratur


Magisterarbeit, 2006

168 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:
Einleitung
1
1. DER ERSTE WELTKRIEG
4
1.1 Die Voraussetzungen
5
1.1.1 Imperialismus und Weltmachtsstreben
5
1.1.2 Militarismus in der Gesellschaft
7
1.1.3 Julikrise und Kriegsausbruch
9
1.1.4 ,,Augusterlebnis" und ,,Geist von 1914"
11
1.2 Kriegsverlauf
14
1.2.1 Das Kriegsjahr 1914
14
1.2.2 Das Kriegsjahr 1915
15
1.2.3 Das Kriegsjahr 1916
16
1.2.4 Das Kriegsjahr 1917
18
1.2.5 Das Kriegsjahr 1918
19
1.3 Die deutsche Heimatfront
21
1.4 Kriegspropaganda
25
1.5 Die Folgen des Ersten Weltkriegs
30
1.5.1 Politische Folgen
30
1.5.2 Kriegführung und Mentalitätswandel
31
2. DIE DEUTSCHE LITERATUR IM ERSTEN WELTKRIEG
32
2.1 Allgemein
32
2.2 Kinder- und Jugendliteratur
38
2.3 Mädchenliteratur
41
3. UNTERSUCHUNG EINZELNER TITEL DER DEUTSCHEN MÄDCHEN-
KRIEGSLITERATUR
44
3.1 Vorbereitung auf den Krieg in der Vorkriegszeit
48
3.2 Der Krieg ­ Unglück oder ,,gewaltige Zeit"?
55
3.3 Die Kriegsschuld
60
3.4 Motivation zum Krieg ­ Vaterlandsliebe und Fremdenhass
64
3.4.1 Vaterlandsliebe
65
3.4.2 Fremdenhass und ,,Fremdenanbeterei"
67
3.4.3 Das Bild der Russen
70
3.4.4 Das Bild der Engländer
72
3.4.5 Die Franzosen
77
3.4.6 Völker aus den Kolonialgebieten
80
3.4.7 Belgier
81
3.4.8 Die Rolle Amerikas
83

3.4.9 Die Italiener
83
3.4.10 Feindesliebe
84
3.5 Der ,,Geist von 1914"
85
3.5.1 Die Auguststimmung
86
3.5.2 Patriotismus im Alltag
90
3.5.3 Solidarität
91
3.5.4 Heldenmut und Opferfreudigkeit
93
3.5.5 Pflichtbewusstsein
96
3.5.6 Mut, Siegesgewissheit und Durchhaltewille
96
3.5.7 Die Heimatfront
100
3.6 Die Kriegshandlungen
101
3.6.1 Die Russen in Ostpreußen
102
3.6.2 Schlachten und Siege
103
3.6.3 Internierungen und Gefangenschaft
105
3.6.4 Die wirtschaftliche Situation
107
3.6.5 Gräuelpropaganda
110
3.6.6 Feindliche Fliegerangriffe
111
3.6.7 Der Seekrieg
112
3.6.8 Spione und Spionageangst
113
3.6.9 Verwundete und Kriegsversehrte
114
3.7 Der Umgang mit dem Tod
115
3.7.1 Todesbereitschaft und Bewusstsein der Todesnähe
115
3.7.2 Soldatentod
116
3.7.3 Die Erfahrung des Tötens
121
3.7.4 Tod von Zivilisten
123
3.8 Darstellung führender Persönlichkeiten
124
3.8.1 Kaiser Wilhelm II.
124
3.8.2 Hindenburg
127
3.8.3 Andere
128
3.9 Die weibliche Rolle in der Mädchenkriegsliteratur
128
3.9.1 Martialische Frauen
129
3.9.2 Frauen als emotionaler Rückhalt
131
3.9.3 Weibliche Arbeit und ihre Organisation
134
3.9.4 Frauen verrichten Männerarbeit
139
3.9.5 Frauen als Engelsgestalten
140
3.9.6 Die jüngeren Mädchen
141
3.9.7 Geldsammlungen
143
3.9.8 Interesse am Kriegsverlauf
144
3.9.9 Beziehung zwischen Mann und Frau
146
3.10 Glaube und Berufung auf Gott
149
3.11 Der Krieg als Erzieher
151
Schluss
160
Benutzte Literatur
162
Deutsche Mädchen-Kriegsbücher
162
Sonstige Quellen
162
Sekundärliteratur
163
Literatur zum historischen Hintergrund
164
Sonstige Literatur
165

Einleitung
,,Ihr seid die Kinder eherner Zeit, ihr Mädchen, des großen Weltenbrandes, eure Jugend hat der Krieg
geweiht, die harte Not des Vaterlandes." So dichtete 1914 Dorothee Goebeler für die neue
Mädchenzeitschrift
,,Scherls Jungmädchenbuch." Konnte sie damals geahnt haben, wie Recht
sie hatte? Der erste totale Krieg der Neuzeit, der als die ,,Urkatastrophe des 20.
Jahrhunderts" in die Weltgeschichte einging, raubte mit seiner mörderischen Gewalt und
seinen zerstörerischen Folgen einer ganzen Generation Kindheit und Jugend. Er griff in ihr
Leben hinein, durchdrang alle Daseinsbereiche und hinterließ auch nach seinem Ende seine
grausamen Spuren. Er vereinnahmte nicht nur den Alltag, sondern auch Kunst und
Literatur und dabei nicht zuletzt die Kinder- und Jugendliteratur. In dieser Gattung war er
noch nicht lange Gegenstand; erst seit dem deutsch-französischen Krieg 1870-71 gab es
Kinder- und Jugendbücher mit der Kriegsthematik. Im militaristisch ausgerichteten
deutschen Kaiserreich galt der Krieg in der Jugendliteratur entweder als positives oder
natürliches oder zumindest unvermeidbares Phänomen. Das Soldatendasein wurde als
Opfer für das Vaterland verherrlicht, Tapferkeit, Mut, Pflichterfüllung und Gehorsam
galten als Soldatentugenden und waren immer positiv besetzt.
1
In den Jahren vor Ausbruch
des Ersten Weltkrieges nahm die Kriegsliteratur zu, in einem solchen Maße, dass man von
einer regelrechten literarischen Mobilmachung der Jugend sprechen kann, die von
Marieluise Christadler in ihrer Dissertation ausführlich untersucht worden ist.
2
Nun war der lange vorbereitete Krieg 1914 also wirklich da und überlagerte alles andere,
was es an Themen in der Kinder- und Jugendliteratur zu jener Zeit gegeben haben mag.
Eine wahre Flut von Kriegsgeschichten erschien in den ersten Monaten des Krieges,
darunter eine stattliche Anzahl von Mädchenbüchern. Bekannte und beliebte
Backfischautorinnen schrieben nun zeitgeschichtliche Erzählungen, durchdrungen von
Vaterlandsliebe und Opferbereitschaft. Ein neues Genre entstand, die Mädchen-
Kriegsliteratur, in der die typischen Elemente der Backfischliteratur nun plötzlich an
Bedeutung verloren oder sogar völlig obsolet wurden. Was konnte man denn anderes
schreiben, in einer Zeit, in der der Alltag einer jeden jungen Leserin genauso wie der der
Autorinnen, von dem furchtbaren Einwirken der Weltgeschichte in das Privatleben
1
Näheres dazu in: D
AHRENDORF
, Malte: Jugendliteratur und Politik. Gesellschaftliche Aspekte der Kinder- und
Jugendliteratur. Frankfurt a.M.: dipa 1986. Hier siehe S. 88-92.
2
C
HRISTADLER
, Marieluise: Kriegserziehung im Jugendbuch: literarische Mobilmachung in Deutschland und
Frankreich vor 1914. Frankfurt a.M., Univ., Diss., 1977.
1

gekennzeichnet war? Wer mochte noch von glücklichen Liebesgeschichten lesen, wenn der
eigene Freund, die Brüder oder der Vater an der Front waren, vielleicht schon längst
gefallen oder vermisst? Dennoch blieb der Mädchenliteratur immer noch eine starke
didaktische Funktion anhaften. Indem sie von Mädchen und Frauen erzählte, die die Nöte
und Entbehrungen des Krieges, den sie nun einmal erleben mussten, ob sie wollten oder
nicht, tapfer auf sich nahmen und mit allen Kräften für das Wohl des Vaterlandes wirkten,
appellierte sie an die Vaterlandsliebe und die Opferbereitschaft der jungen Leserinnen und
motivierte sie, es den Heldinnen der Romane gleichzutun. Wie beliebt und wie häufig
gelesen diese Mädchen-Kriegsliteratur war, bleibt dahingestellt, denn es kann nicht mehr so
leicht nachvollzogen werden. Ein Hinweis wäre nur die Tatsache, dass die meisten
Mädchen-Kriegsbücher keine zweite Auflage erlebten, mit wenigen Ausnahmen wie Else
Urys
,,Nesthäkchen und der Weltkrieg" und Marga Rayles sehr kostengünstigem Band ,,Majors
Einzige im Kriegsjahr."
Die Vorbereitung der Untersuchung der zeitgenössischen Mädchenbücher aus dem Ersten
Weltkrieg war ein etwas langwieriges Verfahren, da keines der benötigten Primärwerke, die
bis auf den Nesthäkchen-Band nach Kriegsende nicht mehr gedruckt wurden, im
Buchhandel erhältlich ist. Mit etwas Zeit und Geduld konnte man jedoch die meisten Titel
antiquarisch auftreiben. Schwieriger war es mit Sekundärliteratur zu den Mädchen-
Kriegsbüchern. Außer Gisela Wilkending, deren Untersuchung der kaiserzeitlichen
Mädchenliteratur
3
einzigartig auf diesem Gebiet in dieser Ausführlichkeit ist, hat sich kaum
ein Literaturwissenschaftler näher damit befasst. Deshalb beruht die vorliegende Arbeit
zum größeren Teil auf eigenen Untersuchungen, die nur an wenigen Stellen durch die
Beobachtungen anderer ergänzt wird.
Um die einzelnen Aspekte der Kriegsthematik besser beleuchten zu können, soll zunächst
ein Abriss über den Ersten Weltkrieg mit seinem Ablauf und seinen Besonderheiten
gegeben werden. Wie bei allen wichtigen historischen Ereignissen gibt es natürlich
unzähligen Forschungskontroversen zu den verschiedenen Aspekten und Themengebieten,
die den Krieg betreffen. Im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Arbeit kann darauf
nicht näher eingegangen werden. Auf diesen historischen Teil folgt ein Überblick über die
deutsche Literatur während des Weltkrieges unter besonderer Berücksichtigung der
Kinder- und Jugendliteratur, speziell auch der Mädchenliteratur. Danach soll auf einige
3
W
ILKENDING
, Gisela (Hg.): Mädchenliteratur der Kaiserzeit. Zwischen weiblicher Identifizierung und
Grenzüberschreitung. Stuttgart / Weimar: Metzler 2003.
2

einzelne Werke der zeitgenössischen Mädchen-Kriegsliteratur eingegangen werden, wobei
deren wichtige Aspekte im Einzelnen beleuchtet werden: Bewertung des Krieges und in
dem Zusammenhang die Darstellung der Kriegsschuld und der Motivation zum Krieg; der
mentale Zustand der Bevölkerung, wie er in den Mädchenbüchern geschildert wird; die
Darstellung der Kriegshandlungen und führender Persönlichkeiten; der Umgang mit dem
Tod, der sonst in den Mädchenbüchern höchstens eine Randrolle gespielt hatte und nun
näher ins Zentrum der Geschichten rückt und diese oft nachhaltig beeinflusst; die
weibliche Rolle im Krieg; der Stellenwert des Glaubens an Gott; und schließlich in einem
letzten Kapitel die erzieherische Funktion des Krieges am Beispiel von Else Urys
,,Nesthäkchen und der Weltkrieg."
Naemi Fast,
Eppstein, Oktober 2006
3

1. Der Erste Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg war in mehreren Hinsichten ein besonderes Phänomen der
Weltgeschichte. Dieser militärische Konflikt mit bis dahin ungekannten Ausmaßen stellte
alles Vorherige in den Schatten. Seine Umwälzungen und weitreichenden Folgen machten
ihn zur ,,
Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", wie der US-Historiker George F. Kennan ihn
1979 bezeichnete:
,,the great seminal catastrophe of this century"
4
­ die Voraussetzung für den
noch viel größeren 2. Weltkrieg. Charles de Gaulle bezeichnete 1944 im Londoner Exil die
Zeit von 1914 bis 1945 als
,,guerre de trente ans de notre siécle."
5
Eine Schreckensvision von
einem zukünftigen
,,Dreißigjährigen Krieg" gab es bereits im 19. Jahrhundert. So schrieb
Friedrich Engels 1887 von einem kommenden Weltkrieg:
"[E]ndlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich, als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von
einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander
abwürgen und dabei ganz Europa so kahl fressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des
Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet: Hungersnot,
Seuchen, allgemeine durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung
unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankrott; Zusammenbruch der alten
Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit derart daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und
niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem
Kampf hervorgehen wird."
6
Auch der preußische Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke (der Ältere) warnte in
seiner letzten Reichtagsrede 1890 vor einem kommenden europäischen
,,Volkskrieg": ,,es
kann ein siebenjähriger, es kann ein dreissigjähriger Krieg werden, - wehe dem, der Europa in Brand
steckt, der zuerst die Lunte in das Pulverfass schleudert!"
7
,,The lights are going out all over Europe, and we shall not see them lit again in our lifetime."
8
Mit
diesen Worten kommentierte der britische Außenminister Sir Edward Grey den Ausbruch
des Völkermordens und doch ahnte auch er noch nicht, wie weitreichend die Folgen der
Entwicklungen des Juli 1914 sein würden. Der Weltkrieg wurde zur Weltkatastrophe, die
nach dem Friedensschluss nicht zu Ende war. In Deutschland wurde er schon von Beginn
an als
,,Weltkrieg" bezeichnet, bei den Ententemächten als ,,Great War" und ,,Grande Guerre".
4
K
ENNAN
, George F: The Decline of Bismarck's European Order: Franco-Russian Relations, 1875-1890.
Princeton (NJ) 1979. Dt.: Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung
1875-1890. Frankfurt am Main 1981.
5
Dieser Ausspruch ist in vielen Texten über den Ersten Weltkrieg zitiert, allerdings meistens ohne genauere
Quellenangabe, z. B. siehe S
TÜRMER
, Michael: 1. Weltkrieg: Die Urkatastrophe.
(http://www.welt.de/data/2004/06/26/296326.html).
6
E
NGELS
, Friedrich: Einleitung zu S. Borkheims
Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten 1806-1807, zit. nach
Lenin, Prophetische Worte, in: Werke Bd. 27, Berlin 1970, S. 494f.
7
Siehe H
ORST
, Max: Moltke: Leben und Werke in Selbstzeugnissen, Briefe, Schriften, Reden. Bremen: Carl
Schunemann Verlag o.J. S. 423.
4

