Entwicklung der Schweizer Sittlichkeitsbewegung. Der Verband Deutschschweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit


Seminararbeit, 2017

22 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung:

2. Der Kontext
2.1. Der Begriff Sittlichkeit
2.2. Frauenvereine
2.3. Die abolitionistische Bewegung
2.4. Entstehung Deutschschweizer Sittlichkeitsvereine

3. Die Trennung
3.1. Die Sitzungsprotokolle
3.2. Die erste Sitzung
3.3. Geldprobleme
3.4. Organisatorische Differenzen
3.5. Ideologische Differenzen
3.6. Interpretation der Trennungsgründe
3.7. Statuten

4. Entwicklung und Wirken der Sittlichkeitsvereine
4.1. Heime
4.2. Politische Aktivitäten
4.3. Evangelischer Frauenbund der Schweiz

5. Fazit

6. Bibliographie
6.1. Quellen
6.1.1. Ungedruckte Quellen
6.1.2. Gedruckte Quellen
6.2. Sekundärliteratur

1. Einleitung:

Der „Evangelische Frauenbund der Schweiz“ (EFS) hat eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Geschichte. Dazu gehören Projekte, Proteste, Zeitschriften, Namensänderungen, sowie Abspaltungen und Fusionen. Ein Teil, der sich dem Bund 1947 anschloss, hiess bis 1921 „Der Verband Deutschschweizer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit“.

Dieser Verband entstand wiederum aus verschiedenen Vereinen, die zur Sittlichkeitsbewegung gezählt werden - einer internationalen Bewegung, die sich hauptsächlich „dem Kampf gegen die Prostitution“ verschrieb.1 Dieses Gewerbe, das schon so lange umstritten ist, wie es existiert, wurde 2013 vom Bezirksgericht in Horgen zum ersten Mal in der Schweiz offiziell als „nicht mehr sittenwidrig“ deklariert. Zuvor konnten Prostituierte keine Freier erfolgreich anklagen, die nicht für die Leistung bezahlt hatten. Der Prostitutionsvertrag hatte bis dahin, wegen einem Artikel im Obligationenrecht, als sittenwidrig gegolten. Dadurch konnten die Gerichte den Prostituierten nicht helfen.2 Dass solche Wertungen so lange hochoffiziell in der Beamtensprache bleiben können, zeigt wie tief verwurzelt diese in der Gesellschaft sind, wurde doch das Wort „Sitte“ schon im Mittelalter als Gegenargument der Prostitution verwendet und gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Name einer ganzen Bewegung.3

Die Sittlichkeitsbewegung war jedoch nicht nur gegen die Prostitution gerichtet. Sie bestand auch aus Antialkoholvereinen, christlichen Männer- und vielen weiteren Vereinen.4 Der Fokus dieser Proseminararbeit liegt jedoch auf der Entwicklung der Sittlichkeitsbewegung im Bezug zur Prostitution zur Jahrhundertwende und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, insbesondere beim Verbandes Deutschschweizer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit (z.H.d.S.). Dabei sollen Gründe für ideologische und organisatorische Veränderungen betrachtet werden. Eine wichtige organisatorische Veränderung, die in dieser Arbeit untersucht wird, ist die Abspaltung der Deutschschweizer Sittlichkeitsvereinen von ihren Westschweizer Kolleginnen. Dabei stellt sich die Frage, ob die Gründe für die Trennung eher organisatorischer oder ideologischer Natur waren und wie sich der Verband und das Verständnis von Sittlichkeit über die Jahre veränderte.

Nach der Herleitung der geschichtlich-kulturellen Bedeutung des Begriffs Sittlichkeit, soll die Entstehung der Sittlichkeitsbewegung und deren Kontext aufgezeigt werden. Danach folgt ein Beschrieb der Verbreitung der Vereine zur Hebung der Sittlichkeit, und darauf soll mithilfe von Quellen genauer auf die Trennung der Deutschschweizer von den Westschweizer Vereinen eingegangen werden. Danach wird die weitere Entwicklung der Deutschschweizer Vereine zur Hebung der Sittlichkeit und dessen Methoden bis Mitte des 20. Jahrhunderts anhand von Statuten und Berichten aufgezeigt. Der Schwerpunkt soll aber die Zeit kurz nach der Neugründung 1901 bilden.

