Gestaltung aus der inneren Kraft. Von der Gestalttherapie zur Gestaltpädagogik


Bachelorarbeit, 2014

41 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Was ist Gestaltpadagogik

3. Was ist Gestalttherapie

4. Die Gestalttheorie
4.1 Der Gestaltansatz
4.2 Menschenbild des Gestaltansatzes

5. Von der Gestalttherapie zur Gestaltpadagogik
5.1 Geschichte der Gestaltpadagogik
5.1.1 Wurzel: Humanistische Psychologie
5.1.2 Entwicklung der Gestalttherapie durch Fritz Perls
5.1.3 Begrundung der Gestaltpadagogik durch Hilarion Petzold
5.1.4 Aktualitat
5.2 Grundsatze der Gestaltpadagogik auf Grundlage der Gestalttherapie
5.2.1 Die funf Grundsatze der Gestalttherapie
5.2.1.1 Bewusstheit
5.2.1.2 Die Orientierung im „Hier und Jetzt“
5.2.1.3 Verantwortung im sozialen Prozess
5.2.1.4 Das homoostatische Prinzip
5.2.1.5 Kontakt in therapeutischen Beziehungen
5.2.2 Die sieben Elemente der Gestaltpadagogik
5.2.2.1 Wahrnehmung
5.2.2.2 Selbstverantwortung
5.2.2.3 Wertschatzung
5.2.2.4 Bezogenheit
5.2.2.5 Kontakt
5.2.2.6 Prozess
5.2.2.7 Kreativitat
5.3 Methoden der Gestaltpadagogik
5.3.1 Methodenansatze der Gestaltpadagogik auf gestalttherapeutischer Grundlage
5.3.1.1 Identifikation
5.3.1.2 Polaritaten
5.3.1.3 Verstarkung
5.3.1.4 Projektion
5.3.1.5 Rollenspiele
5.3.1.6 Kreative Medien
5.3.2 Beispiele fur die Umsetzung gestaltpadagogischer Methoden
5.3.2.1 Der Themenbaum
5.3.2.2 Das kreative Gestalten von Korperbildern
5.3.2.3 Schattentheater im Unterricht
5.3.2.4 Die „ICH“ - Mappe

6. Der Fokus der Gestaltpadagogik auf den Lernprozess
6.1 Bedeutung des Lernens in der Gestaltpadagogik
6.1.1 Lernen als Kontaktprozess
6.1.2 Lernen als kreative Erschaffung von Wissen
6.1.3 Lernen als personlich bedeutsames Lernen
6.2 Gestaltpadagogische Didaktik
6.3 Kriterien fur einen gestaltpadagogisch orientierten Unterricht
6.4 Die Rolle des gestaltpadagogischen Lehrers

7. Gestaltpadagogik in der Praxis
7.1 Arbeitsfelder der Gestaltpadagogik
7.1.1 Gestaltpadagogik im Kindergarten: die Erfahrungen einer Erzieherin
7.1.2 Gestaltpadagogik in der Schule: Die Modellschule Graz
7.1.3 Gestaltpadagogische Arbeitshaltung in der Erwachsenenbildung
7.2 Gestaltpadagogische Weiterbildung

8. Kritik an der Gestaltpadagogik

9. Gestaltpadagogik: Ein Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Unzahlige neue padagogische Ansatze in Schulen, Kindergarten und andern Einrichtungen zeugen von dem Bedurfnis von Padagogen und Eltern nach wirksamen padagogischen Konzepten. Die folgende Arbeit „Gestaltung aus der inneren Kraft - Von der Gestalttherapie zur Gestaltpadagogik“ befasst sich mit der Forschungsfrage, wie sich Gestaltpadagogik aus der Theorie der Gestalttherapie auf der Grundlage des Gestaltansatzes heraus entwickelt hat, und auf welche Art und Weise dieser spezielle Ansatz padagogisch wirksam ist.