,,World War" und ,,Guerre Mondiale" sind Begriffe aus der Zwischenkriegszeit. Die enormen
Verluste des Krieges hatten eine traumatische Wirkung auf breite Bevölkerungsschichten
und führten zu einer Deutung als Apokalypse. Für Großbritannien und seine Dominions
im Gegensatz zu Deutschland ist der Erste Weltkrieg von weitaus größerer Bedeutung als
der Zweite und der 11. November wird dort bis heute mit bestimmten Ritualen als
,,Rememberance Day" gefeiert.
1.1 Die Voraussetzungen
1.1.1 Imperialismus und Weltmachtsstreben
Man kann den Ersten Weltkrieg als Kulmination und auch als das Ende des modernen
Imperialismus sehen. In Fortführung der Kolonialpolitik des 16.-18. Jahrhunderts
kämpften die Großmächte um die Aufteilung der Welt, womit sie glaubten, endgültig über
Gleichgewicht, Reichtum und Macht der Nationen zu entscheiden. Der Nationalismus des
19. Jahrunderts hatte Politik und Ideologie der europäischen Staaten bestimmt und die
erfolgreiche Machtpolitik bei der Bildung neuer Staaten wie des deutschen Kaiserreiches
1871 bestärkte die Auffassung, dass nur große Nationen mit dem Willen zur Macht
9
und
der Bereitschaft zum Kampf ums Dasein
10
zur Herrschaft über minderwertige Nationen
bestimmt seien. Damit verbunden war ein gewisses europäisches Sendungsbewusstsein,
demzufolge die weiße Rasse oder die eigene Nation zu Weltherrschaft und zur
Europäisierung der Welt berufen sei. Im Deutschen Reich wurde der aggressive
Nationalismus vor allem vertreten durch rechtsradikale Organisationen wie den
,,Alldeutschen Verband."
11
Das nationale Prestige und der ,,Selbsterhaltungstrieb" der europäischen Großmächte
bewirkte eine Weltpolitik, die auf Machteinsatz und Krieg basierte und einen
Rüstungswettlauf der Großmächte zur Folge hatte, die in den Jahren unmittelbar vor dem
8
Dieser Ausspruch Sir Greys wird an vielen Stellen zitiert ohne genaue Stellenangabe, z. B. bei S
TÜRMER
.
Stellenweise wird Churchil als Urheber angegeben.
9
Ein Gedanke aus Friedrich Nietzsches
,,Also sprach Zarathustra" (1883-1885).
10
Die Lehre vom Sozialdarwinismus.
11
Der Alldeutsche Verband (1891 ­ 1939, bekannte Initiatoren waren Alfred Hugenberg, Emil Kirdorf, Friedrich
Ratze) war der lautstärkste und einflussreichste Agitationsverband im Kaiserreich mit einem expansionistischen und
nationalistischen Programm. Kernziele bei der Gründung waren Belebung des vaterländischen Bewusstseins, Pflege
und Unterstützung der deutschen Interessen im Ausland und die Förderung einer tatkräftigen deutschen
Interessenspolitik. Während des Ersten Weltkriegs bekam der Alldeutsche Verband, der vorher manchmal in
Konflikt mit der Regierung gekommen war, große Bedeutung und vertrat ziemlich radikale Ziele. Siehe: H
ERING
,
Rainer: Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939. Hamburg 2004; P
ETERS
, Michael: Der
Alldeutsche Verband am Vorabend des Ersten Weltkrieges (1908-1914): Ein Beitrag zur Geschichte des völkischen
Nationalismus im spätwilhelminischen Deutschland, Frankfurt a.M., u. a. 1992.
5

Krieg ihre Heere reformierten und vergrößerten. Daraus resultierte das militaristische
Denken, das man mit dem deutschen Kaiserreich, vor allem unter Wilhelm II., verbindet.
Deutschland und Großbritannien wetteiferten um die Kontrolle über die Meere, in der
man die Grundlage für die Weltherrschaft sah.
12
Wilhelm II. hatte eine ausgesprochene
Marineaffinität und wollte den Ausbau einer Hochseeflotte, die für andere Seemächte eine
Bedrohung darstellen sollte. Die Flottengesetze des Admirals Alfred von Tirpitz bewirkten
ein deutsch-britisches Marinewettrüsten, wobei Großbritannien nach dem ,,Zwei-Mächte-
Status" rüstete, nach dem die Royal Navy stärker sein sollte als die beiden nachfolgenden
stärksten Flotten zusammen. Eine starke Flotte war unter anderem auch deshalb nötig, weil
Deutschland seinen
,,Platz an der Sonne"
13
im kolonialen Wettlauf forderte. Das Kaiserreich
war erst ziemlich spät in den kolonialen Wettlauf eingetreten, weshalb es nur relativ
unbedeutende koloniale Besitzungen in Afrika und der Südsee erhalten, sowie in China Fuß
fassen konnte. Das nach Weltmacht strebende Reich fühlte sich um seine kolonialen
Interessen betrogen. Die Maxime, die vor allem von dem ,,Alldeutschen Verband"
vertreten wurde, lautete:
,,Weltpolitik als Aufgabe. Weltmacht als Ziel. Flotte als Instrument."
Die rassistischen und aggressiven Parolen Wilhelms II. und seine Außenpolitik prägten das
Bild des Deutschen in der Welt und förderten die Angst vor dem expansiven Militarismus
Deutschlands. Infolge dessen grenzte sich Deutschland zunehmend aus. Durch Bismarcks
Rücktritt 1889 hatte das Deutsche Reich seinen fähigsten Außenpolitiker verloren und im
Zuge der aggressiven wilhelminischen Politik brach das gesamte von Bismarck
aufgerichtete Bündnissystem, welches das Gleichgewicht der Mächte in Europa garantieren
sollte, zusammen. Durch die Kündigung des Rückversicherungsvertrags mit Russland 1890
machte das Deutsche Reich den Weg frei für eine französisch-russische Verständigung.
Eine Verstimmung Englands handelte sich Deutschland 1895 durch sein Vorgehen gegen
Japan ein und 1896 durch den antibritischen Inhalt der Krüger-Depesche
14
, welche in
England eine Welle von antideutscher Empörung auslöste und nach der England sich aus
12
Nach den Gedanken des amerikanischen Admirals Alfred T. Mahan, die er 1890 in seinem Buch ,,The influence
of seapower upon history" darlegte.
13
Dieser Ausdruck, der später zum geflügelten Wort wurde, stammt aus der Reichstagsrede des damaligen
Staatssekretärs und späteren Reichskanzlers Bernhard von Bülow vom 6. Dezember 1897. Siehe z. B. F
ESSER
,
Gerd: Der Traum vom Platz an der Sonne: Deutsche ,,Weltpolitik" 1897 ­ 1914. Bremen: Donat 1996, S. 25.
14
Krüger-Depesche: Eine Gratulation Wilhelms II. an Paulus ,,Ohm" Krüger, den Präsidenten des
südafrikanischen Transvaal, zur erfolgreichen Abwehr eines britischen Anschlags.
6

dem Mittelmeerabkommen
15
zurückzog. Die britische Annäherung an Russland wurde
begünstigt durch die britisch-deutsche Flottenrivalität.
Die Bündnisverhandlungen mit England 1898-1901, bei denen Reichskanzler Bülow den
britischen Anschluss an den Dreibund
16
wollte, scheiterten. Die Verschärfung der
Flottenrivalität begünstigte schließlich den britischen Ausgleich mit Russland, das 1907 der
1904 zwischen Frankreich und Großbritannien geschlossenen Entente Cordiale beitrat.
Deutsche Versuche, die französisch-britische Entente während der ersten Marokkokrise zu
sprengen, misslangen und die Algeciras-Konferenz 1906 zeigte offensichtlich die deutsche
außenpolitische Isolierung. Weiteren Schaden fügte der deutschen Politik 1908 die ,,Daily-
Telegraph-Affäre"
17
zu, die sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland große
Empörung hervorrief. Der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg suchte weiterhin die
Verständigung mit England, welches sich aber 1911 in der zweiten Marokkokrise auf die
Seite Frankreichs stellte.
Ein weiterer Krisenherd war der Balkan. Hier bewies Deutschland in der Bosnischen
Annexionskrise 1908 seine Bündnistreue zu Österreich und arbeitete in den weiteren
Balkankrisen mit England zusammen. Die Ausgleichsverhandlungen Lord Haldanes 1912
wurden aber von Tirpitz torpediert, der die Konzessionen in der Flottenfrage von einer
britischen Neutralitätserklärung abhängig machte.
Voraussetzungen für die Verwirklichung der imperialistischen Bestrebungen war der
technische Fortschritt seit der industriellen Revolution: der Ausbau guter Infrastrukturen
und geeigneter Transportsysteme wie Eisenbahnen und Stahlschiffe und die Entwicklung
schnellerer Kommunikationssysteme durch die Erfindung der Telegraphie.
1.1.2 Militarismus in der Gesellschaft
Militarismus und Navalismus beherrschten nicht nur Ideologie und Politik, sondern auch
Lebensstil und Stimmung im deutschen Kaiserreich. Die Gesellschaft wurde zunehmend
von Rüstung, Militarisierung und Kriegsvorbereitung geprägt, was z. B. die weite
Verbreitung der Krieger-, Flotten- und Wehrvereine in Deutschland, und ähnlicher auch in
den anderen Staaten, zeigt. Immer mehr Stimmen sprachen mit sozialdarwinistischer
15
Mittelmeerabkommen: Freundschaftliches Übereinkommen zwischen England, Italien und Österreich-Ungarn
1887 zur Wahrung der bestehenden Verhältnisse auf dem Balkan.
16
Dreibund: Defensivbündnis zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn (Zweibund 1879), das 1882
durch Italien erweitert wurde.
17
Daily-Telegraph-Affäre: ein sehr umstrittenes Interview eines britischen Reporter mit dem deutschen Kaiser, bei
dem dieser behauptete, während des Burenkriegs der einzige Freund Englands gewesen zu sein und den
7

Tendenz von einem kommenden Krieg als einem
,,Regulator im Leben der Menschheit, der gar
nicht zu entbehren ist, weil sich ohne ihn eine ungesunde, jede Förderung der Gattung und daher auch jede
wirkliche Kultur ausschließende Entwicklung ergeben würde."
18
Manche Zeitzeugen berichten,
Krieg für ein veraltetes Phänomen gehalten zu haben und von dem Kriegsausbruch völlig
überrascht worden zu sein.
19
Unabhängig davon, ob ein Krieg zu erwarten war oder nicht,
galt das Militär als Garant für die Sicherheit des eigenen Volkes. Wenn auch so mancher
Durchschnittsbürger nicht an einen kommenden Krieg glaubte, waren doch große Teile
des gesellschaftlichen Lebens vom Militarismus durchdrungen. Militärisch gestaltete Feste
gehörten zu Höhepunkten im Volksleben, zu den wichtigsten gehörten Kaisers Geburtstag
am 27. Januar
20
und der Sedantag. Das Soldatenleben wurde verherrlicht und Soldatensinn
wurde schon Kindern anerzogen und in allen Lebensbereichen vermittelt, z. B. durch
Kinderliteratur, Bilder, Schulaufsätze und einprägsame Sprüche, wie z. B.
,,Dulce et decorum
est pro patria mori"
21
- sinnigerweise in Goldlettern an der Aulawand eines Gymnasiums
angebracht.
22
Das Militärische war überall im Alltag präsent, wie eine Zeitzeugin aus der
Provinz Posen beschreibt:
,,Soldaten sah man eben überall, nicht nur an Kaisers Geburtstag, am Sedanstag oder am Tag des großen Standortballes.
Die Vielfalt bunter Uniformen prägte sich ein, die dröhnenden Militärmärsche gingen in die Ohren, wir Soldatenkinder
kannten sogar die Physiognomien der meist grimmig dreinschauenden Generäle und Obristen, ebenso die Qualitäten und
Mängel der in Posen stationierten Einheiten, die untereinander einen ständigen Konkurrenzkampf austrugen."
23
Die Vaterlandsliebe sollte mit der Treue zum Herrscherhaus verbunden sein und in der
Schule lernte man neben der ,,
Wacht am Rhein" auch die Kaiserhymne ,,Heil dir im
Feldzugsplan entworfen zu haben, der letztendlich zum Sieg Lord Roberts über die Buren geführt habe; außerdem
richte sich die Flottenpolitik des Reiches nicht gegen England, sondern gegen den fernen Osten.
18
Bernhardi, F. von: Deutschland und der nächste Krieg. Stuttgart
2
1912, S. 11. Zitiert bei K
RUSE
, Wolfgang (Hg.):
Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914-1918. Frankfurt a.M.: Fischer 1997. S. 16-17.
19
,,Das Wort, das das Leben im Kaiserreich bis zum Attentat von Sarajevo 1914 am besten kennzeichnet, ist wohl das Wort ,Ruhe'.
Es war weder die Ruhe vor dem Sturm noch die träge Ruhe, sondern es war das Gefühl der Sicherheit. Angst wie wir sie heute und seit
Jahren kennen und wie sie die Mehrzahl der Menschheit ergriffen hat, war uns damals unbekannt." W
ACHSMUTH
, Werner: Wir
vertrauten einem intakten Staat. In: P
ÖRTNER
, Rudolf (Hg.): Kindheit im Kaiserreich. Erinnerungen an vergangene
Zeiten. München: dtv 1989. S. 112-121. Hier S. 113.
20
Eine solche Feier beschreibt z. B. Westrick in seinen Erinnerungen:
,,Alljährlich wurde in Münster, einer Stadt mit
großer Garnison, der 27. Januar als Geburtstag Kaiser Wilhelms II. feierlich begangen. Der Tag war schulfrei. Eingeleitet durch
hunderteins Kanonenschüsse, die in der Nähe des kaiserlichen Schlosses abgefeuert wurden, fand in den späten Vormittagsstunden des
27. Januar auf dem früheren Neuplatz die große Parade statt. An dieser Parade nahm der größte Teil der in Münster stehenden
Truppen teil. Der kommandierende General [...] zusammen mit den jeweiligen Kommandeuren der Truppe nahm unter den Klängen
der einzelnen Regimentskapellen den Vorbeimarsch der Truppen ab. Für uns Jungen war das Miterleben dieses eindrucksvollen
militärischen Schauspiels eine große Freude, auf die niemand verzichten wollte." W
ESTRICK
, Ludger: Die Mutter war der
Mittelpunkt der Familie. In: P
ÖRTNER
, S. 35-44. Hier S. 39. Westrick beschreibt weiter auch die Feierlichkeiten
anlässlich Kaisers Geburtstag in der Schule, zu der Behörden eingeladen wurden, mit historischen Vorträgen,
meistens einer rühmlichen Schilderung des Hauses Hohenzollern und mit patriotischen Darbietungen des
Schulorchesters und einzelner Vortragender. S. 39-41.
21
Dt.:
,,Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben."
22
W
ESTRICK
, in: P
ÖRTNER
, S. 39.
23
P
ICKEL
, Anneliese: Eine deutsche Stadt mit polnischer Mehrheit. In: P
ÖRTNER
, S. 89-98. Hier S. 92.
8

