Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderungen


Dossier / Travail, 2016

17 Pages, Note: 1,0


Extrait


Universität Koblenz-Landau
Institut für Sonderpädagogik
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1 Einleitung
Innerhalb der letzten Jahrzehnte hat sich das Erscheinungsbild der Behindertenpä-
dagogik stark gewandelt. Dies führte zu einem weitreichenden Paradigmenwech-
sel, der Personenkreis behinderter Menschen änderte sich, ebenso ihre Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben, sei es durch die Wahrnehmung der Personen als
Menschen, im Arbeitsleben oder auch hinsichtlich ihrer Bedürfnisse. Äußerst re-
levant ist dabei der Begriff der Selbstbestimmung, welcher ein sonderpädagogi-
schen Handlungsprinzip darstellt.
,,Das Thema Selbstbestimmung dominiert gegenwärtig wie kein anderes
Thema die Diskussion über Fragen der Erziehung und Bildung von Men-
schen [...] [mit] Behinderung, denn wir erhoffen uns von diesem Orientie-
rungsprinzip, dass es ein neues Denken und Handeln in der [...] Behinder-
tenpädagogik auf den Weg bringen könnte" (Lindmeier 1999, S. 209).
Dabei stellt sich zum einen die Frage, was der Begriff der Selbstbestimmung ex-
plizit umfasst, zum anderen wie Selbstbestimmung als Leitlinie in der Behinder-
tenarbeit umgesetzt werden kann. Selbstbestimmung wird definiert als eine freie
Entscheidungsgewalt in Handlungsbereichen des alltäglichen Lebens, wie bei-
spielsweise ,,was wir essen und trinken", ,,welcher Beruf ergriffen wird" oder
,,was wir in unser Freizeit mit welchen Personen machen" (vgl. Klauß 2005, S. 3).
Allgemein lässt sich zunächst folgendes festhalten: Um Menschen mit Behinde-
rung gemäß ihrer Bedürfnisse und Voraussetzungen ein ,,eigenständiges Leben"
ermöglichen zu können, benötigen diese vielfältige Unterstützung, sei es im medi-
zinischen, therapeutischen, psychologischen Bereich oder hinsichtlich der alltägli-
chen Betreuung (vgl. Huppert 2015, S. 20 ff.).

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Die Realisation von Selbstbestimmung ist heute eine zentrale Aufgabe der
Sonderpädagogik. Im Kontext von Erziehung und Bildung bleibt das Einlö-
sen dieses Anspruches aber immer noch schwierig, weil Selbstbestimmung
und Erziehung in einem gewissen Widerspruch zueinander stehen. Mit den
nachfolgenden Ausführungen soll das tradierte Erziehungsverständnis kri-
tisch hinterfragt und Aspekte eines erweiterten Bildungsverständnisses auf-
gezeigt werden (Fornefeld 2000).
Doch wer entscheidet, welche Unterstützungsleistungen ein Mensch mit Behinde-
rung benötigt und wie diese Unterstützung ausgeführt wird? Bedeutet behindert
sein gleich unmündig sein? Oder werden Behinderte von der Gesellschaft behin-
dert gemacht, weil andere Menschen über ihr Leben entscheiden?
Diese Ausarbeitung zum Thema ,,Selbstbestimmung von Menschen mit Behinde-
rungen" gliedert sich in einen theoretischen und analytischen Teil, bestehend aus
sechs Kapiteln. Im ersten Kapitel erfolgt eine Hinführung zum Thema. Der Beg-
riff der Selbstbestimmung wird in Kapitel zwei definiert und in Kapitel drei er-
folgt eine theoretische Einordnung in den Kontext Behinderung. Dahingehend
folgt eine weitere Definition über den Begriff der Behinderung. Im Kapitel vier
werden die rechtlichen Rahmenbedingungen kurz skizziert, bevor im darauffol-
genden Kapitel fünf unterschiedliche Konzepte der Selbstbestimmung, unter an-
derem am Beispiel meiner behinderten Schwester vorgestellt werden, bevor ab-
schließend die bisherigen Erkenntnisse im Kapitel sechs zusammengefasst wer-
den.
2 Begriffserläuterungen und Definitionen
Der Begriff der Selbstbestimmung im gesellschaftlichen Kontext wird oftmals
gleichgesetzt mit Bevormundung und Eigenständigkeit des Individuums (vgl.
Berns 2002, S. 60 ff.). Gerade im Rahmen einer individualistisch geprägten Ge-
sellschaft erschließt sich das Kompositum nicht selbstständig und mit Blick auf die
sonderpädagogischen Handlungsfelder sowie die Behindertenpädagogik ergeben

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sich Fragen, die zu klären sind, um Selbstbestimmung dahingehend charakterisie-
ren zu können.
Selbstbestimmung bewegt sich als Kontraposition zu anderen Begriffen und wird
dahingehend definiert. So lässt sich der Begriff sich im Kontext von Fremdbe-
stimmung, Autonomie, Emanzipation und Mündigkeit betrachten und stellt hierzu
stellenweise ein Pendant dar. Jedoch trennt die Behindertenpädagogik oftmals
selbst nicht klar die Begriffe voneinander ab und verwendet sie synonym (ebd.).
Um einen Überblick zu gewinnen und das Themenspektrum anhand der Fragestel-
lung deutlich werden zu lassen, sollen verschiedene Definitionen zunächst vorge-
stellt und dann miteinander in Verbindung gebracht werden.
2.1 Definition von Selbstbestimmung aus Sicht der Behin-
dertenpädagogik
Selbstbestimmung lässt sich im Spannungsdreieck von Autonomie, Unabhängig-
keit und Kompetenz abgrenzen. So bedeutet Selbstbestimmung im Bezugsrahmen
von Autonomie das Leben nach eigenen Gesetzen, gemäß der Übersetzung aus
dem Griechischen.
Autonomie als Synonym für Selbstbestimmung verdeutlicht das Recht [der
Behinderten] auf Eigengesetzlichkeit, Subjektivität und Verwirklichung im
sozialen Kontext und setzt gesellschaftlichen Normvorstellungen das Prin-
zip der Individualität (Berns 2002, S. 63).
Unabhängigkeit betont Selbstbestimmung, die Eigenständigkeit eines Individuums
und seinen freien Entscheidungswillen in gesellschaftlichen Interaktionsprozessen.
Im Gegensatz zur Autonomie stellt sie nicht das Recht auf Selbstbestimmung, son-
dern vielmehr dessen ,,praktische Umsetzung" dar, indem das Individuum seine
Zielvorstellungen im Handeln deutlich macht (ebd.). Hinsichtlich des Kompetenz-

