Möglichkeiten und Grenzen der Antipädagogik


Vordiplomarbeit, 2002

36 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Entwicklung antipädagogischer Ideen
2.1. Die Kinderrechtsbewegung
2.2 Heinrich Kupffer
2.3. Maud Mannoni
2.4. Ekkehard von Braunmühl
2.5. Katharina Rutschky
2.6. Alice Miller
2.7 . Hubertus von Schoenebeck

3. Dialoge zwischen Antipädagogen und Pädagogen:
3.1. Andreas Flitner: „Konrad sprach die Mama“
3.1.1. Diskussionsformen zwischen Vertretern der Pädagogik und Antipädagogik
3.1.2. Schulpflicht
3.1.3. Verantwortung für das Kind
3.2. Jürgen Oelkers/Thomas Lehmann: „Antipädagogik. Herausforderung und Kritik“
3.2.1. Erziehungsanspruch
3.2.2. Vernunft durch Erziehung oder ihrer Abschaffung?
3.2.3. Authentizität von Gefühlsäußerungen
3.3. Michael Winkler: „Stichworte zur Antipädagogik“
3.3.1. Anneignung der Bedingungen menschlichen Lebens

4. weitere Grenzen der Antipädagogik : Antipädagogik und die Realität

5. Möglichkeiten der Antipädagogik
5.1. Kritik an den Erziehungsinstitutionen
5.2. Hinterfragung der Notwendigkeit von Erziehung
5.3. Freundschaft mit Kindern und gegenseitiger Respekt
5.4. Keine Verantwortung für das Kind
5.5. Non-direktive Pädagogik

6. Fazit

7.Literatur

1. Einleitung

In den siebziger Jahren entstand eine Bewegung, die sich radikal gegen jede Form von Erziehung wendet: die Antipädagogik. Sie war nicht einfach nur die Negation der Pädagogik, sondern entwickelte eine eigene – außerhalb des pädagogischen Systems stehende - Theorie vom Umgang mit Kindern. Es wird von einem völlig anderem Menschenbild als in der Pädagogik ausgegangen, welches von der Fähigkeit der Kinder ausgeht, von Geburt an selbst zu bestimmen, was das Beste für sie sei. Damit einhergehend werden Forderungen wie etwa rechtliche Gleichstellung von Kindern und Erwachsenen laut, die aus pädagogischer Sicht unvorstellbar wären. Aufgrund dieses grundlegend verschiedenen Selbstverständnisses gibt es (bzw. eher gab) es teilweise massive und aggressive Anfeindungen und wüste Beschimpfungen gegenüber der Pädagogik und ihrer Vertreter.

Die verschiedenen Strömungen der Antipädagogik eint jedoch lediglich der Konsens, gegen jeden pädagogischen Einfluss auf Kinder zu sein. Da die Antipädagogen jedoch sonst sehr heterogene Auffassungen und Strategien vertreten, halte ich es für sinnvoll die geschichtliche Entwicklung dieser Bewegung mit ihren verschiedenen Vorstellungen (z.T. anhand ihrer Vertreter) darzustellen, um so einen Überblick über die Bandbreite und die diversen Inhalte der Antipädagogik zu geben.

Im dritten Kapitel werde ich Auszüge von Dialogen zwischen Pädagogen und Antipädagogen (hauptsächlich v. Schoenebeck) herausgreifen und mich dabei selber zu den jeweiligen Streitpunkten positionieren. Dabei zeige ich bereits Grenzen der Antipädagogik auf, aber auch einige sinnvolle Ideen und Vorstellungen werden dementsprechend kommentiert.

Allgemeiner und systematisierender gehe ich dann im nächsten Kapitel auf die Grenzen der Antipädagogik ein, bevor ich mich näher mit ihren Möglichkeiten auseinandersetze und schließlich ein Fazit daraus ziehe.

