ADHS in der Schule. Therapeutische Maßnahmen und Strategien für Lehrkräfte


Masterarbeit, 2017

110 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Relevanz des Themas

1.2 Zielsetzung der Arbeit

1.3 Aufbau der Arbeit

2 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom

2.1 Forschungsgeschichte und Begriffsentwicklung

2.2 Symptomatik und Klassifikationssysteme

2.2.1 Aufmerksamkeitsstörung

2.2.2 Impulsivität

2.2.3 Hyperaktivität

2.2.4 DSM-V und ICD-10

2.3 Diagnostik

2.4 Komorbiditäten

2.5 Verlauf

2.5.1 Säuglings- und Kleinkindalter

2.5.2 Kindergarten- und Vorschulalter

2.5.3 Grundschulalter

2.5.4 Jugendalter

2.5.5 Erwachsenenalter

2.5.6 Risiko- und Schutzfaktoren

2.5.7 Stärken von ADHS-Betroffenen

2.6 Ätiologie

2.6.1 Genetische Faktoren

2.6.2 Neurobiologische Faktoren

2.6.3 Umwelteinflüsse

2.6.4 Neuropsychologische Faktoren

2.6.5 Psychosoziale Faktoren

2.6.6 Biopsychosoziales Modell

2.7 Prävalenz

3 Behandlungsmöglichkeiten einer ADHS

3.1 Psychoedukation

3.2 Pharmakotherapie

3.3 Psychotherapeutische Interventionen

3.3.1 Patientenzentrierte Verfahren

3.3.2 Eltern- und Familienzentrierte Verfahren

3.3.3 Kindergarten- und schulzentrierte Verfahren

3.4 Andere Behandlungsarten

3.5 Multimodale Therapie

4 ADHS und Schule

4.1 Auswirkungen von ADHS in der Schule

4.2 Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Schulbesuch

4.3 Die Rolle der Lehrkraft

4.3.1 Lehrer-Schüler-Beziehung

4.3.2 Regeln und Strukturen

4.3.3 Lob und Kritik

4.4 Unterrichtsgestaltung

4.4.1 Didaktische und methodische Aspekte

4.4.2 Techniken der Verhaltensmodifikation

4.5 Zusammenarbeit der Beteiligten

5 Fazit

Literaturverzeichnis


1 Einleitung

 

„Irgendwas hält mich auf Trab und manchmal hab ich es satt, es trifft mich Tag und Nacht der Teufel im Nacken, der nach mir schnappt. Die Welt muss sich drehen und nichts kann so bleiben, ich renn durch mein Leben, wie ‘ne Lok auf zwei Beinen. Ein Hund kann nicht krähen, ein Fisch kann nicht schreien und ich kann nicht stehen bleiben, ich bin ‘n rollender Stein.“

 

— Refrain aus dem Lied „Lok auf 2 Beinen“ von Peter Fox (2008)

 

Eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wird von Laien[1] häufig mit dem Erleben und Verhalten verknüpft, das der Sänger und Liedautor Peter Fox in seinem Lied Lok auf 2 Beinen beschreibt. Die hier sehr anschaulich dargestellten Gefühle des Angetriebenseins, der Rastlosigkeit und der unbeherrschbaren motorischen Energie beschreiben jedoch nur eins von drei Symptomen, die für eine ADHS typisch sind, die Hyperaktivität. Neben diesem Merkmal komplementieren Unaufmerksamkeit und Impulsivität die Triade der ADHS-Leitsymptome (vgl. Lauth 2014, S. 22).

 

Kinder und Jugendliche zeigen im Vergleich zu Erwachsenen ein aktiveres, impulsiveres und unkonzentrierteres Verhalten. Auch unter Gleichaltrigen fällt es manchen schwerer, sich zu konzentrieren, zu beherrschen und aufmerksam zu sein. Dies ist nicht weiter erstaunlich und bis zu einem gewissen Grad normal. Die Auffälligkeiten lassen sich beispielsweise durch unterschiedliche Entwicklungsverläufe der Kinder und Jugendlichen erklären. In manchen Fällen sind die beschriebenen Symptome jedoch so stark ausgeprägt, dass das Verhalten nicht mehr als altersgemäß bezeichnet werden kann. Solche Kinder und Jugendliche, die es beispielsweise nicht schaffen, ihre Hausaufgaben zu machen, sich ständig mit anderen streiten, nicht in der Lage sind, sich an Regeln zu halten und immer wieder Familienstreitigkeiten auslösen, sind den meisten Menschen bekannt. Sie leiden vermutlich unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (vgl. Barkley 2002, S. 9).

 

1.1 Relevanz des Themas

 

Laut den bundesweit repräsentativen Daten der KiGGS Studie des Robert Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, haben 4,8% der Kinder und Jugendlichen eine von einem Psychologen diagnostizierte ADHS. Weitere 4,9% gelten als Verdachtsfälle, denen noch keine ärztliche oder psychologische Diagnose vorliegt (vgl. Robert Koch-Institut 2008, S. 58f.). Somit stellt ADHS in Deutschland aktuell eine der häufigsten Störungen im Kindes- und Jugendalter dar. Aufgrund der hohen Prävalenz, steigender Verschreibungszahlen ADHS-spezifischer Medikamente und weil mittlerweile bekannt ist, dass sich die ADHS nicht „auswächst“, sondern häufig im Erwachsenenalter bestehen bleibt, existiert ein großes wissenschaftliches und öffentliches Interesse an diesem Störungsbild (vgl. Gebhardt 2016, S. 17; Gawrilow 2016, S. 13). Die Forschung und Diskussionen zu dem Thema verlaufen extrem kontrovers: „Handelt es sich dabei um eine genetisch bedingte Erkrankung? Oder doch um eine Modediagnose, die eigentlich Ausdruck familiärer oder gesellschaftlicher Problemlagen ist? Wird ADHS viel zu häufig oder immer noch zu selten diagnostiziert? Sind Psychostimulanzien eine sinnvolle Behandlungsoption oder dienen sie nur zum ‚Ruhigstellen‘ anstrengender Kinder?“ (Gebhardt 2016, S. 13). Trotz intensiver Forschung konnten bisher noch keine abschließenden Antworten auf die Fragen nach Ursachen, Epidemiologie, Diagnostik und Therapie gefunden werden. Je nach Forschungsschwerpunkt bestehen unterschiedliche Modelle, Konzepte und Ansichten (vgl. Gawrilow 2016, S. 13).

 

Die etwa 5% der deutschen Kinder und Jugendlichen, die unter einer ADHS leiden, bedeuten für die Schule durchschnittlich ein bis zwei verhaltensauffällige Schüler pro Klasse (vgl. Born & Oehler 2015, S. 2). Die Betroffenen haben häufig große Schwierigkeiten, dem Unterricht aufmerksam zu folgen und sich auf die gestellten Aufgaben zu konzentrieren. Sie fallen durch unruhiges Verhalten, dazwischenreden, lärmen und massive Unterrichtsstörungen auf. Auf der anderen Seite sind viele Lehrkräfte nicht oder nur sehr begrenzt über das Syndrom informiert und wissen nicht, wie sie mit dem problematischen Verhalten umgehen sollen. In der Folge kommt es zu Konflikten zwischen Lehrern und Schülern, die die Situationen nicht bessern, sondern eine Negativspirale auslösen und das störende Verhalten zusätzlich verstärken. Durch die Störungen im Unterricht und die langsame Aufgabenbearbeitung gelingt es Lehrkräften nicht, den Unterrichtsstoff planmäßig zu vermitteln. Sie geraten zunehmend unter Stress. Die sich wiederholenden Konflikte mit den ADHS-Kindern und der Stress, nicht planmäßig voran zu kommen, führen bei Lehrkräften zu Selbstzweifeln, Unsicherheiten und Rückzug. Sowohl die Lehrenden, als auch die Lernenden mit und ohne ADHS leiden unter diesen Umständen, die durch fehlende Aufklärung ausgelöst sind. Daher besteht in der Lehreraus- und -fortbildung ein Bedarf an Informationen zum Syndrom selbst sowie pädagogischen und psychologischen Interventionsmöglichkeiten (vgl. Wohnhas-Baggerd 2003, S. 7f.; Schröder 2006, S. 9f.).

 

1.2 Zielsetzung der Arbeit

 

In dieser Arbeit wird sich daher mit dem Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom auseinandergesetzt. Ziel dieser wissenschaftlichen Hausarbeit ist es, die vielfältigen und besonders für Lehrkräfte relevanten Hintergrundinformationen einer ADHS zu sammeln, unterschiedliche Behandlungsmethoden gegenüberzustellen und konkrete pädagogische und psychologische Möglichkeiten für die Schule vorzustellen, mit deren Hilfe negative Auswirkungen der Störung auf die betroffenen sowie nicht betroffenen Kinder reduziert werden können.

 

Da der Fokus dieser Ausarbeitung auf der ADHS innerhalb der Schule liegt, wird hauptsächlich auf (Vorschul-) Kinder und Jugendliche Bezug genommen, obwohl auch Erwachsene an dieser Störung leiden. Das Vorliegen einer ADHS wird häufig mit den veränderten Bedingungen und Anforderungen des Schuleintritts erstmals deutlich, weshalb sich besonders Grundschullehrer mit starken Verhaltensauffälligkeiten konfrontiert sehen (vgl. Schröder 2006, S. 27). Aus diesem Grund wird innerhalb dieser Arbeit häufig von Kindern gesprochen, wenn die ADHS-Betroffenen beschrieben werden. Da die Störung aber häufig über den gesamten Lebensweg besteht und sich teilweise erst im Jugendalter manifestiert, sind in der Regel ältere Kinder/Jugendliche mitangesprochen.

 

1.3 Aufbau der Arbeit

 

Zur Bearbeitung des dargestellten Themas ist die Arbeit folgendermaßen aufgebaut. Zunächst wird in Kapitel 2 der theoretische Hintergrund einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung näher vorgestellt. Hierzu wird die historische Entwicklung des Themengebiets kurz aufgezeigt und über die dargestellte Begriffsentwicklung eine Arbeitsdefinition bestimmt (Kapitel 2.1). Anschließend wird detailliert auf die Symptomatik und die Klassifikationssysteme eingegangen (Kapitel 2.2). Die drei Leitsymptome Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität und Hyperaktivität werden vorgestellt (Kapitel 2.2.1-2.2.3) und die Klassifikationssysteme für psychische Störungen, DSM-V und ICD-10, werden bezüglich ihrer Ausführungen zur ADHS bzw. hyperkinetischen Störung gegenübergestellt. In Kapitel 2.3 wird die Diagnostik einer Aufmerksamkeitsstörung erläutert, indem verschiedene Erhebungsmethoden dargestellt werden. Die Notwendigkeit einer umfassenden Diagnose wird anschließend begründet, indem mögliche Differenzialdiagnosen aufgelistet werden, die zu ähnlichen Symptomen wie eine ADHS führen können. Das Risiko der Betroffenen, eine komorbide Störung zu entwickeln, also eine Störung, die im Sinne einer Doppel- bzw. Mehrfachdiagnose neben der ADHS zusätzlich besteht, wird im nachfolgenden Abschnitt (Kapitel 2.4) analysiert. Zudem werden mögliche Begleiterkrankungen aufgelistet. Im nächsten Schritt (Kapitel 2.5) wird der typische Entwicklungsverlauf einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung aufgezeigt. Hierfür wird auf wesentliche Befunde in den verschiedenen Lebensphasen Kleinkindalter, Vorschulalter, Grundschulalter, Jugendalter und Erwachsenenalter eingegangen (Kapitel 2.5.1-2.5.5). Da Risiko- und Schutzfaktoren den Verlauf einer ADHS maßgeblich beeinflussen, werden sie anschließend gegenübergestellt. Eine Auflistung der positiven Eigenschaften, die häufig mit einer ADHS einhergehen, schließt diesen Abschnitt ab (Kapitel 2.5.7). Ein Verständnis der verschiedenen möglichen Ursachen der Störung, wie Umwelteinflüsse, genetische, neurobiologische, neuropsychologische oder psychosoziale Faktoren, stellt eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Intervention dar. Daher bilden Ausführungen zur Ätiologie (Kapitel 2.6) zusammen mit der Auftretenshäufigkeit (Kapitel 2.7) den Abschluss des 2. Kapitels.

