Der Leninismus als Anleitung zum politischen Handeln

Ein Beitrag zur Wissenschaft der proletarischen Revolution im Allgemeinen und zum 100jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution im Besonderen


Estudio Científico, 2017

411 Páginas


Extracto


INHALTSÜBERSICHT

EINLEITUNG … 4

1.1. REVOLUTIONEN ALS KOLLETIVDARSTELLUNGEN … 8
1.2. DER AUTOR UND SEIN TEXT … 12
1.3. ANFANG UND ENDE EINER REVOLUTION … 21
1.4. VON GRÖSSEREM WERT ALS DER SCHLACHTTAG VON SADOWA … 25

2.1. DIE FORTSCHRITTLICHE ROLLE DES KAPITALISMUS IN RUSSLAND DARGESTELLT AN HAND LENINS SCHRIFT: DIE ENTWICKLUNG DES KAPITALISMUS IN RUSSLAND … 28
2.2. DIE POLTISCHE KAMPFPARTEI, DIE DAS RUSSISCHE PROLETARIAT BENÖTIGT, UM ZU SIEGEN. DARGESTELLT AN HAND VON LENINS SCHRIFT „WAS TUN? BRENNENDE FRAGEN UNSERER BEWEGUNG“ AUS DEM JAHR 1902 … 41
2.3. PARTEI UND RÄTE … 51
2.4. DIE SONDERSTELLUNG DES PROLETARIATS IN DER BÜRGERLICHEN GESELLSCHAFT … 53

3.1. DIE RUSSISCHE REVOLUTION VON 1905 … 55
3.2. NACH DER NIEDERLAGE VON 1905 … 64

4.1. DER IMPERIALISMUS ALS HÖCHSTES STADIUM DES KAPITALISMUS DARGESTELLT AN HAND VON LENINS IMPERIALISMUSANALYSE … 66
4.2. KAUTSKYS ULTRA IMPERIALISMUS … 69
4.3. DIE KETTE DES IMPERIALISMUS REISST AN IHREM SCHWÄCHSTEN GLIED … 71

5.1. DIE FEBRUARREVOLUTION … 73
EXKURS: BONAPARTISMUS … 80
EXKURS: DIALEKTIK … 91
5.3. DIE MENSCHEWISTISCHEN RÄTE UND DIE PROVISORISCHE REGIERUNG … 98
5.4. DIE PERIODE ZWISCHEN FEBRUAR UND OKTOBER … 100
5.5. DIE APRILTHESEN … 104
5.6. DIE JULIDEMONSTRATION … 108
5.7. DER KORNILOWPUTSCH … 110
5.8. ZWISCHEN DEN REVOLUTIONEN … 114
5.9. DIE ROLLE DER MITTELSCHICHTEN … 126

6.1. DER KRIEG ALS MAGISTER? … 133
6.2. DER BAUERNKRIEG … 136
6.3. DIE KLASSENPOLITIK DER BOLSCHEWIKI … 143
6.4. DIE ROLLE DER KLEINBÜRGER … 148
6.5. LENINS GEDANKEN VOR DER REVOLUTION … 158
6.6. ZUM ENDE DES PARLAMENTARISMUS IN RUSSLAND … 161

7. 1. STAAT UND REVOLUTION … 165
7.2. DER OKTOBERAUFSTAND … 175
7.3. DEKRET ÜBER DEN FRIEDEN, ÜBER DEN GRUND UND BODEN UND ÜBER DIE RECHTE DES AUSGEBEUTETEN VOLKES … 196
7.4. SOZIALE WOHLTATEN … 203
7.5. DIE EMANZIPATION DER FRAUEN … 205
7.6. PROBLEME NACH DER OKTOBERREVOLUTION … 206
7.7. BILDUNG UND KULTUR … 213

8.1. LENINS KAMPF FÜR DIE DIKTATUR DES PROLETARIATS GEGEN KAUTSKY … 215
8.2. ROSA LUXEMBURG UND DIE RUSSISCHE REVOLUTION … 233

9.1. DER 'LINKE RADIKALISMUS' UND DIE INTERNATIONALE BEDEUTUNG DER OKTOBERREVOLUTION … 242

10.1. DER ABGESANG DER DUMA UND 'DIE WISSENSCHAFTLICHE WAHRHEIT LENIN' … 251
10.2. LENIN … 253
10.3. DER PERSONENKULT … 265
10.4. DIE „SEELENFÜHRER“ … 266

11.1. DIE ISOLIERT BLEIBENDE REVOLUTION – DER PLAN B … 269
11.2. DIE WELTGESCHICHTLICHE BEDEUTUNG STALINS … 278

12.1. DIE OKTOBERREVOLUTION UND DAS 20. JAHRHUNDERT … 281
12.2. DER ZERFALL DER SOWJETUNION … 287
12.3. DAS 'NEUE DENKEN' DER PERESTROIKA … 290

13.1. KETZERISCHES ZUR OKTOBERREVOLUTION … 292

14.1. DAS LEBEN SETZT SICH DURCH … 298

LITERATURLISTE … 373

EINLEITUNG

Revolutionen des 20. Jahrhunderts werden in den Kasernen und Fabriken geboren.

„Vor allem galt es, den Smolny mit den Kasernen und Fabriken zu verbinden“ (John Reed).

Bücher über Revolutionen sind immer zu kurz, da es keine in sich abgeschlossenen Revolutionsprozesse gibt. Sie gehen über ihre Totengräber hinaus, 1789 ging über Napoleon, 1917 geht über Chrutschow hinaus. Wer ein Buch über eine Revolution schreibt, muss davon ausgehen, dass es schon beim Abfassen veraltet sein wird. Die Oktoberrevolution ist aktuell und Aktuelles entaktualisiert. Ich teile keineswegs die in der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung' vom 15. März 2017 nachzulesende Auffassung des deutschen Politologen Herfried Münkler, der Kommunismus erinnere an ein altes Kaugummi, dem auch durch zähes Kauen kein Aroma mehr zu entlocken sei. (Seite N3). Wäre das der Fall, wäre die menschliche Arbeitskraft auf ewig als Ware festgeschrieben, es ist, als ob sich ein deutscher Gesellschaftswissenschaftler im Jahr 2017 auf die erste Kapitalisten-Nation Italien des 15. Jahrhunderts zurückfallen ließe, in den Raum und in die Zeit, in dem und in der sich diese Konstellation in Keimform vorfand und auswickelte. Ein Buch über eine Revolution kann nur eine momentane und unvollständige Bündelung von historischen Prozessen sein, die sich in ihm konzentrieren und in reinen Faktenketten nicht erschöpft sein dürfen, um das Wesen der Revolution relativ aufdecken zu können, das auch wieder darin besteht, ins unendliche Universum hinausgeworfen zu werden. Die Darstellung der praktischen Seite, der Ablauf der Faktizität, scheint für die Historiker die Kür zu sein, das Wechselverhältnis zwischen Theorien und Ideen mit dem bloß stofflichen lästige Pflicht. Vergrabt Euch in Euren Archiven, studiert die politischen Haupt- und Staatsaktionen, ihr werdet dort die „Triebkräfte der Triebkräfte“ der Geschichte, von denen Friedrich Engels spricht, nicht finden: die Entwicklungen der Produktivkräfte und die der Klassenkämpfe der um den Zweck ihres Daseins Betrogenen. Faktenbesessenheit und eine nur quantitative Wissensakkumulation sind die Mühlsteine, die sich die Historiker selbst um den Hals legen. Das ist gute bürgerliche Tradition, aufschlussreich dürfte der von Diderot geschriebene Enzyklopädie-Artikel über die Enzyklopädie selbst sein: Die Enzyklopädie ziele darauf ab, die auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse zu sammeln. 1. Sammeln von Kenntnissen ist aber nur die Voraussetzung, der Stoff, das Futter dialektischen Denkens. Die Forschung eignet den Stoff an und eruiert den roten Faden, den es gilt, umfassend darzustellen. Marx sagt im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals, es könnte jetzt so aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun. Die enzyklopädischen Historiker tappen in einer trostlosen Sandwüste umher, puzzeln, kompilieren, ohne zu wissen, dass man zu den Oasen nur durch eine intuitive Kreativität gelangen kann, ja dass den Gesellschaftswissenschaften eine spezifische Ästhetik eignet, die wohl noch keiner so vollkommen erreicht hat wie Karl Marx in seinem 'Achtzehnten Brumaire'. In diesem Text kann man lernen, wie ein historischer Stoff zu vitalisieren und zu ästhetisieren ist. Ich erinnere mich an einen Geschichtsprofessor, der ein Seminar über die Oktoberrevolution mit der Vorlage von Statistiken über die Stahlproduktion und Ernteergebnisse in Russland vor und nach der Revolution begann. Nichts war falscher, hätte er wenigstens die 'Internationale' absingen lassen, derselbe Professor, von dem 2003 im Reclam Verlag eine 'Kleine Geschichte Russlands' publiziert wurde, die 544 Seiten umfasst und auf denen die weltgeschichtliche Bedeutung Lenins in 14 Sätzen abgehandelt, eingeschnürt bzw. verstümmelt und erstickt wird! Ein Arzt, der nur über Unfallstatistiken brütet, kann nicht heilen. Ganze Sektoren der spätbürgerlichen Gesellschaft und ganze Sektionen der spätbürgerlichen Wissenschaften kranken heute daran, dass man meint, in der einfachen Anwendung einfach Gelerntes auf einfach Gegebenes können keine Barbarismen stecken. Eine Revolution geht nie ganz in Rationalität auf, in ihr bereitet sich aus ihrem dionysischen Untergrund ein Fegefeuer vor. Man kann zwar die Heraufkunft eines Gewitters spüren, aber sein konkreter Verlauf entzieht sich unserer Vorahnung, man kann zwar die Heraufkunft einer Revolution spüren, aber ihr konkreter Verlauf, wen sie wie aus ihrem Rachen des Untergrundes emporschleudert, welche Klasse sie wirklich zur dominierenden macht, entzieht sich unserer Vorahnung. In theoretischer Hinsicht begann auch die Französische Revolution mit einer Fieberphantasie, als Rousseau im Jahre 1749 beim Lesen einer philosophischen Preisfrage der Akademie von Dijon wie von tausend Lichtern geblendet wurde und plötzlich erkannte, dass der Mensch von Natur aus gut sei und es nur die Institutionen seien, die ihn verderbten. Er sah in dieser Metanoia ein anderes Universum und wurde ein anderer Mensch. Hegel schrieb die Phänomenologie des Geistes mit ihren dialektischen Gedankenblitzen am Rande des Wahnsinns, sein Jugendfreund Hölderlin war wahnsinnig geworden. Man stelle sich die intellektuelle Wüste vor, wenn wir den Rationalisten allein die Felder der Revolutionen überließen, um mit Sand unter den Sandalen hie und da auf dürre Gerippe von Statistiken zu stoßen. Die Frühlingsthesen verursachten eine nach Auffassung Trotzkis bereits Ende Mai schockhaft abgeschlossene Revolution im Bolschewismus, der sich in einem schablonenhaften Denken festgefahren hatte. Wer sich nicht lösen konnte, der musste zwangsläufig gegen die Leninisten den Vorwurf des Anarchismus erheben, denn dieser, ich meine nicht eine politische Strömung, sondern die Wortauslegung: 'Abwesenheit von Herrschaft', war die Quintessenz der Pariser Kommune. Der Oktoberrevolution ging also eine Revolution im Bolschewismus vorher, die das verschüttete Pariser Urbild wieder freilegte so wie Lenins Werk 'Staat und Revolution' das verschüttete Urbild des Wesens des bürgerlichen Staates, wie es Marx und Engels herausgearbeitet hatten, freilegte. Lenin arbeitete in theoretischer Hinsicht konzentriert darauf zu, dass die Führung in einer bürgerlichen Revolution in Russland nur das Proletariat innehaben kann. Das steckte in Lenins Formel: 'Demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft', die er seit 1905 mit sich rumschleppte. Der Bauer kämpft primär gegen die Leibeigenschaft, er ist unfähig, effektiv gegen den Kapitalismus zu kämpfen. Man wird das Wesen einer Revolution nie kristallrein erhalten. Auch die Oktoberrevolution war kein reiner Kristall, so waren die überdurchschnittlich hohen Löhne für bürgerliche Spezialisten im technischen Arbeitsbereich eine Abweichung vom Urbild der Pariser Kommune. Ihr Wesen hängt wiederum zusammen mit ihren Periodisierungen, also mit Schnitten, die auch tödlich sein können, wie alle Einteilungen. Jede Einteilung, die das Denken vornimmt, ist auch eine Abtötung, ein Historiker kann sein Messer falsch an den Körper einer Revolution anlegen. Hinzu kommt, dass im Unterschied zur russischen Revolution von 1905 die im Oktober 1917 in weltrevolutionärer, in internationalistischer Hinsicht konzipiert worden war und dass das Ausbleiben mitkalkulierter Revolutionen wiederum gravierend auf Wesen und Periodisierung einer Revolution zurückwirken muss, wenn auch nicht ganz so gravierend wie bei einer gleichzeitigen Serie recht erfolgreicher „ausländischer“ Revolutionen, eine Flut, die selten kommt. 1917/18 hätte sie auf Russland rückwirkend kommen müssen, denn die Oktoberrevolution brach im rückständigsten Land Europas aus. Das ist nicht meine Einschätzung, sondern die Lenins. In einem Agrarland, in dem sich das Fabrikproletariat in den Städten auf den ersten Blick peripher ausnahm. Sinnvoll schien die Oktoberrevolution nur in einem weltgeschichtlich-weltrevolutionären Bezugsrahmen zu sein, zumal der erste Weltkrieg dazu verleitete, politisch ohnehin nur noch global zu denken bzw. dazu zwang, so denken zu müssen. Die Bolschewiki gingen von einer revolutionären Reziprozität der großen Industriemächte Europas und der Großmacht Russland, die es immer noch war, aus.

Man muss mit der Revolution mitschwimmen und am Ende gleitet sie wie ein Aal aus den Händen. Ist das Element der Revolution das Feuer oder das Wasser? Es ist das Wasser, das Meer, der Ozean, man spricht von einer revolutionären Flut, obwohl in der Revolution mit dem Feuer gespielt wird. Man spricht von der Ebbe und der Flut der Revolution, dem Meer ist die List eigen, die dem Feuer fehlt. Dieses frisst sich bloß fort und der Mensch kann sich auf dieses Element nicht einlassen, er verbrennt sich sofort und schiebt bei Zerstörung und Zerstörungsbedrohung das Wasser dazwischen, er triumphiert mit dem Wasser über es. Das Meer ist ruhig und lädt die Menschen ein, mit einem Stück Holz sich auf es einzulassen, aber bei Kap Hoorn heißt es auf Gott vertrauen. In der chinesischen Kulturrevolution sangen die Rotgardisten: Wer sich in den Ozean der Revolution stürzen will, braucht einen Steuermann. Und die soll ja im Juli 1966 durch das Schwimmen des 73jährigen Mao im Yangtse eröffnet worden sein. Und diese Steuermänner der Revolution gleiten die Völker, die mit bangen Augen gen Himmel blicken, an Kap Hoorn vorbei. Jede tiefe soziale Revolution ist für den Steuermann eine Herausforderung der Geschichte wie es für einen Seefahrer die Spitze Südamerikas ist. Und Engels rief den Anti-Autoritären zu: Habt ihr schon mal ein Schiff ohne Kapitän gesehen? Durch die Oktoberrevolution war die rote Flut unerwartet da, in der die roten Fische schwimmen lernen konnten.

Bücher über Revolutionen sind immer nur Spiegel, in denen sich das Gesicht einer Revolution mit mehr oder weniger Kontur nur flüchtig zeigen kann. Lassen Sie mich ein Bild in Anlehnung an Leibniz gebrauchen: Eine Revolution ist ein Universum, das nicht nur für sich ist, weil es eine abgeschlossene Revolution nicht geben kann. Eine Revolution ist ein Universum in einem Komplex von Universen, in einem Buch über eine Revolution spiegelt sich dieses Universum als Späteres, das Buch ist über die Revolution hinaus und doch hinter ihr zurück. Eine Überlieferung über eine Revolution ist gegen sich selbst gerichtet, denn das Überliefern ist dem Revolutionären abträglich, ist erkaltende Revolution, Entfremdung zu ihr, ihre abstrakte Wiederholung. Lenins Fundamentalschrift „Staat und Revolution“ blieb ein Torso und das Nachwort zur ersten Auflage endet mit dem Satz: „ … es ist angenehmer und nützlicher, die 'Erfahrungen der Revolution' durchzumachen, als über sie zu schreiben.“ 2. Dieses Lenin-Zitat zwingt zur Eindeutigkeit, je mehr man sich in eine Revolution vertieft, desto mehr wächst die Qual, nicht dabei gewesen zu sein, sich nicht nützlich in ihr gemacht zu haben, trotz der Gräuel. Die Revolution zieht alle und alles in ihren Bann, denn sie sucht die Entscheidung im Klassenkampf, entscheidet über den Weg der Geschichte. Mögen sie anfangs erst unscheinbar daherkommen, am Ende wird durch sie mehr entschieden als in den eingängigen Haupt- und Staatsaktionen: das bisher Mächtige wird ohnmächtig und die bisher Ohnmächtigen dominant. Herr und Knecht tauschen die Plätze, in der Darstellung und mit den Worten Hegels: „ … so wird … die Knechtschafft vielmehr in ihrer Vollbringung zum Gegentheile dessen werden, was sie unmittelbar ist; sie wird als in sich zurückgedrängtes Bewußtseyn, in sich gehen, und zur wahren Selbständigkeit sich umkehren“. 3. Sechs Panzer schützten das Winterpalais, die Mitglieder der Provisorischen Regierung hielten sich noch für die Herren des Landes, fünf Panzer aber gingen zu den Bolschewiki über und am Ende gruppierten sich um die bürgerlichen Minister nur noch Offiziersschüler, nicht die Masse der Soldaten, auf die es ankommt. Als die im Winterpalast festgenommenen Minister Kerenskis auf ihrem nächtlichen Weg in die Peter-und-Paul-Zitadelle von der Trotzkoi-Brücke aus beschossen wurden, mussten sie sich auf die Erde werfen und wurden dann mit ihrer nassen und schmutzigen Kleidung in das berüchtigte Gefängnis eingeliefert. Ein Minister soll sich beim neuen Gefängnisdirektor Uritzki über die sehr engen und feuchten Zellen beschwert haben, Uritzki soll geantwortet haben, sie selbst haben diese Kasematten bauen lassen, beschweren sie sich also bei sich selbst. 4. Das war das traurige und schmutzige Ende der bürgerlichen Blüte Russlands. Wie kann man sich der Revolution entziehen, wenn sie sämtliche Formen der Beziehungen unter allen Menschen in der Gesellschaft verändert, wenn sie, wie Gorki schrieb, neue Formen des Lebens schafft, wenn sich abzeichnet, dass sich das ganze Land auf eine große Zukunft vorzubereiten scheint. Gelingen neue Formen der Beziehungen nicht, dann war die Revolution nicht erfolgreich. Ein Buch über eine Revolution ist etwas zu ihr Unpassendes. Weil Revolutionen uns immer berühren und mehr als andere historische Ereignisse berühren, verwelkt ihre Lektüre wegen der Distanz zwischen Praxis und besserwissender Theorie post festum. Ein Buch etwa über die Kreuzzüge, zu denen wir uns nicht gleich unmittelbar in Beziehung setzen können, scheint dem Ereignis adäquat zu sein. Die historische Wissenschaft erlösche, gäbe sie uns etwas Handliches, Eingerahmtes, Fixiertes, was philosophisch einen Rückfall in den mechanischen Materialismus bedeuten würde. Das gilt für historische Prozesse allgemein und für revolutionäre insbesondere. Es kann kein fundamentales Buch über Revolutionen geben, ein Buch mit dem Titel 'Die Gesetze der Revolution' kann von vornherein nur unvollständig sein wie das 'Kapital' von Karl Marx, das von Lenin 1916 weiterentwickelt wurde, weil es weiterentwickelt werden musste. Die Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft sind nichts ein für allemal Gegebenes, die man nur auswendig zu lernen brauche sowie man im Marxismus nur immer die richtigen Zitaten zur Hand bzw. im Mund haben muss. Die revolutionären Prozesse in der Welt entwickeln sich in einer solchen Rasanz und Komplexität, dass das Unterfangen, die Gesetze der Revolution ein für allemal aufzutun, seinen fundamentalen Anspruch verfehlen muss – es kann kein fundamentales Buch über Revolutionen geben. Das 'Kapital' von Karl Marx ist in gewisser Weise überholt wie auch Lenins Fundamentalwerk über den Imperialismus eines Tages überholt sein wird. Lenins Imperialismusanalyse, durch die sich der Marxismus durch den Leninismus hauptsächlich zum Marxismus-Leninismus ergänzt, ist nicht der gültige Maßstab schlechthin, sondern der zur Zeit noch gültige. Es ist sodann bei dem Vorhaben, ein Buch über eine Revolution zu schreiben, hier über die russische Oktoberrevolution, auf widersinnige Konstellationen zu verweisen. Zwei sind hier zunächst zu benennen: Gerade aus der Einmaligkeit der Ereignisse im Jahr 1917 erwächst die Pflicht, aus diesen zu lernen. In der Geschichte kann es keine Wiederholungen geben. Die Einmaligkeit des Jahres 1917 ist ganz eindeutig, denn eine so enge zeitliche Verbindung zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution ist historisch längst ausgeschlossen. In Westeuropa fand die klassische bürgerliche Revolution 1789 statt und 1848 kamen wichtige Elemente bürgerlicher Herrschaft zum Durchbruch. Der Abstand zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution wird mit jedem Tag größer und misst sich hier schon in Jahrhunderten. Zwischen der Februarrevolution und der Oktoberrevolution lag die Zeit einer menschlichen Schwangerschaft, zwischen 1848 und heute liegen 225 Schwangerschaften. Man sieht, die ‚Rote Fahne‘ verlangt auch numerisch Einiges von ihren Anhängern. Dennoch fasziniert die Oktoberrevolution auch ein Jahrhundert nach ihrem Ausbruch, trotz Chrutschow, trotz Gorbatschow, trotz Putin. Und: Eine erschöpfende Darstellung einer Revolution kann weder von einem Kollektiv noch von einem Einzelnen geleistet werden und doch werden Bücher über Revolutionen in der Regel von Einzelpersonen geschrieben, ohne zu reflektieren, welchen wissenschaftsfeindlich-destruktiven Grundansatz das bürgerlich-wilhelminische, bis heute durchschlagende Schulsystem mit seinem Leitmotiv 'Jeder für sich, Gott für uns alle' hatte und hat.

