Der internationale Musikmarkt wird (noch) von fünf ‚Majors’ (BMG, Sony, EMI, TimeWarner, Polygram/Universal) beherrscht. Rund 90 Prozent aller Tonträger werden von diesen Giganten hergestellt und/oder weltweit vertrieben. Auch in Lateinamerika haben sie den Markt unter sich aufgeteilt. Für kleine Firmen bzw. Label bleiben nur Nischenmärkte oder die Vorarbeit für die ‚Majors’ übrig.
Um ihre Position auf den nationalen Märkten Lateinamerikas zu verbessern – sie verkaufen bisher im Durchschnitt nur 80 Prozent der Tonträger dort – haben fast alle ‚Majors’ nationale Ableger gegründet. So werden sie zu ‚nationalen’ Konkurrenten für die wenigen verbliebenen ‚Indies’ (Independent), kleinen nationalen Labeln, die kein globales Kapital besitzen, um im Wettbewerb auf Dauer zu bestehen. Fast alle bekannten lateinamerikanischen Musiker sind inzwischen bei einem der ‚Majors’ unter Vertrag.
Ausgehend von dem heutigen Stand der Musikindustrie in Chile, liefert die vorliegende Arbeit zunächst einen Überblick über die Entwicklung der Musik in Chile. Anschließend wir die Musik in Zusammenhang mit dem Staat und der Gesellschaft gebracht.
Zum Ende werden die lateinamerikanischen Einflüsse auf die chilenische Popularmusik herausgearbeitet, wie auch die Entwicklung von Jazz, Pop, Rock und Techno.
Inhaltsverzeichnis
1 Chiles Musikmarkt im regionalen Zusammenhang
1.1 Chile
2 Die Geschichte der Musik in Chile
2.1 Indigene Musik
2.1.1 Musik als Mittel der Evangelisierung
2.2 Von der Kolonialmusik zur Folklore
2.3 Der musikalische Aufbruch im 19. Jahrhundert
2.4. Von der Wiederentdeckung der Folklore bis zur Nueva Canción
2.4.1 Musik als Waffe - Victor Jara und die Politisierung des chilenischen Liedes
2.4.2 Diktatur oder Exil?
2.5. Chilenische Konzertmusik im 20. Jahrhundert
3. Musik, Staat und Gesellschaft
4. Lateinamerikanische Einflüsse auf die chilenische Popularmusik
5. Jazz, Pop, Rock und Techno erobern die Peripherie
6. Chilenische Musik im Internet
7. Schluss
Literaturverzeichnis:
Auswahl-Diskographie:
1 Chiles Musikmarkt im regionalen Zusammenhang
Der internationale Musikmarkt (Umsatz 2000: $ 36,9 Milliarden) wird (noch) von fünf ‚Majors’ (BMG, Sony, EMI, TimeWarner, Polygram/Universal) beherrscht. Rund 90 Prozent aller Tonträger werden von diesen Giganten hergestellt und/oder weltweit vertrieben. Auch in Lateinamerika haben sie den Markt unter sich aufgeteilt (siehe Tabelle 2). Für kleine Firmen bzw. Label bleiben nur Nischenmärkte oder die Vorarbeit für die ‚Majors’ übrig. Auf der Rangliste der Absatzmärkte für Tonträger nimmt Lateinamerika (Umsatz 1999: $ 1,89 Milliarden) nach Auskunft der International Federation of the Phonographic Industry (IFPI) einen abgeschlagenen vierten Platz ein, nach Nordamerika, Europa und Asien. Und das, obwohl der lateinamerikanische Markt (siehe Tabelle 1) in den Jahren von 1994 bis 1997 ein enormes Wachstum aufwies, vor allem seit dem internationalen Erfolg lateinamerikanischer Musik seit etwa 1996/97, der im achtfachen Grammygewinn Santanas 1999 und der Schaffung der jährlichen ‚Latin Grammy’-Verleihung gipfelte.