Stand Gestaltpadagogik schon vor 50 Jahren fur Individualitat und Freiheit in Lernprozessen durch Selbstbestimmung, so steht sie mit ihren Idealen noch heute entgegengesetzt zu Vereinheitlichung, Vergleichbarkeit und standiger Effektivitats- kontrolle von Bildung. Angesichts aktueller politischer Entwicklungen im Bildungs- sektor, welcher gepragt ist von Zeitdruck und Standardisierung, steht die Gestaltpadagogik fur Autonomie statt Anpassung, dialogischen Beziehungen statt Einzelkampfermentalitat, und der Arbeit an der padagogischen Haltung des Lehrers statt dem Fokus auf Effizienzmaximierung bei den Schulern. Ziel ist es, die Uberforderung und Selbstausbeutung nicht nur individuell, sondern auch institutionell kritisch zu betrachten. Durch Gestaltpadagogik wird der Mensch auf seinem individuellen Lebensweg gestarkt und sozial gefordert. „Gestaltpadagogik nimmt dabei Mafi am Menschen und nicht an heutigen gesellschaftlichen Zwangen“ (Svoboda/Scala/Gut 2012, S. 11).

Diese Arbeit gewahrt zunachst einen kurzen thematischen Einblick durch Definitionen von Gestalttherapie und Gestaltpadagogik. Das Augenmerk wird anschlieBend auf den Verlauf der einzelnen Stromungen und deren Zusammenhang gelegt. Danach wird der grundsatzliche und methodische Zusammenhang von Gestalttherapie und Gestalt­padagogik analysiert. Es werden die Besonderheiten gestaltpadagogischer Arbeit im Hinblick auf den Lernprozess herausgestellt, bevor am Ende auf die praktische Umsetzung und die Kritik an gestaltpadagogischen Arbeitsmethoden eingegangen wird. Im abschlieBenden Fazit werden die Erkenntnisse zusammengefasst, und die Indika- toren fur den Erfolg gestaltpadagogischer Arbeit herausgestellt.

Auf Grundlage der Analyse von Schriften der Begrunder der Gestaltpadagogik und der Gestalttherapie, Werken von aktuell angesehenen Gestaltpadagogen und Interviews mit Praxiserprobten Lehrkraften kann ein umfassendes Bild uber Wurzeln, Grundsatze, Methoden und Praxisfelder und Kritik an der Gestaltpadagogik gegeben werden.

2. Was ist Gestaltpadagogik

Nach dem Gestaltpadagogen und Professor fur Allgemeine Padagogik an der Universitat Kassel, Olaf - Axel Burow, welcher zahlreiche Schriften uber diese Disziplin verfasste, ist Gestaltpadagogik ,,eine Richtung Humanistischer Padagogik, die sich auf grundlegende Konzepte der Gestalttherapie (Kontaktmodell, Konzept von Kontakt und Begegnung), sowie der Humanistischen Psychologie (Humanistische Wertorientierung, Personenzentrierung, Betonung der Wachstumspotenzen des Individuums) stutzt und auf diese Weise zur Entwicklung neuer, ganzheitlicher, integrativer Formen und Inhalte des Umgangs mit sich, mit der Gruppe und dem Thema im Rahmen von padagogischen Veranstaltungen innerhalb und aufierhalb von Institutionen beitragen mochte.“ (Burow 1998, S. 11).

Demnach setzen sich die gestaltpadagogischen Grundlagen aus den Grundsatzen mehrerer vorhergegangener Stromungen zusammen. Auf den Einfluss von humani- stischer Psychologie und Gestalttherapie wird in den folgenden Kapiteln genauer eingegangen.

Gestaltpadagogik wird als ein umfassendes Konzept ganzheitlicher Padagogik verstanden, die ein besonderes Augenmerk auf die Personlichkeitsentwicklung des Padagogen, und dessen (kritischen) Kontakt zu sich selbst, als Grundlage fur weiteres Wirken legt (vgl. Reichel/Scala 2005, S. 10).