2. Der Kontext

2.1. Der Begriff Sittlichkeit

Die „Sittlichkeit“ spielte in westlichen Kulturen stets eine grosse Rolle. Im 19. Jahrhundert schien die Bedeutung des Begriffes derart gross, dass eine ganze Bewegung nach ihr benannt wurde.

Der Begriff Sitte ist vom griechischen Wort é thos ( ἔθος ) (Heute ethik) abgeleitet.5 Im Althochdeutschen wurde es erstmals als situ gebraucht. Dann tauchte das Wort ab dem 13. Jahrhundert erstmals in der Form site auf. Die genaue Herkunft ist aber nicht geklärt.6 Es ist gut möglich, dass der Begriff im Mittelalter von der Kirche geprägt wurde.

Dieser Begriff der gesellschaftlichen Moralvorstellung wurde in viele verschiedene Richtungen verwendet:

Im 18. Jahrhundert prägte der Philosoph Johann Gottlieb Fichte den Begriff der Sittenlehre, die den Zusammenhang und den Widerspruch zwischen verschiedenen menschlichen Trieben und eigenen Moralvorstellungen, der Sittengesetze des Umfelds und der Gesellschaft erklärt.7

Um die Sitte „umzusetzen“ wurde sie oft mit (geistiger oder physischer) Gesundheit in Verbindung gebracht und dadurch indirekt die Sexualität angesprochen. Nachdem Ende 15. Jahrhundert erstmals die Syphilis in Neapel aufgetaucht war, wurde mit dem Sittlichkeitsbegriff die Prostitution in Frauenhäusern des 16. Jahrhunderts von der Obrigkeit stärker bekämpft.8

Auch im 19. und 20. Jahrhundert wurde die Regulierung der Prostitution zum Teil mit der „öffentlichen Sittlichkeit“ und zum Teil gesundheitspolitisch begründet. Zum Beispiel in Zürich, wo die Kuppelei toleriert wurde, solange dabei die „öffentliche Sittlichkeit“ nicht gestört wurde. Strassenprostituierte konnten bei Verdacht auf Geschlechtskrankheiten zu medizinischen Behandlungen gezwungen werden.9

Die Argumentation der Gesundheit wurde auch während und über die Sittlichkeitsbewegung hinaus als Begründung gegen die Prostitution verwendet, sehr oft in Kombination mit derjenigen der Sittlichkeit.10 Seit der Neuzeit bis zur Moderne wurde laut der Pflegewissenschaftlerin Roswitha Engel die Gesundheit zum Synonym für Sittlichkeit, da Sitte auch für einen gesunden Lebensstil stand.11

Die Sittlichkeit hatte also nach dem Mittelalter einen sehr grossen Stellenwert, da sie immer wieder in direkte Verbindung mit der Gesundheit gebracht wurde oder sogar gleichbedeutend war.

2.2. Frauenvereine

Das 19. Jahrhundert ist unter vielen Namen bekannt, als populärstes Beispiel gilt das lange 19. Jahrhundert. Laut Thomas Gull wurde um 1800 das Jahrhundert der Vereine lanciert. Es entstanden Studentenverbindungen, Musikvereine, aber auch Armen- und Missionsvereine, die offensichtlich nicht nur als eine neue Art der Freizeitbeschäftigung genutzt wurden. Insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts explodierte die Zahl der Vereinsgründungen in der Schweiz förmlich.12 Ein Sechstel aller Vereine, die bis 1914 entstanden, wurden bis 1860 gegründet, jedoch die Hälfte davon entstand ab 1880. Im ganzen 19. Jahrhundert entstanden in der Schweiz über 30‘000 Vereine.13

