Leseprobe
Inhalt
1. Erster Leseeindruck
2. Synchrone Zugangsweise
2.1. Abgrenzung des Texts
2.2. Kontextanalyse
2.3. Gliederung
2.4. Aussageintention
3. Diachrone Beobachtungen
3.1. Ältester Textzeuge
3.2. Zeit der Abfassung
3.3. Entstehungsgeschichte
3.4. Verfasser
4. Drei Forschungsthesen zum Sachverhalt
4.1. Rudolf Bultmann – Auferstehungsgeschichte mit ältestem Gehalt
4.2. Piet Schoonenberg – Ausdruck eines neuen Auferstehungsglaubens
4.3. J.-N. Aletti – Emmausepisode als Zusammenfassung des Evangeliums
5. Literaturverzeichnis
1. Erster Leseeindruck
Drei Tage nachdem Jesus am Kreuz gestorben ist, laufen zwei Jünger von Jerusalem nach Emmaus. Während sie über Jesu Verurteilung, Tod und leeres Grab reden, schließt sich ihnen der auferstandene Jesus an. Der Text beschreibt, indem er von einer Begegnung mit dem Auferstandenen berichtet, einen geheimnisvollen und wunderbaren Moment. Die Spannung dieses Moments vermittelt er eindrücklich dadurch, dass die beiden Wanderer mit dem Auferstandenen über Jesus reden, aber Jesus nicht in ihm erkennen können. Selbst als er ihnen die Schrift auslegt, erkennen sie ihn nicht. Jesus offenbart sich schließlich durch die Zeichenhandlung des Brotbrechens.
2. Synchrone Zugangsweise
2.1. Abgrenzung des Texts
Mit V. 13 beginnt ein neuer Abschnitt.[1] Die Wechsel der Personenkonstellation und des Ortes kündigen ihn an. Lk 24, 1-11 berichtet von den Frauen, denen am offenen Grab zwei Engel begegnen. Lk 24, 12 beschreibt Petrus‘ Reaktion auf den Bericht der Frauen an die Apostel. In Lk 24, 13 ist dann plötzlich von zwei Jüngern die Rede, die sich auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus befinden. Die Zeitangabe in V. 13 („an demselben Tage“) nimmt auf Lk 24, 1 („am ersten Tag der Woche“) Bezug. Dadurch wird jedoch ebenso eine Verbindung zum zuvor beschriebenen Auferstehungsbericht hergestellt. Weniger eindeutig als der Anfang ist das Ende der Erzählung von den Emmausjüngern zu bestimmen. Die Perikope endet bereits in Lk 24, 31c mit dem Verschwinden Jesu.[2] Lk 24, 32 beschreibt die Reaktion der Emmausjünger auf die Begegnung mit dem schließlich doch als solchen erkannten Auferstandenen. Die Verse 33 bis 35 beschreiben die Rückkehr nach Jerusalem und den Bericht an die Elf und dienen somit als Überleitung zum Bericht von Jesu Erscheinung vor den Jüngern.
2.2. Kontextanalyse
Wie Lukas im Proömium (1, 1-4) selbst angibt, hat er seine Jesusgeschichte mit dem Ziel verfasst, die „Geschichten, die unter uns geschehen sind“ (V. 1) „in guter Ordnung aufzuschreiben“ (V. 3a), um „den sicheren Grund der Lehre“ (V. 4) erfahrbar zu machen. Die einzelnen Geschichten seiner episodischen Erzählung hat er dazu in eine „wohlgeordnete Gestalt“[3] gebracht. Alle für den Plot der Makroerzählung wichtigen Ereignisse stehen an der erforderlichen Stelle: die Geburt am Anfang sowie Leiden, Tod und Auferstehung am Ende.[4] Für Lukas ist Jesus nicht nur der Retter des Volkes Israel, sondern der Retter der Welt. Die Geschichte von Jesus ist damit für Lukas Weltgeschichte. Aus diesem Grund ordnet Lukas seinen Bericht in die Ereignisse seiner Zeit ein. Er gibt an, dass die Geburt von Johannes dem Täufer zur Regierungszeit Herodes des Großen geschieht (1, 5). Die Geburt Jesu datiert er in die Zeit des Census‘ unter der Statthalterschaft des Quirinius‘ (2,1). Die Gefangennahme Johannes‘ verortet er im 15. Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius (3, 1).