 

Kapitel 3 beschäftigt sich eingehend mit Behandlungsmöglichkeiten einer ADHS. Die unterschiedlichen Komponenten, Konzepte und Möglichkeiten einer Intervention bei einer vorliegenden ADHS werden vorgestellt und in ihrer Wirksamkeit diskutiert. Hierzu werden zunächst die Psychoedukation (Kapitel 3.1), die medikamentöse Therapie (Kapitel 3.2) sowie verschiedene Methoden psychotherapeutischer Behandlung (Kapitel 3.3) erläutert. Innerhalb der psychotherapeutischen Intervention wird zwischen eltern- und familienzentrierten, kindergarten- und schulzentrierten und patientenzentrierten Verfahren unterschieden (Kapitel 3.3.1-3.3.3). Im Anschluss werden einige zusätzliche, möglicherweise unterstützende Maßnahmen wie Diäten, Nahrungsmittelzusätze, Sport und Ergotherapie in den Blick genommen (Kapitel 3.4). Abschließend wird dann das Konzept der multimodalen Therapie erläutert und ihre Wirksamkeit anhand einer Studie analysiert (Kapitel 3.5).

 

Auf verschiedene Möglichkeiten, in der Schule angemessen und effektiv auf eine ADHS zu reagieren, wird in Kapitel 4 eingegangen. Verschiedene Auswirkungen, die eine Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung auf die Schule haben kann, werden zunächst dargestellt (Kapitel 4.1), bevor schulzentrierte Interventionen näher beleuchtet werden. In Kapitel 4.2 werden diverse Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Schulbesuch vorgestellt. Hierzu zählen beispielsweise die Sitzordnung, Raumgestaltung und -ausstattung. Da das Verhalten und Auftreten einer Lehrkraft im Umgang mit ADHS-Schülern entscheidend ist, wird die Rolle der Lehrkraft besonders in den Blick genommen (Kapitel 4.3). Zunächst wird die Beziehung zwischen Lehrer und verhaltensauffälligem Schüler genauer analysiert (Kapitel 4.3.1), bevor die Bedeutung von Regeln und Strukturen im Unterricht und im gesamten Schulleben verdeutlicht wird (Kapitel 4.3.2). Die Umsetzungsmöglichkeiten von Lob und Kritik sowie deren Einfluss auf das Verhalten eines aufmerksamkeits-/hyperaktivitätsgestörten Schülers werden anschließend erläutert (Kapitel 4.3.3). Da die Gestaltung von Unterricht innerhalb der Lehrertätigkeit eine wichtige Aufgabe darstellt, wird sie in Kapitel 4.4 ausführlich besprochen. Hierzu werden verschiedene didaktische und methodische Aspekte dargelegt, die bei der Unterrichtsplanung und -gestaltung zu berücksichtigen sind (Kapitel 4.4.1). Daran anknüpfend werden unterschiedliche Techniken der Verhaltensmodifikation vorgestellt (Kapitel 4.4.2). Diese Interventionsformen können innerhalb der Schule umgesetzt werden und setzen direkt am problematischen Verhalten der Schüler an. Eine Betrachtung der Kooperationsmöglichkeiten, die einer Lehrkraft in Bezug auf die Arbeit mit verhaltensauffälligen Schülern zur Verfügung stehen, schließt das Kapitel ab (Kapitel 4.5). Hierzu werden die Beziehungen zwischen Lehrern und Eltern, innerhalb des Kollegiums sowie zu außerschulischen Stellen betrachtet.

 

Ein zusammenfassendes Fazit schließt die Arbeit ab (Kapitel 5).

 

2 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom

 

2.1 Forschungsgeschichte und Begriffsentwicklung

 

ADHS wird von Kritikern immer wieder als Mode-Diagnose (vgl. Raschendorfer 2003, S. 3; Wenke 2006, S. 68) bezeichnet. Die Betrachtung einiger Meilensteine in der Forschungsgeschichte der Thematik beleuchtet diese Behauptung näher und führt darüber hinaus in das Themengebiet ein. Durch die Darstellung der Begriffsentwicklung wird zudem der schwierige Weg der Namensfindung bis zur heutigen Zeit aufgezeigt.

 

Müller, Candrian und Kropotov (2011, S. 32) sind davon überzeugt, „auch wenn die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) vor allem in den letzten zwei, drei Jahrzehnten ins Bewusstsein breiter Bevölkerungskreise gedrungen ist, […] dass es sich keinesfalls um ein neues Phänomen handelt“. Es lassen sich bereits bei den alten Griechen Hinweise auf Kinder finden, die ein sehr lebhaftes und überschwängliches Temperament aufwiesen und denen durch die zuständigen Ärzte Opium zur Beruhigung empfohlen wurde. Rückblickend betrachtet können auch bei einer ganzen Reihe an bekannten Persönlichkeiten, wie Künstlern oder Erfindern, deutliche Anzeichen einer ADHS gefunden werden. Beispielhaft seien Wolfgang Amadeus Mozart (1756 -1791), Ludwig van Beethoven (1770 - 1827), Leonardo Da Vinci (1452 - 1519) und Thomas Alva Edison (1847 - 1931) genannt (vgl. Hackethal 2012, o. S.).

 

Auch Napoleon I wurde 1808 von seinem Leibarzt Dr. Haslam als ein moralisch krankes Kind bezeichnet, das als „Sklave seiner Leidenschaft, Schrecken der Schule, Qual der Familie und Plage seiner Umgebung“ (ebd.) galt.

 

Im Jahr 1845 veröffentlichte der in Frankfurt praktizierende Mediziner Heinrich Hoffmann (1809 - 1894), der ab 1851 Direktor der Frankfurter Anstalt für Irre und Epileptische war, das Kinderbuch Struwwelpeter. In diesem Buch, das in mehrere kleine Geschichten unterteilt ist, geht es um kinder- und jugendlichenpsychotherapeutisch relevante Themen. Als Folge des dargestellten kindlichen Ungehorsams passieren verschiedene Missgeschicke. Das Bändchen enthält neben den in Versform erzählten Geschichten über den Struwwelpeter oder den Suppen-Kasper auch die über Hanns Guck-in-die-Luft und den Zappel-Philipp. In den beiden Letzteren finden sich zwei Leitsymptome einer ADHS wieder. Zappel-Philipp, der wegen seiner Hyperaktivität am Essenstisch nicht still sitzen kann und mit seinem Stuhl wackelt, woraufhin er mit diesem umkippt und dabei von der Tischdecke samt dem Essen begraben wird und Hans Guck-in-die-Luft, der wegen seines Aufmerksamkeitsdefizits so verträumt ist, dass er geradewegs in den Fluss marschiert. Das Buch entstand jedoch nicht als medizinische Publikation, sondern als Weihnachtsgeschenk für Hoffmanns dreijährigen Sohn. Trotzdem ist die Anekdote, die inzwischen in über 30 Sprachen übersetzt wurde, noch im heutigen Sprachgebrauch zu finden und die Bezeichnung Zappelphilipp-Syndrom ist zum volkstümlichen Begriff für die Symptome der ADHS geworden (vgl. Paulus 2010, S. 24f.).

 

Etwa zur gleichen Zeit, in der Hoffmanns Struwwelpeter entstand, publizierte der aus Stuttgart stammende Wilhelm Griesinger (1817 - 1869) das Buch Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten. Hierin bezeichnete er das Gehirn als psychisches Organ und seine Funktionsstörungen als psychische Krankheiten. In seinem Werk schrieb er über Kinder, die keinen Augenblick Ruhe halten und gar keine Aufmerksamkeit zeigen, die eine nervöse Konstitution aufweisen und unter einer gestörten Reaktion des Zentralorgans leiden (vgl. Müller et al. 2011, S. 33f.).

 

Einen Erklärungsversuch für das auffällige Verhalten lieferte der Breslauer Arzt Heinrich Neumann (1814 - 1884). Er führte das Phänomen einer gesteigerten Unruhe bei Kindern auf eine zu rasche Entwicklung zurück. 1859 prägte er den Begriff Metamorphosis, unter dem er eine Reizüberflutung verstand, die für das auffällige Verhalten ursächlich sei. Zwanzig Jahre später vermutete der deutsche Psychiater Hermann Emminghausen (1845 - 1904) Vererbung und Degeneration als Ursachen (ebd.).

 

Der englische Kinderarzt Frederic Still (1868 - 1941) wird im angelsächsischen Raum immer wieder als Entdecker der ADHS bezeichnet. In der bekannten und führenden medizinischen Fachzeitschrift The Lancet, schilderte er 1902 detailliert die Symptome der ADHS anhand einer Studie an 20 Kindern. Diese Beschreibungen der Symptome waren den heutigen Diagnosekriterien schon sehr ähnlich. Dazu gehörten extreme Unruhe, ständige Bewegung, mangelnde Fähigkeit konzentriert und ausdauernd bei einer Sache zu bleiben, Leidenschaftlichkeit und mangelnde Willenskontrolle. Weiterhin stellte Still fest, die Kinder würden eine normale Intelligenz aufweisen, keine Entwicklungsverzögerung zeigen und die problematischen Verhaltensweisen häufig in den ersten Schuljahren entwickeln. Bestrafung bringe laut Still keine Verbesserung, was eine Heilung unwahrscheinlich mache. Verursacht sei das Verhalten durch einen Mangel an moralischer Kontrolle (defect in moral control), die sowohl aus Vererbung, als auch aus neurologischen Ursachen resultiere (vgl. Gawrilow 2016, S. 17f.).

 

1937 berichtete Charles Bradley (1902 - 1979), leitender Arzt des Emma Pendleton-Bradley-Hospitals in Rhode Island, erstmals von einem Zufallsbefund bei der Therapie verhaltensgestörter Kinder. Das Amphetamin Benzedrin führte zu einer positiven Verhaltensänderung bei den Patienten. Die Wirkungsweise der Stimulans konnte Bradley jedoch nicht erklären. Bereits sieben Jahre später gelang es dem Forscher Leandro Panizzon (1907 - 2003) einen Wirkstoff ohne die Nebenwirkungen und Missbrauchspotentiale von Amphetamin herzustellen. Er synthetisierte Methylphenidat, das bis heute unter verschiedenen Bezeichnungen vertrieben und zur Behandlung von ADHS eingesetzt wird. Der bekannteste Markenname des Medikaments ist Ritalin (vgl. Müller et al. 2011, S. 36f.).

 

Die Diskussionen über die Ursprünge, die Definition und die Benennung der Störung gingen unterdessen weiter. Je nach aktueller Forschungslage entstanden unterschiedliche Bezeichnungen. 1947 wurde beispielsweise die Ursache für das auffällige Verhalten in Hirnhautentzündungen vermutet, woraufhin der Begriff minimal brain damage, deutsch minimale Hirnschädigung, aufkam. Im Jahr 1954 wurde die Bezeichnung hyperkinetic impulse disorder mit der Begründung eingeführt, dass die Hyperaktivität die auffälligste Eigenschaft der Betroffenen sei. Da in der Folge erkannt wurde, dass viele Kinder ohne Anzeichen auf Hirnschädigungen auch Symptome einer ADHS zeigten, wurde 1966 der Titel minimal brain dysfunction gewählt, der eine Funktionsstörung und nicht mehr die Hirnschädigung in den Vordergrund stellte. In den 1970er Jahren erschienen zunehmend mehr Artikel über die Störung in den Massenmedien und das Syndrom wurde zum am häufigsten festgestellten Phänomen in der Kinderpsychiatrie. Daraus folgend intensivierte sich die Forschung und weitere Theorien zur Ursache des Syndroms entstanden (vgl. ebd.).

