Die (kriminologische) Täuschung in Bertolt Brechts "Der Aufstieg des Arturo Ui"

Eine Untersuchung der Rezeptionssteuerung als Mittel zur antifaschistischen Erkenntnisförderung beim Rezipierenden


Seminararbeit, 2017

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zur detektivischen Rolle des Rezipierenden

3. Zum Täuschungskonzepts in Der Aufstieg des Arturo Ui

4. Eine exemplarische Untersuchung der Rezeptionssteuerung

5. Zur Faschismuskritik Bertolt Brechts in Der Aufstieg des Arturo Ui

6. Schlussfolgerungen und Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„[T]he gangster play we know“ (Brecht 1973, S. 249).

Mit dieser Formulierung verweist Brecht in seinem Arbeitsjournal am Anfang seines Schaffensprozesses zum Theaterstück Der Aufstieg des Arturo Ui auf seine Intention, gesellschaftliche Vorgänge in das Bewusstsein der Rezipierenden zu rufen und damit den kritischen Blick dieser auf eben solche (kriminellen) Handlungen zu lenken (vgl. ebd.; Knopf 1980, S. 379; Gerz 1983, S. 163; Köhler 2004, S. 157).

Dieser Hinweis auf bereits bekannte Ereignisse sollte dabei mindestens zweidimensional betrachtet werden: Erstens in Hinblick auf den Nationalsozialismus unter Adolf Hitler. Zu solchen Hinweisen gehören unter anderem prägnante Parallelen, sowohl zwischen Charakteren der fiktiven und der realen Welt[1], wie beispielweise zwischen Arturo Ui und Adolf Hitler. Hinzu kommen jeweils am Ende einer Szene Einblendungen zum Hintergrundwissen über relevante politische Ereignisse der Machtergreifung Hitlers, welche jeweils die Ähnlichkeiten dieser Ereignisse mit dem zuvor Dargestellten unterstreichen (vgl. Brecht 2004, S. 24, 33, 44, 54, …; Gerz 1983, S. 164). Diese Parallelen werden durch die Entstehungszeit des Stücks[2] sowie durch eigene Aussagen Brechts zusätzlich unterstrichen (vgl. Knopf 2001, S. 461).

Zweitens verweist das Stück durch vielfältige Bezüge auf Bandenkriege, die Brecht während seiner USA-Reise im Jahr 1935 erlebte. Helfried W. Seliger (1974, S. 203-218) konnte in diesem Zusammenhang nachweisen, dass der Werdegang Arturos mit dem des berühmten „Chicagoer Gangsters Al Capone“ (Knopf 2001, S. 461) kongruent ist[3]. Auch die vielfältige Verwendung von Anglizismen[4] sowie die Übernahme der im amerikanischen Gangstermilieu üblichen rackets sind Indizien für den benannten Bezug . Racketeering bezeichnet dabei die Vorgehensweise, „Kunden[5] zur Abnahme von Waren“ (Köhler 2004, S. 154) zu zwingen und diese zudem gegen eine hohe Vergütung Schutzmaßnahmen vor weiteren Raubüberfällen derselbigen zuzusagen (vgl. Knopf 2001, S. 461; Knopf 1980, S. 230). Auch die Praxis, „des organisierten Verbrechens, die Verwaltung und die Politik zu durchdringen und sich durch Korruption und Wahlbeeinflussung den Rücken für seine Geschäfte freizuhalten“ (Knopf 2001, S. 461) wird von den Gangstern in Der Aufstieg des Arturo Ui ausgeübt.

In dem Transfer, der von Brecht empfundenen, aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen (Nationalsozialismus und amerikanisches Gangsterwesen) ins epische Theater, findet sich eine Verfremdung des jeweils anderen, die mit der von Brecht gehegten Angst der „mangelnden historischen Reife“ (Werkwerth 1967, S. 38) der zeitgenössischen Rezipierenden einhergeht. Zudem findet sich in dieser Parallelität eine für Brecht charakteristische Faschismuskritik (vgl. Gerz 1983, S. 59ff.; Thiele 1990, S. 12ff.). Der Beweggrund und die Schwierigkeit eine solche Kritik in Form von Literatur und Theater auszuüben, zeigt sich anschaulich an folgender Äußerung Brechts:

Der Autor

[…] muss den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl die allenthalben unterdrückt wird; die Klugh eit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die Kuns t, sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List, sie unter diesen zu verbreiten. (Brecht 1958, S. 87, Herv. i. O.)

