Von Mängelwesen und Übermenschen. Medienanthropologische Betrachtungen am des Para-Olympioniken Markus Rehm


Dossier / Travail, 2016

31 Pages, Note: 1,1


Extrait


Inhalt

1 Einleitung

2 Der Kampf um Olympia: ethische Debatte um Fairness und Inklusion im Sport

3 Eine kurze Geschichte der Prothetik

4 Vom Mängelwesen zum Übermenschen
4.1 Der Mensch als (un)vollkommenes Wesen
4.2 Der Übermensch bei Nietzsche
4.3 Der Prothesengott bei Freud
4.4 Der halbe Mensch bei Plessner
4.5 Das Mängelwesen bei Gehlen

5 Die Übung an sich selbst – Anthropotechniken bei Peter Sloterdijk

6 Die Technizität des Sports

7 Der behinderte Sportler als Übermensch und Mängelwesen

8 Fazit

9 Literatur

1 Einleitung

Seit einigen Jahren wachsen die Aufmerksamkeit und die Begeisterung für den Behindertensport. Vor allem die als Olympiade für behinderte Sportler ausgetragenen Paralympischen Spiele erfreuen sich wachsender Beliebtheit und erfahren mittlerweile ein weltweites Medieninteresse. Behinderte Sportler tragen ihre Wettkämpfe in der Regel und je nach Behinderung in eigenen Disziplinklassen aus. Lässt sich die Leistung daher mit nichtbehinderten Sportlern vergleichen? Verschafft sich der Sportler mit einer Beinprothese einen Vorteil? Die Fragen drehen sich um den Fairnessgedanken im Sport und berühren zugleich ein gesellschaftliches Kernthema wie die Inklusion von Behinderten.

Markus Rehm ist Weitspringer und Kurzstreckenläufer. Seit einem Unfall in seiner Jugend, als ihm ein Bootmotor im August 2003 den Unterschenkel zerriss, trägt er am rechten Bein eine Unterschenkelprothese. Dennoch war es ihm nicht vergönnt, im Jahr 2014 an den Deutschen Leitathletik-Meisterschaften der nichtbehinderten Sportler teilzunehmen, die er prompt gewann. Spätestens mit diesem Erfolg begann jedoch die Kontroverse um seine Leistung. Zu einer Titelverteidigung im Jahr darauf durfte er zwar teilnehmen, eine Einbeziehung in die offizielle Wertung wurde ihm aber aus Gründen der Unvergleichbarkeit der sportlichen Leistung gegenüber unversehrten Sportlern verweigert (vgl. Henk 2016: 11).

Nicht zuletzt seit dieser Kontroverse befindet sich die internationale Sportwelt in einem Dilemma. Andere Sportarten leben sozusagen von dem technischen Fortschritt, der ein Teil des Wettkampfs ist. Im Radsport, beim Schwimmen oder im Skisport – um nur einige zu nennen – gehört ein perfekt präpariertes Material zum sportlichen Erfolg dazu. Im Rennsport ist die Ingenieursleistung und die technische Verbesserung untrennbar mit dem sportlichen Erfolg des Autorennfahrers verknüpft. Es stellt sich daher die Frage, wo technische Unterstützung im Sport als solche anfängt und wie die Vergleichbarkeit im sportlichen Wettkampf gewährleistet bleibt.

Die Diskussion berührt die philosophische Debatte um die Natur des Menschen. Denn das Technische ist dem Menschen seit jeher eingeschrieben und gehört zu seiner Kultürlichkeit und der Art, sich die Welt handhabbar zu machen. Das Thema besitzt gleichsam medienanthropologische Relevanz, geht es doch letztendlich um die Aufhebung des Gegensatzes von Natur und Technik. Da die Künstlichkeit in die Natur des Menschen eingeschrieben ist, wäre der Protheseneinsatz im Sport medienanthropologisch gedeutet gleichzusetzen mit dem Einsatz von beispielsweise abfedernden Laufschuhen oder anderer technischer und über Körperverbesserungen und Training hinausgehender Optimierungen im Sport. Die Frage wird zwar aktuell in der öffentlichen Debatte am Beispiel der Person Markus Rehm aus sportethischen Gründen der Fairness und Vergleichbarkeit der Leistungen behandelt, sie lässt sich jedoch einordnen in die lange Theorietradition des Menschen als Mängelwesen (Gehlen 2004) und Krüppelfigur (Sloterdijk 2009), als Vorstufe zum Übermenschen (Nietzsche 2014) und Prothesengott (Freud 2010), der sich technischer Artefakte bedient, um seiner Natürlichkeit – oder seiner natürlichen Künstlichkeit (Plessner 2003) – Ausdruck zu verleihen. Auch aktuelle Debatten von Harrasser (2013, 2016), Dederich/Meuser (2012) oder Bockrath (2012), aber auch Essays zu den Themen Doping und Natürlichkeit (vgl. Asmuth 2012) stoßen in diese Kehre und wenden sich bei den letztgenannten Autoren explizit dem Sport zu. Sie dienen dabei zum Vergleich des Verständnisses des scheinbaren Gegensatzes von Natur und Kultur, wie er bei der Debatte um die Inklusion von behinderten Sportlern mitschwingt.