 

Aufgrund der intensiven Beschäftigung mit der Störung, wurde eine einheitliche Diagnosetechnik immer wichtiger. Aus diesem Grund wurde das Syndrom in der zweiten Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-II) von 1968 zum ersten Mal unter dem Namen hyperkinetische Reaktion in der Kindheit aufgelistet. Beim DSM, das 1952 das erste Mal erschien, handelt es sich um das dominierende psychiatrische Klassifikationssystem in den USA. Die Störung wurde charakterisiert durch Überaktivität, Ruhelosigkeit, Ablenkbarkeit und kurze Aufmerksamkeitsspanne. In der dritten Auflage des DSM wurde der Fokus des Syndroms von der Hyperaktivität auf die Aufmerksamkeitsstörung verschoben. Die Bezeichnung lautete jetzt attention deficit disorder (ADD), wobei es zwei Subtypen gab, einen mit und einen ohne Hyperaktivität. Im DSM-III wurden zum ersten Mal genaue Kriterien beschrieben, die bei einer Diagnose erfüllt sein mussten. Bei der Revision des DSM-III zum DSM-III-R wurde die Störung zur attention deficit hyperactivity disorder (ADHD), deutsch Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und die Untergruppen entfielen. Bei den folgenden Revisionen zum DSM-IV und zum heute aktuellen DSM-V hat sich der Name des Syndroms nicht mehr geändert. Lediglich die Subtypen und die Kriterien für die Störung wurden aktuellen Erkenntnissen angepasst (vgl. Staufenberg 2011, S. 51ff.).

 

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgte 1975 und führte die Diagnose Hyperkinetisches Syndrom des Kindesalters in der ICD-9 ein. ICD steht für internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme und ist ein weltweit anerkanntes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. In der aktuellen Auflage, der ICD-10 von 1989, wird das Syndrom als Hyperkinetische Störung (HKS) bezeichnet. Die ICD-Kriterien legen somit einen größeren Fokus auf die Hyperaktivität (vgl. ebd.).

 

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Symptomatik der Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität bereits über einen sehr langen Zeitraum in Medizin, Psychologie und Pädagogik bekannt und seit mehr als 160 Jahren literarisch erfasst und unterschiedlich diskutiert wird. Dies spricht gegen die in jüngster Zeit veröffentlichte Meinung (vgl. Raschendorfer 2003, S. 3; Wenke 2006, S. 68), ADHS sei eine Modeerscheinung oder Modediagnose, die nicht wirklich existiere.

 

Um den beiden meist verbreitetsten Klassifikationssystemen für psychische Erkrankungen (ICD-10 und DSM-V) gerecht zu werden, werden in dieser Ausarbeitung die Begrifflichkeiten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom bzw. -störung (ADHS) und Hyperkinetische Störung bzw. Hyperkinetisches Syndrom (HKS) synonym verwendet, um die nachfolgend näher beschriebene Symptomatik zu benennen.

 

2.2 Symptomatik und Klassifikationssysteme

 

Bei der Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung wurde deutlich, dass ADHS keine Entdeckung der heutigen Zeit ist. Andererseits wurde auch sichtbar, dass es lange Zeit kein klar abgegrenztes Störungsbild gab.

 

Heute herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Hauptmerkmale einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ein durchgehendes Muster aus

 

Aufmerksamkeitsstörung,

 

Impulsivität und

 

Hyperaktivität bilden.

 

Diese Symptome treten häufiger auf und sind stärker ausgeprägt, als es bei Kindern auf vergleichbaren Entwicklungsstufen typischerweise beobachtet wird (vgl. Barkley 2002, S. 43; Döpfner, Schürmann & Frölich 2013b, S. 28f.; Paulus 2010, S. 32).

 

Bezüglich des Verhältnisses der Symptome zueinander wurde „mehrfach empirisch nachgewiesen, dass die Unaufmerksamkeit abzugrenzen ist von der Hyperaktivität-Impulsivität“ (Gawrilow 2016, S. 21). Das heißt, dass Hyperaktivität und Impulsivität fast immer gemeinsam auftreten, Unaufmerksamkeit bzw. eine Aufmerksamkeitsstörung allerdings auch autonom existieren kann. Im Folgenden werden die drei Kernsymptome der ADHS näher erläutert.

 

2.2.1 Aufmerksamkeitsstörung

 

Störungen der Aufmerksamkeit äußern sich bei Kindern und Jugendlichen unter anderem dadurch, dass Aufgaben vorzeitig abgebrochen und Tätigkeiten nicht beendet werden. Des Weiteren leiden die Betroffenen unter einer hohen Ablenkbarkeit. Das Interesse an Dingen, mit denen sie sich augenblicklich beschäftigen, lässt schnell nach und sie wenden sich anderen, neuen, vermeintlich interessanteren Inhalten zu. Dieses Verhalten kann vor allem bei Beschäftigungen beobachtet werden, die eine kognitive Anstrengung erfordern oder als besonders langweilig und ermüdend erlebt werden. Meist sind die Störungen bei Tätigkeiten, die fremdbestimmt sind (z.B. Hausaufgaben), stärker ausgeprägt als bei selbstgewählten Aktivitäten (z.B. Spielen). Betroffene werden daher als sprunghaft wahrgenommen. Durch dieses Verhalten entstehen oftmals Flüchtigkeitsfehler bei Schularbeiten oder anderen Aufgaben. Zudem sind die durchgeführten Arbeiten häufig unordentlich und nachlässig ausgeführt. Ein weiteres Problemfeld bildet die Organisation und Planung von Aufgaben, da Ziel und Absicht einer Tätigkeit leicht aus den Augen verloren werden. In der Regel sind sowohl die selektive Aufmerksamkeit, d.h. die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf aufgabenrelevante Reize zu fokussieren und irrelevante Reize zu ignorieren, als auch die Daueraufmerksamkeit beeinträchtigt. Dies kann zu einer generellen Abneigung gegenüber Tätigkeiten führen, die eine längere Aufmerksamkeitsspanne sowie geistige Anstrengung erfordern (vgl. Döpfner 2009, S. 431; Gawrilow 2016, S. 21; Schramm 2013, S. 19). Da besonders in der Schule hohe Anforderungen an die Aufmerksamkeit gestellt werden, weisen Lauth und Naumann (2009, S. 3) darauf hin, dass sich ADHS-Betroffene aufgrund der Kernsymptomatik weniger unterrichtskonform verhalten als andere, unauffällige Kinder und Jugendliche.

 

2.2.2 Impulsivität

 

Nach Döpfner et al. (2013b, S. 29) zeigt sich die Impulsivität von hyperkinetischen Kindern „als Ungeduld, als Schwierigkeit, abzuwarten und Bedürfnisse aufzuschieben, oder auch als plötzliches, unüberlegtes Handeln“. Sie folgen ihrer ersten Eingebung und denken über die Konsequenzen ihres Handelns nicht nach. Andere zu unterbrechen, dazwischen sprechen oder schreien, handeln, bevor Anweisungen genau gehört und verstanden wurden, anfassen von Dingen, die nicht angefasst werden sollen sowie unabsichtlich aggressive und beleidigende Äußerungen sind typische Verhaltensweisen der Betroffenen. Aus diesen Handlungsweisen entstehen häufig Probleme im sozialen und im schulischen Bereich. Das impulsive Verhalten kann zudem zu Unfällen führen, wie beispielsweise Gegenstände umwerfen, eine heiße Pfanne anfassen oder Gefährdungen im Straßenverkehr. Auch bei gefährlichen Aktivitäten denken Kinder mit hyperkinetischem Verhalten nicht an mögliche Konsequenzen (vgl. Döpfner et al. 2013b, S. 29f.; Schröder 2006, S. 19).

 

Döpfner (2009, S. 431) unterscheidet zwischen kognitiver, motivationaler und emotionaler Impulsivität. Kognitive Impulsivität bezieht sich auf die Tendenz, ersten Handlungsimpulsen direkt zu folgen und eine Tätigkeit zu beginnen, bevor eine Situation eingeschätzt und mögliche Handlungsalternativen ausreichend durchdacht worden sind. Motivationale Impulsivität bezeichnet hingegen eine mangelhaft ausgeprägte Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub und die Tendenz, schnelle und unmittelbare Belohnungen zu suchen. Emotionale Impulsivität bezeichnet die Neigung, schnell und heftig Gefühle zu entwickeln und zu zeigen. Freude und Begeisterung können sehr abrupt und intensiv auftreten. Häufig ist auch eine geringe Frustrationstoleranz festzustellen und die Betroffenen reagieren mit Ärger und Wut bei kleinen Anlässen.

 

2.2.3 Hyperaktivität

 

Das Symptom der Hyperaktivität tritt, wie bereits erwähnt, meist in Verbindung mit der Impulsivität auf. Unter dem Begriff werden alle Verhaltensweisen zusammengefasst, die durch desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende motorische Aktivität zum Ausdruck kommen. Beispiele hierfür sind fortlaufend ungezielte Bewegungen, stören der Umgebung durch Herumzappeln, Probleme beim Stillsitzen oder ununterbrochenes Reden durch das ADHS Kind. Besonders häufig tritt ein solches Verhalten in Situationen auf, die relative Ruhe verlangen. Strukturierte und organisierte Gegebenheiten, die ein hohes Maß an eigener Verantwortungskontrolle erfordern (z.B. Unterricht), sind prädestiniert für hyperaktives Verhalten der Betroffenen. Die Hyperaktivität kann je nach Alter und Entwicklungsstufe unterschiedlich stark ausgeprägt sein, was die Diagnosestellung erschwert (vgl. Döpfner et al. 2013b, S. 30; Schröder 2006, S. 18).

 

Die beschriebenen Merkmale einer ADHS treten bei jedem betroffenen Kind unterschiedlich auf. Dies gilt sowohl für die Zusammensetzung, die Häufigkeit als auch die Intensität der Symptome. Daher ist die Diagnose einer ADHS durch Laien nicht vertrauenswürdig und sollte immer durch einen ausgewiesenen Experten erfolgen. Hierdurch können sowohl positive, als auch negative Fehldiagnosen vermieden werden. Eine genaue und verlässliche Diagnose ist sehr wichtig, da sie den Beginn jeder Therapie und wissenschaftlichen Studie darstellt. Zur Erlangung einer zweifelsfreien Feststellung einer Beeinträchtigung „hat es sich als sinnvoll erwiesen, für jedes Störungsbild Kriterien aufzulisten und Entscheidungshilfen zu geben, wie viele Symptome in welchem Zeitraum beobachtet worden sein müssen, um sicher zu diagnostizieren“ (Schröder 2006, S. 31f.). Die Kriterien werden daher in Symptomkatalogen beschrieben und bewertet.

 

2.2.4 DSM-V und ICD-10

 

Weltweit haben sich zwei solcher Klassifikationssysteme durchgesetzt, das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM) der American Psychiatric Association (APA) und die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die klare und einheitliche Definition der Störung hilft bei der Diagnosestellung und der Versorgung von Patienten, da sie als gemeinsame Sprache zwischen Ärzten, Therapeuten und allen anderen Beteiligten dient. Die Störungen, die in den Klassifikationssystemen aufgeführt sind, werden unabhängig von ihrer Ursache anhand ihres Erscheinungsbilds beschrieben. Hierdurch ist eine Verwendung der Diagnose in unterschiedlichen Therapiebereichen, wie beispielsweise Verhaltenstherapie oder Tiefenpsychologie, möglich (vgl. Hogrefe 2016, o.S.).