2. Entwicklung antipädagogischer Ideen

2.1. Die Kinderrechtsbewegung

Aus der us-amerikanischen Kinderrechtsbewegung („Childrens Rights Movement“) kamen wesentliche Impulse, die die Entwicklung der deutschen Antipädagogik vorantrieben. Die wichtigsten Akteure der in den siebziger Jahren aufgekommenen Kinderrechtsbewegung waren der Psychologe Richard Farson, der Publizist John Holt, sowie die französische Schriftstellerin Christiane Rochefort.

„Die Kinderrechtsbewegung entstand [...] aus der Tradition der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung“ (Schoenebeck 1992, S.84), und ging davon aus, „daß die Kinder in gleicher Weise wie andere Bevölkerungsgruppen – Schwarze, Frauen, oder auch die Völker Afrikas, Lateinamerikas und Asiens – dadurch unterdrückt werden, daß ihnen das Recht auf Selbstbestimmung politisch vorenthalten wird.“ (ebenda). Die Grundannahme ist demzufolge, „daß allen Menschen, gleich welchen Geschlechts, welcher Rasse und welchen Alters, derselbe Zugang zu den allgemeinen Menschenrechten ermöglicht werden muß.“ (Klemm 1992, S.12).

Die zentrale Forderung nach Selbstbestimmung der Kinder, zu der sie von Geburt an befähigt sind, bildet das Fundament einer Vielzahl von Forderungen der Kinderrechtler, die John Holt wie folgt zusammenfasst:

„ 1. Das Recht auf gleiche Behandlung vor dem Gesetz – d.h. das Recht in jeder Situation nicht schlechter behandelt zu werden als Erwachsene.
2. Das Recht, zu wählen und vollen Anteil am politischen Leben nehmen zu können.
3. Das Recht für sein Leben und seine Taten die rechtliche Verantwortung zu tragen.
4. Das Recht, für Geld zu arbeiten.
5. Das Recht auf Privateigentum.
6. Das Recht auf finanzielle Unabhängigkeit und Verantwortung [...]
7.Das Recht sein Lernen selbst zu lenken und zu verwalten.
8.Das Recht zu reisen, außerhalb seines Elternhauses zu leben, sein eigenes Zuhause zu wählen oder zu begründen.
9.Das Recht, zu bekommen, was immer der Staat seinen erwachsenen Bürgern an Minimaleinkommen zusichert.
10. Das Recht, auf den Grundlagen gegenseitiger Übereinstimmung familienartige Beziehungen außerhalb seiner unmittelbaren Familie zu begründen und anzuknüpfen – d.h. das Recht, andere Personen als seine Eltern zum Vormund zu erwählen und sich in ihre Abhängigkeit zu begeben.
11. Das Recht, generell alles zu tun, was jeder Erwachsene im Rahmen der Gesetze tun darf.“ (Holt, zit. in Klemm 1992, S.154).

Inwieweit diese Rechte dann vom Einzelnen genutzt werden, muss dieser selbst entscheiden. Es geht eben nicht darum, dass Kinder beispielsweise arbeiten gehen oder an Wahlen teilnehmen müssen, sie können es jedoch tun, insofern dies ihr eigener Wille ist.

Der zentrale Beitrag der Kinderrechtsbewegung für die Antipädagogik war die politische und anthropologische Annahme, dass Kinder von Geburt an über sich selbst bestimmen können und die sich daraus ergebende Forderung nach rechtlicher Gleichstellung von Kindern und Erwachsenen (vgl. Klemm 1992, S.11).

2.2. Heinrich Kupffer

1974 veröffentlichte der Kieler Pädagogik-Professor Heinrich Kupffer den Aufsatz „Antipsychiatrie und Antipädagogik“, und verwandte damit zum ersten Mal den Begriff „Antipädagogik“ in einer wissenschaftlichen Arbeit.