1.1. REVOLUTIONEN ALS KOLLETIVDARSTELLUNGEN

„ … die Souveränität des Denkens verwirklicht sich in einer Reihe höchst unsouverän denkender Menschen; die Erkenntnis, welche unbedingten Anspruch auf Wahrheit hat, in einer Reihe von relativen Irrtümern...“. (Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Werke Band 20,80).

Desgleichen ist es widersinnig, dass ein Fachmann ein Buch über eine Revolution für Fachmänner schreibt, Expertenkollektive müssen Bücher über eine Revolution für Völker schreiben, für wen denn sonst? Schon von ihrer Komplexität her erheischt die Darstellung einer Revolution ein Kollektiv von Experten auf Fachgebieten, die von der Außenpolitik bis zum Zentralismus reichen. Überhaupt ist die Wissenschaft in ihrem Kern kollektivistisch angelegt, es ist nur ein spezifischer Idiotismus der bürgerlichen Gesellschaft, der das nicht permanent präsent werden lässt. Wer sich mit der bürgerlichen Gesellschaft abfindet, muss selbst an einem gewissen Grad an Idiotismus leiden. „Es ist mir immer idiotisch vorgekommen“, schrieb van Gogh an seinen Bruder, „daß Maler für sich allein leben“. Die Dominanz der bürgerlichen Gesellschaft über frühere gesellschaftliche Formationen hat keinesfalls abgebrochen, dass auch Idioten an die Spitze von Staaten treten können. Die bürgerliche Revolution wollte das vereiteln, sprengte aber die Menschen als egoistische Monaden aus den Feudalverbänden heraus in die abgekapselten Wahlkabinen, die starke Ähnlichkeit mit öffentlichen Toiletten haben: Das politische Geschäft ist etwas so Intimes wie das kleine oder große Geschäft. Es ergab sich ein Klima, wie es für sich in Klassengegensätzen bewegenden und damit auf Ausbeutung fremder Arbeit beruhenden Gesellschaften typisch, für Misstrauensgesellschaften charakteristisch ist. Klassengegensätzliche Gesellschaften und Arbeitsausbeutung der Mehrheit ihrer Mitglieder bedingen sich. Heute muss zudem von einer Omnipotenz zahlreicher Geheimdienste gesprochen werden, die die Bürger ständig umkreisen und versuchen, die Wand der Wahlkabine, die Wand der öffentlichen Toilette zu durchdringen. Die Menschen verstümmeln sich durch Selbstzensur, Daten sind zu einer wertvollen Ware geworden. Im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb tut jedoch jeder so, als ob er ein Napoleon wäre. Das ist sehr fraglich, nur eins ist sicher, früher oder später ereilt dem Individualwissenschaftler sein Waterloo, das unvermeidbar ist, wenn sich ein Einzelwissenschaftler der Weltgeschichte ausliefert. Schon Rousseau kritisierte das Schulsystem seiner Zeit, es erziehe junge Menschen so, nur einmal im Leben zu glänzen, um dann nie wieder etwas zu sein. Napoleon hatte während der Schlacht mit den Mameluken beobachtet, dass seine Kavallerie den glänzendsten Einzelreitern der Mameluken, die jedem französischen Einzelreiter haushoch überlegen waren, durch Kollektivität in disziplinierter Form unterlegen machte. Gesamtkraft erzeugt eine zusätzliche, neue Kraftpotenz, was Marx im Kapital am Beispiel der Kooperation bewies. Schon der junge Marx hatte gesehen, dass es immer Einzelne sind, die die Wissenschaft vollbringen, aber wirklich allgemein wird diese erst, wenn sie nicht mehr die Sache des Einzelnen, sondern die der Gesellschaft ist. Das verändert nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt“. Friedrich Engels machte die Arbeiterklasse im Anti-Dühring darauf aufmerksam, dass Einzeldenker ohne Ausnahme mehr Patzer als wissenschaftlich Wertvolles zu Tage zu bringen, dass das Denken Einzelner nicht souverän ist. Erst eine Reihe höchst unsouverän denkender Menschen bringe relative Souveränität des Denkens hervor. Den an der Berliner Universität lehrenden Professor Eugen Dühring, der von Hegelschen Fieberphantasien sprach, stellte er ja als Musterbeispiel eines Gelehrten dar, der aus Unzurechnungsfähigkeit größenwahnsinnig sei. Bürgerliche Ideologen gehen zum Beispiel an Lenin falsch heran, sie fragen nach dem Besonderen dieses Mannes. Lenin war Kollektivist, er erhielt als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare den Durchschnittslohn eines Arbeiters.

Man kann nicht, um den Stoff zu bewältigen, per Untertitel geschichtliche Prozesse in Schubladen einzwängen, ein geschichtlicher Prozess wie eine Revolution muss in einem Rausch heruntergeschrieben werden, ohne den Text schubladengerecht in Absätze oder Abschnitte zu erkalten. Die Grenzen der Geschichte sind bewegliche und bis zu einem gewissen Grade bedingte; das wissenschaftliche Denken tötet sie zu starren. Die Widerspiegelung von Haupt- und Staatsaktionen gibt uns das dürre Gerippe der Weltgeschichte, nicht ihren geschundenen Körper der Geschichte der Völker. Die Weltgeschichte ist ein Komplex von Prozessen und in einer tiefgehenden Revolution verdichten diese sich ineinander noch mehr. Neben dem Zusammenlegen der Puzzlesteine der Fakten ist der Historiker ein Entwirrer sich überlappender Stränge im klassischen analytischen Sinn, (er fügt zusammen und) er legt auseinander. In der Wiedergabe geschichtlicher Prozesse liegt somit ein Moment der Ideologie, denn sie lassen sich nicht 'eins zu eins' abbilden, da das Abbilden selbst ein Prozess, mithin historisch ist. Es kann heute durch die Digitalisierung leicht die Täuschung entstehen, dass wir in einem Zeitalter der 'Eins-zu-Eins-Abbildung' leben, als führe eine immer komplexer werdende Technik dazu, Wirklichkeit zur Erstarrung in einem Spiegel zu bringen, der keine Bewegung mehr abbildet. Der marxistische Erkenntnisgewinn gegenüber den bürgerlichen Ökonomen, dort ein Verhältnis von Menschen zu sehen, wo jene ein Verhältnis von Dingen sahen (Austausch von Ware gegen Ware), steht durch die Roboterrevolution selbst auf dem Spiel. Das Abbilden der Geschichte kann nur selbst geschichtlich sein, so dass sich 'eins in zwei' geteilt hat. So ist die Geschichte Objekt und Subjekt in einem und zur Praxis des Historikers gehört es, selbst Subjekt der Geschichte zu werden, so wie Napoleon die Geschichte zu seinem Objekt gemacht hat. Schon Friedrich Schiller verunglimpfte den Geschichtsprofessor, der sein ganzes Leben lang hinter dem Pult steht und sich ein Schnupftuch vor die Nase hält. In seinem Hauptwerk „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ schrieb der Philosoph Helmuth Plessner 1928, dass der Geist in einer „Wir-Sphäre“ angesiedelt sei. Geist habe der Mensch nicht in der Weise, wie er einen eigenen Körper habe. Kann ein in den Gesellschaftswissenschaften wirkender Mensch einen Gedanken als seinen ureigensten behaupten? Was alles steckt an Vorarbeit im 'kategorischen Imperativ'? Je mehr sich der einzelne Wissenschaftler in eins setzt mit dem 'Kollektiv Menschheit', desto omnipotenter muss Weltgeschichte in ihm aufleuchten. Das aber setzt letztendlich die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft voraus, in der sich über den Markt nur eine Pseudokollektivität herstellen lässt. Der bürgerliche Wissenschaftsbetrieb spiegelt nur den Sachverhalt der ökonomischen Basis des Kapitalismus wider: Die Tatsache, dass die Ware Produkt unabhängig betriebener, in Konkurrenz stehender Privatarbeit ist, spiegelt sich bereits im Schulbetrieb der bürgerlichen Gesellschaft wider, in der junge Menschen nach dem Motto: 'Jeder für sich, Gott für uns alle' deformiert werden zu asozialen Individuen. Die Dinge kehren sich um: Wer ein einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis vorweisen kann, ist für die Gemeinschaft ein äußerst gefährliches Subjekt, das man in der französischen Revolution 'canaille' nannte und das ein Fall für das Revolutionsgericht gewesen wäre. Der Duden gibt das Wort 'canaille' wieder mit 'böse', 'schurkisch', 'asozial', 'verbrecherisch'. In Revolutionen geht es primär nicht um die Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um die Gründung einer neuen, d. h.: Gegensätze schlagen ineinander um: Illegales wird legal, Legales wird illegal. So sind Milieu- und Tabubruch notwendige Begleiterinnen von Revolutionen. Vor der Revolution gehörten die Zeitungen den Millionären und gaben den Armen keine Stimme, nach ihr kämpft die Presse gegen das Kapital. Vor der Revolution war für Lenin die Macht des Beispiels unter kapitalistischen Bedingungen beschränkt, nach der Revolution spricht er sich für Musterkommunen aus. Rousseau hatte die Menschheit bereits darauf hingewiesen, dass ein Mensch, der anderen Menschen Befehle geben will, krank sein muss. Das bürgerliche Schulsystem ist ganz auf Auslese von Führungseliten getrimmt, aus seinen eigenen Eingeweiden produziert dieses Schulsystem fortwährend eine höchstgefährliche Mischung aus kriminellen und kranken Menschen: Das politische System der BRD übernahm nach 1945 nahtlos die Faschisten in den Staatsdienst und erließ durch Nazi-Richter, die 46 Prozent der Richterschaft stellten, ein Verbot der humanistischen KPD. Sind nicht heute die staatlichen Behörden in der BRD der notorische Sammelplatz von Asozialen? Man schlage einmal das Handbuch des 'Deutschen Bundestages' auf: man findet dort keinen Lebenslauf, der dem Ideal eines Revolutionärs entspräche. Die Pariser Kommune schob dem Strebertum einen Riegel vor, indem sie die Entgelthöhe für öffentliche Funktionen auf einen durchschnittlichen Arbeiterlohn festlegte, die bolschewistische Regierung, eine der Freiheit, des Brotes und des Friedens, beließ es auf nicht mehr als 6000 Rubel. Posten sollten kein Sprungbrett sein in hochbezahlte Stellungen bei Banken. Der SPD-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Kanzlerkandidat Peer Steinbrück legte im Herbst 2016 sein Bundestagsmandat nieder und wurde Berater der ING-DiBa-Bank.

Selbst einem höchstentwickelten Expertenkollektiv kann es nicht gelingen, eine Revolution wirklich erschöpfend darzustellen, zumal die Originalität dieser hier zu entfaltenden Revolution darin besteht, zum ersten Mal eine erfolgreiche Revolution der ungeheuren Mehrheit der grauen Masse der Besitz- und Namenlosen über die Minderheit kapitalistischer Ausbeuter und menschewistischer Kriegstreiber darzustellen mit der Intention, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen für immer zu beenden und diese nicht, wie es außer der Pariser Kommune fast immer der Fall war, zu verewigen. „In allen Revolutionen war der Wille der Mehrheit der Arbeiter und Bauern, d.h. ohne Zweifel der Wille der Mehrheit der Bevölkerung, für die Demokratie, und dennoch endete die überwiegende Mehrzahl aller Revolutionen mit einer Niederlage der Demokratie“. 5. Was war zum Beispiel die Folge der niedergeschlagenen bürgerlichen Revolution von 1905 im zaristischen Rußland? Nun, zur Lösung der Bauernprobleme wurde ein 'Zentralkomitee für landwirtschaftliche Angelegenheiten' gegründet – und wie viele Bauern nahmen an diesem offiziellen Komitee teil? Es waren gerade mal zwei Prozent. Möchte man da nicht von einer Sternstunde der Demokratie sprechen? Alle bürgerlichen Revolutionen basieren auf der Konkurrenz von Ausbeutergruppen, die entweder die Masse der Bauern oder die Masse der Proletarier oder beide zusammen vor ihren Karren spannen, die Oktoberrevolution war entgegengesetzter Art, sie war nach den Worten des Cambridgeprofessors Edward Hallett Carr „der Ausgangspunkt tiefgreifenderer und nachhaltigerer Auswirkungen in der ganzen Welt als irgendein anderes Ereignis der neueren Zeit“. 6. Der Diplomat Harry Graf Kessler notierte am Silvesterabend 1917 in sein Tagebuch, dass das jetzt zu Ende gehende Jahr den „ größten Umschwung in der Weltlage gesehen“ habe und dass das Jahr 1917 als „eines der denkwürdigsten Jahre der Weltgeschichte“ zu bezeichnen sei. Eine Revolution kann sich nicht halten, wenn die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung nicht ihre aktuelle Notwendigkeit erkannt hat. Diese zeitlose Wahrheit hatte Lenin in die Köpfe der Bolschewiki eingehämmert. Carr, dem man nicht gerade Sympathien für den Leninismus nachsagen kann, verortet also die Oktoberrevolution zum Epizentrum der neueren Geschichte, was auch insofern stimmig ist, als der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht gleich das Ende der weltgeschichtlichen Wirkung des Leninismus bedeutete und bedeutet, im Gegenteil, Volksfeinde schütten Kübel voller Verleumdungen über Lenins Haupt – die 'einfachen Leute' stehen auch heute „trotz alledem“ noch Schlange vor seinem Mausoleum. Warum? Sie spüren, dass hier ein Licht in der Finsternis des imperialistischen Terrors flackert, aber mit einem Vorbeiziehen an Lenin ist es nicht getan, mit einem intensiven Studium des Leninismus ist es ebenfalls nicht getan, man muss in der harten und rauhen Praxis des Klassenkampfes seinen Leninismus unter Beweis stellen. Die Umfragen stehen wieder günstig für Lenin: Nach Erhebungen des Lewada-Zentrums war Lenin 2006 für nur vierzig Prozent der Befragten positiv zu bewerten, 2016 sind es bereits 53. Sehr negativ sehen ihn nur noch fünf Prozent, die niedrigste Negativbewertung seit dem Untergang der Sowjetunion. Das Revolutionsjahr 1917 weist fünf Grundsteine auf, deren Zusammenlegung den Boden der Oktoberrevolution bildet: Die Februarrevolution mit ihrer Herausbildung der Räte (den Sowjets), die Aprilthesen Lenins, die die Revolution voranpeitschen, Anfang Juli dann die sogenannte Kerenski-Offensive, deren Scheitern der russischen Armee den endgültigen Knacks gibt. Im gleichen Monat einen verfrühten Aufstandsversuch von links und im August ein kläglich gescheiterter Putsch von rechts, den sogenannten Kornilow-Putsch, dessen Niederschlagung der bolschewistischen Partei und Perspektive einen immensen Auftrieb gibt. Die Provisorische Regierung unter Kerenski leitet die brutalen Verfolgungen der Bolschewiki ein, die gleichwohl die Mehrheit in den Sowjets der beiden größten Metropolen Russlands, Petrograd und Moskau, erobern. Das ist in der Geschichte Russlands das historische Grobpuzzle des Jahres 1917, die grobe Weichenstellung für den roten Oktober.