Auf Grundlage dieses Ausspruchs widmet sich die folgende Hausarbeit der Untersuchung, inwiefern Brecht in Der Aufstieg des Arturo Ui „die ‚Verhüllung‘, (die eine Enthüllung ist)“ (Brecht 1973, S. 251) konzipiert und vor dem Hintergrund strategischer Täuschungsversuche der Gangsterfiguren seine (subjektive) Wahrheit[6] offenlegt. In diesem Zusammenhang erfolgt eine Fokussierung auf die Rezeptionssteuerung als Mittel zur Erkenntnisförderung beim Rezipierenden. Dazu wird im Folgenden zunächst die detektivische Rolle des Rezipierenden, ausgehend von der Brechts Anforderungen an den Rezipierenden des Stückes, dargestellt.

2. Zur detektivischen Rolle des Rezipierenden

Bereits die Form des epischen Theaters weist auf die von Brecht intendierte Rolle des Rezipierenden hin. Das epische Theater zeichnet sich laut Jan Knopf durch die angestrebte kritische Beobachterrolle des Rezipierenden aus, dessen Aktivität durch das „Aufdecken von Widersprüchen“ (Knopf 1980, S. 396) geweckt werden soll. Der Rezipierende soll gemäß dieser Argumentation an (Er)Kenntnis gewinnen, die vom Autor intendiert ist. Ziel ist es, dem Rezipierenden „seine[...] Produktivität [und] seine[...] gesellschaftsbestimmende[...] Macht“ (ebd.) vor Augen zu führen und ihm diesbezüglich sein Potenzial als „veränderlichen und verändernden Menschen“ (ebd.) bewusst zu machen. Statt beim Rezipierenden durch Mimesis (Nachahmung) Katharsis [7] herbeizuführen, versucht Brecht Distanz zwischen dem Rezipierenden und dem künstlerisch Dargestellten auf der Bühne zu bringen (vgl. ebd., S. 384). Durch diese soll beim Rezipierenden das Hineinfühlen oder die Identifikation mit den Handlungen und Figuren des Stückes verhindert werden, damit dem Rezipierenden die Differenz zwischen „Kunst und Wirklichkeit“ (ebd.) verdeutlicht wird. Mit der Distanz geht auch die Ratio einher, wodurch der Rezipierende die „Möglichkeit [erhält], sich über die gezeigten Vorgänge distanzierend zu ‚erheben’, sie zu reflektieren [und] kritisch zu beobachten“ (ebd.). Brechts Figuren sollen in diesem Sinne keine realen Menschen darstellen, sondern als Träger von schematischen Ideen, hinsichtlich gesellschaftlicher Abläufe, fungieren (vgl. ebd.). Ein Mittel zur Herstellung der Distanz ist dabei die Verfremdung von bereits Bekanntem mittels derer den historisch vertrauten Inhalten in Der Aufstieg des Arturo Ui „[...] das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende [genommen] und [...] Staunen und Neugierde [erzeugt wird].“ (Brecht 1988a, S. 554) Das Mittel der Verfremdung wird bereits im Prolog deutlich, welcher darauf aufmerksam macht, dass es sich im Theaterstück nicht nur um eine Schau handelt – respektive um eine Schau von einer unbekannten Geschichte, die sie an einem fernen Ort ab spielt – sondern gleichzeitig auf die Verfremdung eines bekannten heiklen Gegenstandes hinweist:

Verehrtes Publikum, wir bringen heute

[...] Die große historische Gangsterschau.

[...] Es gibt den oder jenen heiklen Gegenstand

An den ein gewisser zahlender Teil des geehrten

Publikums nicht wünscht erinnert zu werden.