Die wichtigsten didaktischen Prinzipien und Ziele gestaltpadagogischer Arbeit sind die Forderung von Selbstbewusstsein durch Wahrnehmung, Kontakt-, Begegnungs- und Beziehungskompetenzen, sowie die Ermoglichung von Experimentierfreude und Kreativitat. Nach dem Gestaltansatz wird der Mensch als ganzheitliches Wesen aus Korper, Geist und Seele in seiner vielfaltigen Bezogenheit wahrgenommen. Lernen sollte im gestaltpadagogischen Sinne immer personlich bedeutsam und, das Hier und Jetzt berucksichtigend, individuell und prozessorientiert geschehen. „Lernen ist Entdecken. Es gibt kein anderesMittel fur wirksames Lernen.“ (Perls 1974, S. 34).

Aufgabe des Padagogen ist es, den Lernenden zu ermutigen, sich seiner eigenen Ziele bewusst zu werden, und diese durch Handlungen zu verwirklichen. Auf Grundlage der Annahme, dass der Mensch beeinflussbar, aber nicht formbar ist, muss festgesellt werden, dass er selbstbestimmt agiert, und aus seiner inneren Kraft heraus gestaltet. Hierbei kann der Gestaltpadagoge jedoch wichtige Hilfestellung leisten. Hervorzuheben ist, dass sich der Erfolg von Gestaltpadagogik viel eher durch eine gewisse Haltung, als durch die Anwendung bestimmter Methoden generieren lasst (vgl. Reichel/Scala 2005, S. 10).

In einer wissenschaftlichen Studie von Brunhilde Gamper (2013) uber den Erfolg gestaltpadagogischer Arbeit wurden die positiven Ergebnisse aus vorhergegangenen Studien bestatigt. Der Erfolg gestaltpadagogischer Arbeit im Hinblick auf die Er- leichterung des Zugangs zu den Schulern kann also als wissenschaftlich nachgewiesen betrachtet werden (vgl. Gamper 2013, S. 50ff).

3. Was ist Gestalttherapie

Gestalttherapie ist eine Methode der humanistischen Psychologie, sie wurde von Fritz und Laura Perls sowie Paul Goodman aus der Abgrenzung zu Psychoanalyse entwickelt.

Zentrale Aspekte der Gestalttherapie sind unter anderem Gegenwartigkeit und Kontakt. Gegenwartigkeit als Postulat meint, dass die Arbeit sich am Hier und Jetzt des Lebensabschnittes orientiert, die Wunsche im jeweiligen Augenblick, und die gegenwartigen Gefuhle des Klienten berucksichtigt. Der Grundsatz des Kontaktes beschreibt die Bedeutung der Begegnung und des Dialogs fur die weitere therapeutische Arbeit. Ein weiterer wichtiger Grundsatz ist die bewusste Wahrnehmung innerhalb und auBerhalb der eigenen Person, bezogen auf sich selbst, und die Gedanken und Gefuhle des Kontaktpartners. Diese Bewusstheit bildet die Basis fur Veranderung. Der innerste Wunsch nach der Losung eigener Probleme, der „SchlieBung offener Gestalten“, stellt ein weiteres wichtiges Postulat von Gestalttherapie dar. Demnach drangt es jeden Menschen danach, das innere Gleichgewicht stets zu erhalten und Konflikte zu losen. Durch das Konzept der Eigenverantwortlichkeit und das Bewusstsein daruber, dass man selbst fur die eigenen Gedanken und Gefuhle Verantwortung ubernehmen muss, wird die Selbstunterstutzung gefordert, und der Organismus wird fahig sich selbst zu regulieren. Dies ist das Ziel gestalttherapeutischer Arbeit (vgl. Stein 2005, 21f).

Es ist jedoch festzustellen dass Gestalttherapie eher von der Praxis als von der Theorie individuell definiert wird. ^Gestalttherapie ist ein existentieller, erfahrungszentrierter und experimenteller Ansatz, der seine Bedeutung von dem erhalt, was ist, und nicht von dem, was sein sollte“ (Perls 1989, S.93). Gestalttherapie lebt also davon, viel mehr durch personliches Erleben erfassbar zu werden als durch bloBe Theorie. „Es ist [...] weniger die Frage ,was‘ gemacht wird, als eine Frage, ,wie‘ es gemacht wird. Gestalttherapie ist eine Haltungl‘ (Voobus 1975, S. 104).