Siegerkranz" singen.
24
Die Kinder wurden zur Ehrerbietung gegenüber den Monarchen
angehalten und Jugendlichen war politische Betätigung verwehrt, außer der Teilnahme an
vaterländischen Kundgebungen.
25
Die Wogen der patriotischen Begeisterung schlugen zur
100-Jahr-Feier der Völkerschlacht bei Leipzig noch einmal besonders hoch, als der Sieg
über Napoleon gefeiert wurde und der Kaiser das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig
einweihte.
Es gab trotzdem auch Bewegungen gegen die allgemeine Tendenz, z. B. die sich
zunehmend formierende Arbeiterschaft, die für ihre Belange kämpfte und für
innenpolitische Probleme sorgte, und die pazifistische Bewegung, die jegliche Art von
Militarisierung und Gewaltanwendung ablehnte und sich in Friedensgesellschaften
formierte.
1.1.3 Julikrise und Kriegsausbruch
Was zu den imperialistischen Bestrebungen der Großmächte hinzukam, waren die seit 1911
wachsenden expansiven Ambitionen der kleineren Mächte. Vor allem auf dem Balkan in
den Provinzen des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn stiegen die Spannungen aufgrund
der Autonomiebestrebungen zunehmend. Dieser Krisenherd machte Europa zu einem
,,Pulverfass". Durch mehrere Krisen und die beiden Balkankriege 1912 und 1913, bei
denen der Ausbruch eines gesamteuropäischen Krieges mit Mühe und Not gerade noch
abgewendet werden konnte, versteiften sich die bisherigen Bündnispositionen, also Entente
gegen Dreibund, immer mehr. Zusammengenommen mit der Aufrüstung der einzelnen
Länder ergab sich daraus eine Entwicklung, die über kurz oder lang zu einem großen Krieg
führen würde.
26
Im Zusammenhang mit den Unruhen am Balkan wurde am 28. Juni 1914 der
österreichische Kronprinz Franz Ferdinand in Sarajewo von dem serbischen Attentäter
Gavrilo Princip ermordet. Der deutschen Reichsleitung war bewusst, dass Österreich diese
Gelegenheit zu einem Schlag gegen Serbien nutzen würde und dass dieses Attentat einen
gesamteuropäischen Krieg auslösen könnte, wenn Russland sich auf Serbiens Seite stellen
24
Siehe z. B. P
EISER
, Werner: Hauptmanns ,Weber' machten mich zum Sozialisten. In: P
ÖRTNER
, S. 66-73. Hier S.
70.
25
Siehe P
EISER
, in: P
ÖRTNER
, S. 70.
26
Die These Fritz Fischers, Deutschland habe zielbewusst auf einen Krieg hingearbeitet, löste 1957 eine große
Historikerdebatte aus (die sogenannte ,,Fischer-Kontroverse") und wird heute noch von einigen Historikern
vertreten, von dem bekannten Historiker W. Mommsen allerdings widerlegt. Mittlerweile gibt es auch
Untersuchungen, die die Anteile anderer Großmächte an der Kriegsschuld herausarbeiten. Siehe M
OMMSEN
,
Wolfgang J.: Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914-1918. Gebhard Handbuch der deutschen
9

würde. Deutschland hoffte nun, den Konflikt zu lokalisieren und Frankreich und England
herauszuhalten. Für den Fall allerdings, dass Russland in den Krieg eintreten würde, galt es
für die deutsche Seite als aussichtsreicher, den Krieg sofort statt später zu führen,
,,solange er
angesichts der unfertigen russischen Rüstungen noch gewonnen werden könne."
27
Es gab auch genügend
Stimmen bei führenden Militärs, die den Krieg wünschten und über das Zögern der
Reichsleitung klagten, z. B. der Kriegsminister Erich von Falkenhayn. Generalstabschef
Moltke (der Jüngere), der einen Krieg fürchtete, plädierte dafür, ihn so bald wie möglich zu
führen, im Glauben, dass er ohnehin nicht zu vermeiden sei.
28
Die Unterstützung für
Österreich war zudem in der Öffentlichkeit ziemlich populär, allerdings hatte der
,,Blankoscheck" für Österreich-Ungarn am 5. Juli, also die Zusage der Unterstützung bei
militärischen Handlungen, wenig mit der propagierten ,,Nibelungentreue"
29
zu tun,
sondern war das Ergebnis militärischen Kalküls. Vor der Öffentlichkeit wurde in den
folgenden Wochen der Eindruck erweckt, das Attentat werde als wenig bedeutsam
angesehen und gefährde den Frieden nicht. Durch einige diplomatische Diskussionen im
österreichischen Parlament
30
verzögerte sich die Entscheidung und erst am 23. Juli 1914
stellte Österreich ein Ultimatum an Serbien, welches dieses unerwartet in fast allen Punkten
annahm. Die Schuld an einem Kriegsausbruch wie geplant Russland zuzuschieben und die
Ententemächte in Uneinigkeit untereinander zu bringen, wurde nun immer schwieriger. Als
sich herausstellte, dass Großbritannien nicht zur Neutralität bereit sei, sondern Russland
und Frankreich unterstützen würde, drängten die deutschen Militärs auf sofortige
Kriegsentscheidung, wobei man sorgfältig bemüht war, vor der deutschen Bevölkerung
und der Weltöffentlichkeit keine Zweifel am Friedenswillen der deutschen Politik
aufkommen zu lassen.
Am 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg und begann kurz darauf mit dem
Beschuss von Belgrad. Nach Bekanntwerden der russischen Mobilmachung am 31. Juli
waren die Würfel endgültig gefallen und am 1. August wurde in Berlin die Mobilmachung
verkündet. Noch an demselben Abend überschritten die vorher dort zusammengezogenen
Geschichte, Bd. 17. Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta 2002. S. 15 und 27. Zur
Kriegsschuld Englands: F
ERGUSON
, Niall: The Pity of War. Explaining World War I. London: Penguin 1998.
27
M
OMMSEN
, S. 29.
28
Mehr zu den Überlegungen der Militärs bei M
OMMSEN
, S. 29-30.
29
Bereits 1908 hatte der damalige deutsche Reichskanzler Fürst von Bülow im Zusammenhang mit den
Balkanunruhen Ungarn zu verstehen gegeben, dass Deutschland hinter Österreich-Ungarn stehe. Anlässlich der
bosnischen Annexionskrise 1909 hielt er eine Reichstagsrede, bei der der Begriff ,,Nibelungentreue" fiel, der später
noch oft gebraucht wurde, um die Bundestreue zwischen den beiden Monarchien zu bezeichnen, was gerade
während des Weltkriegs besonders zum Tragen kam.
30
Dazu siehe M
OMMSEN
, S. 31.
10

russischen Truppen die Grenze Ostpreußens.
31
Das mit Russland verbündete Frankreich
machte bereits ebenfalls mobil, die deutsche Kriegserklärung an Frankreich erfolgte am 3.
August. Die deutsche Generalität rechnete mit einem raschen Sieg über die Franzosen nach
dem Schlieffenplan für einen Zweifrontenkrieg,
32
wozu nur wenige militärische
Operationen im Westen notwendig wären. Danach würden die Truppen für den Osten frei
werden. Zur Verwirklichung des Plans war ein Durchmarsch deutscher Truppen durch das
neutrale Belgien notwendig. Diesbezügliche Verhandlungen mit England scheiterten,
Deutschland verletzte die Neutralität Belgiens und England erklärte den Mittelmächten am
4. August den Krieg. In der deutschen Öffentlichkeit wurde dieses als Verrat des ,,perfiden
Albion" angesehen.
33
Nun standen die Mittelmächte den Entente-Mächten, zu denen auch
Serbien und Montenegro gehörten, gegenüber. Es kamen weitere Staaten hinzu,
34
so dass
sich zum Ende des Krieges 25 Staaten samt ihren Kolonien und damit etwa drei Viertel der
Erdbevölkerung im Kriegszustand befanden.
1.1.4 ,,Augusterlebnis" und ,,Geist von 1914"
,,Augusterlebnis" ist die zeitgenössische Bezeichnung für die euphorische Begeisterung der
Völker über die Kriegserklärung, die allerdings kein homogener Konsens der allgemeinen
Stimmung gewesen ist.
35
Während in Berlin und anderen Großstädten die Mobilmachung
mit Jubel und Hurrarufen begrüßt wurde, führte sie in den Landgegenden, wo nun alle
arbeitsfähigen Männer eingezogen und Pferde requiriert wurden, zu Schrecken und
Irritationen.
36
Es ist vielfacht bezeigt, wie sich die Spannung, mit der viele Bewohner
31
M
OMMSEN
meint, die russische Grenzverletzung sei von den Deutschen erfunden, um sofortige militärische
Handlungen zu rechtfertigen, S. 33.
32
Der Schlieffenplan: Einkreisung der französischen Armee von Norden her, gleichzeitiger Rückzug im Süden, was
einen strategischen ,,Drehtüreffekt" zur Folge hätte. Siehe C
HICKERING
, Roger: Das Deutsche Reich und der Erste
Weltkrieg. München: C.H. Beck 2002. S. 33-36.
33
Siehe M
OMMSEN
, S. 159. ,,Albion" ist ein alter Name für die Britischen Inseln. ,,Perfides Albion" wurde 1793
zum stehenden Ausdruck. Damit wurde die angebliche Hinterhältigkeit der englischen Außenpolitik in einem
Gedicht von Augustin Marquis de Ximenez bezeichnet. In der napoleonischen Zeit wurde dies zum geflügelten
Wort, das im deutschen Sprachraum besonders in der wilhelminischen Zeit häufig bemüht wurde.
34
Auf der Seite der Mittelmächte traten das Osmanische Reich (29. Oktober 1914) und Bulgarien (15. Oktober
1915) in den Krieg, zur Entente schlugen sich noch Japan (23. August 1914), Italien (23. Mai 1915), Portugal (9.
März 1916), Rumänien (27. August 1916), Griechenland (25. November 1916), USA (6. April 1917) und China (14.
August 1917).
35
Der Position Mommsens, der die nationale Begeisterung der Augusttage als echt ansieht, steht die Sicht Verheys
entgegen, es habe kein einheitliches Augusterlebnis gegeben, und die Kriegsbegeisterung sei nur eine aus einem
breiteren Spektrum von Reaktionen gewesen, die von Jubel und Begeisterung bis Zukunftspanik und
Antikriegsdemonstrationen reichten. Doch auch Verhey räumt ein, die Zeitgenossen hätten
,,den Kriegsausbruch als
einen Augenblick durchdringender Intensität und emotionaler Erregung" erlebt. Siehe V
ERHEY
, Jeffrey: The Spirit of 1914:
Militarism, Myth, and Mobilization in Germany. Cambridge Univ. Press 2000; V
ERHEY
, Jeffrey: Augusterlebnis. In:
H
IRSCHFELD
, Gerhard; K
RUMEICH
, Gerd; R
ENZ
, Irina (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn: Ferdinand
Schöningh, 2003. S. 357-360.
36
Siehe M
OMMSEN
, S. 35.
11