Kupffer kritisiert in seinen Arbeiten herrschaftliche Verhältnisse in der Erziehung: „Wie in der Forschung die Subjekt-Objekt-Haltung überwunden werden muß, so auch in der Erziehung. In beiden Fällen sind die bisher für selbstverständlich gehaltenen Herrschaftsverhältnisse in Frage zu stellen. Erziehung zur Emanzipation darf nicht davon ausgehen, dass der eine Partner schon emanzipiert ist und dem anderen von oben her zur Freiheit verhilft. Ihre einzige tragfähige Grundlage ist vielmehr eine Kooperation von Menschen, die dasselbe wollen und durch den gemeinsamen Abstand von diesem Ziel gleichgestellt sind“ (Kupffer 1974, S.32).

Kupffer sieht in der Erziehung zur Emanzipation eine tiefe Paradoxie, da eben Erziehung Emanzipation verhindert, indem die Jugend - aufgrund dieses Anspruchs - in Abhängigkeit gehalten wird (vgl. Kupffer zit. in Klemm 1992, S.33).

„Die moderne Pädagogik hat zwar erkannt, daß Erziehung nicht allmähliche Annäherung an die absolute Wahrheit sein kann, sondern Lebenshilfe für Kinder und Jugendliche in der konkreten Umwelt. Sie bleibt aber auf halbem Wege stehen, da sie wirklich stattfindende Interaktion und Kommunikation der Menschen in der Gesellschaft nicht aufgreift.“ (Kupffer 1974, S. 36).

Kupffer selbst bezeichnet sich zwar nicht als Antipädagoge, er brachte jedoch Gedanken in die Diskussion, die von Antipädagogen immer wieder aufgegriffen wurden.

Er fordert zwar nicht die Abschaffung der Erziehung, wohl aber eine fundamentale Hinterfragung pädagogischer Selbstverständlichkeiten anhand ihre Missstände.

2.3. Maud Mannoni

Die französische Psychoanalytikerin Maud Mannoni zählt mit ihrem Buch „Scheißerziehung. Von der Antipädagogik zur Antipsychiatrie“ (franz. 1973) ebenfalls zu den theoretischen Wegbereitern antipädagogischer Ideen. In diesem Buch beschreibt sie ihre Erfahrungen, die sie im Umgang mit schwer gestörten Kindern in der französischen Erziehungseinrichtung Bonneuil gemacht hat, und stellt dabei die Ziele und Methoden der herkömmlichen Psychiatrie (am Beispiel der französischen) in Frage, die lediglich, „auf die Anpassung des Individuums an die Erfordernisse einer Produktionsgesellschaft“ (Mannoni 1987, S.146) abzielt. Laut Mannoni wird in der Psychiatrie also ein Wissen angestrebt, welches im Endeffekt der Leistungs- und Nützlichkeitsvorstellung dienen soll, was wiederum Auswirkungen auf die Schulprogramme bzw. die Einrichtungen bestimmter Institutionstypen im Bereich von Bildung und Erziehung hat (vgl. ebenda). Dabei untersucht sie verschiedene Institutionen der Kindheit, die Kinder psychisch krank machen. „In der Institution Familie (wie auch in den Institutionen Schule, Krankenhaus, etc.) steht der Zwang im Mittelpunkt jeder Erziehung; sei sie nun liberal oder antiautoritär, die Gewalt ist immer gegenwärtig, verschleiert (durch moralische Manipulation) oder offen.“ (Mannoni 1987, S. 38 f).

Mannoni spricht dabei vom “kranken Kind” in der jetzigen Gesellschaft (vgl. Mannoni 1987, S.143), was zu einem medizinischem Problem gemacht wurde, ohne jedoch die eigentliche Ursache für „Geisteskrankheit“ zu finden bzw. zu suchen: die Erziehung. Die ursprüngliche Entstehung von geistigen Störungen erklärt Mannoni wie folgt:

„In unserer Gesellschaftsordnung ist das Kind von Anfang an den Launen elterlicher Autorität ausgeliefert. Es ist stets der Erpressung ausgesetzt, völlig alleingelassen zu werden (durch Liebesentzug). Der Ausbruch aus dem Familien- oder sozialem Milieu wird nicht begünstigt, sondern im Gegenteil gesetzlich sanktioniert; das Kind wird zum Opfer einer doppelten (sozialen und familialen) Repression. Um der Stress-Situation [...] zu entkommen, bleibt ihm keine andere Wahl als mit >Verrücktheit< oder delinquentem Verhalten zu antworten“ (Mannoni 1987, S.166).

