Barack Obamas "historische" Rede. Berichterstattung über "A More Perfect Union" in deutschen Tageszeitungen

Eine diskursanalytische Untersuchung


Bachelor Thesis, 2016

22 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhalt

1. Einleitung

2. Methodischer Rahmen

3. Historisch-politischer Rahmen
3.1 Der Vorwahlkampf der demokratischen Präsidentschaftskandidaten
3.2 Die Jeremiah Wright Kontroverse
3.3 Umstände und Inhalt der Rede

4. Das Medienecho: Konstruktion eines Konzepts „historische Rede“
4.1 Material
4.2 Erklärungsmuster
4.2.1 Die Situation ist brenzlig: Bedrohung durch die Wright-Kontroverse
4.2.2 Die Brisanz des Themas: Eine Grundsatzrede über die Probleme der USA
4.2.3 Entgegen den Erwartungen: Eine ungewöhnliche Rede
4.2.5 Das Historische im Kontext: Vergleiche mit Lincoln und Kennedy
4.2.6 Quellen und Verweise: Expertenstimmen und Rekursion auf den Diskurs

5. Zusammenfassende Diskussion der Ergebnisse und Ausblick

Literatur / Quellen

Analysematerial: Liste der Zeitungsartikel

1. Einleitung

Am 19. März 2008 berichtete die NEUE WESTFÄLISCHE über eine Rede des Senators Barack Obama, die er in Philadelphia, Pennsylvania im Rahmen des Vorwahlkampfes zur Präsidentschaftswahl gehalten hatte.[1] „Diese Rede wird in die Geschichtsbücher eingehen“ titelte die lokale Tageszeitung. Ein Ausdruck, der mutig klingt, betrachtet man Geschichte doch immer aus der Perspektive eines gewissen Zeitraumes, denn erst aus der Distanz werden Zusammenhänge und Deutungen sichtbar. Die Kategorisierung historisch kann zudem nur erfolgen, indem ein Vergleich gezogen oder eine Verbindung zu früheren Ereignissen hergestellt wird, die aus heutiger Sicht bereits in diese Kategorie fallen.

Reden, die aus der heutigen Perspektive als historisch bedeutsam eingestuft werden, gibt es viele und sie stammen aus den verschiedensten Zeiten und Kontexten. Reihenweise Bücher beschäftigen sich - wissenschaftlich wie populärwissenschaftlich - mit dem Thema oder versammeln geschichtsträchtige Reden schlicht, ohne sie in einen historischen Kontext einzubetten. Dann haben diese Reden nur noch einen gemeinsamen Nenner: Aus der gegenwärtigen Perspektive werden sie als historisch bedeutsam wahrgenommen bzw. sind sie als solche im kollektiven Gedächtnis abgespeichert. Oftmals werden solche Reden auf ihre besondere Rhetorik hin untersucht, in einigen Fällen werden sie aber auch ‚nur‘ durch die besonderen geschichtlichen Umstände zu großen Reden oder dadurch, dass sie aus den Mündern großer Männer kamen. Der Historiker Martin Kaufhold hat eine recht umfassende Zusammenstellung bedeutsamer Reden herausgebracht und begründet seine Auswahl mit einem Element, das sie alle besäßen:

„Große Reden besitzen die Kraft, den Menschen als soziales Wesen und als Individuum anzusprechen und ihm dabei zu vermitteln, dass er Zeuge oder Akteur einer Umbruchsituation ist, und dass seine Haltung über die Zukunft mitentscheidet.“ (Kaufhold 2010, S. 9)