Ein weiterer Grund für das Wachstum in dieser Zeit war sicherlich der Preisverfall im Bereich der Unterhaltungselektronik seit 1994, besonders in Brasilien, wo fast die Hälfte aller Tonträger auf dem Kontinent abgesetzt wird. 1997/98 stagnierte die Wachstumskurve aufgrund der Wirtschaftskrisen in Lateinamerika und Asien.[1] Denn besonders in der Dritten Welt sind es „die Konsumgütermärkte, die schnell und heftig auf Krisen reagieren“, wie André Midani, Präsident von Warner Music Latin America, in einem Interview erklärte.[2] Eine Entwicklung, die sich auch 1999 und 2000 in einem rund einprozentigen Rückgang des Umsatzes bemerkbar machte, nicht zuletzt wegen der On- und Offline-Piraterie: Der weltweite Verkauf von CD-Rohlingen stieg laut IFPI im Jahr 2000 beispielsweise um 80 Prozent an. Im ersten Halbjahr 2001 betrug der Umsatzrückgang in Lateinamerika sogar 20 Prozent.[3]
Tabelle 1: Tonträgerabsatz der wichtigsten lateinamerikanischen Märkte 1999 (in Mil. Stück)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: IFPI MC = Musikcassette, CD = Compactdisc
Um ihre Position auf den nationalen Märkten Lateinamerikas zu verbessern – sie verkaufen bisher im Durchschnitt nur 80 Prozent der Tonträger dort – haben fast alle ‚Majors’ nationale Ableger gegründet. So werden sie zu ‚nationalen’ Konkurrenten für die wenigen verbliebenen ‚Indies’ (Independent), kleinen nationalen Labeln, die kein globales Kapital besitzen, um im Wettbewerb auf Dauer zu bestehen. Fast alle bekannten lateinamerikanischen Musiker sind inzwischen bei einem der ‚Majors’ unter Vertrag: Los del Río (Mexiko) bei BMG International, wie auch Nicole (Chile). Polygram Latino hat mit Mercedes Sosa (Argentinien), Control Machete (Mexiko) und Chico César (Brasilien) unter anderen drei Superstars an Bord, während EMI/Warner mit den Enanitos Verdes (Argentinien), Maná und Luis Miguel (Mexiko) aufwarten kann. Bei Sony schließlich sind Shakira (Kolumbien) und José Luis Rodríguez (Venezuela) zu Hause.[4] Den ‚Majors‘ ist klar geworden, daß das wirtschaftliche Potential eines Landes nur dann voll ausschöpfbar ist, wenn die nationalen kreativen Ressourcen dieses Landes erschlossen werden. Gleichzeitig entwickeln sich die ‚Majors‘ immer mehr zu Multimedia-Unternehmen, die ihre Produkte global mehrfach verwerten. So wird ein Hit wie ‚La vida loca‘ von Ricky Martin weltweit nicht mehr nur als Tonträger in den eigenen Musikgeschäften vermarktet, sondern auch als Videoclip in den eigenen TV-Stationen, als DVD oder neuerdings auch als MP3-File über das Internet.[5]
Die ‚Indies’ dienen fast nur noch dazu, Künstler zu entdecken, sie national bekannt zu machen und dann an die ‚Majors’ weiterzureichen. Sie habe nicht die ökonomische Kraft, ihre Talente international zu vermarkten. Auch erreichen sie nicht die Absatzzahlen, die notwendig sind, um die Kosten für ein aufwendig produziertes Album hereinzuholen. ‚Indies’ überleben nur in speziellen Nischen (Techno, Darkmetal etc.), die allerdings in Lateinamerika nicht die Rolle spielen, die sie auf dem europäischen Markt einnehmen. Hoffnungen setzen alle ‚Indies’ neuerdings auf das Internet, das eine weltweite Direktvermarktung ohne hohe Kosten ermöglicht. Aber noch beträgt die Distribution von Musik über das Netz gerade mal zwischen ein und zwei Prozent des gesamten Musikmarktes, auch wenn dieses Thema durch die Prozesse der Musikindustrie gegen Onlineanbieter wie Napster oder MP3.com lange die Medien beherrschte.[6]
Tabelle 2: Aufteilung der wichtigsten lateinamerikanischen Märkte in Prozent (1996)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: IFPI/ Yúdice
