Leseprobe
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6. Zwecke der Grausamkeit ... 18
6.1 Die strafende Grausamkeit ... 19
6.2 Die lehrende Grausamkeit ... 19
6.3 Die erlösende Grausamkeit ... 20
6.4 Die verhüllende Grausamkeit ... 21
7. Einflüsse auf die Grausamkeit ... 22
7.1 Kulturhistorische Einflüsse ... 22
7.2 Einflüsse aus dem Volksglauben ... 25
7.3 Einflüsse durch andere Erzählgattungen ... 27
8. Grausamkeit im Kinderzimmer ... 29
9. Schluss ... 31
10. Literaturverzeichnis ... 33
Anhang KHM mit grausamen Elementen ... 35
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1. Einleitung
Was sind Märchen? Wunderschöne und liebliche Geschichten, in denen von strahlenden
Helden und holden Jungfrauen berichtet wird, die am Ende jedes Märchens glücklich
und zufrieden leben. Was kommt im Märchen nicht vor? Böses, Abscheuliches,
Grausames, all das, was negativ konnotiert ist, ist kein Teil der friedlichen und
wunderschönen Märchenwelt. So oder so ähnlich antworten viele Leute, wenn man sie
über Märchen befragt, denn aus verschiedensten Gründen scheinen sie den ganzen
Bereich der Grausamkeit zu übersehen. Bei der Frage nach dem Gründen dafür scheiden
sich die Geister, vielleicht sind die Leser dumm, vielleicht haben sie ein vollkommen
verzerrtes Märchenbild erhalten durch die oftmals sehr beliebten Märchenfilme von
Walt Disney oder sie überlesen schlichtweg all das Dunkle, Böse, Grausame des
Märchens.
Dies wäre sicherlich ein paar weitere Überlegungen wert, aber darum geht es in dieser
Arbeit nicht, der Titel lautet immerhin Grausamkeit in den Kinder- und Hausmärchen
der Gebrüder Grimm, es soll sich also explizit auf die Grausamkeiten bezogen werden,
die sich in dem weltweit beliebten Märchenbuch der Grimms finden lassen, denn
,,schon allein die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm bieten einen ergiebigen
Katalog grausamer (g.er) Handlungen"
1
. Wer sich etwas genauer mit diesen Märchen
beschäftigt, wird merken, dass sie eine reiche Sammlung beinhalten an verschiedensten
Grausamkeiten, von relativ harmlosen Tierverwandlungen wie in KHM 161, über
Mütter, die ihre Kinder umbringen, wie in KHM 47, bis hin zu Männern, die in ihrem
Schloss Frauenleichen aufgehängt haben, wie in KHM 46. Das sind gerade mal drei
Märchen von insgesamt 200, mit den Kinderlegenden sind es 210. Es zeigt sich also
deutlich, ,,extreme Verbrechen, Brudermord, Kindermord, häßliche Verleumdung sind
im Märchen an der Tagesordnung, ebenso wie grausame Strafmethoden"
2
.
Wenn also so viel Grausames in den Märchen steckt, liegt der Schluss nah, dass es sich
um ein wichtiges Märchenelement handeln muss, denn wenn es unwichtig wäre, würde
es nicht so oft vorkommen. Somit kann man davon ausgehen, dass das Element der
Grausamkeit ein sehr wichtiger Aspekt der Märchen ist, den man sich genauer
1
Röhrich, Lutz (1990): ,,Grausamkeit" In: Brednich, Rolf Wilhelm / Bausinger, Hermann / Brückner,
Wolfgang u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und
vergleichenden Erzählforschung. Bd. 6; Berlin / New York: Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, S. 98
2
Lüthi, Max (2005): Das europäische Volksmärchen; 11. Aufl.; Tübingen: Narr Francke Attempto
Verlag GmbH & Co. KG, S. 35
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anschauen sollte. Dies zeigt sich auch am derzeitigen Forschungsstand zum Thema
Grausamkeit im Märchen, die ganze Thematik ist schon recht gut erforscht und hat viele
Debatten aller Art hervorgerufen, wie etwa die Frage, ob Märchen gut oder schlecht für
Kinder seien, mancher kam hierbei auch auf recht hanebüchene Gedanken und machte
,,die KHM-Inhalte sogar für die Konzentrationslager des Zweiten Weltkriegs
mitverantwortlich"
3
, was jedoch schnell in das Reich von ,,ethnischen Vorurteilen"
4
verbannt wurde, trotzdem erfreut sich die Debatte über die Grausamkeit im
Kinderzimmer noch immer großer Beliebtheit.