 

In Deutschland werden Diagnosen in der Regel nach der ICD erstellt, international gebräuchlich sind aber auch solche nach dem DSM. Die beiden aktuellen Ausgaben der Klassifikationssysteme, ICD-10 von 1991 und DSM-V von 2013 unterscheiden sich unter anderem in der Benennung von Störungen. Für das annähernd gleiche Störungsbild wird im ICD-10 der Begriff hyperkinetische Störung gewählt, während im DSM-V die Störung als Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung bezeichnet wird. Im Gegensatz zur Namensgebung ähneln sich die beiden Klassifikationssysteme bei der Definition der Symptomkriterien, die für eine ADHS bzw. HKS gegeben sein müssen. Im Folgenden werden die Merkmale der Leitsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität nach Döpfner et al. (2013b, S. 37f.) aufgelistet.

 

Symptomkriterien Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nach DSM-V und der hyperkinetischen Störung (HKS) nach ICD-10

 

a) Unaufmerksamkeit:

 

1. Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten.

2. Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder Spielen aufrechtzuerhalten.

3. Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn ansprechen.

4. Führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund von oppositionellem Verhalten oder Verständnisschwierigkeiten).

5. Hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren.

6. Vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die langer andauernde geistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben).

7. Verliert häufig Gegenstände, die er/sie für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt (z.B. Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug).

8. Lasst sich oft durch äußere Reize leicht ablenken.

9. Ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich.

 

b) Hyperaktivität:

 

1. Zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum.

2. Steht {häufig} in der Klasse oder in anderen Situationen auf, in denen Sitzenbleiben erwartet wird.

3. Läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben).

4. Hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen.

5. {Ist häufig »auf Achse« oder handelt oftmals, als wäre er »getrieben«.}

6. [Zeigt ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivität, das durch die soziale Umgebung oder durch Aufforderungen nicht durchgreifend beeinflussbar ist.]

 

c) Impulsivität:

 

1. Platzt häufig mit der Antwort heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist.

2. Kann häufig nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist [bei Spielen oder in Gruppensituationen].

3. Unterbricht und stört andere häufig (platzt z. B. in Gespräche oder in Spiele anderer hinein).

4. Redet häufig übermäßig viel [ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren]. {Im DSM-IV unter Hyperaktivität subsumiert.}

 

{ } = nur DSM-V; [ ] = nur ICD-10.

 

Auch wenn sich die 18 Symptome zur Feststellung einer ADHS in beiden Klassifikationssystemen sehr ähneln, „unterscheidet sich DSM-V, wie bereits DSM-IV, von der ICD-10 in der Definition der Diagnose auf der Basis dieser Kernsymptome und hinsichtlich der zusätzlichen Kriterien“ (Banaschewski & Döpfner 2014, S. 288). Für die Diagnose einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) fordert die ICD-10 das Vorliegen von Unaufmerksamkeit (mindestens sechs von neun Symptomen müssen erfüllt sein), Hyperaktivität (mindestens drei von fünf Symptomen) und Impulsivität (mindestens eins von vier Symptomen). Sind zusätzlich Kriterien für die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens (d.h. aggressives oder dissoziales Verhalten) erfüllt, wird die Diagnose einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (F90.1) gestellt. Die ICD-10 fordert einen Beginn der Störung vor dem 7. Lebensjahr (vgl. Banaschewski & Döpfner 2014, S. 288; Döpfner et al. 2013b, S. 38f.; Schröder 2006, S. 32).

 

Die beiden Diagnosesysteme legen übereinstimmend fest,

 

dass die Symptome mindestens in den letzten sechs Monaten beständig und in einem dem Entwicklungsstand des Kindes nicht entsprechenden Ausmaß vorhanden gewesen sein müssen,

 

die Symptome nicht aufgrund anderer psychische Störungen, wie beispielsweise einer Schizophrenie, auftreten dürfen,

 

ein deutlicher Hinweis auf eine bedeutsame Beeinträchtigung des sozialen und/oder schulischen Verhaltens oder bei anderen Aktivitäten vorliegt und

 

die Beeinträchtigung durch die Symptome sich in zwei oder mehr Lebensbereichen (z.B. in der Schule, in einer Testsituation oder zu Hause) zeigen (vgl. Schröder 2006, S. 32).

 

Darüber hinaus betont das DSM-V besonders, dass die Anamnese über das Vorliegen einer ADHS in mehreren Situationen nach Möglichkeit durch die Einschätzung mehrerer Beurteiler aus verschiedenen Lebensbereichen erfolgen sollte. Bei Kindern bedeutet das, dass neben der Bewertung der Eltern auch die Lehrerbeurteilung über das Vorliegen von Symptomen in der Schule erhoben werden sollte. Weiterhin fordert das DSM-V, dass Symptome der Störung vor dem zwölften Lebensjahr aufgetreten sind. Zusätzlich passt das DSM-V seine Diagnosevoraussetzungen für Jugendliche an und reduziert die Zahl der notwendigen Symptome ab dem Alter von 17 Jahren. Im DSM-V werden zudem drei verschiedene Erscheinungsformen der ADHS unterschieden:

 

ADHS als gemischtes Erscheinungsbild. Hierfür müssen sowohl Symptome von Unaufmerksamkeit (mindestens 6 von 9 Symptomen; ab dem Alter von 17 Jahren mindestens 5 Symptome), als auch von Impulsivität/Hyperaktivität (mindestens 6 von 9 Symptomen; ab dem Alter von 17 Jahren mindestens 5 Symptome) vorliegen.

 

ADHS des vorwiegend unaufmerksamen Erscheinungsbildes. Hierbei müssen ausreichend Symptome von Unaufmerksamkeit vorliegen, die Kriterien für Impulsivität/Hyperaktivität jedoch nicht voll erfüllt sein.

 

ADHS des vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Erscheinungsbildes. Für diese Diagnose müssen entsprechend viele Symptome von Impulsivität/Hyperaktivität vorliegen, aber die Kriterien für Unaufmerksamkeit nicht voll erfüllt sein (vgl. Banaschewski & Döpfner 2014, S. 288f.).

 

Eine Kombinationsdiagnose, die beispielsweise oppositionelles, aufsässiges Verhalten einschließt, wie es in der ICD-10 der Fall ist, ist mit dem DSM-V nicht möglich. Hier sind zwei getrennte Diagnosen erforderlich (vgl. Döpfner et al. 2013b, S. 41).

 

Die dreifache Differenzierung des DSM-V kommt den verschiedenen Ausprägungen einer ADHS näher als die ICD-10, da es eine genauer angepasste Diagnose ermöglicht. Betroffene mit vorwiegend hyperaktiv-impulsivem Subtyp oder mit vorwiegend unaufmerksamem Subtyp können überhaupt erst erfasst werden. In Ländern wie Deutschland, in denen überwiegend nach den Kriterien der WHO klassifiziert wird, sind Betroffene mit einem Subtyp, d.h., die nicht das gemischte Erscheinungsbild aufweisen, schwieriger zu diagnostizieren. Abbildung 1 soll die Differenzen grafisch veranschaulichen, die bezüglich der Kombination der Symptomkriterien zwischen ICD-10 und DSM-V bestehen.

 

 

 

Abbildung 1: Kriterien für die Diagnose einer hyperkinetischen Störung nach ICD-10 und einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung nach DSM-V (nach Gawrilow 2016, S. 27)

 

Das DSM-V ermöglicht eine differenziertere Diagnose als die ICD-10, trotzdem gibt es auch an den Kriterien des Klassifikationssystems der APA Kritik. So heißt es in einem Punkt, „das emotionale Verhalten wird zu wenig berücksichtigt. Dabei sind es oft emotional schwierige Verhaltensweisen, welche das Zusammenleben entweder im Klassenverband, im beruflichen oder in der Familie wesentlich erschweren“ (Müller et al. 2011, S. 9). Gemeint ist damit, dass die im Zusammenhang mit einer ADHS häufig beobachteten Probleme der Emotionsregulation, die beispielsweise in Form eines Nicht-Akzeptierens von Regeln oder Stimmungslabilität auftreten, zu wenig Berücksichtigung finden. Eine weitere negative Anmerkung betrifft die fehlende Beachtung geschlechtsspezifischer Besonderheiten. In der Realität gibt es bei Frauen und Mädchen im Vergleich zu Männern und Jungen Unterschiede, sowohl bezüglich der Häufigkeit, als auch dem Erscheinungsbild einer ADHS, die in den Kriterien nicht widergespiegelt werden (vgl. ebd.).

 

Da die die Kriterien des DSM und der ICD bisher vorwiegend auf Kinder und Jugendliche abzielen, erarbeitete Wender bereits 1995 die Wender-Utah-Kriterien für Erwachsene mit Verdacht auf eine ADHS (vgl. Backmund et al. o.J., S. 2ff.). Auf diese Kriterien wird innerhalb dieser Ausarbeitung jedoch nicht weiter eingegangen.

 

Trotz zahlreicher Kritikpunkte an den Klassifikationssystemen sind ein gemeinsames Verständnis und eine Orientierungsmöglichkeit für die Diagnosestellung einer ADHS unerlässlich. Da durch die Kriterien im DSM-V und der ICD-10 die einzige international verbindliche Definition der hyperkinetischen Störung vorgegeben ist (vgl. Schlottke, Strehl & Lauth 2009, S. 416), bilden diese beiden Systeme die Grundlage für einheitliche und vergleichbare Diagnosen. Hierdurch sind Therapien und Interventionen möglich und Studien zum Thema ADHS basieren auf einer klar definierten Grundlage. Um bestmögliche und aktuelle Definitionen geben zu können, werden bei der Überarbeitung der Klassifikationssysteme alle zehn bis fünfzehn Jahre neue Forschungserkenntnisse aufgenommen. Das Vorgehen bei einer ADHS-Diagnostik anhand der beschriebenen Symptomkriterien wird nachfolgend näher beleuchtet.

 

2.3 Diagnostik

 

Bei Anzeichen auf eine ADHS ist es möglich, sich mithilfe von Checklisten oder Fragebögen ein erstes Bild darüber zu machen, inwieweit Verhaltensmerkmale den Verdacht bestätigen. Lehrkräften können solche Checklisten helfen, die entsprechenden Schüler besser einzuschätzen sowie das weitere pädagogische Vorgehen entsprechend zu planen. Auch den Eltern von vermeintlich Betroffenen können Fragebögen helfen, einen ersten Verdacht zu erhärten oder zu entkräften. Befinden sich die Betroffenen bereits in einem entsprechenden Alter, ist auch eine Selbsteinschätzung möglich (viele Fragebögen zur Selbst-, Fremd- und Lehrerbeurteilung finden sich in ADHS-Ratgebern und im Internet, zwei Beispiele sind im Anhand dargestellt). Diese Fragebögen können jedoch auf keinen Fall eine sichere Diagnose stellen. Die eigene Beobachtung soll durch sie lediglich geschärft und gegebenenfalls ein Spezialist aufgesucht werden (vgl. Bargelé et al. 2006, S. 22f.; Farnkopf 2007, S. 27f.).

 

Bisher existieren weder Tests in Form von neurobiologischen, bildgebenden oder neurophysiologischen Verfahren, mit deren Hilfe eine eindeutige medizinische Diagnose gestellt werden kann. Aus diesem Grund ist die Abklärung von ADHS so schwierig und muss unbedingt durch Spezialisten, wie Kinder- und Jugendpsychiater oder -psychotherapeuten, kinderneurologische Zentren, sozialpädiatrische Einrichtungen oder auf diesem Fachgebiet geschulte Kinderärzte, vorgenommen werden (vgl. Farnkopf 2007, S. 27f.).