Aus dieser krassen Einschätzung der Behandlung von geistig gestörten Kindern und Jugendlichen heraus, entstand die o.g. Erziehungsanstalt „Bonneuil“, in der für sogenannte nicht bildungsfähige Jugendliche eine neue – sich von der herkömmlichen Psychiatrie unterscheidenden – Institution geschaffen wurde: die „gesprengte Institution“.

Bonneuil sei der „Ort des Lebens für sogenannte psychotische, debile oder verhaltensgestörte Kinder“ (Mannoni 1987, S.12 f).

Ziel dieser „gesprengten Institution“ Bonneuil ist es, aus allen ungewöhnlichen Vorkommnissen Nutzen zu ziehen, was sonst gewöhnlich unterdrückt wird. Es soll also ein Rahmen geboten werden, damit sich der Jugendliche nach außen öffnen kann, wobei jedoch der Ort des Rückzugs unverändert und unangetastet bleibt. (vgl Mannoni 1987, S. 77).

“Vor dem Hintergrund dieser Oszillation von einem Ort zum anderen kann ein Subjekt entstehen, das sich nach seinem eigenen Willen befragt.“ (ebenda). Es soll dem Subjekt also ermöglicht werden, sich seiner Fremdbestimmung zu entziehen, um sich in der eigenen Subjektivität zu finden und somit selbstbestimmt und selbstverantwortlich handeln zu können.

Gerade diese Theorie vom Umgang mit (geistig gestörten) Kindern ist klar antipädagogisch ausgerichtet und somit ein weiterer wichtiger Beitrag in der Entstehungsphase antipädagogischer Ideen und Theorien.

2.4. Ekkehard von Braunmühl

Mit Braunmühls 1975 erschienenem Buch “Antipädagogik. Studien zur Abschaffung der Erziehung“ wird zum ersten Mal der Gedanke des erziehungsfreien Umgangs mit Kindern und die radikale Ablehnung der Pädagogik bzw. ihrer Institutionen in eine breitere Öffentlichkeit getragen. Auf dieses Buch bauten/bauen eine Reihe weiterer Veröffentlichungen und Diskussionen zum Thema Antipädagogik auf. Es kann somit als theoretische Grundlage der antipädagogischen Bewegung bezeichnet werden.

Braunmühl kritisiert heftig den pädagogischen Einfluss auf Kinder. Während in der „funktionalen Erziehung“ jegliches Erleben von Kindern bezeichnet wird, lehnt er die „intentionale Erziehung“ vehement ab, in der versucht wird, Kinder so zu beeinflussen, dass sie bestimmte Erziehungsziele erreichen (vgl. Braunmühl 1992, S.84). Die „intentionale Erziehung“ wiederum teilt Braunmühl in „ergänzende“ und „substantielle Erziehung“ (Braunmühl 1992, S.85), wobei unter „ergänzender Erziehung“ verstanden werden muss, dass der Erwachsene den Kindern auf Fragen antwortet, sofern es das Kind dazu auffordert. „Ergänzende Erziehung“ findet auch statt, wenn ein Erwachsener sich in die Belange des Kindes einmischt, sofern diese auf eine aktuelle Situation begrenzt bleiben, die das Kind wahrscheinlich nicht alleine bewältigen kann (vgl. ebenda). Mit „substantieller Erziehung“ meint Braunmühl Akte, die das Kind in seiner Substanz beeinflussen sollen. Diese Erziehungsform geht prinzipiell vom Erwachsenen aus, da dieser mit dem jetzigen Zustand des Kindes unzufrieden ist und es versucht in seinem Sinne zu „bessern“. Der Charakter des Kindes wird dauerhaft geformt und seine Gefühle, Einstellungen und Überzeugungen werden so nachhaltig geprägt (vgl. ebenda). Die „substantielle Erziehung“ beinhaltet somit immer einen Herrschaftsanspruch des Erwachsenen über das Kind, egal wie verborgen oder geschickt dieser Anspruch versteckt wird – mit der „substantiellen Erziehung“ soll also die Unterwerfung des Kindes erzwungen werden (vgl. ebenda). Dieser Erziehungsform gilt es laut Braunmühl den „antipädagogischen Freiheitskampf“ entgegenzusetzen (vgl. ebenda).