Es lässt sich somit eigentlich nicht mehr viel Neues sagen, trotzdem soll versucht
werden noch so manches aus diesem gut besprochenen Thema herauszuholen und das
über die Sekundärliteratur verbreitete Wissen soll gesammelt werden, damit ein
Einblick gegeben werden kann in die große Welt der Grausamkeit der KHM.
Hierbei soll zuerst beleuchtet werden, was eigentlich mit dem grausamen Element
geschah als die Gebrüder Grimm die Märchen sammelten und archivierten. Wurden
besonders grausame Stellen gestrichen oder verändert? Traten schon Änderungen ein
bevor die Gebrüder Grimm die Märchen erhalten hatten? Was führte eigentlich dazu,
dass sich von Auflage zu Auflage die Inhalte der gesammelten Märchen änderten und
diese zu dem wurden, was sie heute sind?
Danach soll die Darstellung der Grausamkeit genauer betrachtet werden. Wie sehen die
grausamen Textpassagen genau aus? Kann man von einer Verherrlichung von
Grausamkeit sprechen? Die Beantwortung dieser Fragen ist auch relevant für die Frage,
weshalb so viele das, was man als grausam bezeichnen kann im Märchen, nicht als
Grausamkeiten ansehen oder es übersehen. Desweiteren spielen die Erkenntnisse dieses
Kapitels auch eine Rolle bei der Frage, ob Märchen zu grausam sind für Kinder oder
nicht.
Es stellt sich die Frage, ob es unterschiedliche Formen von Grausamkeit innerhalb des
Textes gibt. Findet man in den KHM immer nur grausame Taten, die sich auf den
Körper beziehen? Kann das Opfer auch mal ganz ohne körperliche Schäden in
grausame Mitleidenschaft gezogen werden? Oder ist es wirklich doch nur der Körper,
der leiden muss?
3
Enzyklopädie des Märchens VI, S. 99
4
Enzyklopädie des Märchens VI, S. 100
5
Nach den Formen soll es noch etwas tiefer in den Text gehen und die Täter und Opfer
sollen untersucht werden, denn ohne Täter gibt es niemanden, der die verschiedenen
Formen der Grausamkeit ausüben kann und es gibt kein Opfer, welches diese Formen
erleiden kann. Welche Figur ist am häufigsten Opfer, welche am häufigsten Täter in
bestimmten Zusammenhängen? Sind es wirklich fast immer nur Hexen und Stiefmütter,
die das Leid verursachen und am Ende selbst zu Opfern werden?
Weiter stellt sich die Frage die nach dem Zweck der Grausamkeit innerhalb der
Handlung. Sind die grausamen Taten immer nur allein als Strafe zu sehen? Gibt es
vielleicht auch Handlungen, die auf den ersten Blick grausam aussehen, aber im
Nachhinein sogar befreiend sind, abseits der Befreiung von der bösen Stiefmutter durch
den Scheiterhaufen? Sollen die Grausamkeiten vielleicht dazu dienen etwas zu
verstecken und sind somit manche Stellen mehrdeutig zu verstehen?
Nachdem all diese Bereiche innerhalb des Textes untersucht wurden, stellt sich
zwangsläufig die Frage, welche Einflüsse auf die Grausamkeit im Märchen gewirkt
haben, denn ,,G. im Märchen hat nicht nur psychol. und pädagogische, sondern auch
strukturalistisch-stilistische und bes. rechts- und sozialhistorische Aspekte"
5
. Es muss
also verschiedenste Einflüsse geben, die in die die Grausamkeiten eingeflossen sind.
Woher kamen die Ideen für die ganzen Grausamkeiten? Haben nur historische
Begebenheiten die Märchen beeinflusst? Welche Rolle spielt der Volksglaube? Haben
auch andere Erzählgattungen Einfluss auf die Grausamkeiten gehabt?