Deshalb fiel unsre Wahl am End

Auf eine Geschichte, die man hier kaum kennt

Spielend in einer weit entfernten Stadt

Wie es sie dergleichen hier nie gegeben hat. (Brecht 2004, S. 9)

Die vordergründige Intention dieser Verfremdung liegt laut Johannes Goldhahn (1961, S. 108) darin, besagte Mimesis beim Rezipierenden zu verhindern. Im Hinblick auf die von Brecht innerhalb Arturo Uis inszenierte Verfremdung kann gar von einer Doppelverfremdung gesprochen werden:

Zum einen die Transferierung der benannten Parallelen zum heiklen Gegenstand im Sinne der Verbrechen durch die Nationalsozialisten in den Kontext des kärglichen Gemüsehandels, welche beim Rezipierenden einen kritischen Umgang mit den historischen Ereignissen während der Zeit Adolf Hitlers fördert. Zum anderen deutet Brecht durch die Formulierung „Gangstermilieu und großer Stil“ (Brecht 1973, S. 250) auf das sogenannte Goldene Zeitalter (1558-1603) und auf die Weimarer Klassik hin, welche durch ihre hohen moralischen Maßstäbe gekennzeichnet sind und dementsprechend im Gegensatz zu den kriminellen Machenschaften der Nationalsozialisten sowie der, in den 30er Jahren aufblühende, Gangsterbanden stehen. Die Parallelität zu den Dramen der benannten Zeitalter in Der Aufstieg des Arturo Ui entsteht zudem durch den konsequenten Gebrauch charakteristischer, sprachlich-stilistischer Merkmale. Zu solchen gehören unter anderem der Blankvers sowie der ungereimte fünfhebige Jambus. Die Unangemessenheit dieser „Kunstsprache [steht] im Gegensatz zum Slang der Gangsterwelt und der propagandistischen Sprache der Nationalsozialisten“ (Köhler 2004, S. 158) und führt gemeinsam mit der thematischen Transferierung zu einer doppelten Verfremdung (vgl. ebd.).

Um diese Verfremdung beim Rezipieren des Stückes wiederum zu entschlüsseln, erfordert es einen aktiven Beobachter, welcher, ähnlich wie ein Detektiv, eine mutmaßlich kriminelle Person „beobachte[t] und unauffällig Ermittlungen über dessen Tun und Verhalten an[stellt]“ (Duden 2010, S. 268; Herv. HM), die Charaktere des Stücks beobachtet und deren „Tun und Verhalten“ (ebd.) auf die reale Welt rückbezieht: „Wir [– die Rezipierenden –] haben Unstimmigkeiten zu entdecken“ (Brecht 1938/1940, S. 35) und werden ebenso wie der Detektiv eines Kriminalromans auf narrativer Ebene mit der Anforderung des logischen Schlussfolgerns konfrontiert. Das heißt, die Aufgabe des Rezipierenden besteht im „Beobachtungen-Anstellen, daraus Schlüsse-Ziehen und damit Zu-Entschlüssen-Kommen“ (ebd.). Dem Rezipierenden kommt also eine detektivische Rolle zu, da dieser vor ähnliche Anforderungen wie ein Detektiv gestellt wird. Allerdings handelt es sich bei der Rolle des Rezipierenden weder um eine berufliche noch um eine, die unter dem Deckmantel der Geheimhaltung agiert (vgl. ebd.) und entspricht somit nur zu Teilen der eines Detektivs. Um eine klare begriffliche Grundlage für unsere Untersuchungen zu schaffen, wird im Rahmen dieser Arbeit abgeschwächt von einer detektivischen Rezipierendenrolle gesprochen.

Grundlage dieser detektivischen Haltung ist dabei die Auseinandersetzung mit Gelegenheiten, die Brecht (ebd., S. 36) als „höchst uneindeutig, verhüllt, verwischt“ (ebd.) bezeichnet. Eben solche Verhüllungen entstehen in Der Aufstieg des Arturo Ui nicht nur durch die doppelte Verfremdung, sondern vornehmlich durch das von Arturo Ui und seinen Gangstern auf narrativer Ebene konstruierte Täuschungskonzept.

3. Zum Täuschungskonzepts in Der Aufstieg des Arturo Ui

Herr Givola, Gewalt führt nie zum Ruhme.