1.2. DER AUTOR UND SEIN TEXT

Ich beginne die Planung des Buches damit, dass ich in meinem Gehirn herumkrame: ich bringe aus der Erinnerung zwei Überlegungen hervor: 'Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!', also die Symbiose von Einheit und Freiheit, von politischer, dann auch unpolitischer Freiheit, und Lenins Rede über die Aufgaben der Sowjetmacht auf der Sitzung des Petrograder Sowjets, die noch am Tag der Oktoberrevolution stattfand: „Die unterdrückten Massen werden selbst die Staatsmacht schaffen … Wir haben jetzt gelernt, einmütig zusammenzuarbeiten“. Ich sehe mir diese Passage in Lenins Werken noch einmal an und lese zusätzlich: „Der Sowjet hebt insbesondere die Geschlossenheit, Organisiertheit und Disziplin, die völlige Einmütigkeit hervor, die die Massen bei diesem außergewöhnlich unblutigen und außergewöhnlich erfolgreichen Aufstand an den Tag gelegt haben“. 7. Da haben wir eine erste Frucht der Revolution, einmütig zusammenzuarbeiten, nicht Umordnung als Unordnung, und folgende Ausgangskonstellation: Die Revolution der unterdrückten Massen endete mit dem Sieg am 25. Oktober 1917, der zugleich auch als Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte der Menschheit zu werten ist. Ich wurde am 28. Februar 1952 in einem rückständigen Land geboren, in dem nur nachgedacht wurde, was andere Völker getan hatten und das ab der 'Kritik der reinen Vernunft' bis Hegels Tod eine einmalige Blüte der Weltphilosophie erlebt hatte, auch weil alle großen Energien in die Theorie gingen. Ein Land, in dem exklusiv das Wort 'Weltanschauung' geprägt wurde, das in anderen Sprachen unbekannt ist. (In der russischen Sprache bedeutet das Wort 'mir' sowohl Dorfgemeinde als auch Welt. Mit der Dorfgemeinde sind alle Kulturvölker in die Geschichte eingetreten). Nach der Niederlage der Bauern 1525 und nach den Verwüstungen des primär in Deutschland stattfindenden, 1648 endenden großen Religionskrieges war der politische Mensch in Deutschland ein Krüppel, der nicht mehr in die Weltgeschichte eingreifen konnte, der nur noch dem Weltgeschehen (zu)schauen, es anschauen konnte. Ein Land, in dem Karl Marx geboren wurde und in das der Postkartenmaler Adolf Hitler kam, der als Agent des deutschen Finanzkapitals den größten aller Kriege in die Weltgeschichte einbildete. Aber wenn ich zurückblicke, als Einzelner, so hat das noch nichts mit Geschichte zu tun. Diese ergibt sich erst durch ein kollektives Erinnern, ein Fingerzeig, den die Historiker so hartnäckig übersehen wie die Ärzte um Semmelweis die Notwendigkeit, sich vor geburtshilflichen Eingriffen die Hände zu waschen. Man scheut sich vor dem „Tod des Autors“ und meint, die Pseudofreiheit jenseits des Kollektivs sei die wahre. Ich habe noch über ein Jahr, wenn auch unbewusst, zusammen mit Stalin, dem Bezwinger Adolf Hitlers bei Stalingrad, auf dieser Erde verbracht, habe die chinesische Kulturrevolution Maos als Jugendlicher mehr schlecht als recht wahrgenommen, was man damals als Aktuelles erfuhr, war doch eher aus zweiter Hand, aus der Hand der hektischen und oberflächlichen Journaille, ohne jede vertiefende ökonomische Analyse, und schreibe jetzt gerade an einem Buch über die Sowjetrevolution nach dem Ende der Sowjetunion, umgeben von Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich für Kleinbürgerinnen und Kleinbürger halten und die es heute für unmöglich halten, dass laut Lenin eine Köchin oder, wie Max Barthel nach einer Unterredung mit ihm 1920 berichtet, eine Waschfrau imstande sein können, den Staat zu regieren. Im Sozialismus geht die Aufwertung des Menschen Schritt mit der Entwertung der Ware. Engels hatte gegen Dühring geschrieben, dass im Sozialismus „ … die Menschen alles sehr einfach abmachen, ohne Dazwischenkunft des vielberühmten Werts“. 8. Wir bauen einen einfachen und übersichtlichen Staat, hatte Lenin zu Barthel gesagt. Auch der Idealstaat von Thomas Morus jenseits des Privateigentums, in dem man leben sollte, ohne um sein tägliches Brot zu bangen, kam bereits mit ganz wenigen Gesetzen aus. „ … obwohl keiner etwas besitzt, sind doch alle reich...“ 9. Und beim utopischen Sozialisten Fourier versteht es sich fast von selbst, dass er in seiner Idealgesellschaft ohne Justiz auskommen möchte. Für Marx war die Pariser Kommune verwaltungstechnisch so angelegt, dass für die Zentralregierung in Paris nur noch wenige Funktionen übrigblieben.

Eine subjektive Erinnerung kommt nicht an gegen kollektive Erinnerungen und ist auch in revolutionärer Beziehung fruchtlos, da die Erinnerung der staatlich-repressiven Institutionen eine kollektive ist. Der Erfolg einer Revolution hängt prosaisch von einer größeren Kollektivität ab. „Wir haben die wichtigste marxistische Lehre nicht vergessen, die durch die russische Revolution so anschaulich bestätigt worden ist: man muss die Kräfte von Dutzenden Millionen in Rechnung stellen; weniger gilt in der Politik nicht, weniger wirft die Politik beiseite als eine Größe, die ohne jede Bedeutung ist“. 10. Der Absolutismus wurde revolutionär gestürzt, damit an die Stelle des Monarchen die vom Klassenkampf befreite Menschheit tritt, die so absolut frei ist, dass sie nicht über sich selbst herrschen kann. Die in diesem Emanzipationsprozess aufgetretenen Personenkulte sollten uns zum Innehalten anhalten. Selbst ein historisches Individuum per Geburt halte ich, der Autor, selbst ein Glied in der unendlichen Kette der Weltgeschichte, so eine bestimmte Kette von historischen Ereignissen selbst in der Hand, einen kleinen Ausschnitt der Weltgeschichte, der momentan als ein entscheidender angesehen wird. Die Französische Revolution hatte die historische Gleichgültigkeit verscheucht und seitdem ist alles weltgeschichtlich, ist jeder Abschnitt der Zeitgeschichte ein entscheidender geworden. Seit der Proklamation der Menschenrechte steht die Geschichte im Vorhof ihrer großen Entscheidung. Wir stehen in einer entscheidenden Phase der Weltgeschichte, hatte schon Hegel festgestellt und in diesem Selbstbewusstsein lebt heute der selbstbewusste Mensch. Wir sind nicht nichtswürdig! Das hatte die Französische Revolution mit auf den Weg gegeben, die Entdeckung Amerikas hat nicht so tief in die Psyche der Menschen eingegriffen und auch nicht die Landung eines Amerikaners auf dem Mond. Und seit 1789 leben wir im Bewusstsein, einer revolutionären Epoche anzugehören. Seither ist eigentlich alles Revolutionszeitalter, hatte Jakob Burckhardt notiert. Die Französische Revolution, die industrielle Revolution und die Oktoberrevolution werden sehr lange im Bewusstsein der sich stets technisch, wissensmäßig und bewusstseinsmäßig weiterentwickelnden Menschheit bleiben, mehr als die englische Revolution und die chinesische Kulturrevolution, ehe auch sie mehr und mehr verblassen, weil sich erst durch sie die Herausbildung des Menschen aus dem Tierreich abzuzeichnen begann. Diese drei bzw. fünf Revolutionen meisterten Schwierigkeiten, wie sie sich nach marxistischer Auffassung den zukünftigen assoziierten Menschen nicht mehr stellen werden.

Subjektives kann beim Abfassen dieses Buches nicht verhindert werden ebenso wenig wie meine Parteilichkeit für die produktiven Klassen der Arbeiter und Bauern, deren Glück im Kollektiv liegt und die aus ihrem kleinbürgerlichen Egoismus befreit werden und sich selbst aus ihm befreien müssen. Es kann keine Geschichte geschrieben werden, die unparteiisch wäre. Robespierre sprach bei der namentlichen Abstimmung für oder wider die Todesstrafe für Ludwig XVI. die Worte: „Da ich Mitleid mit den Unterdrückten habe, kann ich kein Mitleid mit den Unterdrückern haben“. Was nicht alles prägt unseren Kopf, unsere Gedanken? Wie viel Millionen Stränge des Vergangenen laufen in ein Individuum zusammen, prägen es, ohne dass dieses sich dessen jederzeit bewusst sein kann. Beim Innewerden im Ekel der Alltäglichkeit besinnen wir uns vielleicht darauf, dass sich in jedem Individuum die Totalität des weltgeschichtlich Vergangenen widerspiegelt, dass jedes Individuum ein weltgeschichtliches ist, wie das Proletariat als Klasse historisches Ergebnis des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen gesellschaftlicher Produktion ist. Und diesem Weltgeschichtlichen haben wir uns gemäß zu machen. Die Menschheit ist Weltgeschichte in ihrer Dichte, aufgehobene Vergangenheit und die Suche nach ihren Wurzeln ist unhintertreiblich. Wir sind heute in der historischen Forschung so weit, erkannt zu haben, dass die Menschen Geschichte machen aus dem Impuls, aus dem Bestreben heraus, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. So schon Vanderlint 1734 in seiner Schrift „Money answers all things“, so schon David Hume in seinen ökonomischen Schriften. Dann aber sind die Massenbedürfnisse der Volksmassen die treibende Kraft der Geschichte und der revolutionären Umbrüche, die aus der wachsenden Unfähigkeit des Ancien Regime entstehen, selbst elementare Bedürfnisse in einer Krisensituation des Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen befriedigen zu können und die Dialektik als menschliche Praxis übersetzende Prozesswissenschaft der allgemeinsten Bewegungs- und Entwicklungsgesetze der Natur, der menschlichen Gesellschaft und des Denkens widerspiegelt nicht nur den weltgeschichtlichen und weltrevolutionären Prozess, sondern greift methodisch in ihn ein. Die Widerspiegelung kehrt sich handelnd zurück gegen ihren Ausgangspunkt, nachdem im Gehirn noch mal eine Übersetzung von der Theorie zur Praxis stattgefunden hat. Praxis-Theorie-Praxis, das ist die Abfolge. Praxis geht der Theorie voraus und folgt aus ihr, würde Theorie nur aus der Praxis nur ohne Rückwirkung folgen, würde die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bei einer platten Widerspiegelung stagnieren und wäre vielleicht noch die auf Bäumen hausende Affenherde. Die marxistische Theorie ist eine Anleitung zum parteiisch-revolutionären Handeln der Arbeiterklasse eigen, nicht der ganzen mittlerweile hochentwickelten Affenherde, Menschheit genannt. In der gedoppelten Reziprozität zwischen Theorie und Praxis, in ihrem gedoppelten Hin- und Hergehen gründet sich der Fortschritt der menschlichen Hand und des menschlichen Gehirns, zwei Fortschritte, die sich vom ersten Ergreifen eines Baumastes durch eine (affen-)menschliche Hand zur Darbietung einer Klaviersonate von Beethoven mit zwei menschlichen Händen gesteigert hat. Der Leninismus beinhaltet bis heute die höchste Form des dialektischen Denkens. Der gegenwärtige weltrevolutionäre Prozess und die materialistische Dialektik verweisen sich ineinander. Man kann die Revolution der Arbeiter und Bauern nicht vorbereiten, ohne die Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus und man kann umgekehrt den Marxismus-Leninismus nicht weiterentwickeln, ohne die Vorbereitung der Revolution der Arbeiter und Bauern. Praxis-Theorie-Praxis. Kehren wir kurz auf die subjektive Ebene der Dialektik zurück, um bei ihr nicht lange zu verweilen, da sie stets auch objektive sein muss. Es gibt keine inhaltsleere subjektive Dialektik. Widerspiegelung und Denken findet ständig statt.

Der Radius des Lebens überschneidet sich mit dem Radius der Zeitgeschichte und die Schnittstellen bestimmen eben auch Anlage und Ausgang der geschichtlichen Darstellung von Geschichte. Geschichte ereignet sich zweimal, als objektive Geschichte mit mehr oder minder mit Selbstbewusstsein handelnder Menschen, selbst Naturwesen, und als historische Geschichte interpretativ und deutend, auch fälschend, im spezifischen mehr oder minder wissenschaftlichen Bewusstsein der Historiker. Geschichte ist nicht ohne weiteres ihre Wissenschaft. Die allerersten Menschen im Naturzustand haben zunächst die Natur als eine sich ständig verändernde wahrgenommen und diese Wahrnehmung war im Grunde die Geburtsstunde nicht der Geschichte, sondern einer Geschichtsempfindung. Dass es eine Natur und Naturwesen, die sich mit Bewusstsein in ihr bewegen, gibt, das prägte sich mehr und mehr im menschlichen Bewusstsein heraus, und mit der in ihm immer größer werdenden Herausbildung der Differenz von Natur, Naturgeschichte und Geschichte, Geschichte der mit Bewusstsein Handelnden, bildete sich allmählich ein Geschichtsbewusstsein heraus, in der Antike noch ein materialistisches. Die griechischen Materialisten gingen wie selbstverständlich davon aus, dass die Natur nicht unvernünftig und die menschliche Vernunft nicht unnatürlich sein könne, bis das Christentum die Geschichte der Menschheit von der Geschichte der Natur separierte und den Ursprung der Menschheit im Himmel verortete. Dabei war Epikur schon drauf und dran gewesen, den Menschen die Gottesfurcht zu nehmen und ihr Denken aus religiöser Vormundschaft zu befreien. Es hat im christlich geprägten Abendland bis in die Neuzeit gedauert, ehe die Naturwissenschaften die Natur aus ihrer bisherigen, stark auch vom Idealisten Hegel betonten Beiläufigkeit emanzipierten und mit der Erkenntnis der Bewegungsformen der Natur diese selbst erkannten. Die daraus zu ziehenden atheistischen und materialistischen Konsequenzen konnten in einer bürgerlichen Ausbeutungsgesellschaft nur kümmerlich bleiben. Es war fast eine Sensation, als der Philosoph Feuerbach vor der 48er Revolution die mittlerweile wieder lapidare Feststellung traf, dass es eine Natur vor der Philosophie gegeben habe. Geschichte und ihre wissenschaftliche Abbildung sind selbst historisch vorübergehend, ohne absoluten Maßstab. Jede geschichtliche Darstellung ist zeitbedingt, relativ, doppelprozesshaft und nicht wiederholbar. Eine sich ständig wandelnde Geschichte korrespondiert mit einer sich ständig wandelnden Geschichtsschreibung. Jeder ist nach Hegel ein Sohn seiner Zeit, sich dessen aber nach Hegel in der Regel nicht bewusst, einer von vielen mit einer Pseudopräsenz im sittlichen Universum. Geschichte und ihre Darstellung unterliegen der Zeit, der in den Tätigkeiten von Menschen sich realisierenden Zeit, die sowohl objektive als auch subjektive Geschichte flüssig hält. Objektive und subjektive Geschichte sind in sich flüssig allemal wie objektive und subjektive Dialektik. Die marxistisch-leninistische Philosophie unterscheidet zwischen objektiver und subjektiver Dialektik, zwischen Geschichte und Geschichte als subjektiv widergespiegelter, zwischen Geschichte und Geschichte der Geschichte. Es gibt keine bloße Geschichte, Geschichte hat ihren Unterschied an ihr selbst. Nackte Chronologie verleitet dazu, Geschichte als mit sich identisch(e), bereits in sich erschöpfte zu deuten, durch das reine Zahlenmaterial, aber die Geschichte ist ihre Geschichte. Geschichte als akademische ist gedoppelte, ist Praxis und Theorie, ist als weltgeschichtliche Praxis, Theorie als Anleitung zum Handeln, als Rückwirkung, in der sich mit Geschichte nicht um ihrer selbst willen auseinandergesetzt wird. Nur Intellektuelle abgestorbener Klassen, in weltgeschichtlicher Hinsicht immer impotenter werdend, akademisieren Geschichte in eine Einseitigkeit, in eine Sackgasse, dann wird Geschichte nur um ihrer selbst willen studiert und gelehrt, sich im universitären Ghetto um sich selbst drehend, ohne praktische Relevanz. Für diese Schmalspurhistoriker gibt es nur eine, die Geschichte, ihre Geschichte. Die objektive Dialektik kann sich indess nur in der subjektiven widerspiegeln, erstere als allgemeine Gesetzmäßigkeit und Entwicklungsbewegung der von uns unabhängig verlaufenden Geschichte, die sich durch Historiker subjektiv in ihrer Entwicklung und ihrer Gesetzmäßigkeit widerspiegelt. Die Natur und ihre Geschichte haben sich bisher weit überwiegend ohne menschliche Subjekte weiterentwickelt, aber die Widerspiegelung ist angehalten ans Subjekt, konkreter an das Subjekt der in Klassen gespaltenen Gattung, die Widerspiegelung ist fundamental widersprüchlich zwischen objektiver Natur und Gattung und intern widersprüchlich als Widerspiegelungsbewegung der sich fortentwickelnden Klassengesellschaften, in denen die Widerspiegelung antagonistisch und auch rechthaberisch erfolgt. Dieser Interpretationskonflikt verweist die Materialisten auf die Notwendigkeit richtig widergespiegelten Tatsachenmaterials, eine Widerspiegelung, die immer wieder kritisch-selbstkritisch zu überprüfen ist. Das Fundament des historischen Materialisten ist die in der Zeit selbst vor sich gehende richtigen Widerspiegelung der in der Zeit selbst sich entwickelnden Wirklichkeit. Diese richtige Widerspiegelung ist der Glutkern der ständigen Vertiefung historischen Wissens, um den qualvollen revolutionären Umwandlungsprozess der bürgerlichen in eine sozialistische Gesellschaft möglichst abzukürzen, deshalb ist das Wirken des marxistischen Historikers niemals nur interpretativ. Proletarische Historiker, nach vorne drängend, sind Dialektiker, bürgerliche Historiker, einst fortschrittlich argumentierend gegen die zerfallende Ideologie des zerfallenden Feudalismus, müssen als bürgerliche Historiker auf den Status quo bedacht sein und kommen nicht umhin, Metaphysiker zu sein, für die die bürgerliche Gesellschaft das Ende der Geschichte zu sein hat. Diese Historiker sind dem Geldfetisch anheimgefallen. (Dominierte im Feudalismus der Besitz von Grund und Boden das Wirtschaftsgepräge, so ist es im Kapitalismus der Geldbesitz, der Bauer wandelte sich vom Sklaven des Pfluges zum Spielball von Angebot und Nachfrage). So kann die Geschichtswissenschaft als Widerspiegelungsorgan in und von Klassengesellschaften nicht in sich monolithisch sein, sie entwickelt sich in sich gebrochen. Wie nach Hegel die Weltgeschichte nicht der Boden des Glücks ist, so ist der Spiegel der Geschichtswissenschaft zerbrochen und gibt dem Betrachter zunächst eine wirre Mannigfaltigkeit von nicht komponierten, wirren und reflexiven Betrachtungen. Hier ist nun Dialektik gefragt, um die Kette des Substantiellen in der Entwicklung der Natur und der menschlichen Gattung zu erfassen. Der Kommunismus wäre der harmonische Spiegel, in dem die Sprünge mit der Zeit zur Unsichtbarkeit verheilt sind. Objektiv liegt durch die Doppelrevolution im Jahr 1917 die Schnittstelle zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution vor, subjektiv hätte ich 1927 eine andere Geschichte der russischen Revolution schreiben müssen als 2017, damals von „noch kapitalistischen Staaten“ zu schreiben war einfacher als heute im Abstand von hundert Jahren, wo es immer noch kein kommunistisches Land gibt. Gäbe es eins, wenn der Sowjetunion nicht der Atem ausgegangen wäre? Isaac Deutscher sprach 1967 von einer unvollendeten Revolution. Muss eine kommunistische Revolution nicht immer eine unvollendete bleiben? Es gibt ja nicht nur eine Geschichte der russischen Revolution, sondern auch eine Geschichte der Geschichte der russischen Revolution. Die Fratze des Kapitalismus/Imperialismus ist heute markanter als 1927, als die Weimarer Republik als brüchig galt. Sie war es dann auch nach mehr als einem Jahrzehnt und fiel zur falschen Seite um. Der zweite Weltkrieg bestätigte, leider muss man sagen, glänzend Lenins Imperialismustheorie.

Ich bin von staatlichen Institutionen niemals angehalten worden, einmütig mit meinen Mitmenschen zusammenzuarbeiten, im Gegenteil! Kann das Buch überhaupt gelingen? Sein Mangel besteht u. a. darin, dass sich der Autor von den Ereignissen und seinen Gedanken darüber oft hat fortreißen und vom roten Faden hat wegtreiben lassen. Das Geschick lag darin, passende, überleitende Worte zum Verbinden heterogener Absätze zu finden. Der aufmerksame Leser wird das merken. Der kenntnisreiche Leser wird sich an die Träumereien Rousseaus entsinnen. Dürfen nicht auch die Nacherzähler von Revolutionen träumen? Wo steht denn geschrieben, dass das Brot der Historiker trocken und spröde sein muss? Ich weiß, der Text hätte von Schlacken befreit werden müssen, das geschah nur wenig – aus Sorge, dass der Text ärmer werden könnte. Man muss viel geben, will man die Seelen von Menschen gewinnen. Liegt hier eher ein anarchistischer Text vor mit dem Wildwuchs von sprunghaften Assoziationen, der seine Komposition der Laune des Schicksals überlassen hat, dem Augenblick gehorchend, als ein bolschewistisch disziplinierter, eisern durchkomponierter? Auch kommt es leicht vor, dass in Assoziationen ein gleiches Denkmuster nur anders gestaltet wird, so dass sich Variationen einstellen, die in der Substanz keinen Erkenntnisfortschritt beinhalten. Auch hier war der Autor zu zaghaft, notwendige? Amputationen vorzunehmen bzw. Fett abzusaugen. Der Leser möge mir ihm aufstoßende Wiederholungen verzeihen. Das Buch ist ohnehin dicker geworden als geplant.