größerer Städte am 1. August 1914 auf öffentlichen Plätzen die Kriegserklärung erwarteten,
nach der Bekanntgabe der Mobilmachung in Jubel und patriotischen Rufen, Singen von
Vaterlandsliedern und spontanen Demonstrationszügen entlud, von denen auch die Presse
in den nächsten Tagen durchweg positiv berichtete.
37
Eine Zeitzeugin schildert die
Stimmung bei Kriegsausbruch folgendermaßen:
,,Alle Straßen in Jena waren voll aufgeregter Menschen, die mit Empörung und Leidenschaft (,Das kann sich der Kaiser
nicht gefallen lassen') den Krieg für unvermeidlich hielten. Man glaubte, in wenigen Tagen den Sieg erreichen zu können. Die
Mobilmachung rief einen Teil unserer Freunde sofort zu den Waffen; die anderen drängten darauf, als Freiwillige ins Heer
einzutreten. Schon rollten Züge voll singender Soldaten nach Westen. Traf man jemanden in Uniform, beschenkte man ihn
mit Blumen."
38
Ob begeistert oder nicht, einig war sich die Bevölkerung in dem Empfinden, dass sie sich
nun bei Kriegsbeginn loyal hinter die Regierung zu stellen habe.
39
Ein sehr wichtiger Faktor
der Auguststimmung war das nationale Einheitsgefühl, die Ausrichtung auf ein
gemeinsames Ziel, welche die differenzierte und von innenpolitischen Konflikten
gekennzeichnete deutsche Gesellschaft
,,zu einer Volksgemeinschaft umformte."
40
Zu diesem
Anlass proklamierte Kaiser Wilhelm in seiner zweiten Balkonrede am 1. August 1914
feierlich den ,,Burgfrieden":
,,Kommt es zum Kampf, so hören alle Parteien auf! Auch Mich hat die eine oder die andere Partei wohl angegriffen. Das
war in Friedenszeiten. Ich verzeihe es heute von ganzem Herzen! Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen
mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder."
41
Es gelang der Regierung, die deutsche Bevölkerung einschließlich der Arbeiterschaft davon
zu überzeugen, der Krieg sei ein lange vorbereiteter Überfall der Alliierten, namentlich
,,eine
Folge der Perfidie Englands"
42
und deshalb sei er ein Verteidigungskrieg zu dem Deutschland
gezwungen worden sei. Wilhelm II. drückte dies in seiner ersten Balkonrede am 31. Juli
1914
43
so aus:
,,Neider überall zwingen uns zu gerechter Verteidigung. Man drückt uns das Schwert in
die Hand." Er selber wahrt das Bild eines ,,Friedenskaisers": ,,Ich hoffe, daß, wenn es nicht in
letzter Stunde Meinen Bemühungen gelingt, die Gegner zum Einsehen zu bringen und den Frieden zu
erhalten, wir das Schwert mit Gottes Hilfe so führen werden, daß wir es mit Ehren wieder in die Scheide
37
Siehe z. B. M
OMMSEN
, S. 35; Kruse, S. 159-160.
38
F
LITNER
, Elisabeth: Auf dem Katheder brannte frühmorgens eine Kerze. In: P
ÖRTNER
, S. 45-55. Hier S. 52-53.
39
Siehe M
OMMSEN
, S. 36. Ein Beispiel dafür aus den Erinnerungen eines Zeitzeugen:
,,In Zürich lernte ich einen
Deutschen kennen, der als überzeugter Pazifist emigriert war und mich zu überreden suchte, das gleiche zu tun. ,Wenn es zum Kriege
kommt, wollen Sie sich dann wirklich an dem unmenschlichen, sinnlosen Morden beteiligen?' fragte er mich. Ich war alles andere als
kriegsbegeistert, erwiderte ihm jedoch unumwunden, wenn das Vaterland mich rufen sollte, dann würde ich selbstverständlich diesem Ruf
Folge leisten." Wilpert, Friedrich von: Vom Zarenreich ins Kaiserreich. In: P
ÖRTNER
, S. 22-34. Hier S. 31.
40
V
ERHEY
, in: H
IRSCHFELD
/K
RUMMEICH
/R
ENZ
, S. 359.
41
Kriegs-Rundschau. Zeitgenössische Zusammenstellung der für den Weltkrieg wichtigen Ereignisse, Urkunden,
Kundgebungen, Schlacht- und Zeitberichte. Hrsg. v. der Täglichen Rundschau. Bd. 1: Von den Ursachen des
Krieges bis etwa zum Schluß des Jahres 1914, Berlin 1915, S. 43.
42
M
OMMSEN
, S. 34.
43
Kriegs-Rundschau, S. 37.
12

stecken können."
Er weist auf die
,,enorme[n] Opfer an Gut und Blut" hin, die ein Krieg von
seinem Volk fordern würde, setzt dem aber Deutschlands Ehre entgegen:
,,Den Gegnern aber
würden wir zeigen, was es heißt, Deutschland zu reizen."
Der Appell des Kaisers an das deutsche
Volk, einig in den Kampf zu ziehen, in dem es sich auf der Seite der Rechthabenden
wähnte, tat seine Wirkung. Wilhelm II. berief sich auf Gott als auf den Schirmer der
gerechten deutschen Sache. Seine zweite Balkonrede am 1. August beendete der Kaiser mit
den Worten:
,,Will unser Nachbar es nicht anders, gönnt er uns den Frieden nicht, so hoffe Ich zu Gott,
daß unser gutes deutsches Schwert siegreich aus diesem schweren Kampfe hervorgeht."
44
Die
Volksmassen vor dem Berliner Schloss jubelten dem Kaiser zu. Die Urlauber aus ganz
Europa kehrten so schnell es ging nach Hause zurück, um eingezogen zu werden oder sich
freiwillig für den Krieg zu melden. Selbst die SPD stimmte am 4. August im Reichstag für
die Kriegskredite und Parteien und Verbände verpflichteten sich zur Wahrung des
,,Burgfriedens" für die Dauer des Kriegs.
In den ersten Augusttagen herrschte Euphorie in ganz Deutschland. Die ausrückenden
Soldaten wurden mit Blumen geschmückt, mit Liedern und Liebesgaben begleitete man die
Krieger. Vollmundige, siegesgewisse Sprüche wie:
,,Jeder Schuß, ein Ruß! Jeder Stoß, ein Franzos!
Jeder Tritt, ein Britt! Jeder Klaps ein Japs!", ,,Ist Frankreich erledigt, wird den Russen gepredigt!" oder
,,Franzosen, Russen, Serben, alle müssen sterben, Deutschland allein soll erben!" waren auf den
Soldatenzügen und danach auch auf Postkarten und Propagandaplakaten zu lesen.
45
Eine
wichtige Rolle spielte die Marschmusik
46
und die allen bekannten eingängigen
Soldatenlieder, die einem noch lange im Ohr klangen:
,,Es braust ein Ruf wie Donnerhall", ,,So
leb denn wohl", ,,Morgenrot" und andere.
Das Bewusstsein des ,,gerechten Krieges" vereinte die gesamte deutsche Bevölkerung und
neben den Reservisten, die sich zu diesem Zweck unverzüglich bei ihrer Garnison zu
melden hatten, drängte eine große Flut von Kriegsfreiwilligen zu den Meldestellen, die gar
44
Kriegs-Rundschau, S. 43.
45
Dazu siehe: H
AMAN
, Brigitte: Der erste Weltkrieg. Wahrheit und Lüge in Bildern und Texten. München und
Zürich: Piper 2004; M
AY
, Otto: Deutsch sein heißt treu sein: Ansichtskarten als Spiegel von Mentalität und
Untertanenerziehung in der wilhelminischen Ära (1888-1918). Hildesheim: Lax 1998.
46
Die Schriftstellerin Ilse Langner, zu Kriegsbeginn 15 Jahre alt, beschreibt die Marschmusik als einen
manipulierenden Faktor der Soldatenauszüge:
,,Ein jäher weher Schrecken hing wie eine graue Wolke über dem Kasernenhof
zwischen Sonne und Sand ... da aber erdröhnte die Marschmusik. Die Gesichter leuchteten auf, die Soldaten zogen aus ­ und
mancher noch seinen Schatz am Arm. Die Musik zerschlug die Angst, die dumpfe Ahnung ­ sie dröhnte vor Entschlossenheit. Die
künftigen Helden fingen an zu singen, erst schüchtern, aber da die Trommeln und Trompeten Mut und Trunkenheit weiter in die
Fortziehenden schlugen, in ihre aufgeschreckten Herzen, stieß auch bald das Lied lauter aus ihnen, es machte ihnen Luft und Lust.
[...] Ich habe den Schrecken noch heute in den Gliedern, ich kann noch immer keine Militärmusik hören, noch keine mächtige, mich
hypnotisierende, großartige Musik. Seit dem 1. August 1914 bin ich mißtrauisch gegen alle großen Töne ... Weil ein Zauber in ihnen
ist." L
ANGNER
, Ilse: ... da aber dröhnte Marschmusik. In: P
ÖRTNER
, S. 99-102. Hier S. 100 u. 102.
13

nicht alle erfassen konnten und viele auf später vertrösteten. Dem Drang in die Armee
konnte man sich kaum entziehen und es gab zahlreiche Jungen, die ihre Papiere fälschten,
um älter zu scheinen, daneben auch viele ältere Männer, die in den Krieg zogen und Alte,
die lebhaft bedauerten, nicht mitmachen zu können.
47
Natürlich waren gerade bei den
Jüngeren auch Abenteuerlust und der Reiz der Gefahr ein Teil der Motivation, sie stellten
sich den Krieg als Erlebnis vor, das sie auf keinen Fall verpassen wollten.
48
1.2 Kriegsverlauf
Zu Beginn des Krieges war die Entente den Mittelmächten an Kriegsmitteln überlegen,
denn sie verfügte insgesamt über mehr Soldaten und größere Reserven an Rohstoffen,
Kriegsmaterial und Waffen. Ihr Nachteil in den ersten Kriegswochen war jedoch die
mangelnde Organisation, die ihr zunächst einige Niederlagen einhandelte. Die Armeen der
Mittelmächte waren besser auf den Krieg vorbereitet, besser organisiert, verfügten über
eine hohe Kampfmoral und bessere Logistik durch das Eisenbahnnetz.
49
Beide Seiten
waren jedoch nicht auf einen langen Krieg eingestellt und rechneten auf einen schnellen
Sieg vor Wintereinbruch.
50
1.2.1 Das Kriegsjahr 1914
Im Westen machte die deutsche Armee zunächst einen schnellen Vorstoß nach Frankreich
durch Belgien. Die Besetzung Lüttichs machte den Weg für die deutsche Westoffensive
frei, die französische Offensive in den Vogesen wurde abgewehrt. Eine Reihe deutscher
Siege löste Begeisterungsstürme in der Heimat aus
51
und erst durch Marne-Schlacht
52
wurde die deutsche Westoffensive von der französischen Armee unter General Joffre
gestoppt. Die deutsche Armee zog sich hinter die Aisne zurück. ,,Das Wunder an der
Marne" wurde zu einem Mythos der Alliierten, den sie propagandistisch zur Motivation
47
Dazu siehe M
OMMSEN
, S. 36.
48
Ein Beispiel dafür von einem Zeitzeugen:
,,In der allgemeinen patriotischen Begeisterung war es für mich eine
Selbstverständlichkeit, mich sogleich darum zu bemühen, auch eine militärische Ausbildung zu erhalten. Im Herbst 1914 war es
angesichts der überaus zahlreichen Meldungen von kriegsfreiwilligen jungen Leuten gar nicht so leicht, einen geeigneten Platz zu finden.
In mehreren Kasernen erhielt ich eine Absage wegen Überfüllung. Das enttäuschte mich sehr, und noch heute erzählt man in meiner
Familie, daß ich höchst unzufrieden von solchen erfolglosen Bewerbungsversuchen nach Hause gekommen sei und geäußert hätte, wenn
das so weiterginge, bestünde für mich die Gefahr, daß der Krieg zu Ende gehen würde, bevor ich die Gelegenheit bekommen hätte, daran
teilzunehmen." W
ESTRICK
, in: Pörtner, S. 42. Auch andere Zeitzeugen schreiben von ihrer Angst, nicht mehr zur
Teilnahme am Krieg kommen zu können, z. B.:
,,Mir und meinen Altersgenossen allerdings war eine Verzögerung des
Kriegsendes nur recht; wir hatten eine panische Angst, nicht mehr rechtzeitig an die Front zu kommen." R
ICHTER
,
Herbert: Die
Armee im roten Königreich. In: P
ÖRTNER
, S. 103-111. Hier S. 109.
49
Zum Zustand der Heere siehe C
HICKERING
, S. 29-33 und M
OMMSEN
, S. 40-42.
50
Die Beschreibung des Kriegsverlaufs stützt sich im Wesentlichen auf M
OMMSEN
und C
HICKERING
.
51
Lüttich (7. August), Brüssel (20. August), Neufchateau (22.-23. August), Longwy (26. August), Montmedy (28.
August).
14

ihrere Heere nutzten. Die deutsche Bevölkerung wurde über diese Niederlage ihrer Armee
weitgehend in Unwissenheit gelassen. Mit dieser Niederlage war der deutsche Kriegsplan
gescheitert und Generaloberst Moltke wurde durch Falkenhayn abgelöst. Bei dem
folgenden ,,Wettlauf zum Meer" versuchte die deutsche Armee vergeblich, wichtige
Kanalhäfen zu gewinnen. Im November scheiterte die deutsche Offensivoperation in
Flandern mit großen Verlusten, unter anderem bei Langemarck, wo ganze Regimenter von
jungen Soldaten das Deutschlandlied singend in den Tod gegangen sein sollen, wie es
später die Presse darstellte, die damit den ,,Langemarck-Mythos" ins Leben rief. Bis zum
November erstarrte die Westfront auf der ganzen Linie und der Stellungskrieg begann.
Die Ostfront bestand 1914 aus den beiden Schwerpunkten Galizien und Ostpreußen, wo
die k.u.k.
53
Armee unter Generalstabschef Conrad von Hötzendorf und die achte Armee
Deutschlands gegen die russischen Truppen unter Großfürst Nikolai kämpfte, die den
Streitkräften der Mittelmächte etwa um das zweifache überlegen waren. Trotzdem gelang
der deutschen Armee weitgehend die Vernichtung der russischen Narew-Armee bei
Tannenberg,
54
die zur Entstehung des ,,Tannenberg-Mythos" führte. Der
Oberbefehlshaber Paul von Hindenburg wurde als ,,Held von Tannenberg" gefeiert. Bei
der Schlacht an den Masurischen Seen
55
wurde die russische Njemen-Armee in die Flucht
gejagt, bei den Schlachten um Lemberg
56
zwang die russische Armee die Österreicher zum
Rückzug aus Ostgalizien. Nach weiteren wechselvollen Kämpfen erstarrte die Front im
Dezember auch hier. Die Verbindung der Westmächte zu Russland gestaltete sich
weiterhin schwierig. Am 5. September vereinbarten Großbritannien, Frankreich und
Russland im Vertrag von London, keinen Sonderfrieden mit den Mittelmächten zu
schließen.
1.2.2 Das Kriegsjahr 1915
1915 war für die Mittelmächte das beste Jahr, und doch brachte es keinen
kriegsentscheidenden Durchbruch. Bei der Masurenschlacht im Februar wurde die
russische 10. Armee geschlagen.
Im Februar erklärte Deutschland den uneingeschränkten U-Bootkrieg gegen England, der
nach der Versenkung des britischen Passagierschiffes ,,Lusitania" am 7. Mai, das neben
52
Marne-Schlacht (5.-12. September).
53
,,K. u. k." bedeutet ,,königlich und kaiserlich" und ist die gängige Bezeichnung für die österreichisch-ungarische
Monarchie.
54
Tannenberg-Schlacht (26.-30. August).
55
Schlacht an den Masurischen Seen (6.-15. September).
15