Jedoch zum Ziel. Wir sprechen durch die Blume. (Brecht 2004, S. 109)

Anhand des Zitats wird deutlich, dass die Gangster durch die Blume sprechen, das heißt mittels Verhüllung und Täuschung ihre kriminelle Macht ausweiten. Diese Ausweitung der Macht gründet auf der wirtschaftlichen Zwangslage des Chigagoer Karfiolhandels. Arturo nutzt die finanzielle Bedrängnis der Händler aus, indem er ihnen ein von ihm entworfenes Schutz konzept aufzwingt. Dieses besteht einerseits aus dem Zwang der Abnahme des Karfiols durch Grünzeughändler zur Ankurbelung des Geschäfts:

Er verspricht

Den Umsatz zu verdoppeln, weil die Händler

Nach seiner Meinung lieber noch Karfiol

Als Särge kaufen. (ebd., S. 12)

Andererseits besteht das Schutz konzept aus dem Versprechen des Schutzes vor Überfällen, wobei der Ausruf der Figur Betty Dullfeet „Gott schütz uns vor dem Schützer!“ (ebd., 118) zeigt, dass es sich dabei um einen zweifachen Schutz handelt: sowohl durch als auch vor der Gangstergruppierung selbst. Obwohl immer wieder deutlich wird, dass Arturo und seine Gangster selbst der Ursprung aller kriminellen Machenschaften sind, rücken diese in der gesamten Handlung nicht vom Täuschungskonzept des Schützers ab.

Für die Aufrechterhaltung dieses Konzepts nutzt er dabei eine Kombination unterschiedlicher Strategien, welche er an die jeweiligen Adressaten anpasst: So ist es Ui selbst, der auf die Relevanz hinweist, „die kleinen Leute“ (ebd., S. 58) zu überzeugen. Für diese Überzeugungskraft engagiert er eigens einen Schauspieler[8], um letztendlich durch sein einstudiertes „Gehen“ (ebd., S. 55), „Stehen“ (ebd. 57), „Sitzen“ (ebd., S. 59) und „Reden“ (ebd., 60) im „großen Stil“ (ebd., S. 55) aufzutreten; ebenso „[...] wie sich der kleine Mann halt seinen Herrn vorstellt.“ (ebd., S. 58).

Da aber Reden und bürgerliches Gebaren allein nichts nützen, die Gemüsehändler, die kleinen Leute einzuschüchtern, ist es nötig, ihnen zu zeigen, dass sie in großer Gefahr sind und sich Uis ‚Schutz’ gefallen lassen müssen. (Knopf 1980, S. 232)

Dazu wird den kleinen – aber auch den großen – Leuten gedroht und es kommt zu regelmäßigen Todesfällen und Brandanschlägen bei jenen, die sich Arturo und seinen Gangstern in den Weg stellen. Anders als im Hinblick auf die kleinen Leute, sieht die Figur Arturo für die großen Leute nicht die Notwendigkeit, ihnen mit seinem Auftreten im großen Stil zu imponieren, denn „[...] für seinesgleichen [...] genügt sein Bankguthaben, gradso [w]ie für bestimmte Zwecke kräftige Jungens [ihm] den Respekt verschaffen.“ (Brecht 2004, S. 58)

Zusätzlich versucht Ui, der bisherigen Verbrechen überdrüssig geworden, sich durch Korruption von Justiz und Polizei vor dessen Fahndung zu schützen (vgl. Gerz 1983, S. 234):

Erst brauch ich selber Schutz. Vor Polizei

Und Richter muss ich erst geschützt sein, eh

Ich andre schützen kann. ´s geht nur von oben. (Brecht 2004, S. 26f.)

Maßgeblich von Bedeutung für Arturos Aufstieg in eine derartige gesellschaftliche Machtposition ist dabei seine Übereinkunft mit Dogsborough, „de[m] alte[n] Sonntagsschüler“ (ebd., S. 27). Als Arturo durch Zufall davon erfährt, dass Dogsborough aufgrund einer List der Karfiolhändler sowie aus Gründen der „Gier [n]ach Reichtum und aus Angst“ (ebd., S. 82) korrupt geworden ist und dies durch Untersuchungen der Stadtverwaltung publik zu werden droht, nutzt er Dogsboroughs Notsituation, um diesen zum gegenseitigen Schutz zu einer Zusammenarbeit zu zwingen. Dogsborough fungiert, wenn auch mit immensen Widerwillen (vgl. Brecht 2004, S. 41), fortan als Meinungsführer Uis:

Wenn das kein Schlager! Der Dogsborogh!