Die Analyse des Menschen als mangelhaftes Wesen ist vermutlich so alt wie die Philosophie selbst (vgl. einen Abriss zur Technikphilosophie bei Scholz 2015, vgl. Anders 2010). Daher ist es schier unmöglich, das ganze Spektrum nennenswerter Denkmuster, die bis zu antiken Wurzeln zurückreichen, zu erörtern. Es soll aber versucht werden, einige zentrale Theorien insofern anzureißen, wie es der Argumentationsstruktur der Arbeit dienlich erscheint. Diese Arbeit versucht auch keine Antwort auf die sportethische Diskussion um Fairness und Inklusion zu geben – nicht zuletzt, weil ein eindeutiger Vor- oder Nachteil der Prothesen wissenschaftlich nicht erwiesen werden kann. Stattdessen soll der Mensch – am Beispiel von Markus Rehm und Oscar Pistorius der Sportler – in den (historisch gewachsenen) Kontext des technisch durchdrungenen Menschen im Rahmen einer prothetischen Medienanthropologie[1] gestellt werden. Die Fragestellung kreist also darum, wie sehr der Mensch technisch verfasst ist. Dafür ist es vonnöten, einen Abriss dieser Theorieschiene zu skizzieren, der sich zwischen den Polen vom Menschen als Mängelwesen bis hin zum Übermenschen bewegt. Exemplarisch dafür sollen im Rahmen dieser Arbeit Ernst Kapp, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen als Vertreter dieser Theorietradition sowie mit Blick auf eine recht aktuelle Diskussion Peter Sloterdijk Erwähnung finden. In der Forschung über die Prothetik – nicht zuletzt im Sport – hat sich auf deutschem Boden jüngst Karin Harrasser (insbesondere Harrasser 2013, 2016) hervorgetan. Daher soll auch auf sie vermehrt Bezug genommen werden, wenn es um die Beurteilung der Grenzen von Körperlichkeit sowie deren Verschiebung am Beispiel von Behinderung gehen soll. Ein kurzer Exkurs in die Disability Studies rahmt die Argumentation ab und soll bei der Beurteilung der Frage helfen, inwiefern der Mensch und insbesondere der Sportler tatsächlich als technisch verfasstes Wesen gelten kann.

2 Der Kampf um Olympia: ethische Debatte um Fairness und Inklusion im Sport

Der Behindertensport hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung etabliert, sein Bild hat sich enorm gewandelt (vgl. Blaschke 2012). Der gesellschaftliche Umgang mit Behinderung wird mittlerweile breit diskutiert. Die Debatte um körperlich versehrte Sportler erfährt damit zunehmende Resonanz. Gerade im Rahmen der Paralympischen Spiele offenbart sich jedoch vor allem in den Medien ein vielschichtiges Bild, das behinderte Menschen im ambivalenten Licht zwischen Mitleid, Staunen und Bewunderung zeigt (vgl. Masuhr 2016: 30ff.). Die Sportler werden zu Übermenschen stilisiert, wie die Kampagne des britischen Fernsehsenders Channel 4Meet the Superhumans – zu den Paralympischen Spielen 2012 in London zeigte. Für die Paralympischen Spiele des Jahres 2016 in Rio de Janeiro legte der Sender mit We’re the Superhumans nach.[2] Der Trailer zur aktuellen Kampagne zeigt das Musikvideo der The Superhuman Band mit dem Titel Yes I can. Der Name ist Programm. Denn darin werden in schneller Bildfolge mit einem Wechsel von musikalischen Virtuosen, die zum Beispiel armlos Klavier oder mit den Füßen Gitarre und Schlagzeug spielen, behinderten Menschen im Alltag und bekannten paralympischen Sportlern, eine große Bandbreite der für den ‚normalen‘ Menschen scheinbar übermenschlichen Leistungen präsentiert. Die Kampagne manifestiert das Bild von Helden, die es trotz ihrer Versehrtheit nicht nur geschafft haben, ihr Leben zu meistern, sondern in ihren Disziplinen außergewöhnliche Leistungen vollbringen.