Lukas‘ Heilsgeschichte beginnt mit einer Vorgeschichte. Zunächst wird die Geburt Johannes des Täufers angekündigt, der das Volk Israel bekehren und für den Herrn vorbereiten soll (1, 16-17). Es folgt die Ankündigung der Geburt Jesu. Dieser, so die Verheißung, wird der Sohn des Höchsten sein (1, 32). In Kapitel 3 wird das Wirken Johannes des Täufers als Wegbereiter des Herrn beschrieben. Bei Jesu Taufe durch Johannes fährt der heilige Geist auf Jesus herab, Gott selbst proklamiert ihn als seinen Sohn. Lk 4, 14-9, 50 beschreibt Jesu Wirken in Galiläa und im ganzen jüdischen Land. Die Wunder kündigen die neue Wirklichkeit Gottes an. Der große Reisebericht (9, 51-19, 27) beschreibt Jesu Wirken auf dem Weg nach Jerusalem als bewusstes Wandern zum Ort des Todes und der Auferstehung.[5] Zurück in Jerusalem spitzt sich die Situation für Jesus zu. Während er täglich im Tempel lehrt, schmieden die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Angesehensten des Volkes Pläne, wie sie ihn umbringen können (19, 47-48). Mit der Passion und den Osterereignissen in den Kapiteln 22-24 hat das Lukasevangelium seinen Höhepunkt und sein Ziel erreicht. Der Erniedrigte wird erhöht. Seine Auferstehung und Himmelfahrt bestätigen Jesu Verkündigung.
Als Teil der Osterereignisse gehört die Erzählung von den Emmausjüngern gemeinsam mit der Passion zum Schluss des Lukasevangeliums. Der Schluss ist zugleich Höhepunkt und Ziel der Makroerzählung. Alle Kapitel zuvor sind auf dieses Ziel ausgerichtet und bereiten den Höhepunkt in seiner ganzen Dimension vor.
Als Bericht von der ersten Erscheinung des Auferstandenen erzählt die Episode von den Emmausjüngern von einem Wunder, das zunächst selbst die Jünger nicht begreifen können. Entsprechend seiner formalen Verortung im Schluss des Evangeliums ist die Bedeutung dieses Wunders größer als alle im Hauptteil beschriebenen Wunder. Die Begegnung mit dem Auferstandenen beweist Jesu Verkündigung, die in den 20 Kapiteln zuvor beschrieben wurde.
Im Mikrokontext des 24. Kapitels ist die Episode von den Emmausjüngern Teil einer dramatischen Steigerung, die mit der Auffindung des leeren Grabs einsetzt, sich in den Erscheinungen des Auferstandenen vor den Emmausjüngern und den Elf fortsetzt und in Jesu Himmelfahrt ihren Höhepunkt findet.
Die von Lukas sorgfältig komponierte Makro- und Mikrostruktur ist Ausdruck seiner Überzeugung, dass mit Jesu Leben und Tod ein neues Zeitalter beginnt. Die Menschheitsgeschichte wird nicht länger durch Kaiser, Könige und Statthalter geprägt, sondern wird zur Geschichte von Gott und den Menschen. Die Worte und das Verhalten Jesu hält Lukas darum fest, um der entstehenden Kirche eine Lehrgrundlage zu geben.
2.3. Gliederung
Die Gliederung ist an ein vereinfachtes Schema von François Bovon angelehnt.[6]
24, 13-14 bildet die Einleitung. Zwei Jünger sind am dritten Tag nach Jesu Kreuzigung von Jerusalem in ein Dorf namens Emmaus unterwegs. Während sie laufen, unterhalten sie sich über die Geschehnisse der vergangenen Tage.
24, 15-19a dient als Umrahmung des Hauptteils, den der Dialog zwischen Jesus und den Jüngern bildet. Jesus nähert sich und geht mit ihnen, doch die Jünger können ihn nicht erkennen. Als Jesus fragt, worüber sie reden, bleiben die Jünger traurig stehen. Kleopas fragt Jesus, ob er der einzige unter den Fremden in Jerusalem ist, der nicht weiß, was dort geschehen ist.
Der Dialog in 24, 19b-27 bildet den Hauptteil der Erzählung. Zunächst reden die Jünger (19b-24). Sie berichten dem Auferstandenen von dem Propheten Jesus von Nazareth, der von den Hohepriestern und Oberen vor drei Tagen verurteilt und gekreuzigt wurde. Sie sind enttäuscht. Denn sie hatten gehofft, dass er der Erlöser Israels sei. Außerdem haben sie Angst. Denn sein Grab wurde leer aufgefunden und Engel sind dort erschienen, die sagten, er lebe. Die Erinnerung an die Worte der Engel steht damit genau in der Mitte des Hauptteils. Die Botschaft, dass Jesus lebt, ist der Kern der Geschichte. Auf die Rede der Jünger folgt die Rede Jesu (25-27). Der Auferstandene rügt die Jünger, deren Herzen zu träge sind, um zu glauben. Er erläutert ihnen, dass Christus verurteilt und gekreuzigt werden musste, um in die Herrlichkeit einzugehen und belegt ihnen diese Notwendigkeit mit Zitaten aus der Schrift.