Die geistesgeschichtliche Wurzel der sehr fragwürdigen intellektuellen Autonomie ist uns bekannt: Descartes Meditationen, hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen, die isolierte Studierstube des bürgerlichen Gelehrten als Skizze an die Wand seines Jahrhunderts werfend. Für die bürgerliche Ideologie ist dies alles Aufbruch, der das In-sich-Gebrochene, ja Irrsinnige dieser angeblichen Emanzipation nicht touchiert. Das Irre ist die gang und gäbe Konstellation: Das Ich und die Weltgeschichte, der Tropfen und der Ozean. Die lange Tradition des Privateigentums und die kurze Tradition der französischen Revolution haben uns auf geistige Onanie fixiert, uns einseitig und dumm gemacht. Ist Darstellung und wissenschaftliche Bearbeitung einer Revolution durch eine Einzelperson ein Unterfangen, dem sie überhaupt gewachsen sein kann? Mehr als einmal wollte Rousseau aus der Welt der den eigenen Verstand favorisierenden Aufklärer in die Welt der einfachen und tiefsinnigen Bauern flüchten, um mit ihnen zusammen zu arbeiten und um von der Arbeit seiner nackten Hände zu leben, vor allem keine Bücher schreiben. Armer Rousseau, der Zahn des Privateigentums sitzt fester im Fleisch der Geschichte als angenommen. Noch heute müssen Bücher gegen das Kapital geschrieben werden. Der Citoyen war das Ideal der bürgerlichen Revolution, der Bourgeois (russ.: Burschui) das bestimmende, uns heute noch prägende historische Resultat. Und dieses steht zur Weltgeschichte in einem tauben Verhältnis. Die bürgerliche Revolution von 1789 war eine genuin politische, die die Individuen aus den feudalen Einbindungen und Befangenheiten, Marx spricht von „Sackgassen“, freisetzte. Die ganze feudale Gesellschaft zersplitterte unter der Fahne der Freiheit in Atome, in Monaden. Die Französische Revolution gab nicht dem Kollektiv, sondern dem Egoismus einen ungeheuren Schub. „Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade“. 11. Es war diese 'Monadologie', die 1789 das sich Aufheben von Weltgeschichte unbewusst sabotierte, die Parole der Brüderlichkeit auf den Lippen. Auch die Oktoberrevolution von 1917 scheint zu einem ihrer Intention entgegengesetzten Resultat gekommen zu sein. In der Monadologie der bürgerlichen und der post-sowjetischen Gesellschaft ist für jede Monade eine andere eine andere als sie selbst und sie selbst ist sich somit auch eine andere, sie muss ohne Anerkennung bleiben. Das Geld hat sich zwischen das 'Ich' und das 'Du' geschoben und darf doch höflich aber bestimmt um eine förmliche Anrede bitten. Im Kapitalismus ist der Mensch nicht nur ein Wolf unter Wölfen, mit dem Herzen eines Shylocks, er ist auch ein Fremder unter Fremden, in einer Eiseskälte, die einem Wolfsrudel in der Natur fremd ist. Über das Recht erkennen sich die Menschen nur abstrakt als Menschen an, das Recht zeigt die für die bürgerliche Gesellschaft typische doppelte Entfremdung an. Das abstrakte Recht der bürgerlichen Gesellschaft, eine Frucht der Aufklärung, ist heute der Anzeiger eines Lebens in Finsternis. Der Lohnsklave gilt als Wert für den Lohnherrn und hat für sich selbst Wert nur als dieser, der aus der Lohnsklaverei freigesetzte Arbeitslose gilt als wertloser Mensch. Der vogelfreie Proletarier krepiert. Das ist die Hürde, vor der die proletarische Revolution steht, höher als gedacht. Man begreift, dass die Etablierung eines Personenkultes, einer einsam thronenden Monade, nur eine bürgerliche Variante des Vereinigungsprozesses des Proletariats ist. Immer wieder brechen diese bürgerlichen und kleinbürgerlichen Egoismen massenhaft aus dem Kollektiv hervor, um „das große Kunstwerk Revolution“ nicht nur zu verunstalten, sondern auch zu zerstören. Die Kleinbürger laufen beständig vor sich selbst weg und sättigen damit die Konterrevolution. In dieser Monadologie besteht die Gesellschaft aus Monaden, wie die neunte Feuerbachthese es umreißt, so sieht die abstrakte Rechtstheorie die Klassengesellschaft eingeebnet, ohne in den Abgrund des Politischen zu blicken, aus dem sich uns eine von Klassen zerschluchtete Gesellschaft auftut. Der anschauende Materialismus reicht über die Anschauung der einzelnen Individuen und der bürgerlichen Gesellschaft nicht hinaus. 12. Die Französische Revolution feiert unter dem Banner der Brüderlichkeit den Egoisten und bewirkt doch die gleichzeitig beginnende Auslöschung seiner Persönlichkeit durch ihm entfremdete, ihn erdrückende Institutionen. Aus Persönlichkeiten werden Personen, die zu ihrer Wiedergewinnung einen Personenkult inszenieren müssen: Napoleon nach 1789, Stalin nach 1917. „Frei“ ist diese Person, weil sie nicht mehr wie im Feudalismus Zwängen personaler Art unterliegt, sondern nun Verhältnissen mit einem anonymen Systemcharakter. Die Freiheit, die diese Monaden anstreben, ist die Handelsfreiheit, in der eine Monade die andere totschlägt, womit die Perestroika ihr Ziel erreicht hat. Mit einer in der Gesellschaftswissenschaft gebotenen Nüchternheit, soweit das geht, muss festgehalten werden, dass die Perestroika eine viel größere Selbstmordwelle zur Folge hatte als etwa Goethes 'Werther'. Erschüttert worden ist das Selbstverständnis der Oktoberrevolution, die klassische Gestalt der sozialistischen Revolution weltweit zu repräsentieren. Und die Überlebenden halten sich durch Illusionen aufrecht: Eine gewonnene Schlacht, die Oktoberrevolution, war von Stalin ab 1925 zum Krieg selbst umgeschrieben worden und ab 1991 gilt seit nunmehr einem Vierteljahrhundert der verlorene Krieg nur als eine verlorene Schlacht. Die Niederlage ist umso schmerzhafter, als es keine vergleichbare sozialistische Revolution in dieser inneren Klassizität gegeben hat. Und von den, antiimperialistischen-demokratischen und nationalen Befreiungsbewegungen, besonders in Afrika, konnten sich die in sozialistischen Republiken hinüberwachsenden nicht lange halten. Und doch muss der Begriff der Klassizität problematisiert werden. Das 'Philosophische Wörterbuch' der DDR, von Manfred Buhr und Georg Klaus herausgegeben, gibt unter dem Stichwort 'Revolution' zu, dass sich die sozialistische Revolution in der Tat „etwas anders“ entwickelt habe, als Marx und Engels „das annahmen und annehmen mußten...“ 13. Die klassische Jahrhundertblume der Revolution ist zerpflückt, ihre Blätter gefallen, längst zertreten. Anspruch und Wirklichkeit klafften nach 1917 auseinander, und doch enthielten am Beginn selbst die kühnsten Illusionen massenstimulierende Elemente. Sowohl im Jahr 1789, als der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus auf der Tagesordnung stand, als auch im Jahr 1917, als der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus das Thema aller Themen war, waren stimulierende Illusionen der Massen unbedingt notwendig, um den Prozess voranzutreiben, und nach beiden Übergängen folgte der Katzenjammer. Die rote Sonne in Russland bekam Flecken. Und doch gilt Goethes Maxime: „Geschichte schreiben, ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen“, nicht für meine Schrift über die Oktoberrevolution. Es ist nicht möglich, und darin besteht ihre Größe, sich die Oktoberrevolution vom Halse zu schaffen, vom Halse zu schreiben. Es ist aber auch nicht möglich, sie zu wiederholen. Proletarische Revolutionen wird es geben, aber unter ganz anderen, neuen Bedingungen. Was als Putsch, ja als Farce denunziert wurde, wuchs sich zu einem Ereignis aus, das bisher wie kein anderes so grundlegend und dezisionistisch in die Entwicklung der Menschheit eingegriffen hatte bzw. noch eingreift. Ob man aus der Revolutionsgeschichte lernen kann, ist eine Frage, die zu beantworten ein Thema für sich wäre, aber die Oktoberrevolution ist ja auch heute und für lange Zeit nicht nur mögliches Lernobjekt, sondern eine Quelle der Inspiration. Für Hermann Gautier war die Oktoberrevolution ein Lernobjekt: „Uns geht es darum, aus den reichen Erfahrungen der Oktoberrevolution zu lernen“. 14. Dass zum hundertsten Jubiläum eine Flut von Literatur provoziert wird, verweist darauf, dass für die Suchenden aller Länder an dieser Revolution noch etwas dran sein muss. 1924 hatte Stalin verkündet, die Sowjetunion revolutioniere allein durch ihre Existenz und 1927 führte er in seiner Rede zum zehnten Jahrestag der Revolution aus, dass die Vernichtung der Sowjetunion „das gesellschaftliche und das politische Leben der 'fortgeschrittenen Länder' für lange Zeit in das Dunkel einer hemmungslosen wütenden Reaktion hüllen würde“. 15. Eine Einleitung in die Thematik der Oktoberrevolution, in die tiefste Revolution in der Geschichte der Menschheit, laut Stalin ein „Geschöpf des Marxismus“, hat mit diesen Gedanken zu enden, aber mit diesen zu enden, wäre ein Misston. Mit einer Kritik am Personenkult bewegen wir uns noch an der Oberfläche von historischen Gebilden, die aus einer proletarischen Revolution hervorgehen. Nur auf den ersten Blick scheint das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert des Personenkultes zu sein - in diesem Jahrhundert sind Millionen und Abermillionen Menschen politisch erwacht und haben in gesellschaftswissenschaftlicher Hinsicht Lernprozesse durchgemacht, wie sie noch kein Jahrhundert aufweisen kann. Millionen und Abermillionen Menschen sind auf Grund der Entwicklung der Produktivkräfte in Kollektive zusammengefasst worden und haben sich als gesellschaftliche Individuen begriffen, deren Stärke im Kollektiv liegt. Die phantastische Leistung des Hauers Stachanow war keine individuelle, sondern eine kollektive seiner Brigade. Davon ausgehend muss man in die Zukunft schauen: Was wird erst das 21. Jahrhundert an kollektiven Leistungen, an Oktoberrevolutionen, an Borins, an Petrows und an Stachanowbewegungen hervorbringen!? 16. Mit der russischen Oktoberrevolution und der Geschichte der Sowjetunion hatte die Pariser Kommune eine sie mehrfach überbietende Dimension erreicht, um welche Dimensionen wird die kommende proletarische Revolution die Oktoberrevolution überbieten?

Obwohl in weltanschaulicher Hinsicht die Welt durch die Oktoberrevolution erst ganz diesseitig geworden ist, hatte diese keinen philosophischen Ansatz und war auch keine rein marxistische im ganz klassischen Sinn, wie denn überhaupt keine Revolution ganz ihrem klassischen theoretischen Ideal entsprechen kann: es ging um die Überwindung des Hungers, des Analphabetismus und des Krieges, der letztere hängt aber nie von einer Seite ab. Die Oktoberrevolution muss primär von der materiellen Basis aus gedacht werden, sie war keine bloße Revolution, sondern eine mit einem eminenten wissenschaftlichen Anspruch. Analphabetismus und wissenschaftlicher Sozialismus kreuzten sich, sie gingen nicht disparat, sondern aufeinander zu. „Ganz Rußland lernte lesen“, schrieb John Reed in seinem weltberühmten Buch über die zehn Tage, die die Welt erschütterten. Denn im wissenschaftlichen Sozialismus gilt die Relativität des menschlichen Wissens, nur mit der Tendenz zum absoluten Wissen. Hier liegt ein Hauptsatz für Lenins Revolutionskonzept in weltrevolutionärer Hinsicht vor, denn sein angeblicher globale Utopismus basiert auf der richtigen philosophischen Einsicht, dass man das Absolute, hier die Weltrevolution, anstreben muss, um Fehler in untergeordneten Revolutionskonzepten zu vermeiden. Wer also über diese Revolution schreiben will, muss das Leninsche Konzept der Weltrevolution im Hinterkopf behalten, das es in seiner Totalität nicht gegeben hat und auch nicht geben konnte. Das menschliche Wissen bleibt letztendlich immer nur ein relatives, absolutes in sich enthaltend, zu einem Übersteigen verlockt, durch das dialektisches Denken Gefahr läuft, sofort und unweigerlich in metaphysisches und haltlos konstruierendes umzuschlagen. Damit kommt ein Element in die wissenschaftliche Revolutionsforschung, das es streng wissenschaftlich genommen nicht geben darf, die Intuition des Absoluten, die dem Hegelschen Absolutheitsanspruch noch geschuldet ist. Damit ist die Gefahr einer Metaphysik der Oktoberrevolution leicht gegeben, zumal der Revolutionsforscher im zerstreuten Material einer Revolution einem Puzzlespieler ähnelt, der Steinchen auf ihre Passform hin vergleicht. Die Gefahr ist gegeben, in eine Geschichtsphilosophie zurückzufallen, die die Lücken der traditionellen Geschichtswissenschaft aus der Intention des absoluten Wissens zu füllen hatte und die der historische Materialismus bereits überwunden hat. Die Stückelung des Puzzlespielers wird nie vollständig sein und notwendige Lücken verlocken aus einer Intuition des Absoluten heraus, sie „philosophisch“ zu schließen, eben weil der Geist alle Widersprüche überwinden will. Es müssten zu diesem Unterfangen nur genug Puzzlesteine vorhanden sein, aus denen sich eine Kontur ganz deutlich und also zweifelsfrei ergibt, aber die Lücken können auch dazu führen, dass Grübeln über eine Revolution mehr Fragen aufwirft als es beantwortet. Die Fragen, die menschliches Grübeln aufwirft, hat die Wissenschaft zu beantworten. Denn die Lücken sind gerade beim Gegenstand 'Revolutionen' eher groß als klein, revolutionäre Massen handeln aus elementaren Bedürfnissen heraus, ohne große weltgeschichtliche Erwägungen anzustellen, sie führen kein Buch, keine Herrschaftschronik, schreiben wenig auf. 13. Russland hatte 1917 eine hohe Analphabetenquote und es wurde daher mehr über die Revolution erzählt als geschrieben. Aber auch das mündlich Überlieferte hält sich ja und wird auch im Laufe der Zeit etwas Historisches, historisch Verwertbares. Es ist noch sehr die Frage, ob man in einer Bibliothek hocken soll, um Bücher über Revolutionen zu lesen, die nicht von Angehörigen unterdrückter Klassen geschrieben worden sind oder ob man draußen im flutenden Leben der Weisheit der Unterdrückten lauschen soll? Die bürgerlichen Autoren werfen der bolschewistischen Oktoberrevolution vor, sie habe zum Totalitarismus geführt. Ihr Totales resultiert aus der totalen Entmenschlichung des Menschen, dem das Kapital Unrecht schlechthin zugefügt hat und zufügt. Gleichwohl es die Mehrarbeit nicht erfunden hat.

1.3. ANFANG UND ENDE EINER REVOLUTION

„Eine Erscheinung, welche geschichtlich entstanden ist und geschichtlich verschwindet, pflegt man in der gemeingültigen Sprache geredet, 'eine historische Phase' zu nennen“. (Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Werke Band 20, Dietz Verlag Berlin, 1960,192).

Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu: Wann begann die Oktoberrevolution, wann endete sie? Wann sind im Fluss der Zeit die Grenzen zu ziehen? Sie kann zudem angesichts der Tatsache, dass es 1905 eine Generalprobe für sie gab, nicht singulär betrachtet und dargestellt werden. Selbst wenn man diese Revolution als eine Generalprobe abstreitet, bleibt die Tatsache, dass es bereits 1905 zur Bildung von Sowjets kam, diese also ihre Wurzeln weder in der Februarrevolution noch in der Oktoberrevolution hatten, sondern in der Pariser Kommune, in der von den Arbeiterinnen und Arbeitern eine Art Räte gewählt wurde, die rechenschaftspflichtig und bei Machtmissbrauch jederzeit absetzbar waren. Ist die Revolution von 1905 so oder so eine Vorbereitungsrevolution für den roten Oktober, so kann man auch nicht die Periode des Niedergangs der Revolution von 1907 bis 1912 und die des zunehmenden revolutionären Aufschwungs ab 1912 einfach überspringen, quasi unter Ignorierung des Hin und Her von Ebbe und Flut im Rhythmus der Revolutionsgeschichte von einer Revolution in die andere springen. Die Darstellung der Oktoberrevolution hat also mit dem Blutsonntag zu beginnen und mit der Machtergreifung der Kommunisten am 26. Oktober 1917 um zehn Uhr morgens zu enden, wenn denn der Hauptinhalt einer Revolution die Eroberung der politischen Macht ist. Um zehn Uhr morgens wurde in Petrograd der von Lenin verfasste Aufruf „An die Bürger Russlands“ angeschlagen, in dem der Bevölkerung mitgeteilt wurde, dass die Provisorische Regierung gestürzt worden sei. Es sei dazu nebenbei bemerkt, dass am zwölften Jahrestag des Blutsonntags in Russland die Streiks begannen, aus denen sich der Aufstand zum Sturz des Zaren am 12./25. März entwickelte. Durch den Blutsonntag hatte der Zar den Nimbus verloren, „Träger der Volkswahrheit“ zu sein. Die soeben vorgenommene Eingrenzung kann natürlich sofort bestritten werden, schon rein faktisch, denn das Organ des Aufstandes der Revolution, das ‚Militärische Revolutionskomitee‘, das zu bilden am 9. Oktober auf Betreiben der Bolschewiki aus Anlass konterrevolutionärer Machenschaften, die PetersburgerGarnison an die Front zu verlegen, beschlossen und dem eine ständige Garnisonsberatung angegliedert, in das auch linke Sozialrevolutionäre aufgenommen worden waren, und das Kommissare in allen Teilen der Petrograder Garnison endsandte, bestand noch als eine Art Ausläufer der Umsturzaktivität bis zum 7. Dezember 1917. (Auch in der am zweiten September 1917 gegründeten Tscheka arbeiteten anfangs linke Sozialrevolutionäre mit. Der Gründungstag war kein Zufall: am 2. September begannen 1793 in Paris die ‚Septemberwirren‘.). Dieses Komitee war zunächst aus patriotischen Gründen organisiert worden und wurde von den Bolschewiki aus einem menschewistisches in ein revolutionäres, den Aufstand (unter dem Schutz der Petrograder Garnison verhüllend) verwandelt. Den Menschewiki wurde hierbei übel mitgespielt, denn sie waren es bisher immer gewesen, die die Garnison um sich scharten und, grob gesprochen, parallel zu den Staatsorganen Machtorgane schufen. „Die Bolschewiki folgten gewissermaßen bloß den Traditionen der Doppelherrschaft“. 17. Fixe Grenzen gibt es weder in der Natur noch in der Geschichte und die Vibrationskreise der Revolutionen haben je verschiedene wechselnde Mittel- und Schwerpunkte. Deshalb ist das Wort ‚parallel‘ bzw. Parallelkonstellation und Parallelentwicklung für die Existenz der Doppelherrschaft etwas unglücklich gewählt, besonders bei der ungeheuren Wucht der Schwankungen des russischen Kleinbürgertums, und man kann an diesem Umstand ermessen, wie komplex die Gesellschaftswissenschaften sind im Vergleich mit der reinen Mathematik, für die mit gewissem Recht die ‚Parallele‘ ganz ungeniert eine fixe Konstante ist. Einerseits bzw. oberflächlich scheint mit der Doppelherrschaft die von Marx und Engels im Manifest dargelegte Fundamentalkonstellation der Bourgeoisepoche, dass sich die ganze Gesellschaft mehr und mehr in zwei große feindliche Lager spaltet, mit Händen greifbar, andererseits waren aber die beiden Köpfe, die der Provisorischen Regierung und die der zunächst von den Menschewiki dominierten Sowjets konterrevolutionär ausgerichtet, was keiner klarer erkannte als Lenin. Es lag zunächst mehr eine „Parallelität“ konterrevolutionärer Gesinnung und Ausrichtung vor als eine von den Klassikern bestimmte klassische, die sich erst nach der Isolierung der Menschewiki im Oktoberaufstand entlud. Darin liegt die Schwierigkeit, dass die russische Geschichte zwischen dem Februar 1917 und dem Oktober 1917 mit zumindest zwei fundamentalen Maßstäben gemessen werden muss, die im Verlauf der Ereignisse nicht sich fixieren, nicht fixiert bleiben, sondern sich mit diesen wandelnde sind: Daraus ergibt sich die Flexibilität der Taktik im Klassenkampf, der ein politischer Kampf ist. Das große strategische Ziel war der Sturz der bürgerlichen Herrschaft in Russland und bekanntlich führen viele Wege nach Rom. Daraus ergeben sich u. a. auch die Turbulenzen der Regierungsfindung im bürgerlichen Lager. Beide Seiten versuchen so gut wie möglich, sich den objektiven politischen Lagen, den Klassenkampflagen anzupassen, die eine, um diese gestalterisch weiterzuentwickeln, die Revolution vorzubereiten und den Marxismus reziprok dazu weiterzuentwickeln, die andere bremsend, das Schiff der bürgerlichen Herrschaft geschickt um die Klippen im roten Meer zu lenken. Die linken Demonstrationen in der Periode der Doppelherrschaft erwiesen sich als Vorformen des bewaffneten Aufstandes im Oktober, auch als Vorformen des sich aus der Oktoberrevolution ergebenden Bürgerkrieges. Der Kornilow-Putsch erwies sich als eine Vorform von Etabilisierungsversuchen von reaktionären, altelitären Genralsdiktaturen im Bürgerkrieg der Roten gegen die Weißen. Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu. Historiker neigen nun einmal dazu, weitschweifig die Wurzeln der Wurzeln zu suchen, immer weiter zurückzugehen und sich in der Vergangenheit zwar nicht zu verzetteln - in der dürren Chronologie der Fakten haben sie ihren roten Faden und die große Mehrheit unter ihnen sucht leider nicht nach den Hintergründen dieser Fakten - aber die Proportion von Vorgeschichte und Kernthema einseitig nach hinten oder, schreiben sie ein Buch, nach vorne zu belasten, so dass in der Regel die Vorgeschichte einen zu großen Raum einnimmt. Sie pflegen mit ihren dicken Büchern in die Breite zu gehen und nicht in die Tiefe, die nur von originellen und auch gegenläufigen Gedankenblitzen sich erhellen lässt. Wenn Schiller in seiner Ende Mai 1789 in Jena gehaltenen Antrittsrede „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ es dem Historiker zur Aufgabe macht, aus der Betrachtung der Vergangenheit eine Erklärung der Gegenwart zu gewinnen, so kann es leicht zu einer skurrilen Situation in der Geschichtswissenschaft kommen, sie glaubt, die Gegenwart um so besser zu deuten, je mehr sie sich von ihr entfernt. Die Schwierigkeit besteht eben darin, dass Revolutionen vibrieren und damit ihre eigenen Grenzen erschüttern und auch immer wieder verschieben, kippen; der Gesellschaftswissenschaftler aber, durch dessen Augen und durch dessen Labyrinthe im Gehirn seines Kopfes ein Geschichtsabschnitt gegangen ist, um einen Schnitt nicht herumkommt, will er denn übersichtlich präsentieren. In der eigenen Schublade dürfen sich Assoziationen überqueren und verwirrt bleiben. Dieser Schnitt ist bei Revolutionen noch wesentlich schwieriger zu ziehen als bei nationalen Kriegen, die ja auch nicht mit der Kriegserklärung beginnen und mit dem Friedensvertrag enden. Oder bei Epochenbegrenzungen. Ein Historiker kann nicht allen Epochen gerecht werden, Schiller legt es nahe: die neuere Geschichte ist die Substanz und Aktualität der Geschichte. Mehr noch als die der bisherigen Geschichte innewohnenden Gewaltorgie ist es die sich aus den Zusammenbrüchen gigantischer gesellschaftlicher Systeme ergebende Leere der Weltgeschichte, die die spezifische Depression der Historiker bewirkt, so sie keine Brotgelehrten sind. Revolutionen sind die Festtage im Leben der Völker und die Arznei gegen die Depression, sie haben keinen Anfang und kein Ende. Sie sind Einschnitte ohne Grenze. Die Oktoberrevolution zum Beispiel erschöpft sich nicht im Zusammenbruch der Sowjetunion, sondern wirkt mehr noch als die Französische Revolution in uns hinein und wird über unsere Tage hinaus, ihre Wellenschläge gegen die brüchigen Zitadellen des Kapitals bis zum Hochwasser treibend. Ein endgültiges Scheitern der Oktoberrevolution gibt es nicht, denn der Klassenkrieg zwischen den Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeitern und den Kapitalisten muss immer wieder und wieder ausbrechen, bis die Bestie 'Kapital' niedergerungen sein wird. Gescheiterte Revolutionen haben doch einen geschichtlichen Sinn, so wie schon der Pariser Kommune trotz ihrer verheerenden Niederlage ein Modellcharakter zu attestieren ist. Selbst in den Niederlagen der Revolutionen blitzt die Zukunft auf.

In der Natur und in der Geschichte mit ihren beweglichen Grenzen tragen das Absterbende und das Aufkeimende einen Widerspruch in sich und gegen sich, der nur dezisionistisch zu lösen ist und die Doppelherrschaft war ein Zwischenstadium des Konfliktprozesses, nicht seine Lösung. Jeder revolutionäre Prozess muss zu Kulminationen kommen, die einen schillernden doppelherrschaftlichen Charakter mit unsäglich vielen Zwischenstufen tragen, es gibt keine Revolutionen ohne Paktierer, die nach einer Synthese suchen, wie zum Beispiel 1789 Mirabeau, der bürgerliche Konstitution und Monarchie unter einen Hut bringen wollte. Nach nur acht Monaten flog 1917 das Übertünchen der sozialen Antagonismen durch die Paktiererparteien durch die Aufklärung der Bolschewiki auf. Der Revolution im Kopf folgte eine in der Praxis, ohne dass der Kopf, der ja nur gesellschaftliche Praxis verarbeiten kann, die Ursache beanspruchen darf. Prozesse in der Gesellschaft und in der Natur folgen nie einer simplen Wenn-Dann-Abfolge, monokausale Erklärungen greifen stets zu kurz. Wer Revolutionen untersuchen will, braucht eine doppelglasige Brille, denn in ihnen spielen sich nicht so sehr kausale als reziproke Prozesse ab, bzw.: Es werden sich kausale als reziproke erweisen. Man muss hin- und herpendeln und hin- und herdenken. Zugleich lehren uns Revolutionen, dass ohne Vertreibung der Vereinbarer der Revolutionsprozess nicht zu seiner Kardinalkulmination gelangen kann. Diese erfolgt erst nach dem Abwerfen rasch veralteter Zwischenstufen, die sich auch als Vorformen eines Bürgerkrieges erweisen können. Die Oktoberrevolution kann auch als Vorform des aus ihr folgenden Bürgerkrieges gelesen werden, ja in diesem brach in Russland die Doppelherrschaft von 1917 in gewisser, schiefer Weise durch den ab Mai 1918 tobenden Bürgerkrieg zwischen den Roten und Weißen noch einmal hervor, nachdem die Oktoberrevolution alle Gewichte nach links, wie die Februarrevolution alle nach rechts verschoben hatte. Am 20. Januar 1918 bat Lenin sich noch ein paar Monate aus, die man brauche, um die russische Bourgeoisie, die nur ein schwaches Unternehmertum hervorgebracht hatte, endgültig besiegt zu haben. Der immanente Konflikt der Doppelherrschaft zwischen kleiner und großer Bourgeoisie mutierte durch den roten Oktober zum Hauptkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Hatte die Februarrevolution eine bonapartistische Decke über den Klassenantagonismus zu legen versucht und können wir in ihr die verzweifelten Versuche der Liberalen verfolgen, die Revolution zu ersticken, in Wirklichkeit taten sie alles, damit sie auf sie zukommt, so schleuderte die Oktoberrevolution diese fort. Jede Revolution hat einen Höhepunkt, dem weitere fast mehr oder minder fast gleichwertige folgen und über den sich die Parteien natürlich nicht einig sein können. Die Februarrevolution offenbarte, dass das Proletariat und das Kleinbürgertum ihre sozialen Probleme nicht durch einen Machtverzicht und von einer anderen Klasse gelöst bekommen. Schon von seiner ganzen Disposition her musste sich das Kleinbürgertum als unfähig erweisen, von den Massen systematisch zu lernen, was aber notwendig ist, um eine Revolution zu führen.

1.4. VON GRÖSSEREM WERT ALS DER SCHLACHTTAG VON SADOWA

Die Menschheit wäre arm ohne den Traum von der Weltrevolution. Das ‚Goldene Zeitalter‘ liegt noch vor uns.

Ich sprach von der Mutterrolle der Pariser Kommune, die zehn Jahre nach der formalen Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland ausbrach, eine Abschaffung, die zu einer warenproduzierenden Landwirtschaft, also zu einer Vergesellschaftung der landwirtschaftlichen Produktion und zur Verdrängung der Naturalwirtschaft durch die Tauschwirtschaft führen und auch den Boden in eine Ware verwandeln sollte, und dadurch die Möglichkeit eröffnete, eine proletarische Revolution in Aktion zu sehen und eine Theorie des Kommunehalbstaates zu entwickeln, die Marx im "Bürgerkrieg in Frankreich" (für Lenin) vorgelegt hatte. Aber schon vor der Pariser Kommune hatte Marx aus der Lektüre des Buches von Flerowski ‚Die Lage der Arbeiterklasse in Rußland‘ heraus in einem Brief an Engels vom 12. Februar 1870 prophezeit, dass für Russland eine furchtbare soziale Revolution bevorstehe. Und knapp sechs Wochen später, am 24. März 1870, schrieb Marx an die Mitglieder des Komitees der russischen Sektion der I. Internatonale, dass Russland an der allgemeinen Bewegung des Jahrhunderts teilzunehmen beginne. Das Wesen der Kommune bestand aus zwei sich auseinander ergebenden Kernelementen: sie war eine Regierung der Arbeiterklasse, die die Abschaffung der Klassen, dieses wahre Geheimnis der proletarischen Bewegung, intendierte. Anlässlich des Slawischen Meetings zum 10. Jahrestag der Pariser Kommune schrieben Marx und Engels 1881 an den Vorsitzenden dieser Kundgebung: "Als die Pariser Kommune dem furchtbarem Massaker unterlag, das die Verteidiger der Ordnung organisiert hatten, dachten die Sieger wohl nicht daran, dass keine zehn Jahre vergehen würden, bis sich im fernen Petersburg ein Ereignis abspielen würde, das, wenn auch vielleicht nach langen und heftigen Kämpfen letzten Endes und mit Sicherheit zur Errichtung einer russischen Kommune führen müsse". 18. Aber Paris war urban, Russland rural, und zwar so rural, dass für Marx in Russland die Grundeigentumsverhältnisse dieselbe Rolle spielten wie in England die industrielle Lohnarbeit, Frankreich war das klassische Land der Revolution, das zaristische Russland zur Schmach und Schande des russischen Volkes nach der Niederwerfung der ungarischen Revolutionsarmeen durch Truppen des Zaren im Jahr 1849 das Bollwerk der europäischen Konterrevolution, das seine Hände in jedem europäischen Kabinett hatte. Dessen ungeachtet war es für den zwielichtigen Parvus-Helphand, später Ratgeber und Einflüsterer Eberts, ausgemacht, dass die kommende proletarische Weltrevolution in Russland ihren Ausgangspunkt nehmen werde, und in diesem Punkt erwies er sich als hellsichtig. Das betonte er eindeutig. 36 Jahre später werden die Bolschewiki dann tatsächlich unter Lenins Führung den Versuch unternehmen, die Pariser Kommune in den russisch-agrarischen Megakörper zu injizieren. Diese west-östliche Konstellation lag vor, als Lenin als marxistischer Theoretiker der proletarischen Revolution auftrat, der dem dialektischen und historischen Materialismus verpflichtet war. Es war zu einer Zeit, als es darauf ankam, zunächst in der Arbeiterklasse festen Fuß zu fassen. Die Dialektik lehrt uns, dass man sein Augenmerk primär nicht auf das richten muss, was gegenwärtig dominiert, aber stagniert, sondern auf das zunächst Periphere, das sich aber entwickelt. Der Marxist ist ja verpflichtet, nicht nur die grundlegenden Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen der an der Produktion beteiligten Personen analytisch offen zu legen, sondern darin auch die Hauptklassen der wichtigsten politischen Strömungen, in Russland waren das die bürgerlich-liberale, die kleinbürgerlich-demokratische und die bolschewistische Richtung, und die Hauptrichtung zu eruieren, in die die gesamte Gesellschaft sich entwickeln wird. In beiden Punkten versagten nach Lenins Auffassung die Volkstümler, die Hegels bemerkenswerte Ausführung über das Schicksal in der Weltgeschichte nicht verstanden hatten, dass „aus ungeheurem Aufgebot von Kräften Kleines hervorgebracht“ wird, „aus unbedeutend Scheinendem Ungeheures“ 19. hervorgeht. Es war der liberale Johann Jacoby, der den klugen Satz aussprach: „Die Gründung des kleinsten Arbeitervereins wird für den künftigen Kulturhistoriker von größerem Wert sein als – der Schlachttag von Sadowa“. 20. Was hatten die Bolschewiki am Anfang? Eine kleine Gruppe in Petrograd, eine kleine Garde, eine kleine Partei; nach nur drei Jahren hatte sich statt eines Sowjets das ganze Sowjetsystem des Landes um die Partei Lenins, „eine Partei wie aus Stahl gegossen“. 21., zusammengeschlossen. 22. Lenin setzte ihr Werk ab 1903 fort und führte die Partei nach vierzehn Jahren zum Sieg in der Oktoberrevolution, die in zehn Wochen mehr für die Vollendung der bürgerlichen Revolution in Russland geleistet hatte als die bürgerlichen Regierungen zwischen Februar und Oktober 1917. Die Februarrevolution war der Beginn der Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg, lediglich der Beginn, mehr nicht. Für Lenin war die Vollendung der bürgerlichen Revolution lediglich ein Nebenprodukt der proletarischen, denn die die Oktoberrevolution hatte zunächst nur die Vollendung der bürgerlich-demokratischen Revolution zum Inhalt. Man kann sie im ersten Licht der Betrachtung weder als eine gewaltsame noch als eine radikale denunzieren. Es muss festgehalten werden, dass es ohne Oktoberrevolution nicht einmal zu einer völligen Vernichtung des zaristischen Regimes gekommen wäre. Die Schwierigkeit lag woanders: ein sozialistisches Großgebäude mit vergesellschafteter Produktion musste in einem kleinbäuerlichen Land errichtet werden. Auf dem Papier war das leicht: alle Fabriken wurden ausschließlich der Sowjetrepublik übergeben, über die der von den Gewerkschaften gewählte Volkswirtschaftsrat wachte, die Landwirtschaft blieb dagegen kleinbäuerlich organisiert. Die Fundamente eines Großgebäudes wurden erst durch die Stalin' sche Kollektivierung, einer Revolution von oben, gelegt. Zur epochalen Revolution im Oktober 1917, zu einer der „schwierigsten Fälle von Revolution“ 23. hatte Lenin die Initiative ergriffen, weil die linken Sozialisten in den anderen Ländern zu schwach zu einer revolutionären Initiative waren. Die Bolschewiki waren von einer Welt von Feinden umgeben und die Revolution brach aus in einem ungünstigen, ja grausamen Milieu: Wie oft war die Partei der Bolschewiki als Sekte und die Revolution als Abberation hingestellt worden? Nach dem Oktober 1917 gab es ein Wirrwarr von Begriffen, die durch die Luft schwirrten, am gewichtigsten: Demokratie, Diktatur, Widersprüche über Widersprüche, hin- und her flutende Menschenmassen, Räte und Sekte. Aber primär ging es um die Bezwingung des Hungers, vor allem den der Kinder. Im September 1922 sieht Lenin Land: „Die schwersten Tage liegen hinter uns“. 24. Als dann einige Wochen später die Sowjetunion gegründet wurde, zeigte sich, dass sich von allen Organisationen die Kommunistische Partei durch die Wirren des Bürgerkrieges und der militärischen Interventionen am effektivsten erhalten hatte und spätestens von nun an effektiv machtmonopolistisch in Erscheinung treten konnte und auch trat. Intellektuelle nehmen zu dieser äußerst schwierig zur Welt gekommenen Revolution merkwürdige Positionen ein. Gleich am Anfang der Oktoberrevolution ging der Schriftsteller Gorki zu ihr kritisch auf Distanz, er könne nicht schweigen. Die gebührende Antwort erteilte ihm Stalin: „Unglaublich, aber wahr. Sie saßen still und schwiegen, als die Gutsherren und deren Speichellecker die Bauern zur Verzweiflung und zu Hunger“revolten“ trieben. Sie saßen still und schwiegen, als die Kapitalisten und ihre Handlanger den Arbeitern Aussperrung und Arbeitslosigkeit in ganz Russland bereiteten. Sie verstanden zu schweigen, als die Konterrevolution danach trachtete, die Hauptstadt auszuliefern und die Armee von dort abzuziehen. Nun aber, wo sich der Petrograder Sowjet, diese Avantgarde der Revolution, zum Schutze der betrogenen Arbeiter und Bauern erhoben hat, da „können sie nicht länger schweigen“! Und das erste Wort, das sie finden, ist ein Vorwurf nicht gegen die Konterrevolution, nein, sondern gegen dieselbe Revolution, von der sie zwar bei einer Tasse Tee schwärmen, die sie aber in den verantwortungsschwersten Stunden wie die Pest fliehen!“ 25. War aus der bisher größten an den Tag gelegten revolutionären Energie des Proletariats heraus ein neuer Typus der Demokratie, die sich auf den Volksmassen stützende Sowjetdemokratie, die alles vor den Augen der Massen macht, geboren, so war die Welt eine andere geworden: Lenin und die Bolschewiki versprachen eine Welt ohne Krieg! Sie unternahmen diese Ungeheuerlichkeit. „Die erste bolschewistische Revolution hat die ersten Hundert Millionen Menschen auf der Erde dem imperialistischen Krieg, der imperialistischen Welt entrissen“. 26. Es ist beim Versprechen geblieben. Zu dem schlimmsten aller Fälle, der Niederlage der Oktoberrevolution, hatte Lenin ihr immerhin zugesprochen, dass die bolschewistische Taktik dem Sozialismus ungeheuren Nutzen gebracht und das Anwachsen der unbesiegbaren Weltrevolution gefördert habe. Die Menschheit wäre arm ohne den Traum einer Weltrevolution.

2.1. DIE FORTSCHRITTLICHE ROLLE DES KAPITALISMUS IN RUSSLAND DARGESTELLT AN HAND LENINS SCHRIFT: DIE ENTWICKLUNG DES KAPITALISMUS IN RUSSLAND

„Ja, die Leibeigenschaft ist aufgehoben, aber Millionen und aber Millionen Russen haben noch nicht ihr tägliches Brot“ (Turgenjew in 'Väter und Söhne').