 

Die Diagnose wird klinisch mittels Anamnese und direkter Beobachtung erstellt. Hierzu dienen vor allem die klinische Exploration der Eltern, des Kindes bzw. Jugendlichen sowie Informationen von Erziehern und Lehrern.d Paulus (2010, S. 59) unterscheidet drei Kategorien von Erhebungsmethoden:

 

1. Direkte Verhaltensbeobachtung des Kindes/Jugendlichen: Der Betroffene wird allein bzw. mit seiner Familie während der Anamnese, in Testsituationen, in natürlicher Umgebung wie häuslichem Umfeld, Erledigen von Hausaufgaben, gemeinsamen Essen oder Schulunterricht beobachtet.

2. Testpsychologische Untersuchungen: Intelligenz, schulische Leistungsfähigkeit, Entwicklungsstand, Aufmerksamkeitsfunktionen, Impulsivität und schulische Fertigkeiten wie schreiben, rechnen oder lesen werden getestet.

3. Fragebogen- und Beurteilungsskalendiagnostik: Symptomkriterien aus ICD-10 oder DMS-V werden mit Hilfe von Fragebogenverfahren und strukturierten oder semistrukturierten Interviews erfasst.

 

Die Diagnose einer ADHS basiert somit im Wesentlichen auf einer Erhebung der sichtbaren Symptomatik, die sich in Form von Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität zeigt. Die Erfassung der Symptome orientiert sich dabei an den Kriterien der beiden diagnostischen Systeme ICD-10 und DSM-V und erfolgt durch die genannten Erhebungsmethoden. Die Einbeziehung verschiedener Informationsquellen (z.B. Eigen-, Familien-, Fremdanamnese) ist Grundvoraussetzung für eine zuverlässige Beurteilung. Intelligenz- und Aufmerksamkeitstests sowie eingehende körperliche und neurologische Untersuchungen schließen andere Erkrankungen aus und vervollständigen die Diagnostik (vgl. Bargelé et al. 2006, S. 12).

 

Neben der Kritik an den Symptomkriterien der ICD-10 und DSM-V, die im Kapitel 2.2 dargestellt wurde, lassen sich auch an den bestehenden Diagnoseverfahren Schwachstellen identifizieren. Unter anderem wird kritisch angemerkt, dass bisher keine Marker (kognitiv, psychophysiologisch, neurologisch) für eine eindeutige und hinreichend spezifische ADHS-Diagnose identifiziert werden konnten. Sogenannte Biomarker stellen beispielsweise messbare Parameter biologischer Prozesse dar, mit deren Hilfe in der Medizin und Biologie prognostische oder diagnostische Aussagen getroffen werden können. Sie werden daher als Indikatoren für Krankheiten herangezogen. Solche messbaren biologischen Prozesse, die eindeutig mit dem Auftreten einer ADHS verknüpft sind, konnten bisher nicht zweifelsfrei ermittelt werden. Ein weiterer problematischer Punkt betrifft die Ätiologie einer ADHS. Da unterschiedliche Konzepte zu den Ursachen des hyperkinetischen Syndroms bestehen und zudem Uneinigkeit über die zentralen Defizite der Störung herrscht, ist es für die „Diagnostik äußerst schwer, entscheidungsrelevante Merkmale zu benennen bzw. sie als diagnostisch hinreichend bedeutsam zu bewerten“ (Schlottke et al. 2009, S. 416f.). Ein großer Kritikpunkt betrifft zudem die enorme Subjektivität von ADHS-Diagnosen. Diese entsteht, da die Erfassungsmethoden wie Fragebögen, Beobachtungen oder Interviews sowohl vom momentanen Zustand und den subjektiven Antworten des Betroffenen, als auch von der Perspektive des Beobachters abhängen (vgl. Müller et al. 2011, S. 15).

 

„Ein großes Problem der gesamten Diagnostik bei AD[H]S liegt in der Tatsache, dass die Diagnose aufgrund von Kriterien erfolgt, die zwar jeder beobachten kann, die aber nur dann auffällig sind, wenn sie in überdurchschnittlicher Intensität und Häufigkeit auftreten“ (Schröder 2006, S. 41). Wesentliches Ziel der sogenannten Differenzialdiagnostik ist es daher, Verhaltensweisen sowie physische und psychische Faktoren auszuschließen, die mit impulsivem und unaufmerksamem Verhalten einhergehen, um zu einer klaren ADHS-Diagnose zu gelangen (vgl. ebd.). Ursachen solcher ADHS-typischen Verhaltensmuster können beispielsweise auch Irritationen im kindlichen Umfeld (z.B. Trennungskonflikte, Bullying) oder andere Störungsbilder (z.B. Angststörung, depressive Störung) sein (vgl. Paulus 2010, S.58).

 

Am Ende eines sorgfältigen Diagnoseprozesses kann dann herausgefunden werden, ob es sich um eine ADHS oder um eine andere Störung handelt. Brandau, Pretis und Kaschnitz (2003, S. 19f., siehe Tabelle 1) führen exemplarisch folgende alternative Ursachen für eine der ADHS verwandten Symptomatik auf:

 

 

Tabelle 1: ADHS-ähnliche Symptome und deren Ursachen

 

Döpfner (2009, S. 439) empfiehlt daher, sich bei der Diagnose nicht nur auf die Symptome und Kriterien einer ADHS zu konzentrieren: „Da ein erheblicher Anteil der Kinder und Jugendlichen mit diesem Störungsbild weitere Auffälligkeiten zeigt, empfiehlt es sich im Rahmen einer multimodalen Diagnostik auch Interview- und Fragebogenverfahren anzuwenden, die ein breites Spektrum psychischer Störungen erheben.“

 

2.4 Komorbiditäten

 

Neben der differentialdiagnostischen Abklärung, die unter anderem Störungsbilder mit ähnlicher Symptomatik ausschließen soll, ist die Erkennung komorbider Störungen wichtig. Hierbei handelt es sich um Störungen, die im Sinne einer Doppel- bzw. Mehrfachdiagnose neben der hyperkinetischen Störung zusätzlich bestehen. Sobald komorbide Störungen vorhanden sind, ist eine isolierte ADHS-Diagnose erheblich schwieriger.

 

Ein relativ hoher Prozentsatz der ADHS-Betroffenen entwickelt zusätzliche Störungen. Der prozentuale Anteil an ADHS-Diagnosen mit komorbiden Störungen variiert je nach Erhebung zwischen 34% und 94% (vgl. Gawrilow 2016, S. 31f.). Viele Autoren gehen jedoch davon aus, dass mehr als 2/3 der Betroffenen mindestens eine weitere Begleitstörung aufweisen (vgl. Brandau et al. 2003, S. 70; Gawrilow 2016, S. 21; Paulus 2010, S. 54; BZgA 2006, S. 16).

 

Einigkeit besteht weitestgehend hinsichtlich der am häufigsten komorbid auftretenden Störungen. Für eine ADHS im Kindes- und Jugendalter sind dies Störungen des Sozialverhaltens, affektive Störungen (vor allem Depressionen), Angststörungen, Lernstörungen, Teilleistungsstörungen, Ticstörungen und Substanzmittelmissbrauch. Darüber hinaus sind weitere Beeinträchtigungen wie Schlaf- oder Appetitstörungen möglich (vgl. Döpfner, Frölich & Lehmkuhl 2013a, S. 7; Müller et al. 2011, S. 16; Gawrilow 2016, S. 33). In der Häufigkeitsverteilung legen Döpfner et al. (2013a, S. 7, siehe Tabelle 2) folgende Zahlen vor:

 

 

Tabelle 2: Häufigkeit komorbider Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS

 

Die zusätzlichen Störungen gehen zum Teil auf die Ursachen der Grunderkrankung zurück, sind also schon mit angelegt und treten gemeinsam mit der ADHS als assoziierte Störung auf. Ein anderer Teil entsteht in der Lerngeschichte der Betroffenen, durch die Auseinandersetzung mit dem gesamten Umfeld (Familie, Kindergarten, Schule oder Ausbildung). So können Störungen des Sozialverhaltens oder depressive Störungen sowie Angst und Rückzugsverhalten als Reaktion auf eine als Bedrohung erlebte Umwelt entstehen. Diese Negativspirale, indem das Kind zunehmend erfährt anders zu sein, kann ebenso zu Lernstörungen und Teilleistungsschwächen führen (vgl. Neuhaus 2009, S. 91).

 

Neben den aufgeführten komorbiden Störungen treten bei Kindern und Jugendlichen mit einer ADHS vermehrt weitere Probleme und Belastungen auf. „Die betroffenen Kinder wiederholen häufiger eine Klasse, haben schlechtere Schulnoten und erreichen geringere Leistungen in Sprach-, Lese-, Rechtschreib- und Rechentests. Die Kinder haben eine geringere soziometrische Position in der Gleichaltrigengruppe und die Eltern-Kind- sowie die Lehrer-Kind-Beziehungen sind durch ein hohes Maß an negativen, bestrafenden und kontrollierenden Interaktionen gekennzeichnet“ (Döpfner et al. 2013a, S. 7).

 

Gawrilow (2016, S. 31) fasst zusammen, dass alle komorbiden Störungen sowie Probleme und Belastungen, die über die Hauptmerkmale einer ADHS hinausgehen, zusätzliche Risikofaktoren für die Entwicklung der Betroffenen darstellen. Die Störung verläuft mit zusätzlichen komorbiden Erkrankungen und Problemen in der Regel schwerwiegender und beeinträchtigender als eine isolierte ADHS.

 

2.5 Verlauf

 

Nach der Beleuchtung der Diagnose einer ADHS, den Symptomkriterien und deren Klassifikationen sowie möglicher Begleiterscheinungen, wird in diesem Abschnitt ein typischer Entwicklungsverlauf der hyperkinetischen Störung dargestellt. Entgegen früherer Vermutungen ist inzwischen bekannt, dass die Störung eine lebenslange Beeinträchtigung darstellen kann, die sich in unterschiedlichen Facetten zeigt und die Betroffenen im Allgemeinen in allen Lebensphasen tangiert (vgl. Gawrilow 2016, S. 92).

 

Tabelle 3 gibt einen Überblick über wesentliche Befunde zum Verlauf der Störung.

 

 

Tabelle 3: Verlauf einer ADHS (vgl. Döpfner et al. 2013a, S. 19)

 

2.5.1 Säuglings- und Kleinkindalter

 

Die ersten Symptome lassen sich häufig bereits im Säuglings- und Kleinkindalter entdecken. Viele Mütter berichten bereits von einer vermehrten Unruhe im Mutterleib, teilweise so heftig, dass die Kindsbewegungen Schmerzen verursachen können (vgl. Neuhaus 2009, S. 59). Liegen bei Babys ein extrem hohes Aktivitätsniveau, Schlafprobleme, Essschwierigkeiten, eine gereizte Stimmungslage oder schwierige Temperamentsmerkmale vor, besteht ein höheres Risiko eine ADHS zu entwickeln. „Entwicklungsrückstände in der motorischen Entwicklung, der Sprachentwicklung und in der Entwicklung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit treten gehäuft auf“ (Döpfner et al. 2013b, S. 48). Addieren sich zu diesen Anzeichen psychische Störungen der Eltern, ungünstige familiäre Verhältnisse oder negative Eltern-Kind-Interaktionen, steigt das Risiko der Manifestation einer psychischen Störung wie eine ADHS noch einmal beträchtlich (ebd.). Zwar reicht die Anamnese bezüglich des Störungsbildes bis ins Säuglingsalter zurück, jedoch fällt die Abgrenzung zu einer altersgemäßen Aufmerksamkeitsspanne und motorischen Unruhe schwer. Bei Kindern vor dem Kindergarten- und Schulalter sind ein hoher Aktivitätsgrad, schnell wechselnde Interessenslagen, Handeln ohne weitreichende vorherige Handlungsplanung und ohne Orientierung an langfristigen Zielen typisch, was eine Diagnose in diesem Alter schwierig macht (Paulus 2010, S. 65).

