Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definition Flucht und Trauma
3. Sequentielle Traumatisierung der Flüchtlingskinder
4. Flucht und Trauma im schulischen Kontext
4.1 Herausforderungen
4.1 Umgang mit traumabedingten Reaktionen
5. Professionelle Unterstützung und Stabilisation der Kinder
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Es war einmal arm Kind und hat kein Vater und kein Mutter, war alles tot und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingegangen und hat gerufen Tag und Nacht. Und wie auf der Erd niemand mehr war, wollt's in Himmel gehen, und der Mond guckt es so freundlich an und wie's endlich zum Mond kam, war's ein verwelkter Sonnenblum und wie's zu den Sternen kam, warn's klei golde Mücke, die warn angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt, und wie's wieder auf die Erde wollt, war die Erd ein ungestürzter Hafen und war ganz allein, und da hat sich's hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und ist ganz allein (Büchner 1988:220f.).
Die Figur aus Büchners „Woyzeck“ verdichtet die psychische Realität von Trauma in einem Moment der größten Einsamkeit und Verlassenheit, welcher auf mehrere hintereinander folgende Ereignisse entstanden ist, eindrucksvoll und stimmt auf das im Folgenden zu behandelnde Thema ein. Der Begriff des Traumas hat sich im Zusammenhang von zerstörerischen Ereignissen, wie Krise, Kriegen, Katastrophen, ethnischen Problemen und Armut etc. in unserer globalisierten Gesellschaft zu einem gängigen Wort etabliert, der auch im schulischen Kontext seinen Zugang gefunden hat. Im Rahmen der zunehmenden Flüchtlingskrise sind seit Ende 2015 weltweit über 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Davon sind ca. 21 Millionen Menschen Flüchtlinge aus Krisengebieten, die zwangsläufig ihre Heimat verlassen mussten. Die Hälfte der weltweiten Flüchtlinge sind Kinder und minderjährige Jugendliche (vgl. UNHCR). Kinder und Jugendliche, die in Deutschland angekommen sind, sind nach ihrer langwierigen Flucht in vielfältiger Weise besonders belastet. Fast alle von ihnen sind schwer trauma- tisiert. Sie sind mit traumatischen Erfahrungen, wie Gewalt, Mord, Vergewaltigung, Vertreibung und letztlich mit der Flucht selbst psychisch belastet. Neben Hunger und Armut mussten viele von ihnen den Zusammenbruch ihrer familiären Systeme erleben und haben sogar enge Bezugspersonen verloren. Aufgrund der Flüchtlingswelle, die in Deutschland mittlerweile angekommen ist, müssen die Schulen sowie die Lehrkräfte sich mit der vorherrschenden Thematik auseinandersetzen. Insbesondere Lehrkräfte sollten über ein Grundwissen zu den Hintergründen ihrer belasteten Schüler[1] und den Folgen von Trauma und Flucht verfügen, um dazu eine professionelle Haltung entwickeln zu können. Es wird den Lehrkräften nicht verwehrt bleiben, einen Schüler in der Klasse mit traumatischen Belastungen sitzen zu haben. Demzufolge stellt sich die Frage, wie der Umgang mit traumati- sierten Kindern im schulpädagogischen Arbeitsfeld gestaltet werden kann und inwiefern die Lehrkräfte auf traumatische Erscheinungen in ihrem Klassenzimmer reagieren sowie eine professionelle Unterstützung und Stabilisierung bieten können, um für jeden einzelnen Schüler einen geregelten Schulalltag zu gewährleisten.