Die Oktoberrevolution, die auf einem Territorium stattfand, das fast dreimal so groß wie die USA war, ist mit seinen damals 160 Millionen Einwohnern bis heute der umfassendste weltgeschichtliche Versuch, die Spaltung der menschlichen Gesellschaft in Klassen weltimmanent zu lösen durch eine Vereinigung der Schaffenden und nicht durch ein höheres Wesen, das die versklavten Werktätigen erst im Jenseits erlöst. Die riesige Territorialfläche Russlands kam sowohl der Reaktion als auch der Revolution zugute: Der Fabrikant konnte in den kolonisierten Randgebieten einen Markt finden und der Bauer konnte neues Land bearbeiten, so dass die sozialen Widersprüche unter dem Zarismus immer wieder gemildert werden konnten. Nach der Oktoberrevolution wies Lenin gegen die linken Radikalen auf die Möglichkeit hin, sich in Russland gut zurückziehen zu können, 'notfalls hinter den Ural'. Aus einem Brief von Swerdlow an die Bolschewiken im Ural ist zu entnehmen, dass diese als Reserve der Revolution vorgesehen waren, falls der Aufstand der Arbeiter und Soldaten in den Metropolen Petrograd und Moskau scheitern sollten. Die bürgerliche Reaktion hatte ihre Reserve im Dongebiet. Sowohl die Reaktion im ersten Weltkrieg als auch die Bolschewiki im Bürgerkrieg hatten aber auf Grund des riesigen Territoriums auch Transportprobleme. Eine Verkehrszerrüttung lag deutlich vor, zumal die russische Regierung im ersten Weltkrieg zwei Millionen Pferde aus den Dörfern zum Kriegseinsatz und zur Front dirigiert hatte. Der russische Raum ist das Eldorado der Geopolitiker. Diese riesige Territorialfläche hielt Europas Gesicht als Doppelgesicht: Der fortschrittlichste Teil der Welt im Westen, ein sehr zurückgebliebenes Land im Osten, das flächenmäßig wesentlich größer war. Bereits zehn Jahre nach der formalen Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland brach in Paris, der Hauptstadt Europas, die Kommune aus. Als die Kommunarden den ersten heroischen Versuch in der Weltgeschichte unternahmen, den kommunistischen Himmel zu stürmen, waren die Russen damit befasst, eine leibeigene Landwirtschaft in eine warenproduzierende zu verwandeln, also zu einer Vergesellschaftung der landwirtschaftlichen Produktion und zu einer Verdrängung der Naturalwirtschaft durch eine Tauschwirtschaft zu gelangen. Auch der Boden musste jetzt endlich auch im Osten Europas eine Ware werden, in Paris war bereits 'eine proletarische Revolution' in Aktion zu sehen, an der Karl Marx eine Theorie des Kommunehalbstaates entwickelte, die er im „Bürgerkrieg in Frankreich“ vorlegte.

Die große Mehrzahl der russischen Sozialismustheoretiker zwischen der Bauernbefreiung (1861) und dem Beginn des imperialistischen Zeitalters (1900), die sogenannten Volkstümler, hatten sich auf die quantitativ dominierende Bauernschaft als bestimmenden revolutionären Faktor der politischen und geschichtlichen Bewegung versteift, glaubten an die kommunistischen Instinkte des Bauern in der „Dorfgemeinde“ und stellten eine Theorie von der "Künstlichkeit" des Kapitalismus in Russland auf, der gemäß ein Kapitalismus im Agrarland Russland keine Basis habe und eine Fehlgeburt sei. 27. Sie übersahen die Keime des Kampfes der Lohnarbeit gegen das Privateigentum, die es unter der Decke der Selbstherrschaft gab und erkannten nicht, dass die Arbeiterklasse politisches Wissen braucht, weil sie am meisten fähig ist, dieses in aktiven Kampf umzusetzen. Lenin hielt den Volkstümlern entgegen, „ … daß man den Repräsentanten der Idee der Arbeit nicht im Bauern sehen darf, da dieser bei kapitalistischer Organisation der Wirtschaft Kleinbürger ist und sich infolgedessen auf den Boden der gegebenen Verhältnisse stellt und sich mit einigen Seiten seines Lebens (und seiner Ideen) der Bourgeoisie anschließt“. 28. Es könne, so die Volkstümler, von einer Identität der russischen und der westeuropäischen Entwicklung keine Rede sein, Russland sei „glücklicherweise“ (sic! / Nr. 2 des „Russkoje Bogatstwo“) ein zurückgebliebenes Land, dessen Bauernschaft von Natur aus kommunistisch sei. Die kleinbürgerlichen Intellektuellen stellten die Politik hinten an und „gingen ins Volk“, d. h. zu den Bauern Russlands, die die Narodniki für das auserwählte Volk der sozialen Revolution hielten. Die Marxisten erkannten hingegen, dass die Zukunft vielmehr dem Proletariat gehören wird, das, so quantitativ unbedeutend es zunächst auch war, in ersten großen Streiks um 1895/96 seine Forderungen aufstellte und politisch rege wurde. Nicht den Bauern, den Arbeitern komme eine revolutionäre Sonderrolle in der russischen Gesellschaft zu, denn sie seien die natürlichen Repräsentanten der gesamten werktätigen und ausgebeuteten Bevölkerung Russlands, die Männer der Zukunft, die die radikale Negation qua politischer Kampfpartei zu vollziehen hätten. Diese Sonderrolle und die der Ausbeuterclique entsprechen sich, die Partei ist, mit Hegel zu formulieren, der Begriff, der sein Gegenteil und dann sich selbst aufhebt. Aber 1895 stirbt Friedrich Engels, leider ging, wie Rosa Luxemburg schrieb, ab dann die theoretische Führung der Arbeiterbewegung auf Karl Kautsky über, was für die Entfaltung dialektischen Denkens in ihr negative Folgen hatte. Für Rosa Luxemburg kam es durch ihn zu einem „Dahinsiechen“ der Arbeiterbewegung „im Rahmen und auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft … ohne jedes ernste Bemühen, die Gesellschaft zu erschüttern und aus den Fugen zu bringen“. 29. Zu einer 'Friedhofsdisziplin' und zu einem Dahinsiechen im 'Kadaver- und Schafsgehorsam'. Nach der Bewilligung der Kriegskredite am 4. August 1914 schlug Franz Mehring die Hände über dem Kopf zusammen: „Was ist nur aus der Partei von Marx und Engels geworden!?“ Zehn Jahre nach dem Tod Engels erwies die Revolution in Russland mit dem Emporschnellen von politischen Massenstreiks, dass sich der Schwerpunkt der Revolution von Westeuropa nach Russland, vom Westen zum Osten verlagert hatte. Für die Theorie, dass das in Russland zahlenmäßig schwache Proletariat nunmehr die Führung der Unterdrückten inne habe, hielt die Geschichte die schwerste Prüfung bereit, nach Weltkrieg, imperialistischen Interventionen, die natürlich nicht auf Gegenliebe stießen, und Bürgerkrieg maß das russische Proletariat nur die Hälfte seiner Anzahl von 1913. Für das Jahr 1913 gibt die offizielle Geschichte der KPdSU von 1984 auf Seite 144 an, dass es in diesem 3,5 Millionen Industriearbeiter und eine Millionen Eisenbahner gab, die ‚Prawda‘ hatte 40 000 Abonnenten. Dass sowohl die kapitalistischen Ausbeuter als auch die kommunistische Partei eine Sonderrolle in der bürgerlichen Gesellschaft einnehmen, widerspricht dem platten Demokratieverständnis, das in der Demokratie einen absoluten Wert sieht. Aus diesem undialektischen Demokratieverständnis erfolgt die Verteidigung der Duma über den Umweg, zunächst wie in Kronstadt die Räte gegen die Partei zu mobilisieren. Das Nichtverstehen der vom Klassenkampf verteilten Sonderrollen aber war der Grund für die Klage, dass die Sowjets niemals effektiv Entscheidungsträger gewesen seien. Die Sonderrollen werden sich durch die Revolution ineinander umkehren, wir werden sehen, dass die alten Ausbeuter kein Wahlrecht mehr haben werden und das von seiner Handarbeit lebende Proletariat im Wahlschlüssel privilegiert sein wird. Damit ging die russische Revolution über die Pariser Kommune hinaus und Kautsky wird in seiner Kritik des Bolschewismus die Pariser Demokratie polemisch gegen Lenin hervorkehren.

Die Ausbeutung in ganz Russland sei bereits, so Lenin, in ihrem Wesen kapitalistisch, die Fronwirtschaft nur noch peripher. Der Proletarier kann nur an die Spitze der Bewegung treten, nachdem die Ausbeutung bereits in reiner Form vorliegt, nachdem der Kapitalismus bereits sein höchstes Stadium der maschinellen Großindustrie erreicht hat, das den sozialen Gegensatz zur Vollendung bringt und abschließt, was im Dorf antagonistisch nur in Keimform vorlag und deshalb für die ideologischen Repräsentanten der Kleinproduzenten, die Volkstümler, unerkannt blieb. Auch in der ideologischen Auseinandersetzung mit den Volkstümlern schwammen die Bolschewiki gegen den Strom, nach der durch die Landreform von 1861 beginnenden Auflösung des Ständewesens war es in Russland zum Überwiegen der Klasse der Kleinproduzenten im kapitalistischen Russland gekommen. Lenin nannte den Glauben der Volkstümler an die Dorfgemeinde kindlich. 30. Der Arbeiterklasse kann eine breite und rasche Entwicklung des Kapitalismus und der mit ihr verbundenen bürgerlichen Revolution nur entgegenkommen, denn sie lege alles zurecht für die sozialistische Revolution, auch die klare Erkenntnis des Hauptfeindes. Aus der revolutionären Sonderrolle des industriellen Proletariats ergibt sich die Sonderrolle sowohl der bolschewistischen Theorie als auch der bolschewistischen Partei, die Theorie dient der Arbeiterklasse, die Wissenschaft steht im Dienst einer einzigen Partei und damit keineswegs im Dienst der gesamten Gesellschaft. Ohne Sonderrolle des industriellen Proletariats ergäbe die Avantgarde keinen Sinn. Dagegen im ersten Fall, der Führung der Revolution durch die Bauern, wäre tatsächlich von einer Sonderrolle Russlands zu sprechen, im zweiten Fall war das russische Proletariat ein Teil der internationalen Arbeiterbewegung. Bereits am 22. März 1870 hatte der Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation eine russische Sektion aufgenommen. Aber noch ein halbes Jahrhundert später musste Lenin von 'ungeheuren Unterschieden' zwischen dem rückständigen Russland, in dem es noch sehr viele Gebiete und Arbeitszweige gab, die von der Natural- und Halbnaturalwirtschaft erst zum Kapitalismus übergingen, und den fortgeschrittenen westeuropäischen Ländern sprechen. 31. Die Zahl der von einem Produktionsmittel getrennten Arbeiter in kapitalistischen Großbetrieben hatte sich in der Zeit von 1865 bis 1890 verdoppelt. Von 1895 bis 1899 streikten in Russland zirka 220. 000 Arbeiter, die erste Periode der Massenbewegung konnte verzeichnet werden und man konnte in politischen Kalkülen die Arbeiterbewegung als eine ernste Kraft nicht mehr ignorieren. 32. 1866 waren in den Fabriken mit tausend und mehr Arbeitern 27 Prozent aller in großen Fabriken beschäftigten Arbeiter tätig, 1879 waren es vierzig und 1890 46 Prozent. 33. Die Konzentration des Kapitals in großen, mit Dampfkraft betriebenen Fabriken geht Hand in Hand mit der Konzentration des sich meistens aus Bauern rekrutierenden Proletariats in diesen, geht Hand in Hand mit der Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln. Der Bauer wird mehr und mehr Verkäufer von Arbeitskraft an den Kapitalisten. Die Expropriation der Kleinproduzenten setzte eine Millionenmasse von Lohnarbeitern für den Arbeitsmarkt frei. Die Marxisten erkannten zudem, dass seine Kraft in der geschichtlichen Bewegung unermesslich größer ist als sein Anteil an der Gesamtbevölkerung. Auf fünf Bauern kam ein Prolet. Lenin schrieb von 1896 bis 1899 basierend auf einem enormen Studium enormen Materials sein Werk "Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland", dem er den Untertitel "Der Prozeß der Bildung des inneren Marktes für die Großindustrie" gab, es erschien zwischen dem 26. und 31. März 1899, also ein Jahr, nachdem es zur Gründung der den prinzipienlosen Ökonomismus, das Bernsteinianertum und den Millerandismus bekämpfenden bolschewistischen Partei Russlands gekommen war und ein Jahr, bevor sich der klassische westliche Kapitalismus in sein höchstes und letztes Stadium entwickelte: in den Imperialismus. Gestützt auf die Theorien von Karl Marx zeigte Lenin an hand immenser Fakten unter der sehr kritischen Betrachtung von Statistiken, deren Fehlerhaftigkeit er oft nachwies (insbesondere die des Militärstaat. Handbuches, St. Petersburg, 1871), auf, dass die Entwicklung des Kapitalismus von der kleinen, vorwiegend bäuerlichen Warenproduktion über die kapitalistische Manufaktur zur 'maschinellen Großproduktion in der Fabrik' mit ihrer Monopolisierung der Produktionsmittel über eine gewaltige Zunahme der Warenproduktion und der Kapitalakkumulation, in Russland auch durch Kapitalimport, bei Herstellung eines inneren Marktes für Arbeitskraft (und damit auch eines inneren Marktes für den Kapitalismus sowohl in der Industrie als parallel zu ihr auch in der Landwirtschaft) geht, wobei die verschiedenen mannigfaltigen Formen der Durchsetzung des Kapitalismus sich sowohl in der Tiefe (auf einem begrenzten Territorium) als auch in der Breite (innere und äußere Kolonisation) auf- und auseinander entwickeln. Bereits Adam Smith hatte in seinem „Reichtum der Nationen“ die parallele Entwicklung zwischen der kapitalistischen Landwirtschaft und der kapitalistischen Industrie vermerkt. Die kapitalistische Produktionsweise vermindert die ackerbauende Bevölkerung ständig im Vergleich zur nichtackerbauenden und lässt bei der raschen Vermehrung internationalen Warenverkehrs die Geldwirtschaft auf Kosten der Naturalwirtschaft erstarken. Die Befreiung der arbeitenden Menschen durch eine Revolution, die zum Absterben des Staates führt, geht über die „allgemeine Hure“, wie Marx das Geld nannte. Der Bauer trat nun in eine selbständige Beziehung zum Markt und wurde Warenbesitzer, der jedem anderen Warenbesitzer gleichgestellt war. Die Städte wuchsen doppelt so schnell wie die Bevölkerung, wobei die großen Industrie- und Handelsstädte wiederum bedeutend schneller wuchsen als die städtische Bevölkerung. Noch im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts explodierten die großen Städte, die nun eindeutig das Übergewicht in der Bevölkerungsstatistik der Stadtbevölkerung bekamen, die in den sechziger Jahren noch von den Einwohnern nicht sehr großer Städte dominiert wurde. „Die Bevölkerung der 14 Städte, die 1863 die größten waren, stieg von 1,7 auf 4,3 Millionen Einwohner, d.h. um 153 %, während die gesamte städtische Bevölkerung nur um 97 % stieg“. 34. Es genügte den Bolschewiki im Oktober 1917 zur Machtergreifung zunächst, die Mehrheit in den Sowjets von Moskau und St. Petersburg zu erringen, obwohl die Revolutionäre nach Auffassung Trotzkis in organisatorischer und technischer Hinsicht die Schwachen waren. Lenin zeigte des Weiteren auf, dass durch die Herausbildung des inneren Marktes die Produktion der Produktionsmittel die der Konsumtionsmittel überstieg. Es dominiert eine schrankenlose Produktion um der Produktion willen unter Vernachlässigung der Bedürfnisse der Massen, die beschränkt blieben. Dem aufsteigenden Kapitalismus eignet also eine Dialektik von Unendlichkeit und Endlichkeit an, die in seiner Immanenz fundamental widersprüchlich bleibt und Krisen hervortreibt. Es wird so produziert, als ob eine absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft vorläge, was zur Überproduktion führt. Der Kapitalismus ist fortschrittlich durch seine Widersprüchlichkeit, an der er aber auch auf revolutionäre Weise zu Grunde gehen wird. Russland befindet sich nach der Analyse von Lenin auf einem unaufhaltsamen Weg einer Durchkapitalisierung von Stadt und Dorf, die der traditionellen russischen Dorfgemeinschaft (Mir) ihr soziales Eigengewicht entwertete, die jahrhundertealte Gemeinschaft des Dorfes hatte sich in Gruppen mit entgegengesetzten ökonomischen Interessen, vor allem in den antagonistischen Widerspruch Lohnarbeit und Kapital aufgelöst. Der Auflösungsprozess im sich spaltenden Dorf trat klarer und klarer zu Tage. Das klassische russische Dorf wurde insofern gesprengt, als zwischen Kulak und Landlohnsklave, der um das letzte Pferd gebracht worden war, kein persönliches Abhängigkeitsverhältnis mehr vorlag, was zur Folge hatte, dass sich Millionen armer Bauern auf Wanderschaft begeben konnten, um durch diese Landflucht bessere Arbeitsverhältnisse und bessere Lebensbedingungen anderswo zu finden, der Horizont der Bauern erweiterte sich so. Lenin sprach vom Erwecken des Menschen im 'Arbeitstier', „ … das so gigantische, welthistorische Bedeutung hat, daß es alle Opfer rechtfertigt … „. 35. Lenin warf die noch 1882 vorgetragene Auffassung von Marx und Engels, dass die für die Wissenschaft in den Jahren von 1847 bis 1852 von Baron von Haxthausen ausgegrabene Mir (naturwüchsiges Gemeineigentum) eine Keimzelle des Sozialismus sein könne, wenn eine russische Revolution das Signal gäbe für eine proletarische Revolution im Westen, zum Alteisen. 36. Die unbegreifliche Fähigkeit des alten Russland, zu dulden und zu ertragen, schmolz dahin, das 'Arbeitstier' war nicht mehr an einen Ort, an eine Scholle gefesselt, sondern wurde nun getrennt von allen Produktionsmitteln von Ort zu Ort durch das ganze Land gejagt, veränderte sein Arbeitsfeld und bekam ein relatives Gefühl der eigenen Würde. Die Bauern wanderten bis in die Häfen (Odessa, Rostow am Don, Riga u.a.) und zu den Eisenbahnbauten. Die ersten Anfänge einer Gewerkschaftsbewegung waren zu verzeichnen. Die meisten Bauern waren allerdings zu arm, um sich eine Fahrkarte für die immer mehr vernetzten Eisenbahnen 37. zu kaufen, sie verließen Heim und Herd und begaben sich auf Wanderschaft. Das war ganz im Kontext kapitalistischer Entfaltung, die, wie auch in ihrer industriellen, die völlige Verelendung der unmittelbaren Produzenten voraussetzt. Diese unmittelbaren Produzenten werden nach mehr verlangen als nur die Erfüllung des volkstümlerischen Wunsches nach 'gerechtem Lohn'. Aber ohne Zweifel hat das Eisenbahnnetz zur Urbanisierung des agrarischen Russlands beigetragen, schon Adam Smith hatte bereits bemerkt, dass verbesserte Verkehrswege das Dorf der Stadt näherbringe. Um die industriellen Ballungsräume gruppierte sich ein marktorientierter Obst- und Gemüseanbau. Lenin, dessen Verdienst es ist, die völlige Unterwerfung der russischen Landwirtschaft unter das Kapital lange vor dem Abschluss dieses qualvollen Prozesses erfasst zu haben, legte in seiner Kontroverse mit den Volkstümlern großen Wert darauf, zu betonen, dass die Kapitalisierung des russischen Dorfes ganz neue Bauerntypen hervorbringe, dass somit das alte russische patriarchalische Sozialgefüge des Dorfes wirklich dem ausgehenden Jahrhundert angehöre und dass die Bauernschaft der russischen Dorfgemeinde mittlerweile zur tiefsten Grundlage des Kapitalismus mutiert ist. „Entgegen den Theorien, die bei uns im letzten halben Jahrhundert geherrscht haben, ist die Bauernschaft der russischen Dorfgemeinde nicht Antagonist des Kapitalismus, sondern im Gegenteil seine tiefste und festeste Grundlage … Eben die Gesamtheit aller ökonomischen Widersprüche in der Bauernschaft bildet das, was wir Auflösung der Bauernschaft nennen. Die Bauern selbst charakterisieren diesen Prozess im höchsten Grade treffend und plastisch mit dem Ausdruck 'Entbauerung'“. 38. Es fand also eine große Dynamisierung anscheinend fest eingewurzelter Verhältnisse statt. Diese galten den Volkstümlern als volkstümlich, während sie den Kapitalismus als etwas Künstliches, Fremdes, nicht aus der Heimaterde Kommendes zurückwiesen. Die Narodniki fielen auf diesen Schein herein und deuteten die oberflächliche Starrheit und Primitivität der Verhältnisse als Beweis, „daß sich hier der Kapitalismus überhaupt nicht einbürgern könne … Das Recht auf Land in der Obschtschina macht die Entstehung eines von der Scholle losgelösten Proletariats unmöglich“. 39. Diese Entbauerung und die mit ihr zusammenhängende Herausbildung eines wachsenden Landproletariats und eines wachsenden, vom landwirtschaftlichen Kapitalismus geschaffenen inneren Marktes ist einer der Grundzüge, der in der bolschewistischen Revolutionstheorie zum Tragen kommen wird. Alexander Herzen hatte noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts in einem Brief an Michelet geschrieben, dass sich die russische Dorffamilie ungern teile, „nicht selten leben drei, vier Generationen unter einem Dach um den patriarchalisch herrschenden Großvater zusammen. Die Frau, gewöhnlich unterdrückt, wie das überall im Bauernstande der Fall ist, genießt Achtung und Ehren, wenn sie die Witwe des Sippenältesten ist“. 40. In den Jahren 1872 und 1873 hatte die Walujew-Kommission, (Kommission zur Untersuchung der Lage der Landwirtschaft in Russland), benannt nach dem zaristischen Minister P. A. Walujew, dann bereits in Umrissen ermittelt, was Lenin am Ende des Jahrhunderts auf den theoretischen Begriff bringen sollte: den Zusammenhang zwischen dem Zerfall des Bauernstandes und der Bildung eines Landproletariats. Lenin spricht von einer gewaltigen Revolution des Kapitalismus in der Landwirtschaft, von einer völligen Zerstörung des alten Bauernstandes, dem Aufkommen neuer Landtypen, „die die Basis einer Gesellschaft mit herrschender Warenwirtschaft und kapitalistischer Produktion bilden“. 41. Dagegen vertritt noch Edward Hallett Carr 1977 die These, dass sich hinter der zaristischen Fassade ein „stagnierendes ländliches Wirtschaftsleben“ 42. verbarg. Die Dorfgemeinde hatte sich in eine Landwirtschaft der Kleinagrarier verwandelt. Warenproduktion bedeutet, dass das Produkt des Landwirts letztendlich der Kontrolle der Gesamtgesellschaft unterworfen wird. Dieses Bild Lenins von der neuen russischen Bauernschaft und der nach seiner Auffassung völligen Durchkapitalisierung des Landes und einer mit ihr zusammenhängenden zunehmenden Mechanisierung der Landwirtschaft gilt es zu berücksichtigen, wenn man die wohl erheblichste Kritik westlicher Marxisten, insbesondere Kautskys, der Menschewiken und der Sozialrevolutionäre am Leninismus, der im unreifen Russland eine sozialistische Revolution zu früh gewagt hätte, auf ihre Stichhaltigkeit abklopft, oft kommt bei den Kritikern der Leninschen Oktoberrevolution ein Bild einer russischen Bauernschaft zum Vorschein, wie die romantischen Volkstümler es noch im letzten Jahrhundert beschworen hatten. Die historisch fällige Februarrevolution als bürgerlich-demokratische wird allenthalben anerkannt, aber für eine sozialistische Revolution wäre der Reifegrad der Produktivkräfte noch viel zu gering gewesen. Eine Reifeverzögerung lag ohne Zweifel vor für die Heraufkunft eines Sozialismus-Kommunismus und die Kritiker Lenins sahen in der Februarrevolution das wärmende Nest, in dem die sozialistischen Küken erst Fett anzusetzen hätten. Dabei hatte Kautsky 1909 in seiner Broschüre „Der Weg zur Macht“ noch geschrieben, dass das Proletariat nicht mehr von einer vorzeitigen Revolution reden könne: „Wir sind in eine revolutionäre Periode eingetreten“. Im chinesischen Sprachbereich fiel das Wort vom 'Großen Sprung nach vorn' und es ist zu fragen, ob nicht erst Mao, sondern bereits Lenin einem solchen Traum nachhing? Das russische Dorf war aber nicht mehr träge und weltabgewandt im Tolstoi'schen Sinne, die Elektrizität begann, ins Dorf einzuziehen und mit ihr die Nachtarbeit. Wurden 1879 zirka 780 Getreidemähmaschinen produziert, so 1893 bereits etwa 8. 000. Die Fabrik von J. Greaves in Berdjansk im Gouvernement Taurien galt als der größte Betrieb dieses Gewerbezweiges in Europa und es kam auch ein ganz neuer Erwerbszweig auf: die Einbringung fremden Getreides mit Maschinen. 43. Bis zur Revolution von 1905 hatte sich die Anzahl der Lokomobilen von 1351 im Jahr 1878 auf 17287 im Jahr 1904 gesteigert. Hand in Hand mit der Verbreitung der Maschinen ging die Konzentration der landwirtschaftlichen Produktion einher, es bildeten sich erste große Wirtschaften durch einige zunächst in der Minderheit bleibende reiche Landwirte, die bis zu tausend Landproletarier beschäftigten. Auch in den USA wurde das kleine Grundeigentum der Farmer mehr und mehr unter der Konkurrenz der Riesenfarms erdrückt, und in den Industriebezirken der USA entwickelte „sich gleichzeitig zum ersten Mal ein massenhaftes Proletariat und eine fabelhafte Konzentration der Kapitalien“. 44. Waren Marx und Engels in der Erstausgabe des Manifestes 1848 in seinem praktischen Teil weder auf Russland noch auf die USA eingegangen, so sollten diese beiden Ländern im 20. Jahrhundert, im Jahrhundert des Imperialismus, auf fundamentale Weise prägend auf die Welt einwirken. Einerseits ballt die kapitalistische Landwirtschaft immer mehr Landproletarier zusammen, andererseits verdrängen die landwirtschaftlichen Maschinen analog dem industriellen Arbeitsprozess Lohnarbeiter aus dem agrarischen. Die so entstehende landwirtschaftliche Reservearmee drückt den Lohn und durch die Einführung neuer Maschinen, die die körperliche Arbeit erleichtern, werden analog dem klassischen Manchesterkapitalismus Frauen und Kinder an die landwirtschaftlichen Maschinen positioniert. Mit der sich aus der Aufhebung der Leibeigenschaft ab 1861 ergebenden kapitalistischen Landwirtschaft mit ihrer Herausbildung eines armen Landproletariats liegt eine der Voraussetzungen vor, in der der Ausbruch und der Mangel sowohl der Februar- als auch der Oktoberrevolution im Jahre 1917 in makrostruktureller Hinsicht zu suchen ist, im Gegensatz zum städtischen Proletariat, in Petersburg zum Beispiel waren 66 Prozent der Metallarbeiter organisiert, war das ländliche 1917 so gut wie nicht organisiert und wurde so eine leichte Beute der Menschewiki und Sozialrevolutionäre. „Schließt euch den Putilowarbeitern an!“ - war eine 1917 oft zu hörende Parole in Petrograd. (Und in dieser Fabrik, deren Arbeiterinnen und Arbeiter die 'Eisbrecher' bei Lohnerhöhungen waren, wirkte agitatorisch geschickt der Bolschewik Wolodarski, geb. Goldstein, der im Juni 1918 einem sozialrevolutionären Attentat zum Opfer fiel. Die Schmiedewerkstatt der Putilow-Werke hatte kurz vor der Februarrevolution eine Lohnerhöhung um fünfzig Prozent verlangt). Die Putilowwerke war eine der Hochburgen der Bolschewiki in Petrograd, ebenso wie der Stadtteil Wyborg, und in der Armee konnten sie sich auf das in Petrograd stationierte erste Maschinengewehrregiment mit zirka 10. 000 Kämpfern und über tausend Maschinengewehren sowie auf die Panzerautomobilisten stützen. Diese Stadt, die bis 1914 St. Petersburg hieß, wurde zum Zentrum der Oktoberrevolution, weil sie nicht nur ein industrieller Schwerpunkt war, sondern auch eine Hauptausbildungsstätte für junge Rekruten, die man politisch noch beeinflussen konnte, eine brisante Mischung also. Der Petrograder Sowjet wurde im Verlauf des Jahres 1917 zur Anlaufstelle aller unzufriedenen Soldaten der Armeen Kerenskis. Die Bolschewiki wurden so in ihrer politischen Tätigkeit ins Dorf hineingezwungen. Eine andere Voraussetzung ist die mit der ebenfalls ab 1861 zu verfolgenden Industrialisierung gegebene, im Makrokontext stetig wachsende russische Arbeiterbewegung (natürlich gab es Unterbrechungen, Rückschläge, Niederlagen (wie 1905/06)), so dass sich neben den Bauernsowjets ab der Februarrevolution in Russland auch die Sowjettradition von 1905 wieder aufnehmende Sowjets der Industriearbeiter ergaben. Die nach 1861 einsetzende Verdrängung Adliger aus Führungspositionen durch Angehörige nicht privilegierter Stände ist nicht ohne Einfluss auf das Aufkommen revolutionärer geistiger Strömungen geblieben. Die Tendenz nach dem Aufschnappen der neuesten Literatur aus dem Westen führte dazu, dass die Werke von Marx und Engels, den wahren Theoretikern des Industrieproletariats, in den 90er Jahren nirgendwo intensiver verschlungen wurden als im Agrarland Russland mit seinem hohen Anteil Bauernproletariat.