 

2.5.2 Kindergarten- und Vorschulalter

 

Im Kindergarten- und Vorschulalter treten vor allem Symptome wie motorische Unruhe, ziellose Aktivitäten und Rastlosigkeit in den Vordergrund. Ein erhöhtes Unfallrisiko sowie eine mangelnde soziale Integrierbarkeit, z.B. im Kindergarten, sind die Folge. Die ADHS-Kinder können sich nur kurz auf Themen, Handlungen und Spiele konzentrieren und zeigen generell eine geringe Spielintensität und -dauer (vgl. Neuhaus 2009, S. 66f.). Bei einem Teil der Kinder kommen zusätzlich aggressive und oppositionelle Verhaltensweisen gegenüber Erziehungsberechtigten und Gleichaltrigen zum Vorschein. Studien zeigten eine Stabilität der Symptomatik von ungefähr 50% bei betroffenen Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren (vgl. Döpfner et al. 2013a, S. 20).

 

Feindselige Eltern-Kind-Interaktionen, Aggressivität, Entwicklungsdefizite sowie stark ausgeprägte Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsschwäche haben sich in dieser Phase als Risikofaktoren für eine ungünstige Entwicklung gezeigt (vgl. Gawrilow 2016, S. 93).

 

2.5.3 Grundschulalter

 

Mit dem Schuleintritt und den damit verbundenen höheren Anforderungen an die Arbeits- und Handlungsstruktur im Unterricht sowie während der Hausaufgaben, verstärken sich die Symptome oft plötzlich und lassen die Aufmerksamkeitsschwäche, motorische Überaktivität und kognitive Impulsivität voll zum Vorschein treten. Hieraus resultieren Lern- und Anpassungsschwierigkeiten, die trotz in der Regel normaler Intelligenz zu Lernschwierigkeiten, Teilleistungsschwächen, Klassenwiederholungen, Schulausschlüssen oder Umschulungen führen können, wodurch deutliche Auswirkungen auf den Selbstwert und das emotionale Erleben der Kinder entstehen (vgl. Paulus 2010, S. 67). Die Betroffenen schaffen es zudem nicht, selbstständig Ordnung zu halten, verlieren häufig Dinge und benötigen ständige Kontrolle und Anleitung von außen (vgl. Neuhaus 2009, S. 70).

 

Zu dieser Zeit manifestieren sich zum anderen dissoziale Verhaltensweisen wie Lügen oder Stehlen und Wutausbrüche. Die Folgen des auffälligen Verhaltens sind zwischenmenschliche Konflikte mit Lehrern, Eltern und Gleichaltrigen. Kinder mit einer ADHS leiden „im Klassenverband oftmals unter Ablehnung und Ausgrenzung durch Mitschüler, was teilweise durch ‚Kaspern’ zu kompensieren versucht wird oder in der Annahme der Außenseiterrolle mündet“ (Paulus 2010, S. 67f.). Nach Döpfner und Kollegen (2013b, S. 49) liegt die Stabilität der Störung im Alter von sechs bis neun Jahren bei 60-70%.

 

2.5.4 Jugendalter

 

Auch im Jugendalter liegt die Rate der Auffälligen weiterhin bei 30-70% (vgl. Döpfner et al. 2013b, S. 48). Bei einem Teil der Betroffenen geht die Hyperaktivität zurück, während die Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörung sowie begleitende Erscheinungen, wie Schulleistungsprobleme und soziale Isolation anhalten. Es kommt vermehrt zu delinquenten Verhaltensweisen und Störungen des Sozialverhaltens. Bei Jugendlichen mit einer ADHS tritt zudem ein vermehrter Alkohol- und Drogenmissbrauch auf. Oftmals herrscht ein dem Entwicklungsstand nicht angepasstes Risikoverhalten, das gehäuft zu Unfällen, beispielsweise im Straßenverkehr, führt (vgl. Gawrilow 2016, S. 94f.). Jugendliche mit einer hyperkinetischen Störung sind weniger in der Lage sich in andere Personen hineinzuversetzen, als Gleichaltrige ohne ADHS. Zudem zeigen sie eine hohe Beeinflussbarkeit sowie geringe Kritikfähigkeit (vgl. Neuhaus 2009, S. 77f.). Die Betroffenen verlassen die Schule auf Grund von dauerhafter Unaufmerksamkeit, Lernstörungen und mangelndem Durchhaltevermögen früher als Jugendliche ohne Störung, was zu niedrigeren Bildungsabschlüssen führt (vgl. Döpfner et al 2013b, S. 48f.).

 

2.5.5 Erwachsenenalter

 

Entgegen früherer Annahmen handelt es sich bei der ADHS um eine Erkrankung, bei der in 50-80% der Fälle zumindest ein Teil der hyperkinetischen Symptome bis ins Erwachsenenalter bestehen (vgl. Döpfner et al. 2013a, S. 21).

 

Bei Erwachsenen verändert sich allerdings oftmals das Symptombild der hyperkinetischen Störung. Die motorische Hyperaktivität wandelt sich häufig in ein inneres Unruhegefühl. Zudem kommen weitere Problembereiche hinzu. Neben Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität und Impulsivität sollten Erwachsene mit einem ADHS-Verdacht nach Grabemann (2016, S. 18) auch auf Affektlabilität, Desorganisation, Affektkontrolle und emotionale Überreagibilität untersucht werden. In vielen Untersuchungen an Erwachsenen mit einer ADHS konnte zudem eine Verminderung der sozialen Einbindung, des psychischen Wohlbefindens und des Beschäftigungsstatus festgestellt werden. Die Betroffenen haben ein hohes Risiko, eine antisoziale Persönlichkeitsstörung sowie Alkoholismus, Drogenmissbrauch und interpersonelle Beziehungsstörungen zu entwickeln (vgl. Döpfner et al. 2013b, S. 49; BZgA 2006, S. 14).

 

Die ADHS kann als chronisches Störungsbild angesehen werden, das häufig von der Frühkindlichen Entwicklung bis in das Erwachsenenalter besteht, dessen Symptome sich jedoch immer wieder verändern. Neuhaus (2009, S. 59) wundert sich, warum angesichts der vielen Schilderungen über Entwicklungsverläufe und typische Meilensteine der Entwicklung nicht früher zumindest Verdachtsdiagnosen gestellt und Betroffene zielführend unterstützt werden.

 

2.5.6 Risiko- und Schutzfaktoren

 

Um so früh wie möglich gegen eine Chronifizierung, also eine Verhärtung der Symptome von ADHS vorzugehen, hat es sich als notwendig erwiesen, Bedingungen und Einflüsse für den Entwicklungsverlauf von Menschen zu ermitteln. Dabei wurden sogenannte Risiko- und Schutzfaktoren identifiziert. Risikofaktoren gehen mit einer erhöhten, Schutzfaktoren einer verringerten Auftretenswahrscheinlichkeit einer ADHS einher. „Man erkannte dabei rasch, dass die Entwicklung eines Menschen weniger durch die Zahl der Risikofaktoren als durch die Zahl und Qualität der positiven Faktoren (sog. Schutzfaktoren) bestimmt wird. […] Dabei ist aber nicht die absolute Zahl der Schutzfaktoren entscheidend, sondern das Verhältnis der Risiko- zu Schutzfaktoren“ (Lauth 2014, S. 31f.).

 

In der nachfolgenden Tabelle 4 sind einige identifizierte Risiko- und Schutzfaktoren gegenübergestellt.

 

 

Tabelle 4: Auswahl an Risiko- und Schutzfaktoren in der Kindlichen Entwicklung (vgl. Lauth 2014, S. 31f.)

 

Da die kindliche Entwicklung besonders von den Schutzfaktoren bestimmt und beeinflusst wird, sollte es das Ziel aller Beteiligten wie Eltern, Erzieher oder Lehrer sein, diese zu stärken.

 

2.5.7 Stärken von ADHS-Betroffenen

 

Beim Thema ADHS fallen in der Regel besonders die Schwierigkeiten und Probleme der Betroffenen auf, die sie in der Schule und zu Hause, mit Eltern und Geschwistern sowie mit Lehrern, Schulkameraden und sich selbst haben. Hierbei geraten positive Eigenschaften, die mit dem hyperkinetischen Syndrom oft einhergehen, schnell in Vergessenheit. Hierzu gehören beispielsweise (vgl. Brandau et al. 2003, S. 79f.; Gawrilow 2016, S. 23; Neuhaus 2009, S. 140f.; Schröder 2006, S. 25f.):

 

Spontanität;

 

Sinn für Situationskomik, Humor;

 

Ideenreichtum, Kreativität und Abstraktionsfähigkeit;

 

körperliche Fitness und Spaß an Bewegung;

 

Gespür für soziale Fairness, Recht und Unrecht;

 

nicht-nachtragend-Sein;

 

Neugierde und Begeisterungsfähigkeit;

 

ausgeprägter Gerechtigkeitssinn und Hilfsbereitschaft;

 

Risikofreude und Mut;

 

große Tier- und Naturliebe;

 

rasche Reaktionsfähigkeit;

 

guter Orientierungssinn.

 

Diese Ressourcen zeichnen Kinder und Jugendliche mit einer ADHS gegenüber anderen Schülern aus. Daher gilt es besonders für Lehrer, die vorhandenen Stärken zu fördern und „diese Energie, Neugier und Kreativität so zu lenken, […] dass diese Begabungen produktiv im Unterricht und beim Lernen eingesetzt werden können“ (Schröder 2006, S. 26). Gelingt dies, steigen die Motivation, der Lernerfolg und das Selbstvertrauen der Betroffenen.

 

2.6 Ätiologie

 

Im vorangegangen Kapitel wurde der typische Entwicklungsverlauf von ADHS mit zugehörigen Risiko- und Schutzfaktoren dargestellt. Diese Risikofaktoren können die Auftretenswahrscheinlichkeit einer ADHS erhöhen, sie gelten jedoch nicht als primäre Ursache des Syndroms. Im Folgenden wird daher näher auf die Ätiologie der hyperkinetischen Störung eingegangen.

 

Die Erforschung der Ursachen einer ADHS ist auch in jüngster Zeit nicht abgeschlossen. Angesichts des großen Spektrums an Symptomen und Erscheinungsformen der Störung, ist ein einzelner, spezifischer und allgemeingültiger Ausgangspunkt unwahrscheinlich. Vermutlich wird sie durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren verursacht. Es wird heute angenommen, dass ein multifaktorielles Zusammenspiel aus genetischen, neurobiologischen, neuropsychologischen und psychosozialen Faktoren für die Entstehung der Symptomatik verantwortlich ist. Außerdem können Einflüsse während der Schwangerschaft sowie Nahrungsmittel und Zusatzstoffe von Bedeutung sein (vgl. Bundesärztekammer 2005, S. 21; Ettrich & Ettrich 2006, S. 89; Mosetter & Mosetter 2005, S. 18f.; Schlottke et al. 2009, S. 414f.).

 

2.6.1 Genetische Faktoren

 

Welchen Einfluss haben die Gene auf die Ätiologie der ADHS? Hinweise auf eine genetische Disposition einer ADHS haben verschiedene Familien-, Adoptions- und Zwillingsstudien geliefert. Eine erhöhte Rate von ADHS-Symptomen lässt sich bei unmittelbaren Familienangehörigen von Kindern und Jugendlichen mit ADHS finden. Des Weiteren zeigen Adoptionsstudien bei den biologischen Eltern von Kindern mit ADHS eine erhöhte Rate der Störung im Vergleich zu Adoptiveltern. In Zwillingsstudien findet man zudem bei eineiigen Zwillingen mit 60-90% deutlich häufiger eine Betroffenheit beider Kinder als bei zweieiigen Zwillingen mit etwa 30% (vgl. Brandau et al. 2003, S. 24; Ettrich & Ettrich 2006, S. 84f.; Müller et al. 2011, S. 82).

