Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2. Das Ophelia-Motiv in der Literatur
2.1 Die Ursprünge bei Shakespeare
2.2 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Rimbauds Adaption
2.3 Die Vitalität des Todes bei Heym
2.3.1 Gegenüberstellung von Natur und Stadt
2.3.2 Der Tod in Symbiose mit der Natur
2.3.3 Der Tod als Wunschvorstellung
3 Fazit
Literaturverzeichnis
5 Anhang
1 Einleitung
„Heym liebte das Leben. Mit großer Alb-Angst zitterte er vor dem Aufhören. Aber er beneidete gleichwohl diejenigen, die aufgehört hatten.“1
Eine solche Einstellung gegenüber dem Leben gleichwie dem Tod ist typisch für Georg Heyms gesamtes Werk, das immer wieder die Gratwanderung zwischen diesen beiden Gegensätzen thematisiert. Auch sein Gedicht Ophelia 2 reflektiert diese Tendenz.
Ziel dieser Hausarbeit ist es, den Zustand des Todes unter dem Aspekt der Vitalität zu betrachten. Wird der Tod wirklich als etwas Abgeschlossenes und Trostloses dargestellt? Inwiefern schafft es Heym, die Tote Ophelia in eine Wechselwirkung mit der Natur treten zu lassen? Wird am Ende der Tod sogar als Wunschvorstellung angesehen, als ein Zustand, der im Gegensatz zum Leben als erstrebenswert gilt?
Zu diesem Zweck erscheint es sinnvoll, die Ophelia-Figur in ihrem literarischen Kon- text zu sehen und Heyms Adaption mit Shakespearesches Ursprungstext zu vergleichen. Die Parallelen zu Rimbaud, welchen Heym überaus bewunderte, erscheinen auch inhalt- lich von signifikanter Bedeutung, weswegen darauf im Folgen näher eingegangen wird.
Neben diesem literaturhistorischen Überblick liegt das Hauptaugenmerk natürlich auf Heyms Werk selbst und seiner Darstellung des Todes. Dafür ist die Gegenüberstellung von Natur und Stadt elementare Grundlage sowie die symbiotischen Verhältnisse, welche Ophelia mit der Natur eingeht. Dadurch soll die Lebhaftigkeit des Todes in den Vorder- grund geschoben werden und die anfängliche These von einer morbiden Vitalität grund- legend stützen. Dass der Tod eine Wunschvorstellung ist, wird zuletzt mithilfe der Freud- schen Triebtheorie sowie Tagebucheinträgen von Heym selbst beleuchtet.
2. Das Ophelia-Motiv in der Literatur
2.1 Die Ursprünge bei Shakespeare
Die Ophelia Figur taucht erstmals in Shakespeares Hamlet auf und erfüllt die Rolle einer unglücklich Verliebten, die vom dänischen Prinzen zurückgewiesen und deren Va- ter obendrein von diesem getötet wird. Die Parallelen zu Heyms Version sind allerdings nicht immer klar ersichtlich. Zum einen bleibt in Heyms Gedicht der Grund für Ophelias Tod unklar, denn sie erscheint bereits am Anfang als Wasserleiche. Lediglich in den Ver- sen „[…] Und eine Weide weint / Das Laub auf sie und ihre stumme Qual“(V 15/16) besteht eine wörtliche Reminiszenz an Shakespeares Original. Dor heißt es: „Es neigt ein Weidenbaum sich übern Bach / […] Ins weinende Gewässer“(V 1).3 Hier wird eine starke Verbundenheit zwischen der Leiche und der Natur deutlich, denn in beiden Fällen ist es lediglich ein Baum, der seine Trauer für den Tod des Mädchens bezeugt. Während Shake- speare andere Menschen nicht einmal erwähnt, tauchen sie bei Heym lediglich als Masse auf. Ein „Menschenschwarm“(V 38), der vor Ophelia zurückschreckt, aber im Gegensatz zur (Trauer-)Weide keinerlei Mitleid empfindet.4