Kriegsmaterial und Munition auch 1198 Personen an Bord hatte, wieder eingeschränkt
wurde.
57
Die britische Seeblockade gegen Deutschland, die trotz des U-Bootkrieges
durchgehalten wurde, hatte letztendlich kriegsentscheidende Auswirkungen. Schon im
Januar begann man in Deutschland mit der Rationierung von Lebensmitteln und führte die
Brotkarte ein.
Die Karpathenoffensive unter Hötzendorff scheiterte mit großen Verlusten, einige
tschechische Verbände liefen geschlossen zum Gegner über und im März musste die
Festung Przemysl kapitulieren. Angesichts der Lage konnte nun weder im Osten noch im
Westen eine größere Offensive gestartet werden, man versuchte die Ostfront zu stärken
und im Mai gelang den Mittelmächten der Durchbruch bei der Schlacht von Tarnow-
Gorlice und die Befreiung Ostpreußens und Galiziens von russischen Truppen. Die
Sommer- und Herbstoffensiven im Osten brachten den Mittelmächten zwar
Raumgewinn,
58
aber keine Vernichtung des Gegners, sondern lediglich eine Verschiebung
der Stellungsfront. Im Oktober besetzten die Mittelmächte innerhalb eines Monats Serbien
und stellten damit die Verbindung zur Türkei her.
Französische Offensiven in der Champagne und im Artois scheiterten an der deutschen
Überlegenheit im Stellungskrieg. Nach der italienischen Kriegserklärung an die
Mittelmächte am 23. Mai begann der Krieg auch in den Alpen. Bei den See- und
Landkämpfen um die Dardanellen versuchten britische und französische Streitkräfte
vergeblich, die Meerengen bei der kleinasiatischen Halbinsel Gallipoli zu erobern und
wurden von deutschen und türkischen Verbänden zur Räumung gezwungen.
59
Somit blieb
Russland auch weiterhin eine Verbindung mit den westlichen Verbündeten versperrt.
1.2.3 Das Kriegsjahr 1916
Mittlerweile hatten sich die großen Verluste der Schlachten so stark bemerkbar gemacht,
dass die Armeen neue Reserven an Soldaten brauchten. Im Januar führte Großbritannien
die allgemeine Wehrpflicht ein. Die bedeutenden und verlustreichen Materialschlachten
führten nicht zur Entscheidung sondern lediglich zu einem Erschöpfen der Streitkräfte auf
56
Kämpfe um Lemberg (August-September).
57
Dieser Vorfall rief große Entrüstungsstürme auf Seiten der Entente hervor und veranlasste viele britische
Männer zur Freiwilligenmeldung für den Krieg.
58
Das Baltikum, Polen und Galizien.
59
Die verlustreiche Schlacht von Gallipoli wurde in Deutschland weniger wahrgenommen, während sie in der
britischen Geschichtsschreibung einen besonderen Platz hat und z. B. im australischen kollektiven Gedächtnis und
in der Literatur bis heute eine zentrale Rolle spielt.
16

beiden Seiten. Nach der Verdunschlacht
60
waren insgesamt über eine halbe Million Verluste
(Tote, Verwundete, Verschollene) zu verzeichnen, wobei die französischen etwas höher
waren als die deutschen. Die Schlacht wurde in der Geschichtsschreibung und im
kollektiven Gedächtnis zum Inbegriff der Materialschlachten des Ersten Weltkrieges. Vom
31. Mai bis zum 1. Juni fand die einzige große Seeschlacht des Ersten Weltkriegs am
Skagerrak statt, bei der die britische ,,Grand Fleet" auf die deutsche Hochseeflotte traf.
Obwohl die Schlacht nicht bis zur Entscheidung geführt wurde, galt sie als Erfolg für die
deutsche Flotte, die den Briten trotz Unterlegenheit schwere Einbußen zufügte. Die
Großoffensive an der Somme,
61
größtenteils von britischen Streitkräften getragen, da das
französische Heer bei Verdun stark ausgeblutet war, wurde zur größten und blutigsten
Schlacht des Weltkrieges mit weit über einer Million Verlusten, aber ohne entscheidenden
Durchbruch. Die Briten setzten hier zum ersten Mal Panzerkraftwagen ein.
Der Beitritt Rumäniens zur Entente im August 1916 endete bis Dezember in einer
Eroberung durch die deutsche Armee. Im selben Monat wurde Falkenhayn wegen des
Scheiterns seiner Pläne im Westen durch die im Osten erfolgreichen Befehlshaber
Ludendorff und Hindenburg ersetzt. Auch in Frankreich wechselte die Heeresleitung nach
der gescheiterten Somme-Offensive von Joffre zu General Nivelle.
Am 4. Juni begann im Osten die großangelegte russische Brussilow-Offensive, die Front
blieb aber bis März 1917 weitgehend unverändert. Wegen dieser Schlacht musste die k.u.k.
Armee die Italienoffensive abbrechen. Im August fand eine erneute Schlacht am Isonzo
statt, bei der die Italiener Görz einnahmen. Die Proklamation des Königreiches Polen
durch die Mittelmächte am 5. November brachte ihnen nicht die gewünschte
Unterstützung.
Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson bemühte sich 1916 stark darum, zwischen
den kämpfenden Mächten zu vermitteln, wozu auch der deutsche Kanzler Bethmann
Hollweg bereit war. Am 27. Mai hielt Wilson die bekannte Rede vom ,,Frieden ohne Sieger
und Besiegte". Nach dem Tod Kaiser Franz Josephs am 21. November erwog auch sein
Nachfolger Karl eine Sonderfriedenspolitik und wurde darin von Außenminister Czernin
unterstützt. Am 12. Dezember forderte die deutsche Reichsleitung die USA dazu auf, die
Ententemächte zu informieren, dass Deutschland zu Friedensverhandlungen bereit sei. Der
britische Premierminister Lloyd George und der französische Ministerpräsident Aristide
60
Schlacht bei Verdun (Februar-Juni).
61
Somme-Offensive (Juli-November).
17

Briant lehnten dies aber ab. Wilson bemühte sich weiterhin um Frieden und drängte auf
Meinungsaustausch über Friedensbedingungen und Forderungen. Daraufhin schlugen die
Mittelmächte eine Friedenskonferenz vor.
Mittlerweile hatte sich die Ernährungssituation im Deutschen Reich drastisch
verschlechtert. Am 1. November wurde das ,,Kriegsamt zur Zentralisierung aller
kriegswirtschaftlichen Maßnahmen" eingerichtet. Es folgte die als ,,Steckrübenwinter"
bekannt gewordene Notzeit der deutschen Bevölkerung. Am 5. Dezember wurde in
Deutschland das ,,Vaterländische Hilfsdienstgesetz" erlassen. An der ,,Heimatfront"
machte sich zunehmend Verbitterung breit, die sich in Protestdemonstraionen und
Nungerrevolten äußerte.
1.2.4 Das Kriegsjahr 1917
Im Januar wurde von Kaiser und OHL
62
der uneingeschränkte U-Bootkrieg beschlossen,
gegen die Stimme des Reichskanzlers Bethmann Hollweg, der auf einen sicher zu
erwartenden Kriegseintritt der USA in einem solchen Fall hinwies. Die Militärs wollten
dieses in Kauf nehmen, denn der mögliche Sieg gegen England durch den U-Boot-Einsatz
war die letzte Chance, die sie sahen.
Im Frühjahr drangen die Briten bis Bagdad vor, besetzten Teheran und ganz Persien und
stellten so die Verbindung zu der russischen Front wieder her. Die Russen zogen infolge
der bei ihnen ausgebrochenen Februarrevolution ab, die neue russische provisorische
Regierung Kerenskis, die nach der Abdankung des Zaren gebildet wurde, war jedoch zur
Weiterführung des Krieges entschlossen.
Nach vielen diplomatischen Bemühungen Wilsons war auch die Entente zu der
vorgeschlagenen Friedenskonferenz bereit und gab zum ersten Mal offiziell ihre sehr weit
gehenden Kriegsziele bekannt.
63
Wilson versuchte diese abzuschwächen, da er auch die
Mittelmächte zur Bekanntgabe ihrer Ziele veranlassen wollte. Nachdem jedoch eine
deutsche Note an die USA mit dem Hinweis auf Großbritanniens völkerrechtswidrige
Handelsblockade den uneingeschränkten U-Boot-Krieg zum 1. Februar ankündigte,
brachen die USA die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab. Die meisten
südamerikanischen Staaten und China folgten ihrem Beispiel. Weitere diplomatische
62
OHL: Oberste Heeresleitung.
63
Kriegsziele der Entente: Wiederherstellung der Eigenständigkeit Belgiens, Serbiens und Montenegros; Räumung
aller besetzten Gebiete; Reparationszahlungen; politische Neuordnung Europas nach dem Nationalitätenprinzip;
Befreiung der Italiener, Südslawen, Rumänen und Tschechoslowaken aus österreichischer Oberherrschaft;
18

Friedensversuche Czernins blieben erfolglos und am 6. April erklärten die USA dem
Deutschen Reich den Krieg. Die ,,Friedensnote" von Papst Benedikt XV. am 1. August
stieß bei allen kriegsbeteiligten Mächten auf Ablehnung.
Das Scheitern der französisch-britischen Durchbruchsoffensive im April und Mai an der
Westfront führte zu ausgedehnten Meutereien in der französischen Armee. Der neue
Oberbefehlshaber Petain konnte die Ordnung jedoch wieder herstellen. Auch in
Deutschland gewannen Proteste gegen den Krieg politischen Charakter, nachdem sich im
April die kriegsgegnerische Partei der USPD aus dem radikalen Flügel der SPD gebildet
hatte. Die Zeit von Juni bis November war geprägt von mehreren britischen Angriffen in
Flandern. Nach der Abdankung des griechischen Königs Konstantin II. auf britisch-
französischen Druck trat Griechenland im Juni unter der neuen Regierung von Eleutherios
Venizelos der Entente bei.
Im Oktober brachten die Truppen der Mittelmächte die italienische Front am Isonzo zum
Zusammenbrechen, was eine hohe Demoralisierung des italienischen Heeres und
zahlreiche Desertionen zu Folge hatte. Nach der Oktoberrevolution in Russland traten die
Bolschewiken mit den Mittelmächten in Friedensverhandlungen und am 15. Dezember
wurde ein Waffenstillstand zwischen dem Deutschen Reich und Russland geschlossen.
Nach einer erfolgreichen Offensive der Briten in Palästina räumten die Türken am 8.
Dezember Jerusalem.
1.2.5 Das Kriegsjahr 1918
Das Kriegsjahr 1918 begann mit Protestwellen in Deutschland und Österreich und mit den
,,14 Punkten" des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, in denen er die
Bedingungen für den Weltfrieden darlegte.
64
Die Friedensverhalndlungen in Brest-Litowsk führten am 9. Februar zu einem
Separatfrieden mit der Ukraine und nach einem kurzen Abbruch der
Friedensverhandlungen und der Kapitulation der Sowjetregierung am 3. März schließlich
Verdrängung der türkischen Herrschaft aus Europa; Autonomie Polens; Sicherung des künftigen Friedens in dieser
neuen Ordnung.
64
Öffentlichkeit aller internationalen Verhandlungen; Freiheit der Meere und des Welthandels;
Rüstungsbeschränkung; internationale Regelung der Kolonialfragen; Räumung und Freiheit Russlands;
Räumung und Wiederherstellung Belgiens; Räumung aller französischen Gebiete und Abtretung Elsaß-
Lothringens an Frankreich; Berichtigung der italienischen Grenzen nach dem nationalen Prinzip; Freiheit zur
autonomen Entwicklung der Völker Österreich-Ungarns; Räumung Rumäniens, Serbiens und Montenegros
und internationale Garantien für die Balkanstaaten; nationale Autonomie der nichttürkischen Völker des
Osmanischen Reiches; Öffnung der Meerengen (Bosposrus und Dardanellen); Unabhängigkeit Polens;
Gründung eines Völkerbunds.
19

zum Frieden Sowjetrusslands mit Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei und Bulgarien.
65
Am 7. Mai folgte der Friedensvertrag von Bukarest zwischen den Mittelmächten und
Rumänien. Aber auch die Gebietsgewinne der Mittelmächte im Osten und ihre verstärkte
Handlungsfreiheit im Westen verhalfen der deutschen Frühjahrsoffensive in Frankreich im
März nicht zum gewünschten Erfolg. Im Frühjahr war die Truppenstärke der Mittelmächte
mit 3,5 Mio. Mann der der Alliierten fast gleich, den deutschen Truppen gelang es jedoch
nicht, die Franzosen von den Briten zu trennen und letztere ans Meer zu drängen. Trotz
starker Verluste schloss sich die britische Front wieder und der Beginn der alliierten
Gegenoffensive am 18. Juli unter dem gemeinsamen Oberbefehlshaber General Foch
markierte einen Wendepunkt im Kriegsverlauf. Der 8. August ging als ,,der schwarze Tag
von Amiens" in die deutsche Geschichte ein, denn er war der Beginn des
Zusammenbruchs der Armee der Mittelmächte. Im September wurde die deutsche Front in
die ,,Siegfriedstellung" rückverlegt, konnte sich aber in den folgenden Abwehrschlachten
noch einigermaßen halten.
Nach der erfolgreichen Offensive der Ententemächte in Mazedonien im September brach
die bulgarische Armee zusammen. Bulgarien wurde alliiertes Operationsgebiet und schloss
am 30. September Waffenstillstand mit den Alliierten. Zeitgleich wurde die türkische Front
in Palästina von britischen Streitkräften durchbrochen und am 30. Oktober der
Waffenstillstand zu Mudros vereinbart. Das Scheitern der Juni-Offensive Österreich-
Ungarns am unteren Piave führte zur steigenden Demoralisierung der Truppen. Im Herbst
kam es in allen Teilen der Donaumonarchie zu Unruhen und am 28. Oktober wurde die
Republik Tschechoslowakei ausgerufen. Die folgenden diplomatischen Verhandlungen
führten nach schließlicher Annahme der Friedensbedingungen durch Österreich-Ungarn
zum Abschluss des Waffenstillstandes mit den Alliierten am 3. November.
Die deutsche OHL hatte bereits im August die Weiterführung des Krieges als aussichtslos
erklärt und forderte Ende September von der Regierung Waffenstillstandsverhandlungen.
Am 3. Oktober wurde die erste parlamentarische Kabinettsregierung unter Reichskanzler
Prinz Max von Baden gebildet, der sofort ein Waffenstillstandsangebot auf Grundlage des
14-Punkte-Programms an US-Präsident Wilson richtete. Nachdem am 29. Oktober Teile
der deutschen Hochseeflotte den Befehl zum Auslaufen verweigerten, begann am 3.
65
Sowjetrussland verzichtet auf Polen, Litauen, Kurland; deutsche Polizeimacht besetzt weiterhin Estland und
Livland, die durch den Ergänzungsvertrag vom 27. August 1918 vollständig aus dem russischen Staatsverband
entlassen werden. Ukraine und Finnland werden als selbstständige Staaten anerkannt; Demobilisierung
20