Nun gibt es sicherlich Ereignisse, die aufgrund ihrer Einzigartigkeit und vor Allem Erstmaligkeit besonders erscheinen und daher bereits kurz nachdem sie stattgefunden haben, als besonders kategorisiert werden. Der gesamte Wahlkampf des Senators Barack Obama ist insofern ein solches erstmaliges Ereignis, als dass er der erste Präsidentschaftskandidat mit erfolgversprechenden Aussichten auf das Amt war, der kein Weißer ist.[2] Die Person Barack Obama wird als erster schwarzer Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika in die Geschichte eingehen. Vielleicht werden auch seine Wahlkampfstrategien, seine besondere Rhetorik[3] oder seine experimentelle, nahezu revolutionäre Nutzung der sozialen Netzwerke und des Web 2.0 für den Wahlkampf (vgl. Marschall 2009) aus der historischen Perspektive als bedeutsam und einzigartig bzw. erstmalig eingestuft. Diese Deutungen können aber nur aus einem zeitlichen Abstand in einem Zusammenhang beschrieben werden. Das ist die Aufgabe der Geschichtswissenschaft.

Der Kontext, in dem die Rede gehalten wurde, ist aber ein gesellschaftlicher und medialer Raum, der gegenwärtig und aktuell[4], als mehr oder weniger direkte Reaktion auf ein Ereignis befüllt wird. Jeder öffentliche Auftritt der Präsidentschaftskandidaten wurde von Reportern und Journalisten verfolgt und später medial aufbereitet. Dabei ist es vom Medium abhängig, wie zeitnah berichtet wird und in welchem Umfang. Alleine im Bereich Print gibt es verschiedene Möglichkeiten: Nutzen wir Online-Medien, erhalten wir meist eine schnelle, aber dafür oftmals kürzere Berichterstattung, die kaum über die Kernfakten hinausgeht. Tageszeitungen haben meist etwas mehr Zeit für einen Artikel oder Kommentar und können daher umfassender berichten. Wochenzeitungen können genau überlegen und abwägen, in welcher Ausgabe das jeweilige Ereignis bedacht werden soll und wie viel Platz sie ihm einräumen wollen. Es ist aber auch davon abhängig, wo berichtet wird. Die journalistische Perspektive kann je nach Land und den jeweiligen Beziehungen zwischen den Ländern unterschiedlich gewichtet sein.

Die Rede ‚A More Perfect Union‘ des Senators Barack Obama ist gerade deshalb so interessant, weil sich viele unterschiedliche Medien einig in der Bewertung waren, sie also als historisch bezeichneten. In den USA, wo zuerst über die Rede berichtet wurde[5], bedienten sich viele Kommentatoren Beschreibungen, die ihre Bedeutsamkeit hervorheben sollten: Die NEW YORK TIMES verglich Obamas Rede mit Reden von Abraham Lincoln und John F. Kennedy (vgl. Scott 2008), die WASHINGTON POST bezeichnete das Ereignis als „extraordinary moment of truth­telling“ (THE WASHINGTON POST 2008), andere Kommentatoren sahen in der Rede gar die beste politische Rede seit langer Zeit (vgl. Kristof 2008; Klein 2008). In Artikeln deutscher Zeitungen wurden diese Begrifflichkeiten aufgegriffen und um weitere ergänzt.

Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt auf den Erklärungsmustern, die Journalisten verwendeten, um die Bedeutsamkeit von ‚A More Perfect Union‘ im öffentlichen Diskurs Deutschlands zu beschreiben. Was genau macht diese Rede historisch und außergewöhnlich bedeutsam? Anhand von Artikeln überregionaler Tageszeitungen wird untersucht, wie in Deutschland über das Ereignis berichtet wurde, welche Formulierungen genutzt und welche Quellen herangezogen wurden. Dafür werden zunächst in Kapitel 2 der theoretische Hintergrund sowie die gewählte Methode skizziert. Die Umstände, in denen die Rede gehalten wurde, werden als eine der zentralen Erklärungen für die außerordentliche Bedeutsamkeit herangezogen. Daher folgt in Kapitel 3 eine Beschreibung des historisch-politischen Rahmens, wie es für diskursanalytische Untersuchungen typisch und unerlässlich ist. Kapitel 4 liefert einen kurzen Überblick über das verwendete Material, bevor die Analyse der Artikel und die Bündelung in die verschiedenen Erklärungsmuster folgen. In Kapitel 5 schließlich werden die Ergebnisse diskutiert und in den übergeordneten Diskurs einsortiert, sowie Ideen zu einer Vertiefung dieses Diskurs-Themenstrangs gegeben.