Das rostige alte Aushängeschild! Der biedre

Verantwortungsbewusste Händedrücker!

Der unbestechliche wasserdichte Greis! (ebd., S. 32)

Im Hinblick auf all diese Strategien ist Arturos Auftreten stets durch ein übersteigertes Pathos geprägt (vgl. Gerz 1983, S. 236). Zum einen macht er häufig auf seine Herkunft als „einfache[r] Sohn der Bronx“ (Brecht 2004, S. 65) aufmerksam, mit welcher sich die meisten Bürger identifizieren können und die zugleich seinen bewundernswerten Werdegang betont. Zum anderen wird seine Position auf „das Wirken transzendenter Mächte“ (ebd.) zurückgeführt. Arturos Täuschungskonzept beruht dementsprechend auf einer Kombination aus (angedrohter) Gewalt, (sprachlichem) Auftreten und (mächtigen) Verbündeten.

Besagte Konsequenz, die Arturo bei der Aufrechterhaltung dieses Täuschungskonzepts beweist, zeigt sich vornehmlich daran, dass er nicht von seinem Täuschungsbild als Schützer abweicht, auch wenn stets kritische Stimmen laut werden, die dieses in Frage stellen (vgl. Brecht 2004, S. 102). Diese kritischen Stimmen verweisen zudem darauf, dass besagte Täuschung auch auf narrativer Ebene für die Figuren teilweise sehr „leicht zu durchschauen“ ist (Gerz 1983, S. 157). Das grundlegende Motiv dieser Konsequenz benennt Arturo schlussendlich in seiner Rede vor den Chicagoern und Ciceroern selbst:

Halbherziges Zustimmen ist mir widerlich.

Was ich verlange, ist ein freudiges ‚Ja!’ (ebd., S. 124)

Trotz kritischer Stimmen bekommt Arturo stets zumindest ein erzwungenes Ja, da sowohl die kleinen als auch die großen Leute nicht mächtig genug sind, um gegen Arturo und seine Gangster vorzugehen (vgl. Gerz 1983, S. 238). Es gibt also trotz der Thematisierung krimineller Machenschaften keine Figur, die einem Detektiv nahekommt, das heißt eine Figur, die „das Rätsel löst“ (Brecht 1938/1940, S. 34) beziehungsweise das Täuschungskonzept der Gangster für den Rezipierenden auf narrativer Ebene durchschaubar macht. Stattdessen wird der Rezipierende gemäß Brechts Vorstellung des Lesenden[9] eines Kriminalromans „[...] instandgesetzt, die Lösung selber in Angriff zu nehmen.“ (ebd.)

4. Eine exemplarische Untersuchung der Rezeptionssteuerung

Inwiefern der Rezipierende in Arturo zum Enträtseln der Täuschung befähigt wird, das heißt mit Brechts Worten die „Verhüllung“ (Brecht 1973, S. 251) eine „Enthüllung“ (ebd.) wird, soll im Folgenden mit Betrachtung der Sprache, der Regieanweisungen, der Leerstellen sowie der historischen Einschübe ermittelt werden.

Wie bereits im vorherigen Abschnitt deutlich wurde, fungiert die Sprache als Instrument sowohl zum Aufrechterhalten des Täuschungskonzepts als auch zur Enthüllung desselbigen für den Rezipierenden. Da ersteres bereits dargestellt wurde, konzentrieren wir uns an dieser Stelle auf die Analyse des Einsatzes der Figurenrede in Der Aufstieg des Arturo Ui, um die Erkenntnis des Rezipierenden zu fördern.

Zunächst ist in diesem Zusammenhang auf den Protagonisten Arturo Ui zu verweisen. Im vorangegangenen Abschnitt wurde dazu bereits festgehalten, dass dieser durch ein übersteigertes Pathos gekennzeichnet ist. Indem Ui sich in der zuvor thematisierten Szene durch den Schauspieler im Reden schulen lässt, erhält die Form seiner Sprache zudem die bereits beschriebenen eklatanten Merkmale des großen Stils:

[...]