24, 28-32 dient erneut als Umrahmung. Die Jünger wollen den Weg zum Dorf nehmen. Es scheint, als wolle Jesus weitergehen. Die Jünger fordern ihn auf, bei ihnen zu bleiben. Beim gemeinsamen Essen vollzieht Jesus das Abendmahl. Die Jünger erkennen ihn und Jesus verschwindet. Das Nicht-Erkennen in der einleitenden Umrahmung wird somit zum Erkennen in der ausleitenden Umrahmung. Genauso überraschend wie Jesus in der einleitenden Umrahmung erschienen ist, verschwindet er in der ausleitenden wieder.
24, 33-35 bildet den Schluss. Der Schluss dient als Entsprechung zur Einleitung.[7] Hier wie dort sind die beiden Jünger allein. Hier wie dort reden sie über das, was gerade passiert ist. In der Einleitung sind sie unterwegs nach Emmaus, im Schlussteil kehren sie von Emmaus nach Jerusalem zurück. Mit der Aufsuchung der Elf und dem Bericht an sie bildet der Schluss außerdem eine Überleitung zur nächsten Episode, der Erscheinung Jesu vor seinen Jüngern.
2.4. Aussageintention
Die Begegnung mit dem Auferstandenen beschreibt eine überwältigende Erfahrung. Diese Erfahrung hat aus einer Handvoll Menschen die christliche Gemeinde entstehen lassen, der heute mehr als zwei Milliarden Menschen angehören. Mit dem wissenschaftlichen Verstand ist die Botschaft von der Auferstehung nicht zu begreifen. Dass sie selbst für die Jünger unglaublich war, zeigen die neutestamentlichen Zeugnisse. Nach dem Bericht der Frauen vom leeren Grab und der Verkündigung der Engel wissen sie nicht, was sie denken sollen. Sie sind traurig und erschreckt. Erst durch die Begegnung mit dem Auferstandenen werden ihre Augen und Herzen geöffnet. Erst jetzt können sie glauben und bekennen: „Der Herr ist wahrhaftig auferstanden“ (Lk 24, 34). Mit der Auferstehung offenbart sich die Wirklichkeit Gottes in der Welt. Als Teil der göttlichen Wirklichkeit ist die Auferstehung nicht mit Worten zu fassen. Dem entspricht, dass die Beschreibung der Begegnung mit dem Auferstandenen rätselhaft bleibt. Die Jünger begegnen Jesus, aber sie können ihn nicht erkennen. Der Menschensohn ist Teil der göttlichen Wirklichkeit geworden. Der Gang nach Emmaus kann als Metapher für den Weg zum Glauben gesehen werden. Mit dem Fortlaufen im Unglauben und dem Zurückkehren im Glauben komponiert Lukas dieses Erweckungserlebnis kunstvoll in einer konzentrischen Symmetrie.
3. Diachrone Beobachtungen
3.1. Ältester Textzeuge
Als ältester erhaltener Textzeuge des Lukasevangeliums gilt P⁴, der um 200 entstanden ist. Die Erzählung von den Emmausjüngern ist in erhalten, der auf das Ende des 2. oder den Anfang des 3. Jahrhunderts datiert wird.[8]
3.2. Zeit der Abfassung
Mit großer Sicherheit hat Lukas das Markusevangelium gekannt, das in den Jahren 69/70 entstanden ist. Sein Evangelium muss also später entstanden sein. In den Schriften Justins des Märtyrers kurz nach der Mitte des 2. Jahrhunderts wird erstmals aus dem Lukasevangelium zitiert. Dies ist somit der späteste Zeitpunkt der Abfassung.[9]
[...]
[1] vgl. Klein, Hans, 2006, Das Lukasevangelium, Göttingen, S. 725
[2] vgl. Bovon, François, 2009, Das Evangelium nach Lukas (EKK 3,4), Zürich, S. 550
[3] Wolter, Michael, 2008, Das Lukasevangelium (Handbuch zum Neuen Testament 5), Tübingen, S. 16
[4] vgl. Wolter, Michael, 2008, Das Lukasevangelium (Handbuch zum Neuen Testament 5), Tübingen, S. 16
[5] vgl. Feldmeier, Reinhard, 2011, Das Lukasevangelium, in: Niebuhr, Karl-Wilhelm, Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung, S. 113 f.
[6] vgl. Bovon, François, 2009, Das Evangelium nach Lukas (EKK 3,4), Zürich, S. 549 ff.
[7] vgl. Bovon, François, 2009, Das Evangelium nach Lukas (EKK 3,4), Zürich, S. 549
[8] vgl. Wolter, Michael, 2008, Das Lukasevangelium (Handbuch zum Neuen Testament 5), Tübingen, S. 1
[9] Wolter, Michael, 2008, Das Lukasevangelium (Handbuch zum Neuen Testament 5), Tübingen, S. 10