Sobald industrielle Erzeugnisse Warenform annehmen, gesellschaftliche Dinge werden, womit „das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen“ 45. den Produzenten zurückgespiegelt wird, setzt eine gewisse Scheidung der Industrie von der Landwirtschaft ein, wird die patriarchalische Geborgenheit des Kleingewerbetreibenden untergraben. Diese Scheidung ist nach der Bauernreform 1861 deutlich zu verzeichnen, es kam zu einem raschen Anwachsen der kapitalistischen Hausindustrie als einer neuen Form der Ausbeutung, wie denn das Jahr 1861 keineswegs eine Befreiung der Bauern brachte, sondern nur neue Formen seiner Aussaugung dadurch, dass die Arbeitskraft mehr und mehr Warenform annahm und die Mehrheit proletarisiert wurde. Im Gouvernement Moskau nahm die Zahl der Kustarbetriebe (gewerbetreibende Bauernschaft) deutlich zu, waren es zehn Jahre vor der Reform nur 37, so waren es zehn Jahre nach der Reform 124 und zwischen 1780 und 1790 275. Dieses Anwachsen des Kleingewerbes, das überwiegend auf dem Lande zu registrieren war, ist ein sicheres Zeichen für die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, denn die kleine Warenproduktion hat die Tendenz, „Lohnarbeit in immer größerem Umfang anzuwenden und kapitalistische Werkstätten zu schaffen“ 46., ohne aber in der Manufakturperiode die Scheidung zwischen landwirtschaftlicher und gewerbetreibender Bauernschaft, zwischen industrieller und landwirtschaftlicher Arbeit endgültig durchzuführen. Nur Großbauern konnte es gelingen, ihren Hof zu verkaufen, um Stadtbürger und Kaufmann zu werden. Für die große Masse der Bauern als Kleinproduzenten aber bringt die Scheidung der Industrie von der Landwirtschaft Not und Ruin, für sie ist der Scheidungsprozess „ … der Prozeß der Expropriation des Kleinproduzenten“ 47. Der Kleinproduzent im Dorf lebt schlechter als der reine Lohnarbeiter in der Stadt. Die Manufakturperiode ist gekennzeichnet durch die Aufrechterhaltung der Verbindung des Arbeiters mit der Scholle, die das Bestehen vieler sich um die Großbetriebe bildenden Kleinbetriebe bedingt, wobei der Lohn vom Industriezentrum zur Peripherie ständig abnimmt. An dieser reißt der Faden zur Landwirtschaft beim Vorherrschen der manuellen Arbeit nie ganz ab, die Scheidung zwischen Industrie und Landwirtschaft ist nie vollständig. Die Dorfbewohner sind, solange sich das Fabriksystem noch nicht vollständig ausgebildet hat, halb Landwirte, halb Gewerbetreibende. „Es ist … ganz natürlich, daß das nichtlandwirtschaftliche Manufakturzentrum in den meisten Fällen von einem ganzen Distrikt landwirtschaftlicher Ortschaften umgeben ist, deren Einwohner ebenfalls in Gewerben tätig sind. Auch in dieser Beziehung zeigt sich somit anschaulich der Übergangscharakter der Manufaktur, die zwischen der kleinen manuellen Produktion und der Fabrik steht. Wenn die Manufakturperiode des Kapitalismus nicht einmal in Westeuropa imstande war, die industriellen Arbeiter von der Landwirtschaft völlig zu lösen, dann muß sich dieser Prozeß in Rußland, bei dem Weiterbestehen vieler Institutionen, die die Bauern an die Scholle fesseln, unweigerlich verzögern“ 48. Die in die Zukunft weisende Grundtendenz der Manufaktur aber, die die Volkstümler übersahen, ist die Spaltung zwischen Arbeit und Kapital, sie bringt eine geringe Anzahl relativ großer Betriebe und viele Kleinbetriebe im Umkreis der reinen Industriestädte hervor. Industrie- und Handelskapital sind auf dieser Stufe eng verflochten und diese Vereinigung drückt den Ertrag des Kleinproduzenten herab, so dass er „für ein Bettelgeld“ arbeitet. „Der Arbeiter ist gewöhnlich nicht nur Lohnsklave, sondern auch Schuldsklave“ 49. Damit aber bleibt die aus der Leibeigenschaft bekannte persönliche Abhängigkeit in anderer Form bestehen, hier vom Gläubiger. Erst die industrielle Fabrik mit ihrem Maschinensystem, ihrer Verdrängung der manuellen Produktion durch die mechanische und ihrer systematischen Anwendung der Ergebnisse der Wissenschaft in der Produktion bricht radikal durch die mit ihr verbundenen Vergesellschaftung der Arbeit unter Verdrängung des Kleinbetriebs vollständig und endgültig mit leibeigenschaftlichen Traditionen, gleichwohl sie die direkte und unmittelbare Fortsetzung der kleinbürgerlichen Produktion auf dem Lande ist. Erst in der großbürgerlichen Produktion hat der Produzent mit dem Muschik nichts mehr zu tun, ersterer muss jetzt das ganze Jahr hindurch Brot kaufen. Auch hier steigt die Kurve der Entwicklung der maschinellen Großindustrie in der Zeit nach der Reform von 1861 rasch: Gehen wir von einer Mindestzahl von sechzehn Arbeiter/innen pro Fabrik aus, so können wir feststellen, dass es 1866 im Europäischen Russland zirka 3. 000 Fabriken gab, 1879 ungefähr 4. 500, 1890 ungefähr 6. 000, 1894/95 ungefähr 6. 400 und 1903 ungefähr 9. 000. 50. Im Verlauf von sechzehn Jahren (1878 bis 1892) hatte sich die Zahl der Dampfmaschinen, gerechnet nach PS, im Europäischen Russland verfünffacht. „Die maschinelle Großindustrie ist … das letzte Wort des Kapitalismus, das letzte Wort seiner negativen und seiner 'positiven Momente'“ 51. Und der Sozialismus basiert auf einer neuen maschinellen Großindustrie. (Natur! Natur war das große Zauberwort vor 1789, Großindustrie auf höchster technologischer Stufenleiter war und ist das letzte Wort der Oktoberrevolution). Die Nachreformzeit war geprägt durch ein immenses Wachstum der großen Industriezentren und der Bildung einer ganzen Reihe von neuen Zentren, war geprägt durch Massenverelendung und Bereicherung einer Minderheit. Und diese Momente halten in sich die Sprengkraft der Oktoberrevolution. „Worin besteht denn aber die ganze Geschichte Russlands nach der Reform anders als in einer in dieser Intensität noch nicht dagewesenen Massenenteignung der Bauernschaft?“ 52. Der Bauer bekam keine Produktionsmittel mehr, sondern wurde von ihnen getrennt, primär wurde die Warenform der Arbeitskraft, sie lief der Warenform des Arbeitsproduktes den Rang ab. In der kapitalistischen Großproduktion werden alle zersplitterten Produktionsprozesse unter ständigem allgemeinem sich aus dem Wachstum der Warenwirtschaft ergebenden technischen Fortschritts, diesem wichtigsten Element der bürgerlichen Emanzipation, in einem einzigen gesellschaftlichen Produktionsprozess zusammengefasst und alle Arbeitsmittel „in nur noch gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel“ 53. verwandelt, damit ist die Grundbedingung einer sozialistischen Daseinsweise gegeben, aber auch nur die Grundbedingung, die ohne sozialistisches Bewusstsein der Massen in diesen nicht verfängt. Wir haben uns auch um die theoretische Existenz des Menschen zu kümmern, hatte der junge Marx 1843 an Ruge geschrieben. Für Lenin stand am Ende des 19. Jahrhunderts fest: „Rußland ist ein kapitalistisches Land“. 54. und hat den Vorabend einer sozialistischen Revolution erreicht. Der Arbeiter ist endgültig expropriiert, es gibt nur noch den Ausweg der sozialistischen Revolution. Lenin stand mit dieser Auffassung nicht allein, Plechanow, der 1883, im Todesjahr von Karl Marx, in Genf die erste russische marxistische Gruppe 'Befreiung der Arbeit' gegründet hatte, hatte bereits vor Lenin in seiner Auseinandersetzung mit den Bauernsozialisten, den Volkstümlern, für die in Russland kein System der Warenwirtschaft vorlag, den Satz ausgesprochen, dass Russland den kapitalistischen Weg bereits beschritten habe. Zu dieser Einsicht war Marx zusammen mit Engels ein Jahr vor seinem Tod gelangt. Die ersten Sätze in der Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des Kommunistischen Manifestes von 1882 lauten: „Die erste russische Ausgabe des 'Manifestes der Kommunistischen Partei', übersetzt von Bakunin, erschien anfangs der sechziger Jahre in der Druckerei des 'Kolokol'. Der Westen konnte damals in ihr (der russischen Ausgabe des 'Manifestes') nur ein literarisches Kuriosum sehen. Solche Auffassung wäre heute unmöglich“. 55. Für Lenin waren Fragen nach der Wahl des Weges für die zukünftige Entwicklung Russlands 'Geschwätz' von Kleinproduzenten, deren ideologischen Vertreter die Volkstümler sind, die theoretisch zwischen Kapital und Arbeit hin- und herschwanken. Kauf und Verkauf von Arbeitskraft ist die Kernbedingung eines Systems der Warenwirtschaft, das arm und reich polarisiert, Armut zu einem Massenphänomen macht und die Auflehnung dagegen zu einer Massenbewegung in einem Land, in dem die kapitalistische Produktionsweise vorherrschend geworden ist und in dem eine Handvoll von Wirtschaftsmagnaten alles kontrolliert („Chefs ganzer industrieller Armeen“). Marx hatte aufgezeigt, dass die Ausbeutung in diesem System notwendig ist. Russland war ein kapitalistisches Land, in dem die industrielle Bevölkerung bedeutend größer war als die städtische. Hatte sich die Industrie zunächst in der Stadt konzentriert, so ging sie auch wieder 'aufs Land', schuf dort, wo es billige Arbeitskräfte gab, neue Fabrikzentren aus dem Boden, was für den Sieg der Oktoberrevolution, die für ihn notwendige Verbindung von Stadt und Land, nicht unerheblich war. Der Kapitalismus der maschinellen Großproduktion geht mit der proletarischen Revolution schwanger, denn in ihm klären sich in einer gewaltigen Entwicklung die antagonistischen Widersprüche der Pole Lohnarbeit und Kapital, die sich unter dem Wechsel von Prosperität und Krise zuspitzen. „Die Entwicklung der maschinellen Großindustrie kann nur sprunghaft … vor sich gehen“ 56., sie kennt keine beständige Beschäftigung, die Reservearmee mit ihrem Überangebot an Arbeitshänden ist ein ihr notwendiger Bestandteil. In Russland ergab sich ein widersprüchlicher Prozess, mal wuchs die Stadt-, mal die Landbevölkerung schneller. Es gilt diese spezifische Eigenart der russischen Entwicklung des Kapitalismus zu beachten: zur Industriebevölkerung muss auch immer ein nicht geringer Teil der Landbevölkerung gerechnet werden, „ … der seinen Lebensunterhalt durch Arbeit in den Industriezentren erwirbt und ein Teil des Jahres sich in diesen Zentren aufhält“. 57. Sie gehören in das nichtlandwirtschaftliche Wandergewerbe. Die Zahl der nichtlandwirtschaftlichen Wanderarbeiter, der Stadtgänger, war höher als die der landwirtschaftlichen, Stadt und Dorf waren verzahnter als in anderen europäischen Ländern. Es versteht sich von selbst, dass diese Stadtgänger aus den Städten das Licht der Aufklärung in die dunklen Dörfer brachten, nur in den rein landwirtschaftlichen Gegenden, in denen in ideologischer Hinsicht noch der Pope seine Diktatur praktizierte, waren die Bauern relativ ungebildet und politisch konservativ. In den von der kapitalistischen Entwicklung nicht oder kaum berührten Dörfern wurde noch ganz deutlich, dass die rückständigsten Formen der sozialökonomischen Beziehungen stets in der Landwirtschaft auszumachen sind. Das schlägt noch im März 1921 bei der Kronstädter Matrosenrebellion gegen die Herrschaft der Bolschewiki durch. Der Aufstand von Kronstadt, über den die Anarchisten so viel Aufhebens machen, ist ein Zeichen dafür, dass auch die Konterrevolution taktisch flexibel operieren konnte. Nachdem ihre Losung 'Nieder mit den Sowjets!' keinen Widerhall in den Massen fand, wechselte sie dazu über, die Sowjets hochleben zu lassen und stellte die neue Losung auf 'Sowjets ohne Kommunisten'. Diese fiel in Kronstadt auf fruchtbaren Boden. In dieser Heldenstadt der Revolution reichte sie aus, eine Matrosenrebellion loszutreten. Denn die Matrosen, die im März 1921 in Kronstadt stationiert waren, das waren nicht mehr die alten Haudegen Lenins, sondern Matrosen überwiegend kleinbäuerlicher Herkunft, die sich aus antikommunistischen Ressentiments heraus leicht in Bewegung setzen ließen. Hier wirkte sich die Unzufriedenheit mit der Ablieferungspflicht für die Bauern nachhaltig aus, aber nicht so, dass der Funke aus Kronstadt die sowjetische Steppe in Brand stecken konnte. Der arme Bauer blieb der ‚Bruder Bauer‘. Bei der Niederschlagung der Matrosenrebellion zeichneten sich besonders die Delegierten des X. Parteitages aus, die unter dem Kommando von Woroschilow standen. Sie verließen die warmen Stühle des Parteitages, eilten zur roten Fahne und gingen über dünnes Eis nach Kronstadt, wobei viele von ihnen einbrachen und und im bitterkalten Wasser ertranken.