Der Fall des südafrikanischen Leichtathleten Oscar Pistorius, der beidseitig unterschenkelamputiert ist, beschäftigte den Internationalen Leichtathletikverband (IAAF) im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 in Peking. Ein Jahr zuvor beschloss der Leichtathletikweltverband eine Regelerweiterung, nach der die Verwendung „of any technical device that incorporates springs, wheels or any other element that provides the user with an advantage over another athlete not using such a device“ verboten sei (IAAF 2007, Dederich/Meuser 2012: 143). Pistorius ging dagegen vor und wollte sich zu der Olympiade in Peking einklagen. Der IAAF verstand seine Prothesen als leistungssteigernd und wertete diese als unfairen Vorteil gegenüber nichtbehinderten Sportlern. Ebenso widersprach die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA[3] ) seiner Teilnahme. Jedoch bekam er vor dem Internationalen Sportgerichtshof (CAS[4] ) Recht und durfte letztlich an den folgenden Olympischen Spielen 2012 in London mit der südafrikanischen 4x400-Meter-Staffel teilnehmen. Die Vorteile der Prothese bezüglich der Energieausnutzung und des Beschleunigungsverhaltens würden nach einer Studie der Universität zu Köln bei Pistorius durch Nachteile während des Laufes aufgehoben (vgl. Harrasser 2016: 11). Dadurch konnte nicht zweifelsfrei bewiesen werden, dass die Prothesen eine Vorteilsnahme gegenüber unversehrten Sportlern darstellen. Es bleibt jedoch fraglich, wann ein Körper als natürlich gilt und was damit die Natur des Menschen, so es sie überhaupt gibt, ausmacht. Diese Arbeit wird die Fragen nicht beantworten können. Doch sie lässt erkennen, dass die Beurteilung von Fairness im Sport im erheblichen Maße schablonenartig für die generelle Inklusion von behinderten Menschen in der Gesellschaft steht. Gregor Wolbring ahnt in seiner schlussfolgernden Analyse zum Fall Pistorius, dass es noch mehr Fälle wie diesen geben wird und es dann nicht möglich sein wird, alle Sportler des Techno-Dopings zu bezichtigen (vgl. Wolbring 2008: 160). Der Fall kann jedoch als Präzedenzfall für die Fragen nach der Natur des Menschen und des Einsatzes von Anthropotechniken im Sport angesehen werden und wird gegenwärtig international kontrovers diskutiert (vgl. Dederich/Meuser 2012: 148).

Interessant bei der Debatte ist, dass die IAAF Prothesen wie jene von Pistorius zwar als legitim ansieht, technische Hilfsmittel jedoch als unfaire Bevorteilung bezeichnet: „It is important to underline that the IAAF does not have, nor contemplate, a ban on prosthetic limbs, but rather technical aids“ (IAAF 2007; vgl. Dederich/Meuser 2012: 144). Die WADA wiederum legt in ihren medizinischen Ausnahmegenehmigungen fest, dass verbotene Substanzen oder Methoden nur dann eingesetzt werden dürfen, wenn sie der Behandlung akuter oder chronischer Krankheiten dienen und zudem keine zusätzliche Leistungssteigerung außer der Rückkehr zum normalen Gesundheitszustand erreicht wird:

“a. The Prohibited Substance or Prohibited Method in question is needed to treat an acute or chronic medical condition, such that the Athlete would experience a significant impairment to health if the Prohibited Substance or Prohibited Method were to be withheld.
b. The Therapeutic Use of the Prohibited Substance or Prohibited Method is highly unlikely to produce any additional enhancement of performance beyond what might be anticipated by a return to the Athlete’s normal state of health following the treatment of the acute or chronic medical condition“ (vgl. WADA 2015).