2. Definition Flucht und Trauma
Der allgemeine Begriff „Flucht“ ist durch den Zwang des Ortswechsels gekennzeichnet und hat den unwilligen Abbruch von Beziehungen zur Folge (Adam & Inal 2013: 18). Die globalen Gründe, welche die Kinder und deren Eltern zur Flucht treiben, sind dieselben. Aufgrund von kriegerischen Auseinandersetzungen, Bürgerkrieg, Verfolgungen und Armut in der eigenen Heimat, sehen sich die Menschen zur Flucht veranlasst. Dann ist die Rede von Flüchtlingen sowie von Flüchtlingskindern (Adam & Inal 2013: 19). Ein Teil der flüchtenden Kinder beginnen die Flucht gemeinsam mit ihren Eltern sowie Geschwistern. Viele von ihnen werden unterwegs von ihren Familien getrennt oder fliehen aus der Heimat, nachdem die Eltern umgekommen sind. Andere wiederum flüchten bewusst aus diversen Gründen ohne Eltern oder Sorgeberechtigte (Detemple 2013: 15). Neben den allgemeinen Gründen, sind auch kinderspezifische Fluchtgründe zu nennen. Viele Kinder sind in Bürgerkriegssituationen als Kindersoldaten zwangsrekrutiert und stehen unter ständig anhaltendem psychischen und physischen Missbrauch. Insbesondere junge Mädchen werden vergewaltigt und sexuell ausgenutzt (Eisermann 2003: 42ff.). Es ist vor Augen zu halten, dass jedes einzelne Kind von individuellen Schicksalsschlägen betroffen ist und durch derartige traumatische Erlebnisse belastet wird, die wiederum individuell ausgeprägt sind und die weitere Entwicklung der Kinder enorm beeinflussen.
Traumata sind geprägt von Erlebnissen seelischer und körperlicher Misshandlung, die bedrohliche Situationsfaktoren herstellen und den Betroffenen von Gefühlen der Hilflosigkeit sowie Schutzlosigkeit überschwemmen. Die individuellen Schutzmechanismen versagen und rufen gestörte Bewältigungsstrategien auf, die mit einer Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses einhergeht (Fischer & Riedesser 2009: 84). Die traumatischen Erlebnisse der Kinder infolge von Krieg, Verfolgung etc. verursachen seelische Verletzungen, welche die unterschiedlichsten neurophysiologischen und psychischen Beeinträchtigungen mit sich bringen. Die belasteten Kinder entwickeln eine verzerrte Wahrnehmung sowie ein instabiles Selbstkonzept und nehmen ihre Umwelt als einen unsicheren Ort wahr, welche jederzeit erneute Bedrohungen hervorbringen könnte (Krautkrämer-Oberhoff & Haaser[2] 2013: 70). Dies wird dann an den traumabedingten Reaktionen der Kinder ersichtlich. Traumata sind nicht vollständig heilbar, können aber unbehandelt zerstörerische Folgestörungen ausbilden, die sich bei den Kindern unterschiedlich mehr oder minder ausprägen und Einfluss auf die Entwicklung einnehmen (Rommel 2003: S.13).
Die erste Sequenz beginnt im Heimatland. Die Menschen sind geplagt von Verfolgungen, Armut, Krisensituationen und organisierte Gewalt sowie von existenziellen Bedrohungen, welche Gefühle extremer Hilflosigkeit und Ohnmacht erzeugen (Zimmermann 2012: 41). In dieser Phase wird die Entscheidung getroffen zu fliehen. Die Kinder erfahren einen Bruch ihres familiären Systems und erleben zunehmende Trauer.
Die zweite Sequenz beschreibt die Flucht selbst. In dieser Phase sind die Menschen geprägt von enormer Angst, oft auch durch Lebensgefahr. Es wird die Erfahrung der Abhängigkeit von Fluchthelfern gemacht. Die Kinder zeigen Symptomatiken wie Ohnmacht und Hilfslosigkeit infolge von Kon- trollverlust über das Geschehen und die Trennungen von Familienmitgliedern während der Flucht (Zimmermann 2012: 41).