[1] Eine detaillierte Auflistung dieser Parallelitäten findet sich bei Gerz (1983, S. 165).

[2] Auch wenn erste Niederschriften Brechts (1973, S. 249) bereits im Jahr 1935 auf sein Vorhaben hinweisen, entsteht Der Aufstieg des Arturo Ui schlussendlich erst 1941.

[3] Eine detailliertere Beschreibung dieser Gemeinsamkeiten findet sich bei Knopf (1980, S. 230 und 2001, S. 461). Zudem wird der Name Capones auch im Primärtext genannt (vgl. Brecht 2004, S. 28, S. 30)

[4] Exemplarisch zeigt sich dies an der Aussage Butchers, dass Dogsborough ihren Antrag als fischig bezeichnet hätte (vgl. Brecht, S. 20). Der Ausdruck fischig ist aus dem Englischen (fishy) entlehnt.

[5] In Der Aufstieg des Arturo Ui sind die Kunden die Grünzeughändler.

[6] Wahrheit wird im Sinne konstruktivistischer Theorien in dieser Arbeit als subjektives Konstrukt betrachtet. Diese Perspektive ist von der Grundannahme geprägt, dass „[...] Wahrnehmung keine Gegebenheiten einer von uns unabhängigen Realität abbildet.“ (Lindemann 2006, S. 13). Das bedeutet, dass wir ausschließlich Modelle von Realität entwerfen, die weder auf Wahrheitsgehalt, noch auf Objektivität überprüfbar sind und sich deshalb durch Subjektivität auszeichnen. Im Zusammenhang mit Brechts Faschismuskritik wird diese häufig als seine Wahrheit tituliert und im Zuge dessen vielfach kritisiert (vgl. dazu u. a. Lindner 1975, S. 233ff.). Diese Betitelung sowie die damit einhergehende Kritik werden in Abschnitt 5 näher erläutert.

[7] Der Begriff Katharsis geht auf Aristoteles zurück und bezeichnet die „ästhetische Einstellung [...], die den Zuschauer aus den realen Interessen und affektiven Verstrickungen seiner Lebenswelt in die Lage des leidenden oder bedrängten Helden versetzt, um durch tragische Erschütterung oder komische Entlastung eine Befreiung seines Gemüts herbeizuführen“ (Jauß 1982, S. 277).

[8] Mit dem Schauspielunterricht zeigt sich eine Parallele zwischen Ui und Capone: Auch Capone ließ sich von einem Lehrer unterrichten, um sich der Gesellschaft besser präsentieren zu können (vgl. Knopf 1980, S. 230).

[9] Brecht verwendet in seinem Aufsatz „Über die Popularität des Kriminalromans“ den Begriff Leser. Da Brecht vom Kriminalroman spricht, wir jedoch Bezug auf das epische Theaterstück Der Aufstieg des Arturo Ui nehmen, welches sich nicht nur mittels der Buchfassung lesen, sondern auch in Form der Bühnenrepräsentation rezipieren lässt, verwenden wir im Rahmen dieser Arbeit den weiter gefassten Begriff des Rezipierenden.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Die (kriminologische) Täuschung in Bertolt Brechts "Der Aufstieg des Arturo Ui"
Untertitel
Eine Untersuchung der Rezeptionssteuerung als Mittel zur antifaschistischen Erkenntnisförderung beim Rezipierenden
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg  (Germanistik)
Veranstaltung
Bertolt Brecht und der Kriminalroman
Note
1,0
Autoren
Jahr
2017
Seiten
20
Katalognummer
V378050
ISBN (eBook)
9783668553149
ISBN (Buch)
9783668553156
Dateigröße
562 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Aturo Ui, Bertolt Brecht, Täuschung, Rezeptionssteuerung
Arbeit zitieren
Annika Hartwig (Autor:in)Mareike Mönnich (Autor:in), 2017, Die (kriminologische) Täuschung in Bertolt Brechts "Der Aufstieg des Arturo Ui", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/378050

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