Im Vorfeld der Sommerolympiade 2016 in Rio de Janeiro entbrannte die Diskussion, ob der deutsche Sportler Markus Rehm bei den Olympischen Spielen der nichtbehinderten Teilnehmer starten darf. Am 30. Mai 2016 wurde daher eine Studie von der Deutschen Sporthochschule Köln, des Human Informatics Research Institute, des National Institute of Advanced Industrial Science and Technology aus Japan sowie des Applied Biomechanics Lab der University of Colorado Boulder vorgestellt. Darin wurde explizit untersucht, ob Weitspringer mit Unterschenkelprothese einen wie vom internationalen Leichtathletikverband (IAAF[5] ) vorgebrachten Vorteil oder einen Nachteil durch ihre Behinderung beziehungsweise durch ihre technischen Prothesen erzielen würden. Die Studie konnte im Gesamtergebnis weder einen eindeutigen Vorteil noch einen klaren Nachteil feststellen. Zwar erzielt der Sportler einen Vorteil beim Absprung. Demgegenüber ist er jedoch beim Anlauf benachteiligt.

Der Fall Markus Rehm bildet in gewisser Weise das deutsche Pendant zum südafrikanischen Leichtathleten Oscar Pistorius. Beide Sportler zählen in ihren Disziplinen zu den absoluten Stars und bewegen sich im Behindertensport gewissermaßen außer Konkurrenz, weshalb ein Start bei den nichtbehinderten Sportlern eine neue Herausforderung darstellt. Wie auch bei Pistorius konnte weder ein Vor-, noch ein Nachteil durch die Prothesen zweifelsfrei bewiesen werden. Jedoch wird Rehm im Gegensatz zu Pistorius – der teilnehmen durfte, weil scheinbar keine Benachteiligung anderer Athleten vorlag – die Teilnahme an den Olympischen Spielen bisher verwehrt, da er eben nicht zweifelsfrei beweisen konnte, dass er keinen unfairen Vorteil aus seiner Prothese zieht.

Im Rahmen der Sportethik stellen sich in diesem Kontext oftmals Fragen nach der Abgrenzung von Leistungsverbesserungen durch erlaubte Hilfsmittel (genannt seien beispielsweise Nahrungsergänzungsmittel, Schmerzmittel, auf Rezept verschriebene Medikamente) und unerlaubtes Doping. Gerade beim Thema Doping scheiden sich die Geister. Dederich und Meuser sprechen in Bezug auf Prothesen von Techno-Doping, was dieser Form von Anthropotechnik (siehe dazu Kapitel 5) eine negative Konnotation verleiht. Doping wird in Anlehnung an die offizielle Definition der World-Anti-Doping-Agency (WADA) definiert „as the occurrence of one or more of the anti-doping rule violations set forth in Article 2.1 through Article 2.10 of the Code“ (WADA 2015: 18).Werden als Doping im Leistungssport verbotene körperfremde und körpereigene Mittel und Methoden zur künstlichen Leistungssteigerung verstanden, die in den Artikeln des WADA-Codes benannt werden (vgl. Caysa 2012: 110), so müsste es umgekehrt heißen: Erlaubt sind künstliche Hilfsmittel zur Leistungssteigerung, sofern sie nicht explizit verboten sind. Genau diesem Problem versucht die internationale Sportwelt mit einschlägigen Urteilen und Regelwerken wie bei den benannten Beispielen Rehm und Pistorius vorzubeugen.