Das vorletzte Kapitel soll sich ein wenig mit der Frage beschäftigen, ob Märchen für
Kinder geeignet sind oder nicht. Natürlich lässt sich hierbei nicht der gesamte Diskurs
in all seinen Ausprägungen nachzeichnen, aber der ein oder andere relevante Punkt soll
genannt werden, damit am Ende auch zu diesem Thema Stellung bezogen werden kann.
Der Schluss dient dann noch einer kleinen Rekapitulation der ganzen Arbeit und mit ein
paar Überlegungen zu der Frage, weshalb viele Leute die Grausamkeit im Märchen
nicht bemerken, soll diese Arbeit geschlossen werden, da diese Frage auch fast am
Anfang steht, weshalb dieses Thema mit dem geschlossen werden soll, mit dem es
angefangen hat. Natürlich wird die Frage nur sehr kurz behandelt, sie soll einen Anreiz
darstellen für weitere Forschungen zu diesem Bereich.
5
Enzyklopädie des Märchens VI, S. 97-98
6
2. Die Geschichte der Grausamkeit in den KHM
Die allgemeine Entstehungsgeschichte der KHM dürfte hinlänglich bekannt sein,
weshalb hierauf nicht weiter eingegangen werden soll. Es sollen allein die Geschehnisse
untersucht werden, die auf die heutige Form der Grausamkeiten in den KHM eingewirkt
haben.
In der ersten Auflage der KHM wurden die übermittelten Märchen großteilig so
übernommen, wie die Gebrüder Grimm sie erhielten haben. Jedoch kann man davon
ausgehen, dass es schon hier zu ersten Änderungen kam, nicht durch die Gebrüder
Grimm selbst, sondern durch die Märchenüberbringer, denn ,,wo Märchen durch
bürgerliche Sammler und Herausgeber schriftl. fixiert und überarbeitet wurden, sind
G.en oft eliminiert worden"
6
, wodurch es zu einer ersten Überarbeitung durch die
Überbringer gekommen sein dürfte, was jedoch nicht heißt, dass die Gebrüder Grimm
gar nichts mit den Texten gemacht haben, da es auch bei ihnen ,,ähnliche
Bearbeitungstendenzen"
7
gab, in der ersten Auflage weniger, ab der zweiten Auflage in
weitaus stärkerer Form. Jedoch lassen sich die Veränderungen durch die Überbringer
teilweise nur schwer nachweisen, denn sie fixierten die mündlichen Versionen, wodurch
,,hier die Freiheit hinsichtlich gravierender Veränderungen größer war, da die Fakten
von Lesepublikum und Kritik nicht nachprüfbar waren"
8
, und übergaben diese den
Gebrüdern Grimm.
Viel Grausamkeit ist jedoch nicht entfernt worden, denn nach der ersten Auflage
wurden zwei Punkte besonders kritisiert, einerseits hieß es ,,die Sammlung sei in
Auswahl und Erzählton nicht kindgemäß genug"
9
, andererseits ,,wurde die zu wenig
kunstvolle Diktion bemängelt"
10
. Dies war sozusagen der Startschuss für intensivere
Überarbeitungen der Märchen durch Wilhelm Grimm, der diese nun stärker ,,nach
seinem künstlerischen Empfinden"
11
bearbeitete, mithilfe von ,,Kontaminationen und
Einbringung zahlloser volksläufiger Redensarten"
12
sollte den Kritikern der Wind aus
den Segeln genommen werden und so gab Wilhelm Grimm den Märchen auch ihren
6
Enzyklopädie des Märchens VI, S. 103
7
Enzyklopädie des Märchens VI, S. 103
8
Rölleke, Heinz (2008): Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung; Ditzingen: Reclam, S. 99
9
Rölleke, S. 85
10
Rölleke, S. 85
11
Lüthi, S. 100
12
Rölleke, S. 86
7
,,unverkennbaren, biedermeierlichen Märchenton"
13
. Es war nun dazu gekommen, dass
sich das Grimmsche Märchen ,,deutlich vom originären mündlichen Märchenvortrag
abhebt"
14
.