4. Die Gestalttheorie

4.1 Der Gestaltansatz

Sowohl die Gestalttherapie als auch die Gestaltpadagogik folgen dem theoretischen Hintergrund des Gestaltansatzes. Diese von Christian von Ehrenfels 1890 gepragte Theorie besagt, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Durch die daraus entstehende Gestalttheorie ergeben sich wichtige Grundpfeiler fur das Menschenbild von Gestalttherapeuten und Gestaltpadagogen, so wird in der Gestalttherapie „Gestalt“ als eine dynamische Einheit bzw. sich kreativ wandelnde Form bezeichnet (vgl. Gamper, 2013, S.4).

So ist es nicht wichtig, aus welchen Teilen das Ganze/der Mensch besteht, denn in seiner Gestalt ist er eigenstandig, und nicht nur ganz, sondern auch ganzheitlich in seiner Struktur, so wie ein bewegendes Musikstuck, das in sich mehr ist als die Abfolge einzelner Noten (vgl. Staemmler 2009, S. 21ff).

4.2 Menschenbild des Gestaltansatzes

Das Menschenbild der Gestaltpadagogik orientiert sich auch am Menschenbild des Gestaltansatzes, welcher drei Grundannahmen folgt (vgl. Kellner-Rauch, 2006, S. 4f).

Der Mensch drangt nach Selbstverwirklichung. Durch Wachstum und Entwicklung mochte er sein Leben als einzigartiges Individuum in Freiheit und Verantwortung fuhren. Dieses Grundbedurfnis ist Grundlage fur jede Weiterentwicklung.

Zudem ist der Mensch eine Einheit von Geist, Seele und Leib. In seiner Personlichkeitsentwicklung ist er angewiesen auf die ganzheitliche Betrachtung seiner selbst und der Welt. Wichtig ist das Erleben durch Bewusstheit im Hier und Jetzt. Durch diese Grundsatze kann Kontakt gefordert werden, sowohl zu sich selbst, zu anderen Menschen, als auch zur Umwelt.

Zuletzt ist der Mensch stets auf der Suche nach Beziehung und Kontakt, denn aus der Begegnung mit sozialer und dinglicher Umwelt erwachst Identitat. Durch diesen Kontakt im physischen und psychischen Sinne kann Personlichkeitsentwicklung und personliches Wachstum entstehen. Von diesen Annahmen sind Gestalttherapie und Gestaltpadagogik maBgeblich gepragt (vgl. Kellner-Rauch 2006, S. 4ff).

5. Von der Gestalttherapie zur Gestaltpadagogik

5.1 Geschichte der Gestaltpadagogik

Der Begriff Gestaltpadagogik geht auf Petzold zuruck, welcher deren Wurzeln 1977 folgendermaBen definierte: „ Unter dem Begriff Gestaltpadagogik kann eine Reihe von Ansatzen zusammengefafit werden, die auf dem Hintergrund der Humanistischen Psychologie, des Existentialismus und Experimentalismus entstanden und in wesentlichen Konzepten ihrer Theorie und Praxis auf der Gestalttherapie von F. S. PERLS und PAUL GOODMAN aufbauenl" (Petzold/ Brown 1977, S. 7).

Somit kann festgestellt werden, dass Gestaltpadagogik vielerlei Wurzeln hat. Auf die wichtigsten geschichtlichen Grundpfeiler Humanistische Psychologie und Gestalttherapie wird im Folgenden eingegangen. Zudem gibt das Kapitel einen Uberblick uber den Bezug von Gestalttherapie und Gestaltpadagogik im genaueren.

5.1.1 Wurzel: Humanistische Psychologie

Bereits in fruhesten Tagen wurde dem Konzept der „humanitas“ (lat. Menschlichkeit) eine besondere Bedeutung in der Bildung zugeordnet. Es stand schon immer fur die Herrschaft uber die eigenen Leidenschaften, die Entfaltung des Menschseins, der Menschlichkeit und der menschlichen Wurde, sowie fur die Herausbildung von Anteilnahme, Hilfsbereitschaft und der sozialen Menschlichkeit gegenuber Mitmenschen.