Eine Art von Verein, die auch schon früh im Jahrhundert auftauchte, war der Frauenverein. Über hundert solcher Frauenvereine entstanden in der Schweiz noch vor der Gründung des Bundesstaates 1848. Zum Beispiel als in den Jahren 1816 und 1817 aus klimatischen Gründen eine grosse Hungersnot herrschte. Um den Menschen in Not helfen zu können, wurden solche Frauenvereine ins Leben gerufen.14

Als erste feministische Frauenorganisation wird die 1868 in Genf gegründete Association internationale des femmes bezeichnet . 15 Diese forderten unter anderem das Stimmrecht der Frau, was auch einige ihrer Pendants in anderen europäischen Ländern taten. Die Prostitution als Hauptthema wurde erst ab den 1870er Jahren von Frauenvereine aufgegriffen.

2.3. Die abolitionistische Bewegung

Es war aber nicht nur das Jahrhundert der Vereine. Philipp Sarasin benennt in der Einleitung des Buches Wertes Fr ä ulein, was kosten Sie? das 19. Jahrhundert als „Zeitalter der Prostitution“. 16 So wurde in der Schweiz die Prostitution, trotz Aufrechterhaltung des Verbots der Kuppelei und des „Anwerbens“, teilweise toleriert und reguliert.

Diese Toleranz veranlasste zahlreiche Frauen dazu, eine Bewegung zu starten, deren Name an der amerikanischen Abolitionismus-Bewegung angelehnt war, die sich wiederrum gegen die Sklaverei richtete. So ähnlich der Name, so unterschiedlich scheinen die Zwecke auf den ersten Blick.17

Die jüngere der beiden abolitionistischen Bewegungen hatte ihre Wurzeln in Grossbritannien. Sie verbreitete sich ab den 60er Jahren in ganz Europa und sah die Prostitution als ihren Feind. Da die Möglichkeit einer freiwilligen Ausübung der Prostitution grundsätzlich ausgeschlossen wurde, wurde die Prostitution selber als eine Art Sklaverei betrachtet, was die Namensgebung der Bewegung erklärt.18 Dass diese Sichtweise auch in der Schweiz zu Kontroversen führte, ist naheliegend, da schon seit den 1840 Jahre in Zürich Bordelle toleriert wurden.

So brachte die Anführerin der englischen abolitionistischen Bewegung selber die Bewegung in die Schweiz. Zunächst zumindest in die französische Schweiz. Josephine Butler hatte Verwandte in Genf, durch die es ihr gelang mit einigen einflussreichen Persönlichkeiten Kontakt aufzunehmen. Nach einer Vortragsreise begann die Bewegung also auch in der Westschweiz zu wachsen. Aus zwei ursprünglichen Organisationen wurde 1875 das Comit é intercantonal de dames de la Suisse. Ab den 1870er Jahren verbreitete sich durch die internationale Organisation Freundinnen junger M ä dchen die abolitionistische Bewegung auch in der Deutschschweiz, wenn auch eher gemächlich . 1877 schlossen sich Frauen aus der Westschweiz und aus Bern an einem internationalen Kongress der F é d é ration abolutioniste internationale in Genf zum Schweizerischen Frauenbund zur Hebung der Sittlichkeit zusammen.19 Bereits wurde neben der Forderung zur Hebung der Sittlichkeit auch die Forderung nach mehr Gleichberechtigung gestellt. Dadurch lässt sich die Sittlichkeitsbewegung, also der Schweizer Ableger der abolitionistischen Bewegung, in Verbindung mit der Frauenbewegung setzen.20

In einem Rückblick von 1976 auf die Entstehung des Schweizerischer Evangelischer Verband Frauenhilfe (bis 1929 noch Verband deutschschweizerischer Frauenvereine z.H.d.S.), datierte die Autorin den Ursprung der Bewegung schon auf das Jahr 1839. Die Britin Elizabeth Fry trat damals für weibliche Strafgefangene ein und konnte in der Schweiz Frauen zum Nachahmen und zu Vereinsgründungen animieren. Die Vereine setzten sich schon für „Opfer der Verführung, der Kuppelei und des Mädchenhandels“ ein. Dadurch soll Josephine Butler 1875 in der Schweiz „einen gut vorbereiteten Boden“ vorgefunden haben.21

[...]