Die dritte Sequenz des Traumatisierungsprozesses beginnt mit dem Aufenthalt im Zielland. Eine Phase großer Unsicherheit beginnt. Die Menschen befinden sich in einem Land, dessen Sprache sie nicht sprechen, ungeklärte Wohnsituationen herrschen, nur beschränkte finanzielle Möglichkeiten und Feindseligkeiten seitens der Bevölkerung vorzufinden sind (Zimmermann 2012: 41f.). Eine Überforderung durch die zu klärenden Probleme nimmt in dieser Phase seinen Lauf. Daraufhin folgen traumatische Belastungsreaktionen der Flüchtlingskinder. Nach Keilson werden die Belastungsfaktoren erst in der letzten Sequenz sichtbar (Keilson 2005: 70). Somit bedeutet die Ankunft in Deutschland nicht das Ende der Traumatisierung, sondern der Beginn einer Phase schmerzlicher Verarbeitungsprozesse.
4. Flucht und Trauma im schulischen Kontext
4.1 Herausforderungen
Angekommen in Deutschland ist die Situation für die Flüchtlinge zunächst einmal unklar. Sie werden meist in Flüchtlingsunterkünften oder zugewiesene Wohnungen untergebracht. Flüchtlingskinder ohne Familie werden von Jugendhilfeeinrichtungen in Obhut genommen. In beiden Fällen unterliegen die Kinder einer Schulpflicht. Den Flüchtlingskindern steht das Recht auf Bildung, welches aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet werden kann, zu. In
dem Fall besuchen die Kinder in der Regel eine öffentlich-staatliche Schule 4 und werden in Willkommensklassen unterrichtet oder in bestehende Klassen integriert. Der Zugang zu einer allgemeinbildenden Schule ist jedoch bundesweit uneinheitlich bestimmt. Die gesetzlichen Regelungen der Schulpflicht knüpft an einen Wohnsitz sowie an einen gewöhnlichen Aufenthalt unter dem Vorbehalt personeller, finanzieller und sachlicher Voraussetzungen. Vor diesem Hintergrund hängt die Bildungssituation wesentlich davon ab, in welchem Bundesland ein Flüchtlingskind lebt (Peter 2003: 71). Neben den vielen zu bewältigenden Problemen stoßen die Kinder in der Schule in erster Linie auf sprachliche Barrieren. Die deutsche Sprache verstehen sie nicht und erlernen diese auch zunächst nur schwer. Dies muss aber nicht an mangelnder sprachlicher Kompetenzen hängen, sondern an erhöhtem Stressfaktur während der traumatischen Erlebnisse, die wiederum neurophysiologische Effekte auf das Gehirn ausüben und das Aufnehmen von neuen Inhalten einschränkt sowie den Spracherwerb hemmt (Adam & Inal 2013: 47). Weiterhin ist vor Augen zu halten, dass die Kinder mit einer komplett anderen Gesellschaft konfrontiert sind, deren Kultur und Regeln ihnen unbekannt sind und sie sich deswegen in Umgang mit dieser verunsichert fühlen. Dies ist aber nicht nur auf eine Position zurückzuführen, sondern auch auf die deutsche Gesellschaft. Beide Parteien sind sich fremd. Das Verständnis vom Fremd scheint hervor, wenn ein Mensch in einer Relation zum Eigenen, Gewohnten und Bekanntem anders ist. Die daraus resultierenden Missverständnisse führen dann zur Abgrenzung (Adam & Inal 2013: 43). Im schulischen Kontext ist die Fremdheitserfahrung und augenscheinliche Anderssein stark ausgeprägt. Dabei wird die Andersartigkeit auch durch bestimmte Verhaltensweisen, wie „Bindungslosigkeit, Strukturlosigkeit, Aggressivität, Selbst- und Fremdgefährdung, extremer Zurückgezogenheit bis hin zur völliger Isolation“ gezeugt (Adam & Inal 2013: 43). An dieser Stelle besteht die Aufgabe, den Kindern das Gefühl des Dazugehörens zu vermitteln, um ein subjektives und psychisches Wohlbefinden und das erfolgreiche Einleben zu sichern. Dies geschieht in erster Linie durch die Schulzugehörigkeit, welche einen enormen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Kindes innerhalb der Institution Schule, ausübt.
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[1] Anmerkung: Mit der maskulinen Form „Schüler" ist zugleich die feminine Form für „Schülerinnen" gemeint. Dasselbe gilt für die Verwendung von „Lehrer".