Als „dritte Kraft der Psychologie“ etablierte sich auch mit diesen Grundsatzen die Humanistische Psychologie in den USA neben der Psychoanalyse (Freud) und dem Behaviorismus (Parlov/Skinner) in den 60er Jahren. Zentral in dieser Gegenbewegung war das veranderte Menschenbild, welches den Mensch als aktives, sich selbst gestaltendes Wesen versteht, und das auch jenseits primarer Bedurfnisse oder Konditionierung. Als grundlegende Postulate der Humanistischen Psychologie gelten folgende zentrale Uberzeugungen:

Menschen besitzen ein humanes Potential in Form von Hilfsbereitschaft, Gute, Wertschatzung und Wohlwollen. Ob diese auch zum Ausdruck kommen, ist damit noch nicht gesagt. Diese Eigenschaften sind jedoch potentiell vorhanden. Zudem wohnt dem Menschen eine grundsatzliche Neigung zu Selbstheilung, Selbstverwirklichung inne, also zum Wachstum, und das das Leben lang.

Menschen sin selbstgesteuert, und haben prinzipielle Verantwortung fur ihr eigenes Leben, und dessen Ausgestaltung, verbunden mit der Aufgabe Entscheidungen zu treffen und Pflichten zu ubernehmen. Er wird als generell flexibler und veranderungsfahiger Organismus betrachtet, und nicht als statisch und festgelegt.

Zugang zum Menschen ist insbesondere moglich uber die Phanomenologie, das akzeptierende Einfuhlen und Eindenken in dessen eigene Wahrnehmung - auch uber Befragung des Anderen.

Der Mensch und die Welt werden „ganzheitlich“ oder auch „integrativ“ betrachtet: physische und psychische Anteile, Gedanken (Kognitionen) und Gefuhle (Emotionen) bilden beim Menschen eine untrennbare Einheit. Analysen durfen nicht ohne eine Berucksichtigung des Gesamtzusammenhangs bleiben, da das Ganze „ubersummativ“ ist, also mehr reprasentiert als die Summe seiner einzelnen Teile.

Die Postulate bilden eine Basis fur psychologische und padagogische Arbeit. Aus diesen Grundgedanken entwickelten sich Konzepte wie die Gestalttherapie und aus dieser auch die Gestaltpadagogik (vgl. Stein 2005, S. 5ff).

5.1.2 Entwicklung der Gestalttherapie durch Fritz Perls

Als zentrale Grundlage fur das Konzept der Gestaltpadagogik gilt die Gestalttherapie. Diese entwickelte sich auf Grundlage der humanistischen Psychologie auch als Therapieform aus der Abgrenzung zur Psychoanalyse. Als Begrunder der Gestalttherapie gilt Fritz Perls, der zunachst selbst eine psychoanalytische Ausbildung absolvierte und in diesem Feld tatig war, spater jedoch gemeinsam mit seiner Frau Lore Perls, und dem Mitbegrunder verschiedener therapeutischer Gestaltinstitute in der USA Paul Goodman, aus Unzufriedenheit mit vielen Annahmen der Psychoanalyse das Konzept der Gestalttherapie entwickelte.

Im Gegensatz zur Vergangenheitszentrierung psychoanalytischer Konzepte ist das „Hier und Jetzt“ der zentrale Bezugspunkt gestalttherapeutischer Arbeit, diese ist somit in ihrer Arbeit klar Gegenwartsbezogen. Auch die Konzentration auf Denken und Verbalsprache durch die Psychoanalyse griffen fur Perls zu kurz. So gelten in der Gestalttherapie auch der Korper und dessen Ausdrucksweisen als fundamental.

Ende der 60er Jahre wurden die Konzepte der Gestalttherapie in Europa bekannt. Durch die Therapeuten Ruth Cohn und Hilarion Petzold erfreute sich diese Disziplin zunehmender Bekannt- und Beliebtheit, auch im deutschen Raum (vgl. Stein 2006, S. 21ff).