Die 80 Prozent Umsatzanteil der ‚Majors’ in Lateinamerika werden im Gegensatz zu den vorherigen Jahrzehnten heute nur noch zu rund einem Drittel mit einem internationalen (angelsächsischen) Repertoire erzielt (siehe Tabelle 3). Nationale und regionale Interpreten garantieren inzwischen die Absatzzahlen, nicht zuletzt ein Erfolg des Fernsehsenders MTV-Latina[7]. Einem Report der IFPI zufolge hat sich der Anteil von nationalen Interpreten an der internationalen Musikproduktion zwischen 1991 und 2000 von 58 auf 68 Prozent erhöht.[8]
Tabelle 3: Verkäufe nach Repertoire in Prozent (1996)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Yúdice
Piraterie als internationales Problem bereitet der Musikindustrie auch in Lateinamerika Kopfschmerzen. Trotz verschärfter Maßnahmen der Federación Latinoamericana de Productores de Fonogramas (FLAPF) in Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden betrugen die Verluste durch Raubkopien 1999 geschätzte $ 1,15 Milliarden nur für US-Copyrights (weltweit: $ 4 Milliarden). Einer der größten Absatzmärkte für illegale Tonträger ist Brasilien, mit einem Marktanteil von rund 50 Prozent. So wurden dort 1996 rund 70 Millionen Cassetten als Raubkopien verkauft. Bei zunehmender Armut großer Bevölkerungsteile finden Cassetten für zwei oder drei Dollar reißenden Absatz. In den vergangenen drei Jahren ist der Anteil von illegalen CDs erheblich angestiegen. Das liegt einerseits an den privaten Raubkopien, wie auch an neu errichteten illegalen Kopierwerken südostasiatischer Verbrecherkartelle in Lateinamerika.[9]
Die beiden größten Zentren Lateinamerikas zur Herstellung von Raubkopien befinden sich in Mexiko City (Barrio de Tepito) und in Paraguay an der Grenze zu Brasilien. Dort hatte die südostasiatische Musikmafia, die das Land bisher nur zur Durchschleusung von Raubkopien benutzt hatte, in Ciudad del Este zwei Fertigungsstätten errichtet, die bis zu 40 Millionen CD-Kopien jährlich produzieren konnten. Diese wurden 1999 von den Sicherheitsbehörden entdeckt und geschlossen. Das hat allerdings zur Folge, daß die Piraten nun in vielen kleinen Betrieben weitermachen. Der Marktanteil illegaler Tonträger beträgt in Paraguay 95 Prozent. Auch in Mexiko war den Fahndern Erfolg beschert: Sie knackten im Sommer 2000 einen Ring von Musikpiraten, der rund 20 Millionen illegale CD’s jährlich herstellte.[10]
1.1 Chile
Chile ist im Vergleich zu Argentinien, Brasilien und Mexiko ein relativ kleiner Markt. Der Umsatz betrug 1999 $ 76,2 Millionen, verkauft wurden 4,8 Millionen CDs und 3,4 Millionen MCs. Auch hier wird der Markt von den ‚Majors’ beherrscht, fast alle nationalen Pop- und Rock-Stars sind dort unter Vertrag: Nicole bei BMG – ihr 94er Album ‚Esperando Nada’ verkaufte sich 80.000 Mal in Chile –, der Balladensänger Alberto Plaza bei EMI, die Rockgruppen Los Tres bei Sony (‚Unplugged’ verkaufte sich 125.000 Mal) und La Ley bei Warner.[11] Der Marktanteil nationaler Interpreten betrug 1996 etwa 26 Prozent. Das ist eine Verschlechterung gegenüber früheren Jahren, 1972 lag er noch bei 30 Prozent. Somit läuft die Entwicklung in Chile dem o.g. internationalen Trend entgegen.[12]
Die Geschichte der transnationalen Musikfirmen in Chile beginnt in den 40er Jahren, zuvor hatte es nur eine unbedeutende Herstellung von Schellackplatten gegeben. RCA Víctor kam als erstes Unternehmen ins Land und baute auch das erste Aufnahmestudio. Kurz darauf folgten EMI Odeon und Phillips. Zunächst wurden nur Opern produziert, bald aber auch Popular-Musik von den Cuatro Huasos, Chilote Campos und von den Hermanas Parra (Violeta und Hilda). Der Verkauf von Schallplatten schnellte in den 50er Jahren in die Höhe, weil die neuartigen Vinyl-Schallplatten und die nun im Land hergestellten Musikboxen billiger wurden. Folkloresänger wie Pedro Messone und Tito Fernández standen bei RCA Víctor ebenso unter Vertrag wie die Tanzorchester Los Caribe, Los Peniques und Pachuco y La Cubanacán und auch die ersten Rock ‚n’ Roll-Gruppen.[13]