1 Joris Elisabeth, Evangelischer Frauenbund der Schweiz (EFS), in: Historisches Lexikon der Schweiz, <http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D25753.php>, 09. März 2017.

2 Hürlimann Brigitte, Prostitution ist nicht sittenwidrig, in: Neue Zürcher Zeitung, Dezember 2003, <https://www.nzz.ch/zuerich/prostitution-ist-nicht-sittenwidrig-1.18197438>, 15. März 2017.

3 Sarasin Philipp, Prostitution, in: Historisches Lexikon der Schweiz, <http://www.hls-dhs- dss.ch/textes/d/D16559.php>, 09. März 2017.

4 Ruckstuhl/Puenzieux, "Dem Schwachen ein Schutz, dem Laster ein Damm", 219. 2 Jonathan Ernst

5 Pfeifer Wolfgang, Sitte, in: Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart, <https://dwds.de/wb/Sitte>, 09. März 2017.

6 Ebd.

7 Binkelmann Christoph, Phänomelogie der Freiheit, 5-6.

8 Sarasin Philipp, Prostitution, in: Historisches Lexikon der Schweiz, <http://www.hls-dhs- dss.ch/textes/d/D16559.php>, 09. März 2017. Jonathan Ernst

9 Sarasin Philipp, Prostitution, in: Historisches Lexikon der Schweiz, <http://www.hls-dhs- dss.ch/textes/d/D16559.php>, 09. März 2017.

10 Hürlimann, Prostitution, 6.

11 Engel, Gesundheitsberatung in der Pflege, 110.

12 Gull Thomas, Vereine, in: Historisches Lexikon der Schweiz, <http://www.hls-dhs- dss.ch/textes/d/D25745.php>, 09. März 2017.

13 Ebd. Jonathan Ernst

14 Gull Thomas, Vereine, in: Historisches Lexikon der Schweiz, <http://www.hls-dhs- dss.ch/textes/d/D25745.php>, 09. März 2017.

15 Ebd.

16 Sarasin, Einleitung, 2.

17 Ebd.

18 Hürlimann, Prostitution, 5. Jonathan Ernst

19 Jenzer, Die «Dirne», der Bürger und der Staat, 91; Gosteli-Archiv Bern, Archiv Schweizerischer Evangelischer Verband Frauenhilfe. SIGN.: AGoF 124: A 2: 1, Rückblick auf 75 Jahre Frauenhilfe: Schweizerischer Evangelischer Verband Frauenhilfe.

20 Joris Elisabeth, Frauenbewegung, in: Historisches Lexikon der Schweiz, <http://www.hls-dhs- dss.ch/textes/d/D16497.php>, 09. März 2017.

21 Gosteli-Archiv Bern, Archiv Schweizerischer Evangelischer Verband Frauenhilfe. SIGN.: AGoF 124: A 2: 1, Rückblick auf 75 Jahre Frauenhilfe: Schweizerischer Evangelischer Verband Frauenhilfe. Jonathan Ernst

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Entwicklung der Schweizer Sittlichkeitsbewegung. Der Verband Deutschschweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit
Hochschule
Université de Fribourg - Universität Freiburg (Schweiz)
Veranstaltung
Zeitgeschichte
Note
gut
Autor
Jahr
2017
Seiten
22
Katalognummer
V377631
ISBN (eBook)
9783668550476
ISBN (Buch)
9783668550483
Dateigröße
593 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sittlichkeitsbewegung, schweiz, Sexarbeit, Prostitution, Vereine, Sittlichkeit
Arbeit zitieren
Jonathan Ernst (Autor:in), 2017, Entwicklung der Schweizer Sittlichkeitsbewegung. Der Verband Deutschschweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/377631

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