5.1.3 Begrundung der Gestaltpadagogik durch Hilarion Petzold

Von den Begrundern der Gestalttherapie wurde der padagogische Aspekt kaum beachtet. Erste Erkenntnisse lieferte erst der Amerikaner George Brown, der in den spaten 60er Jahren gestalttherapeutische Grundsatze auf das Schulwesen ubertrug.

In Europa fanden diese Konzepte mehr Beachtung und wurden zunehmend aufgegriffen und modifiziert. Durch den Vorreiter Hilarion Petzold wurde 1977 der Begriff Gestaltpadagogik ins Leben gerufen. Auf Grundlage seiner Werke, beispielsweise „Gestaltpadagogik: Konzepte der Integrativen Erziehung“, wurden auch in Deutschland Gestaltpadagogen in Schulen aktiv. Seit 1982 werden gestaltpadagogische Fortbildungen fur Lehrende angeboten. Themenschwerpunkt ist die Entwicklung von Unterrichtsmodellen fur „personlich bedeutsames Lernen“ vor dem Hintergrund ihrer Personlichkeitsentwicklung. Zu diesem Zwecke wurde durch Petzold das Fritz Perls Institut gegrundet (vgl. Reichel/Scala 2005, S. 11f).

5.1.4 Aktualitat

Bis heute wurden immer mehr Fortbildungseinrichtungen fur Gestaltpadagogik ins Leben gerufen. Einen wichtigen Stellenwert hat das Institut fur Gestalttherapie und Gestaltpadagogik IGG in Berlin und Wurzburg.

Auch die Gestaltpadagogische Vereinigung GPV bietet Weiterbildungen an. Ihre Ziele sind die Anerkennung gestaltpadagogischer Kompetenzen in Beruf und in Institutionen, Zusammenarbeit der gestaltpadagogischen Ausbildungsinstitute und die Weiterentwicklung von Konzepten fur eine qualifizierte gestaltpadagogische Ausbildung. Durch den GVP wird zweimal jahrlich die „Zeitschrift fur Gestaltpadagogik“ veroffentlicht (vgl. Svoboda 2012, S. 43ff).

5.2 Grundsatze der Gestaltpadagogik auf Grundlage der Gestalttherapie

Gestalttherapie bildet nicht nur historisch die Grundlage fur gestaltpadagogisches Wirken. Auch in ihren Grundsatzen hat die Gestaltpadagogik viel durch die Postulate der Gestalttherapie profitiert. Im Folgenden werden Grundsatzliche Annahmen der jeweiligen Stromungen beschrieben und gegenubergestellt.

5.2.1 Die funf Grundsatze der Gestalttherapie

Die 5 Grundsatze der Gestalttherapie werden auf Grundlage der gestalttherapeutischen Weiterbildung durch Dr. med. Barbara Staemmler als Bewusstheit, Orientierung im „Hier und Jetzt“, Selbstverantwortung, Kontakt und Ganzheitlichkeit beschrieben (vgl. Staemmler 1979, S. 5ff).

5.2.1.1 Bewusstheit

Bewusstheit meint nicht ein Absichtliches Bemuhen von Konzentration, sondern vielmehr eine wache Aufmerksamkeit, wie sie beispielsweise in Vertiefung in einen interessanten Gegenstand hervorgebracht wird. „Das Objekt nimmt den Vordergrund ohne jede Muhe ein, die ubrige Welt verschwindet, Zeit und Umgebung horen auf zu existieren [...]. Alle Teile der Personlichkeit sind zeitweilig Koordiniert und nur einem Zweck untergeordnet; es ist nicht schwer zu erkennen, dafi eine solche Haltung die Grundlage jeder Entwicklung ist“ (Perls 1974, S. 225). In Bezug auf die Gestaltpadagogik wird dieser Effekt im personlich bedeutsamen Lernen erzielt. Ziel des Gestaltpadagogen ist es, den bewussten Lernprozess zu fordern.