Das alles klingt so als wären alle Grausamkeiten getilgt worden, dies ist jedoch nicht
der Fall. Man strich zwar alles, was irgendwie nach Sexualität aussah, so zieht sich das
Grimmsche Rotkäppchen beispielsweise nicht nackt aus und legt sich nicht zum Wolf in
das Bett wie in der Version von Perrault, die grausamen Stellen hingegen blieben
bestehen, nicht nur das, sie ,,blieben unzensiert stehen und wurden nicht selten auch
noch ausgemalt"
15
. Es lässt sich also feststellen, dass die Gebrüder Grimm
ausgesprochene Freunde von Grausamkeiten in Märchen sind und es somit allein die
Schuld der Kritiker ist, dass so manche Grausamkeit abgeändert werden musste.
In manchen Fällen jedoch führte auch der Wunsch, ,,die Sammlung kindgemäßer zu
gestalten"
16
, dazu, dass bestimmte Märchen, wie etwa das frühere KHM 22, Wie Kinder
Schlachtens miteinander gespielt haben, aus der Sammlung rausgenommen werden
mussten, auch wenn die Gebrüder Grimm es sehr gerne beibehalten hätten.
Es zeigt sich also, dass die KHM von Auflage zu Auflage überarbeitet wurden, wodurch
sie zwar keine extremen Unterschiede zu den eingereichten Abschriften aufweisen,
jedoch wurde so manches getilgt, geändert, verschönert, dafür blieben die
Grausamkeiten in den Märchen großteilig verschont, da schon die Gebrüder Grimm
ihrer Faszination erlagen und so wenig wie möglich daran ändern wollten. Wären die
kritischen Stimmen nicht gewesen, so sähen die heutigen Auflagen der KHM sicherlich
etwas anders aus und der Leser dürfte noch immer erfahren was mit dem Kind geschah,
welches beim Schlachtspiel das Schwein spielen musste. Somit lässt im Bezug auf die
Grausamkeit der KHM, dass sie nicht getilgt wurde durch Überarbeitungen, so gibt es
Versionen bekannter Märchen, die fast vollkommen frei von jeder Grausamkeit sind,
aber es gibt trotz alledem in anderen Sammlungen noch weitaus grausamere Versionen.
13
Mallet, Carl-Heinz (1990): Kopf ab! Über die Faszination der Gewalt im Märchen; München:
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, S. 10
14
Rölleke, S. 33
15
Mallet, S. 10
16
Enzyklopädie des Märchens VI, S. 99
8
3. Die Darstellung der Grausamkeit
In KHM 107, heißt es: ,,und der Schuster, der ein Herz von Stein hatte, stach ihm mit
einem scharfen Messer das rechte Auge aus."
17
Wenige Zeilen danach folgt dann der
Satz ,,machte er sich wieder auf die Beine, vergaß sein Unglück"
18
. Dem Schneider
wurde sein Auge ausgestochen, aber weiter wird dazu nichts gesagt, das Opfer macht
sich einfach wieder auf den Weg. Dieses kleine Beispiel zeigt deutlich, wie
Grausamkeit im Märchen aussieht, ,,die Darstellung der Handlung ist isolierend"
19
, der
Leser sieht nur ,,die reinen Akte"
20
, es gibt keine ,,ausmalende Schilderung"
21
der
Grausamkeit. Auch in allen anderen Märchen ist es so, denn ,,ohne tragischen Ton
erzählt das Märchen von Mord, Gewalttat, Erpressung, Verrat, Verleumdung,
Blutschande"
22
. Grausamkeiten aller Art werden somit einfach dargestellt, sie sind Teil
des Geschehens, nichts Außergewöhnliches, sondern etwas, was immer wieder
vorkommt, aber trotz alledem nichts ist, was irgendwie verherrlicht wird, denn ,,sicher
ist, daß die Märchen selbst keine Greuel verherrlichen"
23
. Die Grausamkeit wird also
,,nur als Erzählmoment geschildert"
24
und in keinster Weise ,,ausführlicher
beschrieben"
25
.