November der Matrosenaufstand in Kiel, der sich auf viele große Städte im Deutschen
Reich ausweitete. Am 9. November gab Prinz Max von Baden eigenmächtig die
Thronentsagung Kaiser Wilhelms II. bekannt. Letzterer floh in die neutralen Niederlande,
wo er am 28. November seine Abdankung unterschrieb. Die folgenden
Waffenstillstandsverhandlungen wurden zwischen General Foch und einer deutschen
Kommission unter Leitung von Matthias Erzberger geführt, der nur geringe Änderungen
an den harten Bedingungen bewirken konnte. Am 11. November wurde in einem
ausgedienten Wagen im Wald von Compiegne der Waffenstillstandsvertrag
66
unterzeichnet,
der dem großen blutigen Ringen der Völker ein Ende machte.
Die Friedenskonferenz wurde symbolträchtig am 18. Januar 1919 im Spiegelsaal des
Versailler Schlosses
67
unter Teilnahme der 27 Siegerstaaten eröffnet. Am 29. April trafen
die deutschen Vertreter ein, denen am 7. Mai die Friedensbedingungen übergeben wurden.
Am 28. Juni wurde der von den Alliierten aufgestellte Friedensvertrag von Versailles von
dem deutschen Außenminister Hermann Müller und dem Verkehrsminister Johannes Bell
unterzeichnet. Es folgten weitere kleine Friedensverträge zwischen einzelnen Staaten.
1.3 Die deutsche Heimatfront
Neben den Soldaten war auch die gesamte Zivilbevölkerung in den Krieg der Weltmächte
miteinbezogen. Die kämpfenden Linien und die Heimatfront waren miteinander
verbunden und wer nicht in den Krieg zog, also vor allem Frauen und Kinder, wurde zur
Kriegsarbeit herangezogen. Eine der Hauptaufgaben der Heimatfront war es, die
Kampfbereitschaft der Armee zu sichern. In der Aufbruchsstimmung der ersten
Augusttage waren es auch die Frauen, die diese bereitwillig aufnahmen und weitertrugen.
68
Gerade die bürgerliche Frauenbewegung zeigte sich sehr empfänglich für nationalistische
Sowjetrusslands; die Mittelmächte verpflichten sich zur Räumung der besetzten Gebiete nach allgemeinem
Friedensschluss und verlangen keine Reparationen.
66
Bedingungen des Waffenstillstandsvertrags: Räumung der besetzten Gebiete Frankreichs, Belgiens, Luxemburgs,
und Elsaß-Lothringens innerhalb von 15 Tagen; Abgabe großer Mengen von Kriegsmaterial und Verkehrsmitteln;
Räumung des linken Rheinufers einschließlich der Brückenköpfe von Mainz, Koblenz und Köln; Bildung einer 10
km breiten neutralen Zone rechts vom Rhein; unverzügliche Rückbeförderung der Kriegsgefangenen ohne Recht
auf Gegenseitigkeit; Verzicht auf die Friedensverträge von Brest-Litowsk und Bukarest; Zurückführung aller
deutschen Truppen im Osten hinter die Grenzen von 1914 (auf ehemals russischem Staatsgebiet sollten sie wegen
der Revolution bis zur Abberufung noch bleiben); Ablieferung aller U-Boote; Abrüstung und Kontrolle der
deutschen Hochseeflotte, Ablieferung von 2000 Jagd- und Bombenflugzeugen.
67
Am 18. Januar 1871 war im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Kaiserreich feierlich proklamiert worden,
was eine große Demütigung für die Franzosen gewesen war, die sich nun dafür revanchierten.
68
Eine Zeitzeugin:
,,Ich weiß nicht mehr, wie lange diese euphorische Stimmung angehalten hat. Schon bei Langemarck fielen einige
unserer guten Freunde. Aber so schmerzlich diese Verluste auch von uns erlitten wurden und so sehr wir in steigendem Maße zu
unzureichender Ernährung, Kleidung und Heizung genötigt wurden, ließen Kriegsbereitschaft und Zuversicht nicht nach. Selbst die zu
21

Kriegspropaganda und trug selbst viel dazu bei. Bis auf wenige Ausnahmen, die sich
intensiv in der Friedensbewegung einsetzten, hatten die Vertreterinnen der
Frauenbewegung
,,ihre Bereitschaft verkündet, in den Dienst der Kriegsanstrengungen zu treten und
politische Forderungen [...] zurückzustellen"
69
und sich ganz in den Dienst von Volk und
Vaterland zu stellen, um an der ,,Verteidigung des Vaterlandes" teilzunehmen. Sie wollten
den in den Krieg ziehenden Angehörigen nicht Angst und Sorge zeigen, sondern
Tapferkeit und freudigen
,,Opfermut",
70
um die Moral der Kämpfenden zu unterstützen.
71
Der ,,Bund Deutscher Frauenvereine" (BDF)
72
wurde während 1910-1919 von Gertrud
Bäumer geleitet, die bei Kriegsbeginn den ,,Nationalen Frauendienst" (NFD) für den
Einsatz in verschiedenen Bereichen der Kriegsfürsorge gründete. Die Frauenbewegung
widmete sich in der Kriegszeit hauptsächlich sozialen Aufgaben, wobei der Einsatz für die
Frauenbildung etwas in den Hintergrund geriet.
Der Krieg wirkte sich sehr stark auf die in den Jahren davor zunehmend in Frage gestellte
Geschlechterordnung aus. Die Aktivitäten der Frauenrechtsbewegungen hatten
zugenommen und die traditionelle Zuordnung des öffentlichen Bereiches den Männern
und des privaten den Frauen wurde nicht mehr widerspruchslos hingenommen. Durch den
Krieg wurden Männlichkeit und Weiblichkeit nun wieder komplementär verstanden. Die
Front war der Einsatzbereich des Mannes und der Soldat Inbegriff der Männlichkeit,
während die Heimatfront nun die Sphäre der Frau war, die zum einen das vom Mann zu
beschützende Objekt war, zum anderen die Hüterin des Herdes und der Heimat, die dem
kämpfenden Mann von daheim aus den Rücken stärkte. Schließlich waren es vor allem die
Frauen, die für die Stimmungslage in der Bevölkerung entscheidend waren. Allerdings
mussten die Frauen nun, da in allen Arbeitsbereichen Männer wegfielen, deren Arbeit
sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie, die vor allem im Bereich der
Rüstung auf die Hilfe der Frauen angewiesen war, verrichten. Das Ausüben von
einer Friedensgesinnung gefunden hatten, hielten es für ausgeschlossen, daß der militärische Erfolg durch Friedenspropaganda
untergraben werden könnte." Flitner, in: P
ÖRTNER
, S. 53.
69
D
ANIEL
, Ute: Frauen. In: H
IRSCHFELD
/K
RUMMEICH
/R
ENZ
, S. 116-134. Hier S. 118.
70
K
RUSE
, S. 95-96.
71
Siehe F
LITNER
, in: P
ÖRTNER
, S. 54f.
72
Im BDF hatten sich 1894 deutsche Frauenverbände zusammengeschlossen. In seiner Leitung war bis 1905 die
bekannte Frauenrechtlerin Helene Lange. Der Bund kämpfte für das Recht auf Bildung, freie Berufswahl und
Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium. Das Immatrikulationsrecht wurde zwischen 1900 und 1909 in den
Ländern durchgesetzt, 1920 erhielten Frauen das Habilitationsrecht, ab 1924 die Möglichkeit, Richterin zu werden.
Außerdem trat 1908 die lang umkämpfte Vereinsfreiheit für Frauen in Kraft, die es Frauen ermöglichte, Mitglieder
einer Partei zu werden. Den sozialdemokratischen Frauengruppen wurde der Beitritt wegen deren
gesellschaftspolitischen Forderungen verweigert. Siehe Website des Deutschen Historischen Museums in Berlin
(http://www.dhm.de/lemo/html/kaiserreich/innenpolitik/frauen/ index.html)
22

,,männlichen" Arbeiten durch Frauen galt aber nur als durch den Krieg erzwungene
vorübergehende Lösung. Daneben hatten die meisten verheirateten Frauen nun alleine für
ihre Familie zu sorgen ­ eine Situation, auf die sie aufgrund ihrer Abhängigkeit von ihren
Männern schlecht oder gar nicht vorbereitet waren und welche sie viel Kräfte kostete. Viele
Frauen und ihre Familien wurden durch den Wegfall des Ernährers zu Bedürftigen, um
deren Versorgung sich der Staat zu kümmern hatte, was vor allem in den Wirren der ersten
Kriegswochen zu einem Problem wurde.
73
Ein weiterer Teil der Frauen und Kinder
gehörte selbst zu den Kriegsopfern, wie z. B. die aus den besetzten Gebieten geflüchteten
oder vertriebenen Frauen. Organisation und Verteilung für Bedürftige übernahmen gleich
zu Beginn des Krieges Kommunen, Gewerkschaften und Frauenbewegungen.
Die Frauenorganisationen entwickelten zu Kriegsbeginn ein vielfältiges Engagement in der
Verwundetenpflege, in der Herstellung von Verbandmaterial und Kleidung für die
Verwundeten, in Strickstuben und Nähvereinen, die ,,Liebesgaben" für die Soldaten
herstellten, im ,,Bahnhofsdienst", wie man die öffentlichen Speisungen von Soldaten
bezeichnete,
74
in der Versorgung und Beherbergung von Flüchtlingen und Vertriebenen
und in der Waisenfürsorge.
75
Die Pflege der Verwundeten scheint die begehrteste Aufgabe
der Frauen gewesen zu sein, an der sich auch prominente Frauen und Mädchen
beteiligten.
76
Auch die Kinder wurden in die Kriegsarbeit mit eingebunden, vor allem in der Herstellung
von Liebesgaben, die man den Soldaten im Feld zukommen ließ.
77
Die Schulmädchen
73
Mehr dazu: siehe D
ANIEL
, in: H
IRSCHFELD
/K
RUMMEICH
/R
ENZ
, S. 116-134.
74
Von einer solchen Speisung berichtet ein zeitgenössischer Artikel:
,,In einem winzigen Nest Eschwege erzählte man uns
mit Stolz, daß man schon manchesmal gleichzeitig tausend Mann dort gespeist habe. Und in Schwetzingen schleppten die wackeren
Frauen und Mädchen (gegrüßt seist du, rundliche Frau Maier!) in frühester Morgenstunde unermüdlich unermeßliche Töpfe und Kaffee
heran, damit wir ja recht kräftig an den Feind kämen." K
ÖHRER
, Erich: Mit Liebesgaben an die Front. Der Weltkrieg.
Illustrierte Kriegs-Chronik des Daheim. Bd. 1. Bielefeld/Leipzig: Velhagen u. Klasing 1915. S. 185-189. Hier S.
186.
75
Eine Zeitzeugin schildert ihre Tätigkeit im Nationalen Frauendienst:
,,Wir Frauen meldeten uns sofort nach
Kriegsausbruch zu Lehrgängen für Verwundetenpflege, zur Hilfe in Kinderkrippen und -horten und anderen sozialen Einrichtungen
und zum Ersatz für männliche Arbeitskräfte. Während meiner beiden Semester in Berlin arbeitete ich zwei volle Wochentage von acht
bis achtzehn Uhr im Nationalen Frauendienst. [...] Wir waren im Norden der Stadt tätig, in einem Arbeiterviertel voll
Mietskasernen mit bis zu zehn Hinterhäusern, in deren dunklen Höfen blasse Kinder spielten. Wir waren zu solchen Diensten bei der
Immatrikulation dringlich aufgefordert worden." F
LITNER
, in: P
ÖRTNER
, S. 54.
76
Eine aus Wien stammende Schauspielerin beschreibt das so:
,,So gern ich auch in die Poliklinik ging und trotz der
erschütternden Erlebnisse, die ich dort hatte (ganz im Unterschied von so mancher Erzherzogin, die sich damit begnügte, zu
Weihnachten von Bett zu Bett zu gehen und Unverbindliches, doch, wie sie meinte, Tröstliches zu sagen) ­ mein Herz schlug, auch
wenn ich am Bett eines Sterbenden sitzen und ihm die Hand halten musste, bis er einschlief, nur fürs Theater. [...] Vielleicht können
es nur Künstler verstehen, wenn ich sage, daß der Krieg und alles Drum und Dran ­ als Verwundetenpflegerin wußte ich, um was für
Drum und Dran es sich handelte ­ an uns beinahe schemenhaft vorbeizog." G
ESSNER
, Adrienne: Kunst und Caruso galten
mehr als Politik. In: P
ÖRTNER
, S. 82-88. Hier S. 86-87.
77
Dazu gehörten z. B. Tabakwaren, Süßigkeiten, Hemden, Wollwesten, Unterwäsche, Fußlappen, Einlegesohlen
und Schuhwerk sowie andere notwendige Gegenstände wie Schreibzeug und Taschenlampen. Siehe K
ÖHRER
,
Kriegs-Chronik, S. 186.
23

wurden in der Schule und zu Hause dazu angehalten, Strümpfe, Westen, Ohrenschützer,
Bauchschützer u. a. für die Soldaten zu stricken und zu häkeln.
Von den wahren Zuständen an der Front konnten die Daheimgebliebenen nur auf dem
Wege der Feldpost erfahren. Staatliche Versuche, diese Verständigung zu kontrollieren,
hatten nur teilweise Erfolg. Zum einen gab es verschiedene private Kanäle, über die man
Post beförderte, zum anderen konnte man aufgrund der Flut von Feldpostbriefen nur
stichprobenartige Kontrollen machen. Direkt in das Frontgeschehen miteinbezogen war
nur ein kleinerer Teil an der Heimatfront: die Bewohner der Grenzgebiete in Ostpreußen,
die mehrere Monate von den Russen besetzt waren. Im Westen verlief die Front
stellenweise so nah an der deutschen Grenze, dass Bewohner der Grenzorte das
Geschützfeuer hören konnten. Bei alliierten Fliegerangriffen auf deutsche Städte, wurden
insgesamt 768 Deutsche getötet.
78
In den ersten Kriegswochen wurden die Namen der Gefallenen noch von den Pressestellen
veröffentlicht, als die Verluste aber größere Ausmaße annahmen, tat man das nicht mehr,
unter anderem um über die Verlustmengen hinwegzutäuschen. Dennoch machte ja jede
Familie ihre eigenen Erfahrung mit dem Kriegstod, der ihnen oft durch einen Brief der
Vorgesetzten, in dem die traurige Nachricht in sterilen Formeln von einem schnellen,
stolzen und heldenhaften Tod verpackt war, mitgeteilt wurde. Oft erfuhr man auch einfach
nur, der Betreffende sei vermisst, oder man hörte nichts von ihm.
Ein weiterer Teil des Krieges, der sich in die Heimatfront verlagerte, waren die Verletzten,
von denen es in Deutschland rund vier Millionen gab.
79
Die Leichtverwundeten kamen in
Frontlazarette, die schwersten Fälle in Lazarette in Deutschland, welche entweder die
Armee selbst oder das Rote Kreuz in öffentlichen Gebäuden wie Schulen, Hallen und
Theatern eingerichtet hatte. Viele verstümmelte und entstellte Männer prägten das Bild der
Soldaten in der Heimat. Antiseptik und Medizin wurden in diesen Jahren immer
ausgereifter und dank ihr konnten manche Schwerverletzte überleben.
Aufgrund der mangelhaften Berichterstattung und der unterschiedlichen Erfahrungen an
Front und Heimat fand zwischen diesen beiden Lebensbereichen eine zunehmende
Entfremdung statt, was bei der Heimkehr der Soldaten nach dem Krieg für große
Probleme sorgte, sowohl im gesellschaftlichen, als auch im privaten Bereich.
78
Siehe C
HICKERING
, S. 123.
79
Siehe C
HICKERING
, S. 124.
24