 

Bisher konnte noch kein Gen identifiziert werden, das alleine einen entscheidenden Effekt auf die Entstehung der hyperkinetischen Störung hat. Molekulargenetische Studien legen nahe, dass verschiedene Gene bei der Entstehung einer ADHS beteiligt sind. Entsprechende Analysen brachten Hinweise auf einen defekten Gencode für Dopaminrezeptoren, der es den Neuronen erschwert, auf den Neurotransmitter Dopamin normal zu reagieren (vgl. Brandau et al. 2003, S. 24; Bundesärztekammer 2005, S. 21). „Das bedeutet, dass bei ADHS-Betroffenen diese veränderten Gene eine Variation im Dopaminhaushalt bewirken können, was wiederum Auslöser für hyperaktives und unaufmerksames Verhalten sein kann“ (Gawrilow 2016, S. 66).

 

2.6.2 Neurobiologische Faktoren

 

Zu den neurobiologischen Ursachen einer ADHS werden neuroanatomische und neurochemische Auffälligkeiten gezählt. Ein Ungleichgewicht und eine Fehlsteuerung der Neurotransmitter Dopamin, Serotonin und Noradrenalin werden als neurochemische Auslöser der hyperkinetischen Störung angenommen, wodurch eine Verbindung zu den genetischen Faktoren deutlich wird. Besonders Befunde über die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin sind aufgrund der Wirksamkeit von Stimulantien wie Methylphenidat, die die Ausschüttung von Dopamin und Noradrenalin erhöhen, aufschlussreich. Zur Unterstützung dieser Hypothese gelang es, durch Single-Photon-Emissions-Computertomographie-Untersuchungen eine Störung des Dopaminsystems bei ADHS-Betroffenen nachzuweisen. Der Neurotransmitter Dopamin sorgt für die Kommunikation zwischen den Nervenzellen im Zentralnervensystem und ist unter anderem für die Kontrolle motorischer Aktivitäten, zielgerichteter Aufmerksamkeit und emotionaler Steuerung verantwortlich. Bei unbehandelten ADHS-Patienten konnte eine erhöhte Dopamintransporterdichte festgestellt werden, die eine verkürzte Verweildauer des Botenstoffs Dopamin im synaptischen Spalt zur Folge hat. Es kommt zu einer Unterversorgung des Neurotransmitters in bestimmten Hirnregionen, wie beispielsweise dem Frontallappenbereich. (vgl. Ettrich & Ettrich 2006, S. 84; Mosetter & Mosetter 2005, S. 23f.).

 

Bezüglich der Neuroanatomie stellt sich die Frage, „Ist ADHS das Ergebnis struktureller Abnormalitäten oder Abweichungen vom ‚Normalhirn’?“ (Brandau et al. 2003, S. 28). Erste Hypothesen bezüglich involvierter Hirnregionen entstanden durch die Beobachtung, dass Menschen mit Verletzungen oder Läsionen im Bereich des präfrontalen Kortex ähnliche Symptome aufweisen wie Menschen mit ADHS (Müller et al. 2011, S. 36). Da sich fast alle Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen mit ADHS mit Funktionen dieser Hirnregion in Verbindung bringen lassen, scheint der frontale Kortex eine entscheidende Rolle zu spielen. Zu seinen Aufgaben zählen beispielsweise die Handlungsplanung, kognitive Steuerung und das Arbeitsgedächtnis. Die Ergebnisse von bildgebenden Verfahren und Studien zu dieser Frage sind sehr heterogen. Übereinstimmend wurde jedoch eine signifikante Volumenminderung in den Gehirnen ADHS-Betroffener im frontalen Kortex, den Basalganglien und dem Kleinhirn nachgewiesen (vgl. Döpfner et al. 2013a, S. 13f.; Edel & Vollmoeller 2006, S. 8f.).

 

2.6.3 Umwelteinflüsse

 

Auch prä- und perinatale Einflüsse sowie die Rolle der Ernährung stehen im Verdacht, ADHS auszulösen oder zumindest an der Verursachung beteiligt zu sein. „Insbesondere allergische Reaktionen auf Zusatzstoffe in der Nahrung (z.B. Farbstoffe, Konservierungszusätze, Zucker, Phosphate) werden immer wieder Mittelpunkt von wissenschaftlichen Untersuchungen“ (Gawrilow 2016, S. 68). In den meisten Studien konnte jedoch bisher kein klinisch bedeutsamer Zusammenhang zwischen Nahrungsmittelzusätzen jeglicher Art und der Entstehung einer ADHS gefunden werden. Allerdings hat eine neuere randomisierte, doppelblinde und placebokontrollierte englische Studie gezeigt, dass Kinder auf den Konsum einer definierten Testmischung künstlicher Nahrungsmittelzusätze im Vergleich zum Placebo mit signifikant mehr hyperaktiven Symptomen reagierten (Mc Cann et al. 2007). Es wurden Kinder im Alter von 3 und 8 bis 9 Jahren aus der Normalbevölkerung untersucht, insofern ist eine Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Kinder mit hyperkinetischem Syndrom noch zu prüfen. Es kann jedoch festgehalten werden, dass Diäten und Ernährungsumstellungen auf einige Kinder mit ADHS günstige Effekte zeigen. Reagiert ein Kind auf ein bestimmtes Nahrungsmittel mit besonders auffälligem Verhalten, kann eine individuell angepasste Eliminationsdiät zu einer Linderung der Symptomatik führen (vgl. Brandau et al. 2003, S. 27; Döpfner et al. 2013a, S. 12f.).

 

Ähnlich zur Rolle der Ernährung konnte auch noch nicht abschließend geklärt werden, inwieweit Einflüsse während der Schwangerschaft und Geburt zur Ausprägung der hyperkinetischen Störung führen. In vielen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass Rauchen, Alkohol- und Heroinkonsum während der Schwangerschaft das ADHS-Risiko für die Kinder erhöhen. Ein sehr geringes Geburtsgewicht, Frühgeburt, Sauerstoffunterversorgung während der Geburt, Hirnschäden oder Toxinbelastung mit Blei gelten als weitere Risikofaktoren (vgl. Barkley 2002, S. 120f.; Brandau et al. 2003, S. 26). Da die Studien, die zu diesen Ergebnissen kommen meist korrelativer Natur sind, kann kein kausaler Schluss daraus gezogen werden. Es ist beispielsweise zu klären, ob das Rauchen der Mutter tatsächlich ein exogener Einflussfaktor für das Auftreten einer ADHS ist oder ob beides von einem einzigen dritten Faktor abhängt (vgl. Gawrilow 2016, S. 70).

 

2.6.4 Neuropsychologische Faktoren

 

Die Neuropsychologie beschäftigt sich mit den Funktionen des Gehirns, wie z.B. der Aufmerksamkeit, dem Gedächtnis, den motorischen Fertigkeiten, Persönlichkeits-/Verhaltensänderungen oder emotionalen Störungen. Untersucht werden insbesondere gestörte Funktionen infolge von Unfällen oder Erkrankungen (vgl. Gesellschaft für Neuropsychologie 2017, o.S.). Es existieren verschiedene neuropsychologische Modelle zur Entstehung der hyperkinetischen Störung, die überwiegend von einem inhibitorischen Defizit (Hemmung von Impulsen) und seiner Bedeutung für die Selbstregulation, Planung und Organisation von Verhaltensabläufen ausgehen (vgl. Ettrich & Ettrich 2006, S. 85). Zwei Modelle werden hier exemplarisch vorgestellt. Das „Hybrid-Modell“ von Barkley (2002, S. 87ff.), basiert auf der Theorie, dass durch Verhaltenshemmung die Ausführung von exekutiven Funktionen ermöglicht wird. Bei ADHS kommt es laut Barkley zu einer Störung der Verhaltenshemmung, die sekundär zu einer inadäquaten Selbstregulation exekutiver Funktionen führt. Zu den exekutiven Teilfunktionen, in denen Beeinträchtigungen auftreten, gehören das Arbeitsgedächtnis, die Selbstregulation von Affekten, Motivation und Aufmerksamkeit, die Internalisierung und Automatisierung von Sprache und die Analyse und Entwicklung von Handlungssequenzen (vgl. Döpfner et al. 2013a, S. 15).

 

Die exekutiven Funktionen ermöglichen es, unter den verschiedensten Wahrnehmungseindrücken ein Zielobjekt im Fokus der Aufmerksamkeit zu halten. Auch Menschen mit ADHS besitzen exekutive Funktionen, sind jedoch bezüglich ihrer Impulskontrolle eingeschränkt. Betroffene nutzen dieser Theorie nach ihre Potentiale der genannten Funktionen in geringerem Maße aus, da sie oft vorschnell auf Reize reagieren, ohne Handlungskonsequenzen vorher abzuschätzen. Kinder mit hyperkinetischem Syndrom können bei entsprechender Motivation durchaus ihre Impulse lenken und nicht ungesteuert ausleben, es bedeutet jedoch eine enorme Anstrengung für sie (vgl. Brandau et al. 2003, S. 38f.).

 

Ein weiteres Erklärungsmodell, das sogenannte „Delay-Aversion-Modell“ (Sonuga-Barke 2005), beschreibt die mangelnde Hemmung von Reaktionen durch eine Störung in der Motivation der Kinder. Die Theorie der Verzögerungsaversion geht von einer spezifisch erhöhten Abneigung gegen Belohnungsverzögerung aus. Die hyperkinetisch auffälligen Kinder entscheiden sich bei der Wahlmöglichkeit zwischen sofortiger und verzögerter Belohnung jeweils für die sofortige und versuchen so den Aufschub von Belohnungen zu vermeiden. Es ergibt sich eine Aversion gegen alles, was nicht unmittelbar zu einer Belohnung führt. Dadurch kann es beispielsweise zu Beeinträchtigungen im Bereich Selbstorganisation kommen, besonders in Situationen mit geringer kurzfristiger Verstärkerintensität (vgl. Döpfner et al. 2013a, S. 15f.).

 

2.6.5 Psychosoziale Faktoren

 

Einige Autoren und Forscher gehen der Theorie nach, hyperaktives Verhalten sei die Folge einer falschen und zu laschen Erziehung. Ursächlich seien das Fehlen von Anleitung, Struktur und Disziplin. Es gibt jedoch keine Studien, die diese Ansicht untermauern (vgl. Barkley 2002, S. 133). Psychosoziale Bedingungen gelten somit nicht als primäre Ursache für die Entstehung einer ADHS, sie können aber „die Ausprägung der Symptomatik, die Entwicklung komorbider Störungen und den Verlauf der Symptomatik im Sinne eines Vulnerabilitäts-Stress-Modells bei neurobiologisch vulnerablen Personen beeinflussen“ (Döpfner 2009, S. 436). Der Schweregrad und das Auftreten der hyperkinetischen Störung von Menschen, die eine genetische und neurobiologische Veranlagung für eine ADHS aufweisen, lassen sich nach diesem Verständnis durch psychosoziale Faktoren beeinflussen. Wie in Kapitel 2.5.6 beschrieben, können sich Risikofaktoren wie ein geringer sozioökonomischer Status, ungünstige familiäre Bedingungen oder ein inkompetentes Erziehungsverhalten negativ auf die Entwicklung von hyperkinetischen Störungen auswirken (vgl. Winter & Arasin 2007, S. 9). Auf der anderen Seite können positive psychosoziale Bedingungen biologische Risiken im Sinne von Schutzfaktoren kompensieren. Eine positive Mutter-Kind-Beziehung kann beispielsweise das Risiko von Kindern mit geringem Geburtsgewicht reduzieren, eine ADHS zu entwickeln (Döpfner 2009, S. 436).