Die ganze Entwicklung nach der Aufhebung der Leibeigenschaft zeigt jedenfalls an, dass das russische Dorf nicht so ungebildet war, wie es westliche bürgerliche Intellektuelle in ihrer kritischen Distanz zur Oktoberrevolution vorbrachten. Auch unter den Frauen nahm die Zahl der Analphabetinnen durch die Industrialisierung ab, sie kamen durch diese der Gleichstellung mit den Männern näher, „ … das Prügeln und Misshandeln der Ehefrauen hier (in den Städten/H.A.) wurden seltene Ausnahmen...“. 58.


ANMERKUNGEN:

1. Vergleiche den Artikel 'Enzyklopädie', Artikel aus Diderots Enzyklopädie, Röderberg Verlag, Frankfurt am Main, 1972,396

2. Lenin, Staat und Revolution, Werke Band 25, Dietz Verlag Berlin, 1960,507

3. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1980,114. Dieses Hegelsche „In-sich-Gehen“ steht typisch für die deutsche Innerlichkeit.

4. Vergleiche I. Minz, Die sozialistische Oktoberrevolution, Dietz Verlag Berlin, 1947,46

5. Lenin, Aus dem Tagebuch eines Publizisten, Werke Band 25, Dietz Verlag Berlin, 1960,299

6. Edward Hallet Carr, Die Russische Revolution, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 1977,182

7. Lenin, Sitzung des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten am 25. Oktober 1917, Werke Band 26, Dietz Verlag Berlin, 1960,230

8. Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Werke Band 20, Dietz Verlag Berlin, 1960,288

9. Thomas Morus, Utopia, in: Der utopische Staat, Rowohlt Verlag, Hamburg, 2008,106

10. Lenin, Referat über die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht auf der Tagung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, Werke Band 27, Dietz Verlag Berlin, 1960,281

11. Karl Marx, Zur Judenfrage, Werke Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1960,364

12. Vergleiche Karl Marx, Thesen über Feuerbach, Werke Band 3, Dietz Verlag Berlin, 1960,7

13. Philosophisches Wörterbuch, herausgegeben von Manfred Buhr und Georg Klaus, VEB Bibliographisches Institut Leipzig, Band 2, 1976,1065

14. Hermann Gautier, Der rote Oktober veränderte die Welt, in: Marxistische Blätter, Oktoberrevolution in Rußland und unsere Zeit, Nr. 5, 15. Jg., September / Oktober 1977,14

15. Josef Stalin, Der internationale Charakter der Oktoberrevolution, Zum Zehnten Jahrestag des Oktobers, in: Josef Stalin, Über den Grossen Oktober, Kleine Bücherei des Marxismus-Leninismus, Verlag Rote Fahne, Köln, 1977,173

16. Borin war ein Mähdrescherführer, der 2. 000 Hektar Getreide abgeerntet hatte, Petrow erntete pro Tag 23 Hektar Flachs ab. (Vergleiche M. I. Kalinin, Was hat die Sowjetmacht den Werktätigen gegeben?, Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR, Moskau, 1937,16). Die Sowjetbauernschaft, resümierte Stalin, „ist eine völlig neue Bauernschaft, wie sie die Geschichte der Menschheit noch nie gekannt hat“ (Vergleiche Josef Stalin, Über den Entwurf der Verfassung der UdSSR, Moskau 1936,12). Kalinin kam bereits 1937 zu dem Schluss, dass das Dorf die Stadt fast eingeholt habe. (Vergleiche M. I. Kalinin, Was hat die Sowjetmacht den Werktätigen gegeben?, Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR, Moskau, 1937,17). „Die viel Mühe erfordernde Erde, auf der sich viele Menschengenerationen abquälten, ist zu einer Quelle der Freude, des Glücks, des prächtigen Lebens der sie kollektiv bearbeitenden Werktätigen geworden (a.a.O.,22).

17. Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Oktoberrevolution, Mehring Verlag, Essen, 2010,383. Am 31. Oktober beschloß die Delegiertenversammlung sämtlicher Petrograder Regimenter folgende Resolution: „Die Petrograder Garnison erkennt die Provisorische Regierung nicht mehr an. Unsere Regierung ist der Petrograder Sowjet. Wir folgen nur den Befehlen des im Auftrage des Petrograder Sowjets handelnden Revolutionären Militärkomitees“. (Vergleiche John Reed, 10 Tage, die die Welt erschütterten, Dietz Verlag Berlin, 1983,96).

18. Karl Marx, Friedrich Engels: Ausgewählte Briefe, Dietz Verlag Berlin, 1953,411. Ich weise in diesem Zusammenhang auf eine Studie von Bernhard Dohm aus dem Jahr 1955 hin, in der er zu folgendem Ergebnis kommt: „Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune und nach dem Eintritt einer Ebbe in der revolutionären Bewegung im Westen sahen Marx und Engels allein in Rußland das Land, von dem eine Neubelebung dieser revolutionären Bewegung ausgehen werde, mehr noch: Sie sahen in der bevorstehenden russischen Revolution das Signal für die Revolution des Proletariats im Westen“ ( Bernhard Dohm, Marx und Engels und ihre Beziehungen zu Russland, Schriftenreihe Vorlesungen des Marx-Engels-Lenin-Stalin Instituts, Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Dietz Verlag Berlin, 1955 ,23). Die Vorzeichen wechselten.

19. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, herausgegeben von Georg Lasson, Leipzig, 1917,10f. Hegel zeigt uns, dass sich das „Argument“ des Bundesverfassungsgerichts, von einem Verbot der NPD sei abzusehen, weil sie zu unbedeutend sei, als Pseudoargument erweist. „... dass aus unbedeutend Scheinendem Ungeheures“ hervorgebracht wird. Die neun Richter des obersten Verfassungsgerichts sind nicht die ersten, die sich Hegel gegenüber als Dummköpfe erweisen. Sie werden keinen Deut intelligenter, wenn sie intendierten, die NPD als Stoßtruppe des Kapitals gegen die Werktätigen zu schützen, denn schon einmal stand am Ende einer nationalen Revolution in Deutschland 1945 ein Nerobefehl: alle ökonomischen Strukturen so zu zerstören, dass das deutsche Volk nicht am Leben bleiben kann. Der Österreicher wollte ein ganzes Volk ausrotten. Größere Volksfeinde, größere Kriminelle kann es gar nicht geben. Was ist das für ein Oberstes Gericht, das da von Bagatelle spricht und seine Hand schützend über die größten Verbrecher am deutschen Volkes hält?

20. Johann Jacoby, Gesammelte Schriften und Reden, Zweiter Teil, Hamburg, 1877,354. In seinem am 6. November 1920 gehaltenen Referat in der Festsitzung des Bakuer Sowjets 'Drei Jahre proletarische Diktatur' spricht Stalin von einem kleinen Häuflein von Bolschewiki, das am 25. Oktober (7. November) 1917 an der Spitze der revolutionären Umsturzbewegung stand. (Vergleiche Josef Stalin, Drei Jahre proletarische Diktatur, Werke Band 4, Verlag Roter Morgen, Dortmund, 1976,337). „In jenem Augenblick sahen viele in uns bestenfalls Sonderlinge, schlimmstenfalls 'Agenten des deutschen Imperialismus'“. (a.a.O.). Die Bolschewiki galten so sehr als Sonderlinge, dass die 'seriösen' Bourgeois davon ausgingen, dass sie sich selbst zerstören werden. Noch war ihr Interesse am imperialistischen Krieg größer als an der militärischen Niederwerfung der Bolschewiki.

21. Josef Stalin, Drei Jahre proletarische Diktatur, Werke Band 4, Verlag Roter Morgen, Dortmund, 1976,344

22. 1905 gehörten der SDAPR nur 8. 400 Genossen an bei einer Gesamteinwohnerzahl Russlands von 160 Millionen. Nach der Februarrevolution hatte die bolschewistische Partei nach den Verfolgungen durch die Reaktion gerade 40. 000 Mitglieder, im Oktober hatte sich das Vertrauen des Volkes den Bolschewiki zugewandt. Als sich die Sowjetunion bereits im Niedergang befand, gab Gorbatschow an, dass die kommunistische Partei aus fast zwanzig Millionen Mitgliedern besteht und dass damit die kommunistischen Parteimitglieder ein Zehntel der erwachsenen Bevölkerung des Landes stellen. Es bedurfte nicht einmal die Zeit eines Fünfjahresplans, und diese gewaltige Masse hatte sich aufgelöst. Nachdenklich machen muss auch unabhängig von dem Parteikollaps der schlichte Satz von Gorbatschow: „Das Anwachsen der Rolle der Partei ist ein gesetzmäßiger Prozeß“ (Michail Gorbatschow, Oktoberrevolution, Umgestaltungsprozeß und der Frieden, Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution, Pahl-Rugenstein Verlag, Köln, 1987,96). Er ist durch den realen Geschichtsverlauf widerlegt worden, aber nicht nur. Dialektischen Denken verlangt, einen Prozess nicht nur einseitig positiv darzustellen, in diesem Fall könnte eines Tages herauskommen, dass die ganze Weltbevölkerung nur aus kommunistischen Parteimitgliedern bestehen könnte, sondern doppelseitig auch negativ. Der Satz von Gorbatschow ist insofern falsch, als es niemals zu einem Absterben der kommunistischen Partei kommen könnte, die Partei wäre ewig, und das Wort 'ewig' ist für einen Dialektiker das rote Tuch schlechthin.

23. Vergleiche Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Werke Band 28, Dietz Verlag Berlin, 1960,292

24. Josef Stalin, Genosse Lenin in Erholung. Notizen, Werke Band 5, Verlag Roter Morgen, Dortmund, 1976,119

25. Josef Stalin, „Gewaltige Stiere haben mich umringt“, Werke Band 3, Verlag Roter Morgen, Dortmund, 1976,362f.

26. Lenin, Zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution, in: Lenin, Ausgewählte Werke, Progress Verlag, Moskau, 1975,713

27. Vergleiche Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, Werke Band 3, Dietz Verlag Berlin, 1977,32

28.Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung, Werke Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1984,379

29. Rosa Luxemburg, Rede zum Programm gehalten auf dem Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei (Spartakusbund) am 31. Dezember 1918 in Berlin, in: Rosa Luxemburg, Schriften zur Theorie der Spontaneität, Texte des Sozialismus und Anarchismus, Rowohlt Verlag, Hamburg, 1970,201

30. Vergleiche Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung, Werke Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1984,409. Für Lenin war es infantil, dass die Mir-Gemeinschaft mehr Rechte bekommen und der ganze Grund und Boden Russlands nach und nach Mir-Land werden sollte. (Vergleiche Lenin, An die Dorfarmut, Die Ziele der Sozialdemokraten, dargelegt für die Bauern, Werke Band 6, Dietz Verlag Berlin, 1960,419). Auf die historische Unvermeidbarkeit der Auflösung der Mir-Gemeinde wies Friedrich Engels bereits im Anti-Dühring hin. (Vergleiche Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Werke Band 20, Dietz Verlag Berlin, 1960,290).

31. Vergleiche Lenin, Der 'linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus, Werke Band 31, Dietz Verlag Berlin, 1960,5

32. Vergleiche Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), Kurzer Lehrgang, Verlag der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland, Berlin, 1946,22

33. Vergleiche Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, Werke Band 3, Dietz Verlag Berlin, 1956,525

34. a.a.O.,576

35. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung, Werke Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1987,399. Der pferdelose Bauer galt bereits als Proletarier. (Vergleiche Lenin, An die Dorfarmut, Werke Band 6, Dietz Verlag Berlin, 1960,383).

36. In den Augen der Slawophilen stand die Mir, die für Marx die Urform und nicht einfach nur ein russisches Phänomen war und über die er eine Broschüre schreiben wollte, dafür, dass der Russe einen höheren kollektiven Sinn besäße als der Westler, der einem Kult des Individuums huldige. Tschernyschewski hielt daher die Durchsetzung des Sozialismus in Westeuropa für schwieriger als in Russland. Lenin hat dem zum Teil Recht gegeben, jedenfalls war für Lenin die politische Machteroberung durch die Arbeiterklasse in Osteuropa leichter als in Westeuropa, wo es perfekt ausgebildete und intelligente Politiker gab. Aber weder für Marx noch für Lenin gingen die Uhren in Russland anders. Auch in der Landwirtschaft gab es immer mehr individuelle Zersplitterung und in der urbanen Großen Industrie lagen die Formen für einen kollektiven Kampf der Lohnabhängigen vor. Nur mit der Mir war die Frage aufgeworfen, ob sie sich kollektiv oder individuell ausgestalte? Ob der Kommunismus etwas vorfinden konnte, was als ganz positiv zu bewerten war? Diese eventuell schönste Chance, die die Geschichte jemals einem Volk dargeboten hat, war für Marx vielleicht die härteste zu knackende Nuss. Er wälzte sich mit den Fragen ohne historische Analogie herum, zumal die Mir, die russische Landgemeinde, noch etwas von der urtümlichen urkommunistischen Assoziation aufwies. Die Bauern drückten das mit den Worten aus: der Boden sei „Gottes“. Marx theoretisierte noch mit Vera Sassulitsch über diese Probleme, schwankte auch, Engels sah zunächst die Möglichkeit, aus der Mir zum Sozialismus zu kommen unter der Bedingung, dass eine siegreiche Revolution im Westen stattfindet Siehe seine Schrift: ‚Soziales aus Russland, Internationales aus dem Volksstaat‘ (1871 bis 1875), dann schon den rapiden Zerfall der russischen Landgemeinde, den Plechanow (ab 1890) und der junge Lenin von Anfang an gegen die russischen Volksfreunde aufgriffen. Für die Volksfreunde galt das Schaffen in der russischen Landgemeinde als Volksproduktion und aus ihrer romantischen Verklärung heraus strebten sie einen volkstümlichen Agrarsozialismus an, keinen hochindustrialisierten Kapitalismus. Ab 1917 waren die agrarkommunistischen Probleme dann als konkret-praktische gestellt.

37. „Das russische Eisenbahnnetz wuchs von 3. 819 Kilometer im Jahr 1865 auf 29. 063 km im Jahr 1890“. (Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, Werke Band 3, Dietz Verlag Berlin, 1977,569).

38. a.a.O.,167f.

39. Kurt Mandelbaum: Marx, Engels, Lenin, Zur Vorgeschichte der russischen Revolution, Paco-Press, Amsterdam, 1971,IX. Aber die große kapitalistische Industrie schafft erst die Bedingungen, unter denen die verknöcherten Gestalten des Produktionsprozesses „stetem Wechsel der Arbeit, Fluß der Funktion und allseitiger Beweglichkeit des Arbeiters weichen“. (Marx).

40. Alexander Herzen, Das russische Volk und der Sozialismus, Brief an J. Michelet, in: Alexander Herzen, Ausgewählte philosophische Schriften, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau, 1958,511

41. Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, Werke Band 3, Dietz Verlag Berlin, 1977,169

42. Edward Hallett Carr, Die Russische Revolution, Lenin und Stalin 1917 – 1929, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 1977,9

43.Vergleiche Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, Werke Band 3, Dietz Verlag Berlin, 1977,221

44. Karl Marx / Friedrich Engels, Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des Kommunistischen Manifestes von 1882, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Dietz Verlag Berlin, 1983,14

45. Karl Marx, Das Kapital, Werke Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1960,86

46. Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, Werke Band 3, Dietz Verlag Berlin, 1977,355

47. Vergleiche a.a.O.,384

48. a.a.O., 443

49. a.a.O., 454f.

50. Vergleiche a.a.O., 479

51. a.a.O., 464

52. Lenin, Was sind die 'Volksfreunde' und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten, Werke Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1984,190

53. Karl Marx, Das Kapital, Werke Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1972,790

54. Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, Werke Band 3, Dietz Verlag Berlin, 1977,516. Die Hoffnung Tschernyschewskis, dass Russland eventuell die Qualen des kapitalistischen Systems umgehen könnte, hatte sich als illusionär erwiesen.

55. Karl Marx / Friedrich Engels, Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des Manifestes der Kommunistischen Partei von 1882, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Dietz Verlag Berlin, 1983,13

56. a.a.O.,561

57. a.a.O.,587

58. Juriditscheski Westnik, Jahrgang 1890, Nr.9,142

Final del extracto de 411 páginas

Detalles

Título
Der Leninismus als Anleitung zum politischen Handeln
Subtítulo
Ein Beitrag zur Wissenschaft der proletarischen Revolution im Allgemeinen und zum 100jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution im Besonderen
Autor
Año
2017
Páginas
411
No. de catálogo
V376466
ISBN (Ebook)
9783668537262
ISBN (Libro)
9783668537279
Tamaño de fichero
2200 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
leninismus, anleitung, handeln, beitrag, wissenschaft, revolution, allgemeinen, jubiläum, oktoberrevolution, besonderen
Citar trabajo
Heinz Ahlreip (Autor), 2017, Der Leninismus als Anleitung zum politischen Handeln, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/376466

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