Mit der Verstaatlichung des Labels RCA-Víctor durch die Regierung Allende erhielt 1970 das Unternehmen Industria de Radio y Televisión (IRT) die Hoheit über einen Back-Katalog mit rund 2.000 Aufnahmen von nationalen Künstlern (Violeta Parra, Los Mac’s etc.). Nach dem Militärputsch wurde IRT privatisiert, das vorhandene musikalische Material – soweit nicht zerstört - jedoch nicht mehr genutzt und vergessen. Ein Wiederbelebungsversuch 1978 scheiterte an der Wirtschaftskrise Anfang der 80er Jahre. Es wurden keine Platten mehr gepresst, nur noch Cassetten hergestellt. RCA wurde von BMG aufgekauft, jedoch nicht der nationale Katalog. Diesen erwarb ARCI Music, dessen Chef, David Yáñez, es sich zur Aufgabe gemacht hat, einen Teil der alten Aufnahmen zu katalogisieren, zu restaurieren und zu veröffentlichen.[14]
Neben den großen Labeln behaupteten sich immer nur wenige kleine Firmen. In den 50er Jahren erschienen etliche Rock ‚n‘ Roll-Singles auf unabhängigen Mini-Labeln, unter Allende war DICAP erfolgreich, und während der Diktatur wurde Alerce ins Leben gerufen. Auf die beiden letzteren werde ich später noch eingehen.
Nach dem Ende der Herrschaft Pinochets entstanden viele kleine Musikfirmen in den verschiedenen Nischen. Das Label Inferno Records (1990-1997) war zum Beispiel vor allem für Heavy Metal-Produktionen bekannt. Nach seinem Konkurs musste es einen Großteil der Werke seiner Interpreten an BMG verkaufen.[15] Das Label Jazzmanía kümmert sich um Jazz-, Fusión um Rockgruppen. Musik von chilenischen Künstlern zu produzieren, war immer mit einem ökonomischen Risiko verbunden, weswegen die internationalen Firmen kaum Interesse an der Förderung nationaler Künstler zeigten. Als garantiertes Verkaufsminimum legten sie für Chile 5.000 Einheiten fest, so dass viele Musikrichtungen - Neue Konzertmusik, Jazz, etc. - von vornherein ausschieden.[16]
Eine wichtige Rolle bei der Unterstützung nicht kommerzieller klassischer Musik spielen öffentliche oder private Institutionen. Die 1936 gegründete Asociación Nacional de Compositores (ANC) rief zur Herstellung und Distribution von Aufnahmen Neuer Konzertmusik 1987 die Firma SVR Producciones ins Leben, das Instituto de Extensión Musical (IEM) der Universidad de Chile gab von 1940 bis 1974 Partituren und Schallplatten heraus. ANACRUSA, eine private Initiative von Musikern und Musikwissenschaftlern, kümmerte sich seit 1984 um die Belange der Neuen Konzertmusik.[17] Auf weitere staatliche Institutionen des Musiklebens, die nach dem Ende der Militärdiktatur geschaffen wurden, gehe ich unter Punkt 4 ein.
Der Anteil der Piraterie am Musikmarkt wird in Chile auf 10 bis 30 Prozent geschätzt. Das ist im lateinamerikanischen Vergleich eher wenig, aber genug, um auf der ‚Watch List’ der International Intellectual Property Alliance (IIPA) zu stehen. Raubkopien finden sich auf den Märkten aller großen Städte, vor allem das private Raubkopieren nimmt dramatisch zu. Die Verkaufszahlen von Tonträgern nahmen von 1999 bis 2000 um 40 Prozent ab, der finanzielle Verlust wird für das Jahr 2000 auf rund fünf Millionen US-Dollar geschätzt. Im selben Jahr führte die Polizei über 200 Aktionen gegen professionelle Piraten durch, 70 Anklagen ergaben elf Verurteilungen. Das Justizsystem ist zu langsam, die Polizei überbeschäftigt und unterbezahlt und das Urheberrechtsgesetz veraltet (1970). Außerdem sind die Grenzkontrollen zu lasch, so dass Piratenprodukte unbemerkt ins Land kommen können.