5.2.1.2 Die Orientierung im „Hier und Jetzt“

Das zweite Postulat der Gestalttherapie ist die Orientierung im „Hier und Jetzt“, denn die Vergangenheit ist vergangen und die Zukunft ist noch nicht eingetroffen. Gestalttherapeutisch kann ein Mensch zwar ein Problem haben, das aus der Vergangenheit kommt, aber ihm in der Gegenwart zu schaffen macht. Die Schwierigkeiten von heute stehen im Zusammenhang mit heutigem Handeln. Sie konnen auch nur in der Gegenwart behandelt werden. Die Analyse des gegenwartigen Verhaltens dient dazu, die Vergangenheit zu begreifen, und verarbeiten zu konnen. „Wir fordern unsere Patienten auf, uber ihre Traumata und Probleme nicht in den fernen Bereichen der Vergangenheit und Erinnerung zu reden, sondern ihre Probleme und ihre Traumata - ihre unabgeschlossenen Situationen - noch einmal im Hier und Jetzt zu erleben. Wenn der Patient uberhaupt das Buch seiner alten Probleme endgultig schliefien soll, dann mufi er es in der Gegenwart schliefien“ (Perls 1973 S. 82). Ubertragen auf die Gestaltpadagogik bedeutet dieses Prinzip die Forderung nach genauer Wahrnehmung und Berucksichtigung der hier und jetzt einwirkenden Faktoren auf den Lernprozess (vgl. Burow 1988, S. 100).

5.2.1.3 Verantwortung im sozialen Prozess

Nach Ansicht der Gestalttherapie ist jeder Mensch fur sein Leben selbst verantwortlich. Sowohl fur sich selbst, als auch fur die soziale Interaktion mit seiner Umwelt, tragt der Mensch Verantwortung, und ist die eigene Ursache seiner Taten. Diese Verantwortung ist verpflichtend und kann nicht abgelegt werden. Dies fallt besonders in Konflikt- situationen, in welchen es einfacher ist, die Schuld abzugeben, schwer. Es ist Aufgabe der Gestalttherapie, von Menschen, die die Verantwortung abgegeben haben, zu verlangen, das zu sein, was sie sind, und wieder Verantwortung zu ubernehmen, denn dies anzuerkennen ist der Kernpunkt von Verantwortlichkeit. Gleichzeitig ist das Akzeptieren der eigenen Personlichkeit die Voraussetzung fur Veranderung (vgl. Perls 1974, S. 52). Der Aspekt der Selbstverantwortung spielt auch auf dieser Basis im gestaltpadagogischen Sinne eine fundamentale Rolle (vgl. Kapitel 5.2.2.2 S elbstverantwortung).

5.2.1.4 Das homoostatische Prinzip

Das homoostatische Prinzip bringt den Aspekt der Ganzheitlichkeit in den Vordergrund gestalttherapeutischen Handelns. Unter Homoostase wird aus physiologischer Sicht die Fahigkeit des Korpers bezeichnet, auf Storungen von auBen zu reagieren und das naturliche Gleichgewicht wiederherzustellen. Dieses Streben nach Gleichgewicht ist Grundlage fur die Aufrechterhaltung unserer korperlichen Gesundheit. Das Prinzip der Homoostase kann auch auf das psychische Innenleben ubertragen werden. Verletzungen des seelischen Gleichgewichts konnen ebenso zu Unwohlsein fuhren wie korperliche Verletzungen. „Wenn der Organismus zu lange in einem Zustanddes Ungleichgewichts bleibt, und seine Bedurfnisse nicht befriedigen kann, wird er krank." (Perls 1973, S. 22). Zur erfolgreichen Herstellung des Gleichgewichts werden die Fahigkeit zur Wahrnehmung und die Fahigkeit zum Handeln benotigt. Normalerweise ist der Korper jedoch von Natur aus in der Lage, sich selbst zu regulieren. Ist dies jedoch nicht der Fall, kann eine bewusste Regulierung durch Gestalttherapie stattfinden (vgl. Staemmler 1979, S. 19ff).