Doch erscheint Ophelias Tod nicht zwangsläufig als Schreckensbild, denn in Hamlet singt sie noch „Stellen alter Weisen“(V 12) während sie ertrinkt. Auch Heym stellt sie als einen „Vogel“(V 19) dar und spielt damit auf die Musikalität eines zwitschernden Vogels an. Dieser Vergleich aus dem Tierreich spiegelt erneut eine starke Verbundenheit mit der Natur wider. Auch Shakespeare bezeichnet sie als „ein Geschöpf, geboren und begabt / für dieses Element“(V 14/15), womit natürlich Wasser gemeint ist. Es ist die Grundlage allen Lebens, insofern verschmilzt Ophelia in Hamlet praktisch mit dem Ursprung des Lebens. Sie ist „geboren und begabt“ für ein Element, das zugleich ihren Tod bedeutet. Am Ende wird sie singend von ihren wassergetränkten Kleidern auf den Grund gezogen und ertrinkt. Dieser Tod wiederum erscheint weniger glanzvoll, sondern „schlammig“ und endgültig. Heym allerdings greift diese naturgegebene Hingabe für das Element Was- ser an vielen Stellen wieder auf. Ophelia schwimmt beispielsweise „in der Flut Geleit“ (V 37) und sinkt somit auch nicht zu Boden, sondern gleitet auf der Oberfläche. Obwohl sie auch untertauchen kann und „durch manchen Winters trauervollen Port“(V 46) bis- weilen zum Stillstand kommt, so zieht sich dies durch Ewigkeiten fort. Sie stirbt sozusa- gen immer wieder und ist damit paradoxerweise nie wirklich tot .
2.2 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Rimbauds Adaption
Die großen Ähnlichkeiten zwischen Heym und Rimbaud sieht man bereits an dem gleichnamigen Titel ihrer Gedichte. Während Rimbaud jedoch im Text den Namen Ophélias häufiger verwendet, taucht er bei Heym nur im Titel auf. Lediglich der Traum „von eines Kusses Karmoisin“(V 23) erinnert an Shakespeares Ophelia, die in großer Liebe zu Hamlet entbrannt ist. Rimbaud hingegen spielt offenkundig auf den Originaltext an, wenn er direkt von dem „Poète“(V 33) spricht oder ihr Ertrinken beschreibt: „Tu viens chercher, la nuit, les fleurs que tu cuellis, / Et qu’il a vu sur l’eau, couchée en ses longs voiles“(V 34/35).5
Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in der Personifizierung der Natur. Rimbaud schreibt von der „Stimme der Natur“(V 24), die Ophelia in dem „Seufzerlaut der Bäume und im Klagen der Nacht“(V 23) vernimmt. Sie ist geborgen im Wasser und wird von allerlei Naturphänomen beschützt, beispielsweise den goldenen Sterne, welche einen „Weiheklang“(V 16) auf sie niederfallen lassen. Auch die Lüfte „küssen ihre Brüste sacht“(V 9) und erzeugen damit das Bild eines kuriosen Liebespaares. Ophelia ist ver- mählt mit der Natur. Sie trägt sogar einen Schleier, der vom Wind zu Blüten aufgebauscht und vom Wasser gewogen wird. Der Weiheklang kann folglich als Hochzeitsgeläut gese- hen werden, der den ersten Teil des Gedichts auch inhaltlich abschließt. Eine solche amouröse Bindung zur Natur findet man bei Heym allerdings nicht. Bei ihm stehen Prag- matismus und Realität im Vordergrund, wenn junge Wasserraten in Ophelias Haar nisten und darin ein Zuhause finden können. Sie erfüllt damit eher einen Zweck als dass man von einer Liebesbeziehung sprechen könnte.