Chile hat die Urheberrechts-Verträge der World Intellectual Property Organisation (WIPO) noch nicht ratifiziert, weswegen die IIPA der US-Regierung empfiehlt, Urheberrechtsfragen mit in die Verhandlungen über eine gemeinsame Freihandelszone aufzunehmen.[18] Auch das Welturhebertreffen, das im September 2000 in Santiago stattgefunden und sich mit den Problemen der Globalisierung, der Informationsgesellschaft und dem globalen Schutz des Urheberrechts befasst hat, konnte den Prozess nicht beschleunigen.[19]
2 Die Geschichte der Musik in Chile
2.1 Indigene Musik
Was wir über die Musik der Eingeborenen und deren Kontakt zu den Jesuiten wissen, stammt aus der Feder europäischer Autoren. Die indigene – orale - Kultur hat keine Zeugnisse hinterlassen, und aus Erzählungen wurde nur wenig zu diesem Thema überliefert.
Die ersten Beschreibungen der Musik und der Tänze der indigenas stammen von einem spanischen Soldaten - Alonso González de Nájera - aus dem Jahre 1614 und von einem Jesuitenpater - Alonso de Ovalle - aus dem Jahr 1646. Beide Autoren stellen die Zeremonien der Indianer als primitiv dar und behaupten, ihre Flöten seien aus den Knochen gefallener spanischer Soldaten gemacht.[20]
Die indigene Urbevölkerung Chiles setzte sich aus vier Völkern, dem Atacameño-, dem Aymara-, dem Mapuche- und dem Fuegoino-Volk zusammen.[21] Während die Fueguino-Stämme Patagoniens ausstarben bzw. vollständig assimiliert wurden, leben die anderen Völker heute auf verschiedenen Akkulturationsstufen. Heute stellen sie rund zehn Prozent der 15 Millionen Chilenen (1999).
Die Atacameño leben in Oasen der Atacama-Wüste. Sie praktizieren eine synkretistische Religion, das heißt eine Mischform aus ihrer Naturreligion und dem Katholizismus. Die Verehrung von pachamama (Mutter Erde) steht dabei im Vordergrund. Bei ihren religiösen und weltlichen Festen benutzen sie noch heute die Instrumente ihrer Ahnen. Die wichtigsten prä-hispanischen Instrumente der Atacama-Bewohner waren Trompeten aus Schilfrohr (clarín) oder Horn (putu) und Rasseln (chorimori). Von den Spaniern übernahmen sie verschiedene Trommeln und die Gitarre. Clarín, putu und chorimori kommen bei den Feierlichkeiten zu Ehren des Wassers zum Einsatz, während Gitarre und Trommeln für den Karneval benutzt werden, der bei den Atacameños als Erntedankfest gefeiert wird.[22]
Bevor die Aymara- oder Anden-Indianer im 16. Jahrhundert begannen, von den Spaniern die Sprache und den Katholizismus zu übernehmen, waren sie schon von den Inka unterworfen worden. Die Aymara leben am Fuß der Anden und praktizieren ebenfalls eine synkretistische Religion. Auch sie übernahmen von den Spaniern und anderen Europäern Instrumente wie die Gitarre, die Violine oder die Metall-Trompete. Bei ihren ursprünglichen Instrumenten handelt es sich hauptsächlich um Flöten aus Schilfrohr, Knochen (kena, siku) oder Holz (tarka), die heutzutage auch aus Plastik oder Kupfer gefertigt werden. Die siku (Panflöte) unterteilt sich je nach Register(Tonart) in die sanha (tenor), contra (alt) und liku (sopran). Während der religiösen und der Ernte-Festivitäten werden meistens traditionelle und übernommene Instrumente gemeinsam verwendet. Beim Karneval gibt es große Orchester, die neben traditionellen Liedern auch cumbia (afro-kolumbianische Tanzmusik) und Walzer spielen. Für religiöse Prozessionen bilden sich spezielle Ensembles, die so genannten sikuri. Sie bestehen aus zehn Panflötenspielern verschiedener Tonarten.[23]
Den längsten und stärksten Widerstand gegen ihre Akkulturation leisteten in Chile die verschiedenen Stämme des im Süden lebenden Mapuche-Volkes.[24] Schon den Angriffen der Inka hatten sie widerstanden, und als 1536 die Spanier in ihr Gebiet einfielen, drängten die Mapuche auch diese zurück. Von den Angreifern stahlen sie Pferde und bauten sich eine eigene Reiterei auf, so dass auch die überlegenen Waffen der Spanier nicht zum Sieg ausreichten. 1641 musste die Kolonialmacht ihre Unabhängigkeit anerkennen. Der Mapuche-Staat bestand bis 1884, dann führten immer modernere Waffen und die Ansiedlung von Wehr-Kolonisten zu seinem Ende.[25]
Ihre Naturreligion behielten die Mapuche trotzdem bei und legten nur ein dünnes Substrat des Katholizismus darüber. Solchermaßen christlich bekehrt, verehren sie weiterhin ihre Götter, zu denen sie mit Hilfe von Schamanen Kontakt aufnehmen. Dabei tanzen diese sich zu den Klängen von Kesselpauken (kultrún) und Rasseln (wada, kaskawilla) in Trance.