Im Behindertensport – auch Parasport genannt – stellt sich die Problematik gleichsam anders dar, insofern versehrte Sportler technische Hilfsmittel benötigen, um ihren Mangel auszugleichen. Die Versehrungen besitzen jedoch unterschiedlichste Ausprägungen und Stufen, wonach die Sportler in entsprechende, möglichst vergleichbare Kategorien und Klassen eingeteilt werden, nach denen sie dann im sportlich – im bestmöglichen Fall – fairen Wettkampf gegeneinander antreten können.[6] Bei Oscar Pistorius wie auch bei Markus Rehm lässt sich nicht zweifelsfrei beantworten, ob Prothesen im Sport noch disabled oder schon superabled seien (vgl. Harrasser 2013: 41). Also in der Sprache des Sports gefragt: „Sind seine Prothesen 'neutral' oder 'leistungssteigernd'?“ (ebd.). Harrasser gibt die Antwort an gleicher Stelle selbst: „Technologien im Sport sind selbstredend niemals neutral.“ Als Beispiele nennt sie den Schwimmanzug, der der Haut eines Hais nachempfunden sei oder Laufschuhe, die speziell für den Läufer konstruiert wurden. Oftmals verbinden sich damit auch ökonomische Ungerechtigkeiten, da die erfolgreichsten und bekanntesten Sportstars mehr (vor allem finanzielle) Ressourcen zur Verfügung haben, um ihre technische Ausstattung zu optimieren, als das olympischen Novizen oder generell schlechter ausgestatteten Sportnationen möglich ist (vgl. ebd.: 44). Als völlig absurd kann die Debatte um Neutralität am Beispiel des Skisports und im Rennsport wie der Formel 1 bezeichnet werden, wo die technische explizit zur sportlichen Leistung dazugehört. „Der Sportkörper“, so Harrasser, „ist – entgegen des Mythos der Gleichheit individueller Leistungsfähigkeit – ein zutiefst in soziale und technische Netzwerke verstricktes Artefakt, eine höchst voraussetzungsvolle Konstruktion. Er ist eine Konstruktion im umfassenden Wortsinn: kulturell und materiell, sozial und in der biologischen Schicht“ (ebd.: 41f.).

3 Eine kurze Geschichte der Prothetik

In erster Linie dienen Prothesen zum Ausgleich eines Handicaps. Künstlicher Ersatz versucht den entstandenen oder angeborenen Mangel auszugleichen, „sie werden als technisches Supplement für etwas verstanden, dessen Verlust damit aus der Welt geschafft wird“ (Horn 2002: 110). Sie übernehmen Funktionen, welche zuvor der menschliche Körper übernommen hat. „Prothesen sind in dieser Hinsicht Medien der Anatomie“ (ebd.). Ein kurzer, historischer Abriss verdeutlicht diese Funktionsbeschreibung.

Bereits im Mittelalter erwiesen sich Prothesen als nützliche Artefakte, um körperliche Versehrungen auszugleichen oder sie bereits in verbesserter oder zweckdienlicher Form anzupassen. Als bekanntes Beispiel dient schließlich die historische Figur des Götz von Berlichingen aus dem 15./16. Jahrhundert, welche durch Johann Wolfgang von Goethe große Bekanntheit erlangte. Er steht für eine einsetzende Entwicklung der eisernen Hände, die Kriegsverletzungen nicht nur abmildern sollten, sondern die menschliche Hand durch ihre ausgefeilte und auf ihren Zweck ausgerichtete Mechanik ersetzen sollten (vgl. Spreen 2015: 49).

Erste Berichte von behinderten Menschen, die sich sportlich in der Öffentlichkeit messen, stammen aus England des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Zwei einschneidende Ereignisse, welche die maschinelle Produktion von Prothesen befeuerten, waren zur Mitte des 19. Jahrhunderts der Krimkrieg (1853-1856) sowie der amerikanische Bürgerkrieg (1861-1865). Massenhafte Tötungen und die Anfänge industrieller Kriegführung ließen auf der anderen Seite das systematische Sanitätswesen entstehen. Beispielgebend gründete sich 1863 das Rote Kreuz. Der Krieg lieferte der Prothese den Anlass zur industriellen Mobilmachung. Noch heute spielt das Militär eine bedeutende Rolle in der Entwicklung und Finanzierung von Prothesen (vgl. Harrasser 2013: 28). Harrasser spricht vom „technofetischistischen Narzissmus“ und sagt an gleicher Stelle: „Prothesen sind im 20. Jahrhundert aufs Engste verschränkt mit Ideen der Effizienz- und Leistungssteigerung in Fabrik und Militär auf der einen Seite und mit Selbststeuerungslehren auf der anderen Seite“ (ebd.: 33). Sie gehören gleichsam in eine industrialisierte und kapitalisierte Welt, welche nützliche, arbeitsfähige und möglichst spezialisierte Humanressourcen fordert, wogegen der versehrte Mensch gehandicapt und damit gegenüber der modernen Gesellschaft unangepasst bis unbrauchbar daherkommt (vgl. Horn 2002 111).