Bei der weiteren Betrachtung des Beispiels fällt auf, dass nichts zu lesen ist von den
Qualen des Schneiders, er hat sein Auge verloren, aber es ist nichts zu hören von
Klagen oder Wehgeschrei, es wird nicht einmal über die Schmerzen gesprochen
während ihm das Auge ausgestochen wird. Damit zeigt sich eine weitere Besonderheit
der Darstellung der Grausamkeit, ,,die Auswirkungen g.er Behandlungen"
26
sind im
Märchen ,,nicht körperlich fühlbar"
27
, es lässt sich sogar sagen, dass es ,,kein ,,Gefühl"
im Märchen"
28
gibt. Es gibt vielfache Beispiele, die das belegen, nie ist etwas von dem
Todeskampf Sneewittchens in KHM 53 zu lesen, wenn die Stiefmutter versucht es auf
vielfältige Art und Weise umzubringen, und auch von dem Mädchen ohne Hände aus
17
Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Grimms Märchen. Vollständige Ausgabe; Köln: Anaconda Verlag
GmbH, 2009, S. 537
18
Grimms Märchen, S. 537
19
Lüthi, S. 38
20
Lüthi, S. 38
21
Lüthi, S. 38
22
Lüthi, S. 67
23
Enzyklopädie des Märchens VI, S. 99
24
Uther, Hans-Jörg (2008): Handbuch zu den ,,Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm; Berlin:
Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, S. 24
25
Handbuch zu den ,,Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm, S. 24
26
Enzyklopädie des Märchens VI, S. 103
27
Enzyklopädie des Märchens VI, S. 103
28
Enzyklopädie des Märchens VI, S. 103
9
KHM 31 kommen keine Schmerzensschreie als ihm die Hände abgehackt werden. Dies
ist eine weitere Besonderheit der Grausamkeit im Märchen, die Opfer leiden nicht,
nichts von ihren Schmerzen ist lesbar, die Figuren sind vollkommen gefühllos.
Empfindungen werden nur dann erwähnt, wenn sie relevant für die Handlung sind,
ansonsten sind sie nicht vorhanden.
Dies führt zu einer weiteren Erkenntnis über die Figuren des Märchens, sie haben
,,keine eigene Innenwelt"
29
, weshalb der Grausamkeit eine weitere Rolle in der
Erzählung zukommt, denn da die Figuren aufgrund der fehlenden Innenwelt ,,keine
eigenen Entschlüsse fassen können"
30
, müssen ,,sie durch äußere Anstöße vorwärts"
31
bewegt werden, was oftmals durch grausame Handlungen geschieht. So erkennt die
Heldin in KHM 46 was Blaubart ihr antun wird als sie die Einzelteile ihrer Schwestern
im Kessel schwimmen sieht und auch in KHM 15 kann die Flucht erst gelingen als die
beiden Geschwister im Feuer landen sollen. Grausamkeit dient also nicht als
,,Selbstzweck einer blutrünstigen Schilderung"
32
, Märchen sind keine stupiden
Horrorgeschichten, im Gegenteil, durch sie kommt die Handlung erst richtig in Gang
Somit haben Grausamkeiten auch ,,eine erzähltechnisch-epische Funktion als
Spannungselemente"
33
, denn je größer ,,die g.e Strafe im Falle des Mißlingens"
34
, desto
mehr Spannung wird erzeugt, weshalb viele grausame Schilderungen für den Helden
,,abschreckende Möglichkeit"
35
bleiben, sie dienen nur dem Spannungsaufbau und
sollen nicht zeigen, was am Ende des Märchens mit dem Helden passieren wird.
Bei den Bösen sieht das etwas anders aus, sie müssen oftmals am Ende eines Märchens
grausam sterben, dies ,,charakterisiert den Extremstil des Märchens"
36
, weshalb ,,die
g.ste und ausgefallenste Vernichtung"
37
die Beste für den Bösewicht ist, es kann nur
seine ,,radikale Beseitigung"
38
geben, denn das Extreme verlangt, wie es in vielen
Märchen der Fall ist, das erst die Schwiegermutter grausam sterben muss, damit alle
Figuren, die unter ihr gelitten haben, glücklich und zufrieden leben können. Dieses
29
Lüthi, S. 53
30
Lüthi, S. 53
31
Lüthi, S. 53
32
Enzyklopädie des Märchens
VI , S. 102
33
Enzyklopädie des Märchens VI , S. 101
34
Enzyklopädie des Märchens VI , S. 101
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Enzyklopädie des Märchens
VI , S. 101-102
36
Handbuch zu den ,,Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm, S. 34
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Enzyklopädie des Märchens VI , S. 103
38
Enzyklopädie des Märchens VI , S. 103