Bei ihren religiösen und weltlichen Festen benutzen die rund 700.000 chilenischen Mapuche auch Flöten aus Stein, Schilfrohr oder Holz (pifülka, piloilo, pinkullwe) und Trompeten (kullkull, nolkín, trutruka).[26] Die zwei bis sechs Meter lange trutruka gleicht einem Alphorn und wird auch zur Verständigung über weite Entfernungen verwendet. Von den Europäern, vor allem von den deutschen Siedlern, die in ihrer Region seßhaft wurden, übernahmen die Mapuche verschiedene Instrumente, wie zum Beispiel das Akkordeon und die Harfe.[27] Sie werden häufig bei den mehrere Tage dauernden ramadas gespielt, Sing- und Tanzfesten zum Ende der Erntezeit, bei denen auch Walzer und Polkas vorgetragen werden. Aber auch bei den Mapuche schreitet die Akkulturation voran. Durch Fernsehen und Radio kommen - nicht nur in musikalischer Hinsicht - neue Einflüsse in die reducciones, abgetrennte Gebiete, in denen sie leben. Und auch die rund 300.000 in den Städten lebenden Mapuche bringen bei ihren Heimatbesuchen neue kulturelle Errungenschaften mit. Den Kampf gegen die Moderne - wenn man denn den Verlust traditioneller Werte als negativ ansieht - verlieren auch die Mapuche.[28]
2.1.1 Musik als Mittel der Evangelisierung
Der Einfluß der Jesuiten auf die Musik der Indianer - von ihnen allesamt Araukaner genannt - war immens. Sie benutzten die Musik, um die Eingeborenen zum Christentum zu bekehren und vermittelten die katholische Doktrin durch die Musik. Dabei kam ihnen zugute, dass die Musik der Araukaner in Struktur und Melodie den Gesängen der Jesuiten ähnlich war. Monophone Melodien mit wiederholten Hebungen und Senkungen und Texte in Versform gesungen, von allen zusammen oder einer Gruppe, die einem Vorsänger folgte, gab es sowohl bei den Eingeborenen wie bei den Jesuiten. Sowohl jesuitische wie auch araukanische Gesänge hatten nur eine beschränkte melodische Spannweite. Die Jesuitenmönche komponierten passend dazu Texte katholischen Inhalts in Reimform und in araukanischer Sprache. Überliefert sind solche Gesänge in den so genannten ‚ gramáticas ‘. Diese Dokumente vom Anfang und vom Ende der Jesuiten-Anwesenheit belegen eine Kontinuität in der musikalischen Tradition.[29]
Detailliert beschreibt der aus der Nähe von Köln stammende Mönch Bernardo Havestadt in seinem 1777 erschienenen Werk ‚Chilidúgú: sive, Tractatus linguae Chilensis‘, wie die Mönche araukanische Texte mit spanischen Vokabeln durchsetzten, um den Eingeborenen die ihnen völlig fremden religiösen Konzepte nahezubringen. Teilweise waren über 50 Prozent der Vokabeln eines Textes auf spanisch geschrieben, wie der nachfolgende Text über die sieben Sakramente der katholischen Kirche zeigt: Ta in Ñuque santa Iglesia ta ni Sacramento relûei Unelelu Bautismo Epulelu Confirmacion. Cúlalelu Penitencia. Melilelu Comunion. Quechulelu Extrema uncion. Cayulelu Orden sacerdotal. Relûelelu Matrimonio. [30]
Die Mönche nahmen so auch Einfluss auf andere Teile der araukanischen Kultur. Die recht eifrigen Eingeborenen lernten die Doktrin bemerkenswert schnell und sangen sie auch außerhalb der Messen. Doch eine Konversion zum katholischen Glauben hatten sie nur vordergründig vollzogen. 1767 wurde der Jesuitenorden aus Lateinamerika verbannt, doch sein Einfluss auf die Musik hielt noch lange an. Vor allem auf der zu Chile gehörenden Insel Chiloé verdrängten die gregorianischen Gesänge der Mönche die Musik der dort lebenden Williche-Indianer (Süd-Mapuche) gänzlich.[31]
[...]