Ganz besonders im Anschluss an den Ersten Weltkrieg entwickelte sich daher eine prothetische Industrie, um Kriegsversehrten die möglichst reibungslose Reintegration in die Gesellschaft und insbesondere in das Berufsleben zu ermöglichen sowie die Nachkriegsgesellschaft als solche zu stabilisieren und den Alltag zu normalisieren. In Deutschland war bereits ab 1915 Georg Schlesinger in der Berliner Prüfstelle für Ersatzglieder mit der Typisierung von Prothesen sowie der Standardisierung von Normen – die später zu flächendeckenden, industriellen Normierungsvorschriften (DIN) ausgebaut wurden – für die genaue Passung der Prothesen betraut, sodass diese im (Arbeits-)Alltag spezielle Verwendung finden konnten. Sie wurden schließlich als ‚Schmuck-‘ oder ‚Arbeitsarme‘ konzipiert oder versuchten als sogenannte ‚Sonntagsarme‘ die im Krieg erlittene Versehrung im Alltag zu verbergen. Mit der Idee des Armersatzes wurde zunehmend versucht, die Prothese als selbstverständlichen und multifunktionalen Teil des Körpers zu verstehen, die der natürlichen Funktion der körperlichen Extremitäten wie Arme, Beine, Hände und Füße weitestgehend entsprechen sollte. Dafür wurden die kriegsversehrten Menschen umfangreich vermessen, um eine gelungene Anpassung der Prothese an den menschlichen Körper zu gewährleisten und gleichzeitig nach der oft beschwerlichen Eingewöhnung mit der Prothese Normalität herzustellen. Das von Dierk Spreen in der Weimarer Republik angesprochene „Normalisierungsphänomen“ (Spreen 2015: 52f.) verortete die Prothese gleichsam als fortschrittliche Technologie und ganz natürliche Erweiterung des Körpers, um den gesellschaftlichen Diskurs um Kriegsfolgen zu verklären.

Deutlich wird hier die Modularisierung des menschlichen – insbesondere versehrten – Körpers, der mit ineinandergreifenden und austauschbaren Werkzeugen ausgestattet und ‚repariert‘ werden kann. Der Mensch ist somit zur Selbstverbesserung eigener Mängel fähig. Ergänzend dazu sollte die sogenannte Krüppelpsychologie wie im Berliner Oskar-Helene-Heim unter dem Diktum der Schulung des eigenen Willens und der Stärkung des Selbstverständnisses für die psychologische Rehabilitierung der Kriegsversehrten sorgen (vgl. Harrasser 2013: 89ff.; Horn 2002: 117ff.).

In der Zwischen- und Nachkriegszeit steht die Prothese stellvertretend für die ambivalenten Effekte von Wissenschaft und Technik. Denn nicht zuletzt der Erste Weltkrieg hat als groteskes Modernisierungsphänomen jene Entwicklung vorangetrieben, welche die Kriegsversehrten mit den Mitteln der Prothetik in die Nachkriegsgesellschaft integrieren sollte. Es setzte damit ein Paradigmenwechsel ein. Aus Sorge um die Kriegsversehrten entwickelte sich im Rahmen der Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland im und nach dem Ersten Weltkrieg die orthopädische Industrie und die Prothetik, welche in enger Abstimmung mit dem Kriegsministerium zurückgekommene Soldaten versorgte und damit die gesellschaftliche Reintegration der Männer gewährleisten sollte, welche ihrer Rolle als Familienoberhäupter und -versorger mit Handicap kaum noch gerecht werden konnten. Reintegration meint aber auch, dass sich Kriegsinvaliden im Alltag möglichst unauffällig bewegen können. „Die Versorgung der Kriegsversehrten mit Prothesen hatte also zwei Ziele, denen man sowohl soziale Reintegration und ökonomische Leistungsfähigkeit unterstellen kann: Unauffälligkeit und Produktivität“ (Harrasser 2013: 89). Der „prothetische Erweiterungsdiskurs, […] der mit dem Ersten Weltkrieg begann“ (Spreen 2015: 57) erstreckte sich dabei von Medien der medizinischen Heilung bis hin zu kybernetischen Medien der physiologischen Erweiterung.