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begriffs versteht sich Selbstbestimmung in diesem Kontext nach Gerhardt als Fer-
tigkeiten und Fähigkeiten und eines Individuums zu einer Handlung (vgl. Gerhardt
1999, S. 38 ff).
Betrachtet man nun diese Ausführungen, so zeigen sich gegensätzliche Ansatz-
punkte einer Definition der Selbstbestimmung, die sich jedoch in diesem Kompo-
situm widerspiegeln. Demnach kann unter Selbstbestimmung sowohl die Mög-
lichkeit als auch die Voraussetzung mittels kognitiver Fähigkeiten eines Indivi-
duums zur freien Entscheidungsäußerung über sein Handeln, Verhalten und sei-
nen Körper verstanden werden (vgl. Wagner 1997, Punkt 3.1).
2.2 Definition Behinderung
Der Begriff der Behinderung unterliegt im heutigen Sprachgebrauch einem lebhaf-
ten Wandel und wird oftmals negativ verwendet. Doch wer zählt zur Gruppe der
Behinderten und was ist eine Behinderung?
Als behindert gelten Personen, welche infolge einer Schädigung ihrer kör-
perlichen, seelischen oder geistigen Funktionen soweit beeinträchtigt sind,
dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder die Teilnahme am Leben
der Gesellschaft erschwert wird (Bleidick 2007, S. 9).
Der Schweizer Haeberlin geht in seiner Definition noch weiter und stellt Behinde-
rung als eine Beeinträchtigung dar, die sich in zwei unterschiedlichen Weisen äu-
ßern kann. Er unterschiedet diesbezüglich zwischen einer verhaltensbedingten und
einer physiologischen Beeinträchtigung (vgl. Haeberlin 2002, S. 7 ff.).
Ähnlich wie Haeberlin sieht es auch die UN-Rechtskonvention, wonach gemäß
Artikel 1 Absatz 2 der Mensch mit Behinderung durch verschiedenste Barrieren
an der stellenweisen oder vollständigen Teilhabe gehindert werden (vgl. UN-
Rechtskonvention 2015).

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Zentrale Aspekte des Begriffes Behinderung sind demnach zum Einen eine verhal-
tensbedingte und/oder physiologische Beeinträchtigung, die eine einstellungs- oder
umweltbedingte Barriere bilden und somit eine gleichberechtigte Teilhabe am ge-
sellschaftlichen Leben (vgl. Haeberlin 2002, S. 7 ff.). Zum Anderen muss aber
eine Behinderung nicht nur vom Individuum ausgehen, sondern kann auch durch
äußere Einflussfaktoren beeinflusst werden (vgl. Huppert 2015, S. 15).
2.3 Bedeutung von Selbstbestimmung im Kontext von Be-
hinderung
Betrachtet man die Definition von Selbstbestimmung, so zeigt sich auf den ersten
Blick nicht die immense Bedeutung für Menschen mit Behinderung. Vielmehr
lässt sich Selbstbestimmung als ein wichtiges Grundrecht für alle Menschen der
Gesellschaft charakterisieren. Doch warum gibt es dann eine Selbstbestimmungs-
debatte, die auf dem Kongress der Lebenshilfe in Duisburg 1994 im deutschspra-
chigen Raum ausgelöst wurde?
Die Debatte um Selbstbestimmung und dem damit verbundenen Grad an Eigen-
ständigkeit behinderter Menschen sieht Waldschmidt vielmehr als Konsequenz
hervorgerufen durch den Wandel von der Heil- zur Behindertenpädagogik und der
Geschichte von Menschen mit Behinderung (vgl. Waldschmidt 2012, S. 50). Be-
trachtet man die Ereignisse aus der Zeit des Nationalsozialismus sowie anderer
Epochen, so kristallisiert sich heraus, dass Behinderte damals kein Recht auf Le-
ben beziehungsweise ein Recht auf ein eigenständiges/-bestimmtes Leben hatten.
Mit der stetigen Realisierung von Selbstbestimmung in gesellschaftlichen Interak-
tionsprozessen werden Prozesse von Integration und Inklusion in ihren Basisele-
menten umgesetzt.
Fin de l'extrait de 17 pages

Résumé des informations

Titre
Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderungen
Université
University of Koblenz-Landau  (Sonderpädagogik)
Cours
Handlungsfelder der Sonderpädagogik
Note
1,0
Auteur
Année
2016
Pages
17
N° de catalogue
V376237
ISBN (ebook)
9783668532557
ISBN (Livre)
9783668532564
Taille d'un fichier
486 KB
Langue
allemand
Mots clés
selbstbestimmung, menschen, behinderungen
Citation du texte
Sandra Beiske (Auteur), 2016, Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/376237

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