 

Des Weiteren wirken sich viele Misserfolge, die aufmerksamkeitsgestörte Kinder häufig erleben, negativ auf ihre Entwicklung aus. Als Reaktion darauf werden Bereiche wie feinmotorische Tätigkeiten, Hausaufgaben oder Unterricht, in denen sie die meisten Misserfolge haben, aktiv vermieden. Die negativen Rückmeldungen die sie erhalten, beziehen die hyperkinetischen Kinder auf sich, wodurch häufig ein negatives und instabiles Selbstbild entsteht. Hierdurch sinkt die Frustrationstoleranz, eine gewisse Depressivität entsteht, die emotionale Stabilität nimmt ab, wodurch die hyperkinetische Symptomatik noch stärker zum Ausdruck kommt. Machen Betroffene zu wenig positive und anregende Erfahrungen, geraten sie schnell in eine Negativspirale (vgl. Schlottke et al. 2009, S. 414).

 

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass nicht ein Risikofaktor alleine, sondern das Zusammenspiel mehrerer Faktoren dafür entscheidend ist, ob es zu einer Ausbildung einer ADHS kommt. Um aus diesen Erkenntnissen Präventionsmaßnahmen entwickeln und durchführen zu können oder präzisere Aussagen zur Verbindung zwischen den vielfältigen genetischen und neurophysiologischen Befunden treffen zu können, ist jedoch weitere Ursachenforschung zum Thema ADHS notwendig.

 

2.6.6 Biopsychosoziales Modell

 

Die verschiedenen möglichen Ursachen zur Entstehung einer ADHS kombiniert Döpfner (2009, S. 435) in einem Biopsychosozialen Modell (siehe Abbildung 2).

 

 

Abbildung 2: Biopsychosoziales Modell zur Entstehung von ADHS (nach Döpfner 2009, S. 435)

 

Die primären Ursachen liegen demnach in einer Beeinträchtigung der genetischen Disposition und des Zentralnervensystems, die eine Störung des Neurotransmitterstoffwechsels bewirkt. Die Bedeutung von allergischen Reaktionen auf bestimmte Nahrungsmittelzusätze konnte bisher nicht eindeutig nachgewiesen werden. Ungünstige psychosoziale Bedingungen können die Symptomatik verstärken und zudem komorbide Störungen hervorrufen. Neurobiologische und neuropsychologische Auffälligkeiten und Prozesse verstehen Döpfner et al. (2013a, S. 17f.) als vermittelnde Elemente, die Brücken zwischen Genetik und Verhalten bilden und somit eine ADHS auf der Verhaltensebene auslösen. Das gezeigte hyperkinetische Verhalten bewirkt wiederum eine Zunahme an negativen Interaktionen zwischen dem Betroffenen und seinen Bezugspersonen (Eltern, Erziehern, Lehrern, Geschwistern, Gleichaltrigen). Ungünstige psychosoziale Bedingungen unterstützen die Entwicklung solcher negativen Interaktion, wodurch die ADHS-Symptomatik weiter zunimmt, Selbstregulationsprozesse gestört werden und sich komorbide Symptome entwickeln können (vgl. ebd.).

 

Die Kritiker, die ADHS für eine Modediagnose oder nicht reale Erkrankung halten, finden vereinzelt auch Argumente gegen solche ätiologischen Konzepte. „ADHS sei danach, am besten als kulturelles Konstrukt zu begreifen. Begründet wird dies vor allem mit der inkonsistenten Datenlage bei den Ergebnissen mit bildgebenden Verfahren, einer extrem hohen Komorbidität von ADHS, so dass allein schon deswegen die Spezifität der Diagnose anzuzweifeln sei und schließlich mit dem Hinweis, dass die Gabe von Methylphenidat bei ansonsten unauffälligen Kindern ähnliche Effekte zeige“ (Schlottke et al. 2009, S. 415).

 

2.7 Prävalenz

 

Um die klinische Relevanz einer Erkrankung einordnen zu können, ist es wichtig deren Häufigkeit zu kennen. Zwar herrscht weitestgehend Einigkeit darüber, dass die ADHS zu einer der am häufigsten diagnostizierten Störungen im Kindes- und Jugendalter zählt (vgl. Edel & Vollmoeller 2006, S. 22; Gawrilow 2016, S. 13; Staufenberg 2011, S. 12), die Prävalenzangaben in der Literatur werden jedoch mit einer großen Schwankungsbreite angegeben. Erklärungen für die Differenzen liegen in der Wahl der Erhebungsverfahren (z.B. Interview, Fragebögen, klinischer Eindruck), der verwendeten Informationsquellen (z.B. Elternurteil, Lehrerurteil), dem verwendeten Klassifikationssystem (ICD-10 oder DSM-V) und der Größe und Repräsentativität der verwendeten Stichprobe.

 

In 14 Studien zur Häufigkeit der ADHS, die Lauth und Schlottke (2002, S. 22f.) verglichen, reichten die Raten von 3,5% bis 18%. Untersuchungen, die mit operational streng definierten Kriterien vorgehen, kommen jedoch übereinstimmend zu Häufigkeitsangaben zwischen 3% und 10% (vgl. Banaschewski & Döpfner 2014). Laut KiGGS Studie des Robert Koch-Instituts, bei der Informationen von insgesamt 14.836 Mädchen und Jungen aus Deutschland im Alter von 3 bis 17 Jahren erfasst wurden, haben 4,8% der Kinder und Jugendlichen eine von einem Psychologen diagnostizierte ADHS. Weitere 4,9% werden in der KiGGS Studie als ADHS Verdachtsfälle aufgeführt, die aufgrund von Screeningfragebögen als auffällig eingeschätzt werden, jedoch noch keine ärztliche oder psychologische Diagnose erhalten haben. Bei den bereits diagnostizierten hyperkinetischen Syndromen beträgt die Prävalenz im Vorschulalter 1,5%, im Grundschulalter 5,3%, bei den 11-13 Jährigen 7,1% und bei den 14-17 Jährigen 5,6%. Die Daten zeigen einen großen Sprung vom Vor- zum Grundschulalter, die durch veränderte Anforderungen bei Schuleintritt zu erklären sind. Weiterhin zeigen die Ergebnisse der KiGGS Studie, dass das Syndrom bei Kindern aus Familien mit niedrigen sozioökonomischen Status im Vergleich zu Familien mit einem mittleren oder hohen sozioökonomischen Status häufiger diagnostiziert wird. Ob ADHS in Familien mit niedrigen sozioökonomischen Status tatsächlich häufiger vorkommt, konnte nicht abschließend geklärt werden (vgl. Robert Koch-Institut 2008, S. 58f.). Zu ähnlichen Häufigkeiten kommt Schröder (2006, S. 22), die bei den 4-10 Jährigen eine Auftretenshäufigkeit von 3% bis 10% ermittelt. Dies entspricht durchschnittlich ein bis zwei Kinder pro Schulklasse, weshalb die Störung bei Lehrkräften bekannt sein sollte.

 

Bei der Befragung von Lehrern treten häufig deutlich höhere Prävalenzraten auf, als bei Elternbefragungen. Die Diskrepanz kann unter anderem mit einem unterschiedlichen Vergleich von Eltern und Lehrern zu unauffälligen Kindern erklärt werden. Baumgärtel et al. (1995, zit. nach Schröder 2006, S. 22) ermittelten mit Hilfe eines Lehrerfragebogens eine ADHS-Rate von 17,8% bei deutschen Grundschülern. Bezüglich der Auftretenswahrscheinlichkeit der Subtypen kamen sie auf 9% unaufmerksamer, 3,9% hyperaktiv-impulsiver und 4,8% kombinierter Typus. Auch bei weiteren Stichproben dominiert häufig der unaufmerksame Typus (vgl. Milich, Balentine & Lynam 2001, S. 475f.).

 

In Prävalenzstudien zur ADHS zeigt sich häufig ein Unterschied zwischen Jungen und Mädchen. Jungen scheinen häufiger von einer ADHS betroffen zu sein. In der KiGGS Studie beispielsweise werden 7,9% der Jungen und nur 1,8% der Mädchen als hyperaktiv und aufmerksamkeitsgestört eingestuft (vgl. Robert Koch-Institut 2008, S. 58f.). Auch andere Untersuchungen kommen zu einem Verhältnis von 1:3 bis 1:6 zu Ungunsten der Jungen (vgl. Edel & Vollmoeller 2006, S. 23; Lauth 2014, S. 26; Schröder 2006, S. 22). Zu beachten ist allerdings, dass Mädchen häufig die Kriterien des unaufmerksamen Subtypus’ erfüllen, also weniger durch hyperaktives Verhalten auffallen. Da die reine Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität schwer zu diagnostizieren ist, werden Mädchen klinisch seltener auffällig und daher seltener diagnostiziert. Somit relativiert sich das deutliche Überwiegen des männlichen Geschlechts bei den Prävalenzzahlen (vgl. Schröder 2006, S. 22f.).

 

Gegen die eingangs dargestellte Behauptung, die ADHS sei eine Modediagnose, spricht die Erkenntnis von Banaschewski und Döpfner (2014, S. 286): „Bei Anwendung identischer standardisierter diagnostischer Kriterien gibt es keine Evidenz für einen Anstieg der epidemiologischen Prävalenzrate in den letzten 3 Jahrzehnten“.

 

Schröder (2006, S. 16) stellt ADHS-Prävalenzraten aus verschiedenen Ländern gegenüber (siehe Tabelle 5):

 

 

Tabelle 5: Auswahl an ADHS-Prävalenzraten verschiedener Länder

 

Die unterschiedlichen Werte lassen sich laut Banaschwski und Döpfner (2014, S. 286) im Wesentlichen auf verschiedene Diagnosekriterien, Erhebungsverfahren und die untersuchten Altersgruppen zurückführen. Ihren Erkenntnissen nach liegt die durchschnittliche weltweite Prävalenzrate für ADHS bei etwa 5,3%. Das globale Auftreten des hyperkinetischen Syndroms spricht dafür, dass die Störung nicht alleine durch die Umwelt ausgelöst wird. Da sich die ADHS in verschiedenen Gesellschaften zeigt, führt eine Veränderung der Kultur nicht zum Verschwinden der Störung. Auch diese Erkenntnisse entkräften die Behauptungen, die ADHS sei eine Modediagnose und nicht real.

 

Entgegen früherer Vermutungen, „ADHS wächst sich in der Pubertät aus“, geht man heute davon aus, dass eine ADHS bei vielen Betroffenen bis ins Erwachsenenalter persistiert. Die Angaben zur Häufigkeit klinisch bedeutsamer ADHS-Symptome bei Erwachsenen variieren stark. Laut Ettrich und Ettrich (2006, S. 87) „zeigt sich bei 70-75% der ehemals hyperkinetischen Kinder die Problematik Konzentrationsprobleme, Impulsivität und Überaktivität, wobei die motorische Überaktivität meist nicht mehr so stark in Erscheinung tritt“. Andere Untersuchungen ergaben Häufigkeiten von 8-30% (vgl. Grabemann 2016, S. 19). Es ist festzuhalten, dass sich die Systematik im Erwachsenenalter verändert, häufig abschwächt, jedoch nicht bei allen Betroffenen erlischt. Vermutlich leiden mindestens 50% der kindlichen ADHS-Patienten auch im Erwachsenenalter unter der Systematik (vgl. Döpfner et al. 2013a, S. 21; Edel & Vollmoeller 2006, S. 24f.).

 

Ende der Leseprobe aus 110 Seiten

Details

Titel
ADHS in der Schule. Therapeutische Maßnahmen und Strategien für Lehrkräfte
Hochschule
Universität Kassel
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
110
Katalognummer
V381444
ISBN (eBook)
9783668613577
ISBN (Buch)
9783960951766
Dateigröße
1857 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ADHS, hyperkinetisches Syndrom, ADHS und Schule, ADHS Behandlung, Schule, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Behandlung, Unterrichtsstörung
Arbeit zitieren
Jonas Düring (Autor:in), 2017, ADHS in der Schule. Therapeutische Maßnahmen und Strategien für Lehrkräfte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/381444

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