Fortan sollten Prothesen nicht nur einen Mangel ersetzen, sondern eine entscheidende Verbesserung bewirken, um gleichberechtigt zu nichtbehinderten Menschen bestens im Alltag zurechtzukommen. Als zentrales Feld des Diskurses um Leistungsverbesserung und Enhancement in einer Gesellschaft hat sich im Laufe der Zeit der Sport – und hier insbesondere der Leistungssport – herauskristallisiert. Denn wie Spreen in seinem Essay zur ‚Upgradekultur‘ betont, stammt der Drang zur permanenten Verbesserung nicht zuletzt aus den „Logiken der Konkurrenz, des Wettkampfes oder des Krieges“ (ebd.: 129). Geht es in der Prothetik um die Technisierung des behinderten Körpers, so sorgte bereits die Professionalisierung des Krieges für die Technisierung des Soldatenkörpers mittels seiner Ausrüstung. Für Paul Virilio gilt der behinderte Mensch, der „dank seiner Ausrüstung seine Behinderung überwinden“ kann, als Vorbild des „überrüsteten Gesunden“ (vgl. Virilio 1994: 110; Spreen 2015: 59).

Die Idee der paralympischen Bewegung konzipierte schließlich als Folge des Zweiten Weltkrieges der Neurologe Sir Ludwig Guttmann, der 1945 ein Zentrum für Rückenmarksverletzte errichtete, das Bewegungstherapie und Sport miteinander verbinden sollte. 1948 veranstaltete er – zeitgleich mit Beginn der Olympiade – die sogenannten Stoke-Mandeville-Spiele für Rückenmarksverletzte. Seitdem fanden die Spiele jährlich statt, ehe 1960 in Rom die ersten offiziellen Paralympischen Spiele an gleicher Stelle wie die Olympischen Spiele der nichtbehinderten Sportler ausgetragen wurden. Seit jeher finden die Paralympischen Spiele aller vier Jahre, im selben Turnus und mit wenigen Ausnahmen auch am selben Ort wie die Olympischen Wettbewerbe der nichtbehinderten Sportler statt (vgl. Jahnke/Schüle 2006: 11f.).

[...]


[1] Der Autor bedient sich dabei dem Begriff der prothetischen Anthropologie bei Harrasser (2016: 31ff.).

[2] online unter: https://www.youtube.com/watch?v=IocLkk3aYlk (letzter Zugriff: 08.09.2016)

[3] W orld- A nti- D oping- A gency

[4] C ourt of A rbitration for S port

[5] I nternational A ssociation of A thletics F ederations

[6] Das Internationale Paralympische Komitee (IPC) definiert in seinen IPC Classification Code international gültige Standards zur Einteilung der Athleten in Wettkampfklassen. Die Klassifizierung dient dazu, einen sportlich weitestgehend vergleichbaren und fairen Wettkampf im Umgang mit unterschiedlichen Formen von körperlicher Beeinträchtigung herzustellen. Die Berichterstattung zu den Paralympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro offenbarte gleichzeitig, dass sich das IPC schwertut, diesem fairen Gedanken zu folgen. So kam es dazu, dass beispielsweise im Schwimmsport kleinwüchsige Sportler mit behinderten Schwimmern mit Teilamputationen und Sportlern mit spastischen Behinderungen gleichgestellt wurden und um dieselben Medaillen wetteiferten.

Fin de l'extrait de 31 pages

Résumé des informations

Titre
Von Mängelwesen und Übermenschen. Medienanthropologische Betrachtungen am des Para-Olympioniken Markus Rehm
Université
University of Weimar  (Fakultät Medien)
Cours
Mediale Anthropologie
Note
1,1
Auteur
Année
2016
Pages
31
N° de catalogue
V380329
ISBN (ebook)
9783668568273
ISBN (Livre)
9783668568280
Taille d'un fichier
892 KB
Langue
allemand
Mots clés
Human Enhancement, Anthropotechnik, Doping, Sport, Markus Rehm, Paralympics, Nietzsche, Freud, Gehlen, Sloterdijk, Plessner, Mängelwesen, Mensch, Medienanthropologie, Philosophie, Anthropologie
Citation du texte
Felix Luderer (Auteur), 2016, Von Mängelwesen und Übermenschen. Medienanthropologische Betrachtungen am des Para-Olympioniken Markus Rehm, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/380329

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