Braunmühl stellte demzufolge die gesamte Erziehungsideologie in Frage. Sobald der Umgang zwischen dem Erwachsenen und dem Kind als pädagogisch deklariert wird, „... darf wohlgemut drauflos erzogen werden; emanzipatorisch oder autoritär, antiautoritär oder sozialistisch, kompensatorisch oder demokratisch, mit Milde oder Strenge, zu Gehorsam oder Auflehnung, Leistung oder Lust, Revolution oder Evolution – man [...] verbliebe doch innerhalb der Erziehungsideologie, innerhalb jenes Anspruchs der Erwachsenen, Kinder und Jugendliche als Menschenmaterial zur Befriedigung privater oder politischer Ambitionen zu betrachten“ (Braunmühl zit. in: Klemm 1992, S.91). Jegliche Form von Erziehung dient also vornehmlich der eigenen Befriedigung und der Durchsetzung der eigenen Interessen des Erwachsenen. Demzufolge spricht Braunmühl der Pädagogik die Existenzberechtigung ab und vergleicht sie in dem Aufsatz „Antipädagogische Streitsätze oder: Erziehung als Ideologie“ mit einer Heiligen Kuh, der es, wie dieser Kuh gelungen ist, „in der Öffentlichkeit das Gefühl zu etablieren, daß ihre Schlachtung unmöglich zur Debatte stehen kann“ (Braunmühl zit. in: Klemm 1992, S.92). Die Pädagogik zieht also ihre Legitimationsgrundlage durch sich selber, in dem sie eine Erziehungsbedürftigkeit der Kinder vorgibt, und sich dadurch in der gesellschaftlichen Debatte als unhinterfragbare Notwendigkeit zu präsentieren versucht. Diese Erziehungsbedürftigkeit ist allgemeiner Konsens unter den Pädagogen, andernfalls wäre ihr Berufsstand unnötig.

Das nachfolgende Zitat des Pädagogen Herrmann Gieseckes ist laut Braunmühl die Grundlage, von der die allermeisten Pädagogen ausgehen:

„Der Mensch ist offensichtlich von Natur aus ein erziehungsbedürftiges Wesen, d.h. ein Wesen, das von Geburt an auf Lernen angewiesen ist, um schon im rein physischen Sinne überleben zu können. Er ist von Natur aus ein >homo educandus<. >Der Mensch ist das einzige Wesen, das erzogen werden muß<(Kant)“ (Giesecke zit. in: Braunmühl 1991, S70).