1.4 Kriegspropaganda
Eine Besonderheit und Neuheit des Krieges war die riesige Propagandamaschinerie, die auf
beiden Seiten in Gang gesetzt wurde, um die Stimmung in Heer und Volk für den Krieg
einzunehmen und beizubehalten und um bestimmte Ziele zu erreichen, z. B. das Volk zum
Unterschreiben von Kriegsanleihen
80
zu überreden. Alle Massenmedien, sowie Literatur,
Kunst und Musik, wurden für Kriegspropaganda vereinnahmt. Man spricht von ,,geistiger
Mobilmachung" und Propagandaschlachten jener Zeit. Zu Beginn des Krieges war es das
Ziel der Propaganda, den Krieg zu rechtfertigen und die Meldung von Kriegsfreiwilligen
voranzutreiben. Dies erfolgte vornehmlich durch öffentliche Reden und durch an allen
geeigneten Stellen ausgehängte Pamphlete. Da zu Beginn der Krieg auf beiden Seiten von
einem Großteil der Bevölkerung unterstützt wurde, bedurfte es hier noch keiner
organisierten und systematisierten Propaganda. Diese wurde erst nötig, als die
Kriegsbegeisterung verflogen war, die Kämpfe sich hinzogen und die Moral der
Bevölkerung zu sinken begann. Bis zum Ende des Krieges waren Propagandamethoden
ausgereift und professionalisiert. Je länger der Krieg dauerte, desto stärker zielte die
Propaganda darauf hin, den Durchhaltewillen der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, den
enormen Opfern eine Sinnhaftigkeit zu verleihen und die Siegesgewissheit nicht erlahmen
zu lassen. Vor allem in Deutschland wurde das Volk im Unwissen über die tatsächliche
Lage an der Front gelassen und mit Siegverheißungen bei Stimmung gehalten, damit es den
Krieg weiterhin unterstützte.
Eine große Hilfe für die Verbreitung von Propaganda waren die Entwicklungen der
vorausgegangenen Jahrzehnte im Bereich der Massenmedien. Seit den 1890-ern hatte sich
das Zeitungswesen als Masseninformationsmethode entwickelt. Man hatte die Aufmachung
der Zeitungen vereinfacht und die sensationelle Nachrichtenpräsentation begünstigt, was
besonders für Frontneuigkeiten von Bedeutung war. Bis zum Ende des Krieges war auch
die Filmindustrie soweit vorangekommen, dass auch durch filmisches Material Propaganda
betrieben werden konnte. Einfache und verbreitete visuelle Propagandamittel waren
Plakate, Postkarten und Briefmarken.
81
Hauptträger der Kriegspropaganda war selbstverständlich die Presse, die sehr stark
meinungsbildend auf die Bevölkerung wirkte. Was Tageszeitungen und Extrablätter über
80
Kriegsanleihen sind Wertpapiere zur Finanzierung des Krieges, also in der Regel Kredite, die der Regierung von
den Bürgern gewährt werden. Im Ersten Weltkrieg machte die deutsche Regierung insgesamt neun Kriegsanleihen
bei der Bevölkerung. Siehe: L
OTZ
, Walther: Die deutsche Staatsfinanzwirtschaft im Kriege,
Stuttgart/Berlin/Leipzig 1927, S.120.
25

das Kriegsgeschehen berichteten, war fast ausschließlich die einzige Information, die
Durchschnittsbürger von der Front bekommen konnten, und prägte dementsprechend ihr
Bild von dem Krieg. Spätestens seit Kriegsbeginn war die Presse in allen kriegführenden
Ländern nicht mehr frei. Die Regierung bestimmte über die Informationen, die die Presse
bekommen durfte, die Zeitungen standen unter der Kontrolle und der strengen Zensur des
Militärs. Die Bevölkerung sowohl auf Seite der Mittelmächte als auch bei der Entente sollte
bewusst über die tatsächliche Lage an der Front im Unwissen gelassen werden. Die
Information wurde streng gelenkt, kontrolliert und strukturiert. Die Pflicht der
Kriegsberichterstatter war nicht in erster Linie, Tatsachen und Fakten zu bringen, sondern
die Kampfmoral der Soldaten zu erhöhen, Patriotismus zu schüren und den Feind zu
verunglimpfen. Der Krieg musste gerechtfertigt und Kämpfer rekrutiert werden. Dazu
wurde in großem Maße simplifiziert, verallgemeinert, ausgesucht und zu
propagandistischen Zielen aufgebauscht, übertrieben oder beschönigt. Es wurde ein
einheitliches Feindbild geschaffen, eingängige Slogans zur Rechtfertigung des Kriegs
entstanden und Heldenmythen wurden kreiert. Ideale, wie Freiheit, Gerechtigkeit,
Demokratie, Christenheit, in deren Namen der Krieg geführt wurde, waren überzeugend
und dennoch wenig greifbar. Als der Krieg sich weitaus länger hinzog als erhofft, wurde es
immer schwieriger, diese Ideale und die Propaganda glaubwürdig zu gestalten. Die Soldaten
an der Front waren zunehmend desillusioniert und zwischen den demoralisierten Soldaten
und der immer noch in ,,Schwarz-Weiß-Bildern" informierten und denkenden Heimatfront
tat sich eine wachsende Kluft auf. Ab 1917 öffnete dieses zunehmend den Weg für Anti-
Kriegs-Propaganda, was noch stärkeren Einsatz und feinere Professionalisierung der
staatlichen Kriegspropaganda erforderlich machte.
82
Im Deutschen Reich gab es einige offiziell für Propaganda zuständigen Behörden: die
,,Zentralstelle für Auslandsdienst", gegründet am 5. Oktober 1914, die ,,Militärische Stelle
des Auswärtigen Amtes" (MAA), gegründet am 1. Juli 1916, und das Bild- und Filmamt
(BUFA), gegründet am 30. Januar 1917. Inhalt der deutschen Kriegspropaganda war die
Karrikierung des englischen Imperialismus, Stärkung der guten Stimmung an der
Heimatfront, Propagierung des Deutschtums, Werbung für Kriegsanleihen und Darstellung
der Gräueltaten der Feinde, Verunglimpfung des Französischen und des Russischen und
dagegen Darstellung der eigenen Höherwertigkeit. Auch die deutschen Intellektuellen
81
Dazu siehe H
AMAN
und http://www.ww1-propaganda-cards.com.
26

beteiligten sich an der Verbreitung dieser Ideologie und gaben sogar häufig Argumente und
Formulierungen vor. So wurde der berühmte Jenaer Literaturprofessor Rudolf Eucken mit
seinen Kriegsreden (etwa 36 im ersten Kriegsjahr) wegweisend für das, was ein Deutscher
1914 über den Krieg zu denken hatte. Seine erste Rede
,,Die sittlichen Kräfte des Krieges"
83
gab
die Stichworte für andere Redner, für Schriften und für Belehrung in der Schule. Er
überzeugte mit seiner Argumentation, der gegenwärtige Krieg würde nicht dem
,,Hass und
Neid", der ,,Ruhmsucht oder Eroberungsgier" entspringen, was eine sinkende Moralität zur Folge
haben würde, sondern
,,Kampf eines ganzen Volkes für seine Selbsterhaltung und für die Wahrung
seiner heiligsten Güter, [...] eine Abwehr gewaltsamer Angriffe" sein und könne deshalb ,,zur Quelle
sittlicher Stärkung" werden und zum moralischen Aufschwung des deutschen Volkes dienen.
Dass das deutsche Volk in dem Krieg eine gute Sache verfechte, beweise
,,die Wirkung, die er
auf die Seele ausübt, die durchgreifende Läuterung und Erhebung, die er an ihr vollzieht."
Er sprach von
den Opfern, die jeder selbstverständlich zu bringen bereit sei, von dem
,,gewaltigen Ernst",
der
,,starken Konzentration", der ,,festen Ordnung", der bereitwilligen Einordnung in das Ganze,
von dem
,,strengsten Gehorsam", der ,,kein lähmender Druck" sei, ,,sondern freudige Tat eines freien
Mannes." Von diesem gerechten Krieg gehe laut Eucken eine ,,stählerne Kraft" aus, weil er die
Menschen lehre, dass sie vom Ganzen abhingen und die Illusion der Selbständigkeit
nähme:
,,Dies ist der beste Weg, allen kleinlichen Egoismus zu brechen."
Der Krieg vereine das
deutsche Volk über alle standesmäßigen, politischen und geographischen Unterschiede
hinweg:
,,Gefahren, Nöte, Erfolge, sie sind hier gemeinsame Erlebnisse, so empfindet jeder unmittelbar, mit dem anderen, so versteht
er ihn unmittelbar, alle harte Kruste des Eigendünkels und der absonderung ist jetzt aufgelöst, in großen Wogen geht
dasselbe Gefühl, dasselbe Leben durch das ganze Volk, alle Unterschiedes des Standes, auch alle Gegensätze der Parteien
verschwinden."
Der Krieg verbinde Eucken zufolge Deutschland mit den ,,höheren Mächten" in einer
überkonfessionellen Deutung, denn
,,durch den Krieg geht ein tiefer religiöser Zug, weit über alle
einzelnen Dogmen und über die Verschiedenheit der Bekenntnisse hinaus heute durch das deutsche Volk."
Von faktischer Darstellung sah Eucken ab, seine Rede war philosophisch anspruchslos und
gab die einfache Parolen aus, die auch den letzten Zweifler vom Krieg überzeugen sollten:
Krieg als Läuterung und Erhebung, als Erfahrung des Ganzen und des Höheren, ein
,,gerechter Krieg, ja wir dürfen sagen: ein solcher heiliger Krieg." Dies gesamte Gedankengut findet
82
Über Propaganda im Ersten Weltkrieg siehe: H
ASTE
, Cate: Keep the Home Fires Burning. Propaganda in the
First World War. London 1977.
83
E
UCKEN
, Rudolf: Die sittlichen Kräfte des Krieges. In: Kriegs-Chronik, S. 106-107. Hier S. 106. Zu Eucken und
seinen Reden siehe F
LASCH
, Kurt: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste
Weltkrieg. Ein Versuch. Berlin: Fest 2000.
27

sich sehr stark in allen anderen Bereichen dessen, was in den ersten Kriegsjahren in
Deutschland über den Krieg, sowohl seitens der offiziellen Presse, als auch in
Schulbüchern, Kinder- und Jugendbüchern und überhaupt in den damalig erschienenen
literarischen Erzeugnissen gesagt und geschrieben wurde. Gerade 1914 und 1915 wurde
sehr viel über den Krieg geschrieben. Zeitschriftenverlage ließen Sonderausgaben heraus,
wie z. B. die ,,
llustrierte Kriegs-Chronik des ,Daheim'",
84
deren erster Band 1915 erschien und in
verschiedenen Artikeln den Kriegsverlauf bis zum Erscheinungsdatum beschreibt. Sie
enthält unter anderem viele Fotos und Gedichte, die den Krieg stolz und zuversichtlich in
einer Art darstellen, die an die Beschreibung von Fußball-Weltmeisterschaft-Spielen
heutzutage erinnert und die auch von den Siegen mit ähnlichem Vokabular berichtet.
Gefallene werden nicht beklagt, sondern bewundert. Alles wird als sauber und ehrenvoll
dargestellt, der Tod dagegen in bildlicher Darstellung ausgeklammert und verbal als
Heldentat besungen.
Breite Öffentlichkeitswirkung hatte die ,,Deutsche Kriegsausstellung", die 1916 in Berlin
vom Preußischen Kriegsministerium und dem Deutschen Roten Kreuz organisiert wurde.
85
Derartige Ausstellungen gab es in vielen deutschen Städten, z. B. in Hamburg
86
, Dresden
und Leipzig. Auf diesen Ausstellungen konnte man z. B. erbeutete Waffen besichtigen.
Im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn erschien ab kurz nach Kriegsbeginn
wöchentlich eine Ausgabe der Schriftenreihe ,,
Illustrierte Geschichte des Weltkrieges".
Zielgruppe der Schriften war die einheimische Bevölkerung, der man eine zwar detaillierte,
aber einseitige Sicht des Kriegsverlaufs vermitteln wollte, um die Pro-Kriegsstimmung im
Land hoch zu halten. In diesen Heften gab es illustrierte Kriegsberichte von den aktuellen
Schauplätzen, mit einerseits durchaus historisch relevanten Daten, wie z. B. Angaben zu
gefallenen und gefangenen Soldaten, erbeuteten Kriegsmaterialien usw., die aber natürlich
zu Gunsten der Mittelmächte drastisch geschönt wurden.
In Österreich-Ungarn hieß die für Propaganda zuständige Behörde ,,K.u.k.
Kriegspressequartier" (KPQ), die gleich am 28. Juli 1914 gegründet wurde. Seit September
1914 erschienen Kriegswochenschauen, produziert von der Wiener Kunstfilm-Industrie. So
wie im Deutschen Reich wurden auch hier die Gegner verunglimpft und die eigenen
84
,,Daheim" war eine illustrierte Wochenzeitung, die seit 1854 in Leipzig erschien.
85
Dazu siehe L
ANGE
, Britta: Einen Krieg ausstellen. Die "Deutsche Kriegsausstellung" 1916 in Berlin. Berlin:
Verbrecher Verlag, 2003.
86
Dazu siehe: Deutsche Kriegsausstellung 1916 in Hamburg: amtlicher Führer. Veranstaltet vom Zentralkomitee
der Deutschen Vereine vom Roten Kreuz und vom Hamburgischen Landesverein vom Roten Kreuz. Berlin:
Klasing 1916.
28