Interessanterweise kommen bei Rimbaud Menschen, abgesehen von Ophelia selbst, nur ein einziges Mal vor. Es sind die „Jagdrufe“(V 4), die fern aus dem Wald zu hören sind. Der Mensch wird hier also als ein Jäger dargestellt, der sich weit weg von Ophelia befindet. Von Mitleid für, geschweige denn von Wissen um Ophelias Schicksal kann hier nicht die Rede sein. Und mehr noch, die Aufgabe von Jägern besteht in dem Töten von Tieren, welche man für gewöhnlich eng mit dem Naturbegriff verbindet. Das Bild des Jägers ist demnach ein Feind der Natur und steht im krassen Gegensatz zu Ophelia, die mit der Natur sogar vermählt ist. Der Unterschied zwischen ihr und den Jägern ist der, dass sie tot ist. Im Tod erfährt der Mensch anscheinend ein „fortgeführtes Leben“, ein Leben in Verbundenheit mit der Natur, was Lebende nicht erreichen können. Heym ar- beitet mit einer sehr ähnlichen Metaphorik. Ophelia erfüllt jedoch zudem die Funktion einer Warnung, weil „die Leiche als inneres Bild den Stadtbewohnern ihr eigenes Los, die Einsamkeit, den anonymen Tod vor Augen führt“.6 In diesem Kontext weist sie bei- nahe schon Merkmale von dramatischer Ironie auf. Der Leser kennt die Geborgenheit, in welcher sich Ophelia befindet, ganz im Gegensatz zu den Menschen in dem Gedicht selbst. Während wir als Leser Ophelia als ein glückliches Geschöpf erachten, erschrecken sich die Sterblichen im Gedicht vor ihr. Ihnen fehlt die nötige Distanz auf die Dinge, die Heym sehr gut schafft, indem er den Leser auf die Reise Ophelias mitnimmt und die Welt aus ihrer Perspektive schildert.
Aber zurück zu Rimbaud, der die Menschen zunächst mit der Jagd in Verbindung bringt. Sie ist von einer starken Dynamik bestimmt, die vom Anpirschen über das Erlegen bis zum Verarbeiten der Beute reicht. Diese Schnelligkeit suchen wir bei Ophelia verge- bens. Sie ruht in sich und schwimmt „sur l’onde calme“(V 1), auf den stillen Wellen. Dadurch wird sie als ein friedvolles, dem tötenden Jäger entgegengesetztes Wesen, dar- gestellt. Bei Heym finden wir eine ähnliche Passivität Ophelias - was gewissermaßen auch ein Spezifikum für Leichen ist. Und doch ist allein die Reise, die Ophelia zurücklegt, Dynamik per definitionem. Sie beginnt ihre Reise im „großen Urwald“(V 4), besucht die gelben Felder der Bauern, scheucht die Menschen in der Stadt auf und treibt am Ende „durch Ewigkeiten fort“(V 47). Bei Rimbaud sind es lediglich die Winde, die „von Nor- wegs Gletschern wehn“(V 20), welche Dynamik zeigen. Ophelia selbst bleibt die ganze Zeit über - und das sind immerhin „mehr als tausend Jahre“(V 6)- in der gleichen Szene- rie. Diesen Stillstand unterbricht Heym und erzeugt damit eine Art „Dynamik des Todes“.
In dieses Bild passt Ophelias Träumerei, von der wir in beiden Gedichten erfahren. Bei Rimbaud wird die Tote von dem Rascheln eines Vogels geweckt während sie in den Fluten dahintreibt. Sie träumt von Liebe, Freiheit und Seligkeit. Mit ersterem ist wohl die unerwiderte Liebe zu dem Dänenprinzen gemeint, der in der Strophe davor direkt erwähnt wird.
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1 Heinrich Eduard Jacob über Georg Heym. In: Schneider, Nina, Heym, Georg: Am Ufer des blauen Tags. Georg Heym; sein Leben und Werk in Bildern und Selbstzeugnissen, 2000, S. 205.
2 Alle Verweise sind aus dieser Version übernommen: Benn, Gottfried: Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts, 1955, S. 71f.
3 Alle Belege sind aus: Shakespeare, William: Hamlet. Drama. Fischer, 90034 Fischer Klassik, 2008.
4 Vgl. „ Doch wo sie treibt, jagt weit den Menschenschwarm / mit großem Fittich auf ein dunkler Harm“
5 Alle Belege sind entnommen aus: Rimbaud, Arthur, Barck, Karlheinz: Gedichte. Französisch und deutsch. Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 1271, 1989
6 Bayer, Frauke: Mythos Ophelia. Zur Literatur- und Bild-Geschichte einer Weiblichkeitsimagination zwi- schen Romantik und Gegenwart. Literatura, Bd. 21, 2009, S. 43.