Braunmühl jedoch geht von einem vollkommen anderem Menschenbild aus. In Anlehnung an das Buch „Der Konflikt der Generationen“ der Kulturanthropologin Margaret Mead fordert er, „daß in Zukunft ein Kind nicht mehr als jemand gesehen werden darf, der auf sein späteres Leben vorbereitet werden muß, sondern als jemand, der hier und heute selbstverständlich und selbstbestimmt lebt und lernt“ (Braunmühl 1991, S.9), was eben erziehungsfreier Umgang mit Kindern bedeutet und damit die menschliche Erziehungsbedürftigkeit negiert. Der Umgang mit Kindern soll somit nicht zielorientiert sein, sondern vielmehr den Charakter haben, dem Kind von Geburt an die Fähigkeit zur Selbstbestimmung einzugestehen und dementsprechend zu handeln. Damit eng verknüpft ist der Grundgedanke, Kinder als reife und vollwertige Menschen anzuerkennen, jedoch wenn „... Kinder für Zwecke außerhalb ihrer selbst erzogen werden, dann erleidet ihre Entwicklung, ihr Lernen, ihre Anpassungsfähigkeit etc. schwerwiegenden Schaden. Oder mit anderen Worten: Wenn die Vertrauensbedürftigkeit von Kindern missachtet wird, dann können sie Vertrauenswürdigkeit nicht entwickeln“ (Braunmühl 1991, S.115). Gerade die Vertrauens- bzw. Misstrauenswürdigkeit des Menschen ist wissenschaftlich nicht belegbar, was sich jedoch die Pädagogik anmaßt und dadurch dem Menschen Erziehungsbedürfnis (sprich: Misstrauensbedürfnis) unterstellt. (vgl. ebenda).

Die „erzieherische Grundhaltung (ist [C.U]) aber in ihrem Kern von Mißtrauen geprägt. Wenn ich glaube, einen Menschen bestimmten Maßnahmen aussetzten zu müssen, damit er bestimmte Ziele erreicht, dann gebe ich ihm mein Mißtrauen zu verstehen, er könne oder werde diese Ziele ohne meine Maßnahmen nicht erreichen“ (Braunmühl 1992, S.24). Die logische Konsequenz die Braunmühl daraus zieht, ist also die radikale Ablehnung einer pädagogischen Beziehung zwischen Kind und Erwachsenem, was aber nicht heißt, dass sich die Kinder selbst überlassen werden, so erklärt er: „Kinder brauchen Widerstände, an denen sie sich entfalten können, aber sie brauchen keine pädagogisch gesetzten Widerstände, sondern authentische Erwachsene, die ihre eigenen Interessen nicht verbergen, sondern vertreten und verteidigen.“ (Braunmühl 1992, S.102).

Um dies genauer zu verdeutlichen, beschreibt Braunmühl folgendes Bild: „Man kann in Gedanken einen Kreis um das Kind zeichnen und es in dieser gesetzten Grenze zu halten versuchen, und man kann um sich selbst einen Kreis zeichnen und diese eigene Grenze verteidigen.“ (ebenda).

Damit beschreibt Braunmühl das sogenannte „antipädagogische Notwehrprinzip“ was als grundlegendes Prinzip in zwischenmenschlichen Beziehungen gelten muss: „Kinder brauchen keine erzieherischen Forderungen, Gebote, Verbote, ihnen gesetzte Grenzen, um ein realistisches Selbstwertgefühl zu entwickeln; die Erwachsenen brauchen lediglich in schlichter authentischer Selbstachtung nach einer Art Notwehrprinzip ihre Eigenbereiche abgrenzen und kindliche Übergriffe weder herausfordern noch sich gefallen lassen.“ (Braunmühl 1991, S.230). Dadurch lernen Kinder die eigenen Grenzen und die der anderen zu erkennen und zu achten und können dabei in Konflikten ihr Inneres verteidigen und so - besser und vor allem sich selbst gegenüber ehrlicher - konfliktfähig handeln. Die einzige Beziehungsform die für Braunmühl zwischen dem Kind und dem Erwachsenem in Frage kommt ist also eine Freundschaftliche. Es sollte also mit einem Kind genauso umgegangen werden, wie man es mit den Freunden macht/machen sollte. Dies umreißt Braunmühl folgendermaßen:

[...]

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Möglichkeiten und Grenzen der Antipädagogik
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Note
2
Autor
Jahr
2002
Seiten
36
Katalognummer
V37837
ISBN (eBook)
9783638370769
Dateigröße
562 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Möglichkeiten, Grenzen, Antipädagogik
Arbeit zitieren
Christian Uhrheimer (Autor:in), 2002, Möglichkeiten und Grenzen der Antipädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37837

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