Diese Theorie ist eng verknupft mit dem Prinzip der Ganzheitlichkeit und der Theorie der offenen Gestalt aus dem Gestaltansatz. Auch im Hinblick auf padagogische Prozesse wird dieser Gesichtspunkt aufgegriffen (vgl. Kapitel 5.2.2.3 Wertschatzung).

5.2.1.5 Kontakt in therapeutischen Beziehungen

„Die Aufgabe des Therapeuten beginnt damit, dass er mit seinen Klienten in Kontakt tritt. Dieser Kontakt ist zugleich Basis und Medium der Therapie.“ (Staemmler/Bock 2007, S. 135). Die Qualitat des Kontaktes bestimmt die Wirksamkeit der Gestalttherapie. Relevant fur diesen Kontakt ist, dass die Beteiligten sich gegenseitig erleben und sich mitteilen. Kontakt wird gestalttherapeutisch definiert als eine aufeinander bezogene Bewusstheit (vgl. Kapitel 5.2.2.1 Bewusstheit) in Verbindung mit der Mitteilung ihrer Inhalte.

Gestaltpadagogisch spielt der Kontakt auch eine groBe Rolle, jedoch steht hier die Forderung des bewussten Kontakts zum Lerngegenstand im Vordergrund (vgl. Kapitel

5.2.2.5 Kontakt). Prinzipiell geht dieses Postulat jedoch auch auf dieses gestalttherapeutische Verstandnis von Kontakt zuruck.

5.2.2 Die sieben Elemente der Gestaltpadagogik

Die sieben Elemente der Gestaltpadagogik sind eine Zusammenfassung der Grundlagen dieser Disziplin durch Dr. Eva Scala (Mitbegrunderin der Modellschule Graz, welche nach Gestaltpadagogischen Prinzipien unterrichtet) und Dr. Rene Reichel (Lehrbeauftragter am Fritz Perls Institut und Mitbegrunder des Vereins „Gestaltpadagogik Osterreich). Durch sie wurden, aufgrund von theoretischen Grundlagen, in Verbindung mit praktischer Erfahrung, die folgenden Grundelemente gestaltpadagogischer Arbeit definiert (vgl. Reichel/ Scala 2005, S. 15ff). Auch spatere Definitionen sind an den sieben Elementen der Gestaltpadagogik angelehnt und je nach individueller Erfahrung des jeweiligen Autos abgewandelt.

5.2.2.1 Wahrnehmung

Schon die Gestaltpsychologie und der Gestaltansatz beschaftigten sich mit der menschlichen Wahrnehmung. Dieser Aspekt spielt somit auch in der Gestaltpadagogik eine groBe Rolle.

Eine der Grundannahmen besagt, dass Menschen ihre Wirklichkeit in „Ganzheiten“ und „Gestalten“ aufnehmen. Jeder Mensch interpretiert die Welt um sich herum individuell und schafft somit durch eine ganz eigene Wahrnehmung seine Realitat. Durch den Prozess der Sozialisation konnen wir jedoch Dinge benennen und schaffen uns dadurch eine gemeinsame Wirklichkeit. Dadurch kann die Illusion entstehen, der Gegenuber hatte die gleiche Wahrnehmung, jedoch sollte man sich die Individualitat der Sinneseindrucke immer wieder bewusst werden. Padagogische Konsequenzen sind beispielsweise die Beurteilung verschiedener Situationen durch mehrere Akteure und die Akzeptanz der individuellen Wahrnehmung eines jeden Einzelnen (vgl. Reichel/Scala 2005, S. 18ff).

[...]

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Gestaltung aus der inneren Kraft. Von der Gestalttherapie zur Gestaltpädagogik
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
41
Katalognummer
V378663
ISBN (eBook)
9783668577466
ISBN (Buch)
9783668577473
Dateigröße
781 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gestaltung, kraft, gestalttherapie, gestaltpädagogik
Arbeit zitieren
Ellena Danzig (Autor:in), 2014, Gestaltung aus der inneren Kraft. Von der Gestalttherapie zur Gestaltpädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/378663

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