Soldaten verherrlicht. Einige eingängige Propagandasprüche stammen aus Österreich, wie
z. B. das Motto
,,Serbien muss sterbien." Auch in Österreich gab es Ausstellungen wie die am
1. Juli 1916 im Wiener Prater eröffnete Kriegsausstellung, an der auch das Deutsche Reich,
Bulgarien und die Türkei teilnahmen. Ziel der Ausstellung war es, der Bevölkerung den
Krieg mittels Anlegung verschiedener Typen von Schützengräben und Stollenbauten vor
Kulissen aktueller Kriegsschauplätze zu veranschaulichen. In Schießbuden standen Figuren
in Uniformen gegnerischer Soldaten als Ziel, es wurden Filmvorführungen und Schauspiele
veranstaltet.
87
Sehr ähnliche Ziele wie die deutschen verfolgten auch die Alliierten
Propagandainstitutionen: das britische ,,War Propaganda Bureau", das französische
,,Maison de la Presse" und das amerikanische ,,Committee on Public Information". Der
Krieg galt als Kampf gegen das Böse und als ,,War to End Wars". Das einheitliche
Feindbild war ,,The Evil Hun" oder der ,,Boche",
88
der ausgerottet werden musste und in
Zeichnungen und Karrikaturen meistens als schreckliches blutrünstiges Monster dargestellt
wurde. Ein Hauptbestandteil der alliierten Propaganda war deshalb die Darstellung
deutscher Kriegsgräuel, zu deren wichtigen Topoi z. B. die ,,Schlachtung der belgischen
Babys" gehörte, was u.a. gerade in Kinder- und Jugendbüchern der Alliierten wichtigen
Platz findet. Dabei sollten neben Fakten auch ausgeschmückte Gerüchte die Angst in der
französischen Bevölkerung schüren. Vor allem Verstümmelungen und Plünderungen
wurden den deutschen Soldaten vorgeworfen, Vergewaltigungen dagegen, die auch
stattfanden, wurden selten genannt. In der Schule wurden Kinder dazu ermutigt, Soldaten
bzw. Krankenschwestern zu werden und Schuldiktate handelten von Schlachten und
Gräueltaten der Deutschen. Ereignisse wie die Versenkung der ,,Lusitania" am 7. Mai 1915
oder die Hinrichtung der englischen Krankenschwester Edith Cavell im Oktober 1915 für
Spionagetätigkeit durch das deutsche Militär verursachten neue Wellen von antideutscher
Kriegspropaganda.
89
87
Programmzettel und Rezensionen von Filmvorführungen auf der Kriegsausstellung siehe z. B. unter
http://www.stadtbibliothek.wien.at/cgi-ma09/embed-wo.pl?lang=-
de&l=3&doc=http://www.stadtbibliothek.wien.at/ausstellungen/1988/wa-214/doc-1916-de.htm.
88
Beide Bezeichnungen waren schon früher entstanden, ,,Boche" (Holzkopf) um 1860, eigentlich ,,Salle de Boche
Allemand", also ,,deutscher Drecksack" ,,Hun" rührt von der 1900 von Kaiser Wilhelm II. gehaltenen sogenannten
,,Hunnenrede" her, in der er Folgendes sagte:
,,Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht
gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter
ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der
Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen
Deutschen scheel anzusehen!" Nach G
ÖRTEMAKER
, Manfred: Deutschland im 19. Jahrhundert. Entwicklungslinien.
Bonn: Opladen
5
1996. S. 357.
89
Mehr dazu: siehe H
ASTE
.
29

In den USA, wo der Kriegseintritt nicht so populär war, wie zeitgenössische Filme und
Bücher suggerieren, musste die Regierung einige Mühe aufwenden, um ihre Bürger zum
Krieg zu motivieren. Die Kriegspropaganda hier hob vor allem auf der Idee der
moralischen Überlegenheit und dem Stolz auf die Demokratie ab. Während des Weltkriegs
entstand auch die berühmte
,,I Want You for the U.S. Army" -Aktion mit dem bekannten
Plakat von James M. Flagg, die später auch im 2. Weltkrieg bekannt wurde.
1.5 Die Folgen des Ersten Weltkriegs
1.5.1 Politische Folgen
Der als dritter Balkankrieg begonnene militärische Konflikt löste einen gewaltigen
Flächenbrand aus und trug wie kein anderer Krieg vorher zu einer völligen Neugestaltung
Europas durch Zerfall, Neuentstehung und Neugestaltung von Staaten bei. Das
wilhelminische Kaiserreich ging mit bedeutenden Gebietsverlusten
90
unter und machte
einer schwachen und immer noch von alten Eliten und Vorstellungen geprägten Republik
Platz. Die Donaumonarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten,
91
das Osmanische Reich
ging unter und das russische Zarenreich verlor Gebietsteile
92
und wurde schließlich durch
die russische Revolution zu einer sozialistischen Diktatur. Durch ihren
kriegsentscheidenden Beitrag schwangen die USA sich zur Weltmacht auf und verdrängten
Europa aus dem globalen Machtzentrum. Die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts,
sowjetischer Kommunismus, italienischer Faschismus und deutscher Nationalsozialismus
wären nicht ohne den Ersten Weltkrieg denkbar. Die Zeit der Kolonialherrschaft war
vorbei und auch in den ehemaligen Kolonialgebieten bildeten sich neue selbständige
Staaten. Deutschland verlor sämtliche Kolonien und auch die anderen Großmächte hatten
Verluste zu verbuchen.
Nach der Zerstörung des europäischen Gleichgewichtes mussten andere Mittel zur
Friedenssicherung gefunden werden, was zur Gründung des Völkerbundes führte. Viele
Konfliktpunkte blieben jedoch bestehen, wie ungelöste Grenzfragen, Probleme mit
ethnischen Minderheiten und innenpolitische Probleme der einzelnen Staaten.
90
Deutsche Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg: Elsaß-Lothringen an Frankreich, Westpreußen und Posen
an Polen, das Memelland an Litauen, das Hultschiner Ländchen an die Tschechoslowakei; durch
Volksabstimmungen Eupen-Malmedy an Belgien, Nordschleswig an Dänemark und Kattowitz an Polen.
91
Österreich, Tschechoslowakei, Ungarn, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen; außerdem kam
Galizien an Polen, Siebenbürgen an Rumänien, Südtirol und Triest an Italien.
92
Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen und Bessarabien, wurden zu selbständigen Staaten.
30

1.5.2 Kriegführung und Mentalitätswandel
Das Neue und Besondere an der Führung des Kriegs 1914-18, was ihn schon in den Augen
der Zeitgenossen zum ,,großen" Krieg machte, war die vorher nie dagewesene
Technisierung und Industrialisierung des Krieges. Der bis dahin als ehrenvoll geltende
Kampf von Mann zu Mann wurde völlig abgelöst durch den Kampf von Mann gegen
Material. Der Topos vom heldenhaften Aufopfern für das Vaterland verlor sich völlig in
dem wilden Gemetzel der Massen und in dem Schlamm der Schützengräben. Gewaltige
Materialschlachten wurden zum prägenden Merkmal des Ersten Weltkrieges, der dadurch
eine Zäsur im gesamten Kriegswesen darstellt. Trotz des enormen Einsatzes von Material
wie Panzer, Flugzeugen, Luftschiffen und Tonnen von Massenvernichtungswaffen und
Giftgas bewegten sich die relativ früh feststehenden Fronten kaum. In den einzelnen
militärischen Einsätzen ging es meistens nur um ein paar Meter Boden, den man dem
Feind abgewinnen konnte und den man in den darauffolgenden Schlachten auch wieder
verlor. Die alten Militärstrategien ließen sich eben nicht so leicht mit den modernen
technischen Möglichkeiten umsetzen. In diesem endlosen Stellungskrieg rieben die Armeen
sich gegenseitig auf und verloren ergebnislos Millionen von häufig nur schlecht geschulten
Soldaten. Die Euphorie des Kriegsbeginns verschwand sehr bald angesichts der harten
Realität des Krieges, wovon unter anderem zahlreiche Feldpostbriefe zeugen.
93
Ein
Problem der Kriegführung war, dass dieser Konflikt scheinbar nicht diplomatisch lösbar
war und deshalb bis zur totalen Erschöpfung der Völker und ihrer Reserven geführt wurde.
Die Erfahrung des massenhaften Sterbens führte zu einem Wandel in Mentalität und
Denkweise der Menschen, unter anderem zu einer erschreckenden Gleichgültigkeit dem
menschlichen Leben gegenüber, in der letztlich die Massenvernichtungsaktionen der
totalitären Systeme der 1930-er Jahre wurzeln.
94
Vielleicht gründen in der Verarbeitung
dieses Massensterbens und in dem Verlust des Heldentums die zahlreichen Mythen, die der
Weltkrieg hervorbrachte, wie den über das ,,Augusterlebnis", den kollektiven nationalen
Kriegsrausch, den ,,Tannenbergmythos" über den großartigen Sieg über die Russen, oder
den ,,Mythos von Langemarck" über die singend in den Tod gegangenen jungen Soldaten,
der nach der gescheiterten Offensive in Flandern von der OHL tendenziös verbreitet
wurde und später zur Rechtfertigung eines weiteren ,,Opferganges" der jungen Generation
93
Feldpostbriefsammlungen: U
LRICH
, Bernd: Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und
Nachkriegszeit, Essen 1997; W
ITKOP
, Philipp (Hg.) : Kriegsbriefe gefallener Studenten, München 1928.
94
Siehe H
IRSCHFELD
, Gerhard; K
RUMEICH
, Gerd: Das große Sterben. Urkatastrophe oder Dreißigjähriger Krieg -
der Erste Weltkrieg als Epoche. Frankfurter Rundschau Online 2004 (http://www.fr-
aktuell.de/in_und_ausland/politik/zeitgeschichte/der_erste_weltkrieg/).
31

in Verdun instrumentalisiert wurde.
95
Ein weiterer Mythos, der auch zur Verarbeitung der
Verluste verholfen haben mag, war die Vorstellung davon, dass das Opfer der gefallenen
Soldaten die junge Generation dazu verpflichte, das Werk, für das diese gestorben seien,
weiterzuführen
96
- mythische Ideen, die später schließlich den Nährboden für die
,,Dolchstoß-Legende" bildeten. Noch bedeutsamer war die Vorstellung von der
Entstehung eines neuen Menschen im ,,Stahlbad" der Materialschlachten und von der
Gesundung des ganzen Volkes durch den läuternden Krieg und die Ideologie des Kampfes
für eine bessere Zukunft der eigenen Nation.
97
2. Die deutsche Literatur im Ersten Weltkrieg
Das Grauen des riesigen Militärkonfliktes mit seinen Materialschlachten prägte das Bild des
Krieges in der Kunst und der Literatur sehr stark. Die Werke deutscher Schriftsteller und
Künstler wie Otto Dix, Max Beckmann, Ernst Jünger, Erich Maria Remarque, die sich mit
dem Weltkrieg befassen, sind uns bis heute gut bekannt. Jedes Land hat seine Meilensteine,
die ihm zu Sinnbildern des Krieges geworden sind: für Australien ist es die Schlacht auf
Gallipoli, für Kanada die Kämpfe bei Vimy und Paeschendale, für Frankreich und
Deutschland die Schlacht bei Verdun. Im kollektiven Gedächtnis der Sowjetunion spielt
der Erste Weltkrieg kaum eine Rolle, sondern wird vollständig überlagert von Revolution,
Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg, der dort als
,,Großer Vaterländischer Krieg"
bezeichnet wurde, in Anlehnung an den
,,Vaterländischen Krieg" gegen Napoleon.
Die vollständige Einbeziehung der gesamten Zivilbevölkerung in den Krieg äußerte sich
besonders in der Literatur, die sich mit den Geschehnissen an der ,,Heimatfront", ebenfalls
ein Begriff aus dem Ersten Weltkrieg, beschäftigte.
2.1 Allgemein
Deutschland und Österreich-Ungarn waren nicht nur militärisch auf den Krieg vorbereitet.
Im wilhelminischen Deutschland war eine militärische Gesinnung bekanntlich
Grundstimmung. Man hatte dem Volk die Kriegsmentalität so gut wie möglich anerzogen
95
Dazu siehe H
ÜPPAUF
, Berndt: Langemarck, Verdun and the Myth of a New Man in Germany after the First
World War. In: War & Society 6, 1988, S. 70-103.
96
Siehe M
OSSE
, George L.: Gefallen für das Vaterland. Aus d. Amerikanischen von Udo Rennert. Stuttgart: Klett-
Cotta 1993.
97
Siehe M
OMMSEN
, S. 21.
32
Ende der Leseprobe aus 168 Seiten

Details

Titel
Der erste Weltkrieg in der zeitgenössischen deutschen Mädchenliteratur
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Philosophie und Philologie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
168
Katalognummer
V374595
ISBN (eBook)
9783668527553
ISBN (Buch)
9783668527560
Dateigröße
1533 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mädchenliteratur, Erster Weltkrieg, Kinderliteratur, Backfischliteratur
Arbeit zitieren
Naemi Fast (Autor:in), 2006, Der erste Weltkrieg in der zeitgenössischen deutschen Mädchenliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/374595

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