[1] vgl. IFPI 1999.
[2] vgl. Yúdice, S. 188.
[3] vgl. IFPI 1999/ IFPI 2001, S. 3/ www.ifpi.org.
[4] vgl. Yúdice, S. 210-213.
[5] vgl. Smudits, S. 40.
[6] siehe dazu: Torsten Eßer. music-and-sound.de. Musik im Internet, Köln 2000.
[7] MTV Latina mit Sitz in Miami nahm 1993 seinen Betrieb auf. Von seinem ‚neutralen‘ Sitz aus, strahlte es zunächst ein gesamtlateinamerikanisches Programm aus. 1996 wurde es zweigeteilt, in ein Programm für Mexiko, Zentralamerika und die Karibik und eine weiteres für Argentinien, Chile und den Rest Südamerikas. MTV-Latina hatte 1997 mehr als sieben Millionen Abonnenten in Lateinamerika und den USA (200.000).
[8] vgl. www.ifpi.org.
[9] vgl. Yúdice, S. 222-227/ IFPI 2001, S. 4-5.
[10] vgl. www.ifpi.org.
[11] vgl. Yúdice, S. 204-205/SGAE, S. 139
[12] vgl. Yúdice, S. 205/ García, S. 318.
[13] vgl. “La Resurrección de la RCA Victor” 4/ 2001 (www.chilejazz.cl).
[14] vgl. SGAE, S. 104/ Salas Edwards/ “La Resurrección de la RCA Victor” 4/ 2001 (www.chilejazz.cl).
[15] vgl. SGAE, S. 102.
[16] vgl. Vera Rivera 1999 (www.scielo.cl).
[17] vgl. Vera Rivera 1999 (www.scielo.cl).
[18] vgl. IIPA, S. 286-290.
[19] vgl. GEMA Nachrichten 162/ 2001 (www.gema.de).
[20] vgl. Aracena S. 2-4.
[21] vgl. González 1998, S. 356. Es ist umstritten, ob es sich bei den Aymara um ein Volk handelt oder um eine Sprachgruppe (vgl. Lindig, S. 47). Die Polynesier auf den zu Chile gehörenden Osterinseln bleiben hier unberücksichtigt.
[22] vgl. González 1998, S. 361/ Dannemann, S. 107.
[23] vgl. González 1998, S. 357-358/ Dannemann, S. 105-106.
[24] Die Mapuche (‚Menschen der Erde‘) leben auf argentinischem und chilenischem Staatsgebiet und unterteilen sich u.a. in folgende Stämme: Pehuenche, Puelche, Tehuelche, Ranquel, Huarpe und Pampa-Bogota. Sie wurden - wie alle Ureinwohner - von den Spaniern als Araukaner bezeichnet, abgeleitet von den Araukarienwäldern (indianische Bezeichnung: Pehuen). In späteren Zeiten wurde diese Bezeichnung aus politisch-diskriminatorischen Gründen beibehalten (vgl. Robertson, S. 232/ „Bei den Mapuche-Indianern in Südchile“, in: Neue Züricher Zeitung 21.5.2001). Andere Autoren leiten den Namen vom indianischen Wort ragco ab (vgl. Aracena, S. 2).
[25] vgl. González 1998, S. 357/ Lindig 1986, S. 221-223.
[26] Die ältesten gefundenen Steinflöten der Mapuche datieren aus dem 10. Jahrhundert.
[27] vgl. González 1998, S. 358-359/ Robertson, S. 234.
[28] vgl. Robertson, S. 236-238/ „Bei den Mapuche-Indianern in Südchile“, in: Neue Züricher Zeitung 21.5.2001.
[29] vgl. Aracena, S. 10-11 und 19.
[30] Text notiert von Havestadt 1777, zit. bei Aracena, S. 13.
[31] vgl. González 1998, S. 366.
- Arbeit zitieren
- Torsten Eßer (Autor:in), 2004, Klänge an der Peripherie. Musik in Chile von den Mapuche bis zum Techno, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/380748
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