2. Methodischer Rahmen

Die vorliegende Arbeit möchte nicht im Mindesten den Anspruch erheben, eine kritische Diskursanalyse zu sein. Vielmehr ist sie eine linguistische Medienanalyse, eine Textanalyse von Printmedien-Inhalten. Um jedoch die Frage zu klären, warum Barack Obamas Rede ‚A More Perfect Union‘ in den direkten Reaktionen der Medien eine historische Dimension bescheinigt wurde, reicht es nicht aus, die Wort- oder Argumentationsebene zu untersuchen. Vielmehr muss die Rede in einen größeren Zusammenhang gesetzt werden, der die Entstehung berücksichtigt und die Brisanz der Rede erklärt. Um diesen Kontext angemessen zu würdigen und die Ergebnisse in diesem größeren Rahmen kategorisieren und interpretieren zu können, bedarf es der passenden Methode.

Linguistische Ansätze, die sich als geeignet erwiesen haben, Sprache in historischen Zusammenhängen zu untersuchen, sind zum Beispiel die Politolinguistik (vgl. Burkhardt 1996), die Diskurslinguistik (z.B. Spitzmüller/Warnke 2011), die kritische Diskursanalyse[6] oder Ansätze zu einer linguistischen Kulturanalyse.[7] Zu nennen ist außerdem die Historische Semantik, die hauptsächlich anhand der Analyse von Schlag- und Schlüsselwörtern die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen erforscht, die zu einer bestimmten Zeit Sinn konzeptualisiert haben. Genauer gesagt geht es um die Bedeutung von Wörtern und wie diese Bedeutung in der Geschichte beeinflusst wird. Vertiefende Überlegungen und Anregungen aus der Historischen Semantik dienten als Basis für einen an Foucault orientierten Diskurs-Begriff (vgl. Warnke 2007, S. 8), den unter anderem Siegfried Jäger weiter ausgearbeitet hat.

Angelehnt an Jäger verstehe ich Diskursanalyse als „Konzept qualitativer Sozial- und Kulturforschung“ (Jäger 2012, S. 10) und greife in weiten Teilen der (Begriffs-) Definitionen und Methodik auf seine Ausführungen zurück. Diskursanalyse ist dementsprechend ein Instrumentarium, mit dem ermittelt werden kann, was zu einer bestimmten Zeit vom wem gesagt werden konnte. Sie spürt das Wissen auf, das zu dem untersuchten Zeitpunkt als wahr angesehen wurde (vgl. ebd. S. 12).

Sowohl die kritische Diskursanalyse als auch die Politolinguistik verstehen Sprache „nicht nur als Medium der Erfassung von Wirklichkeit, sondern als Mittel zu Konstituierung von Wirklichkeit“ (Spitzmüller/Warnke 2011, S. 44). Man kann einen Diskurs also als eigene Wirklichkeit ansehen, der eine „eigene Materialität hat und sich aus den vergangenen und (anderen) aktuellen Diskursen »speist«“ (Jäger 2012, S. 35). Er bildet die Wirklichkeit nicht ab, sondern ist ein (aktiver) Teil davon. Folgt man diesem konstruktivistischen Verständnis von Sprache, so muss man sie als soziale Handlung verstehen. Sprachliches Handeln konstituiert Wirklichkeit innerhalb der jeweiligen Bedingungen ihrer Produktion (vgl. Girnth/Spieß 2006, S. 7). Daher ist es unerlässlich, das Material nicht nur auf seine sprachlichen Besonderheiten, sondern auch auf die Umstände der Entstehung hin zu analysieren.

Medien als Transfer-Instrumente von Inhalten und Themen, also Wissen, sind als Teil des Diskurses als Erschaffer von Wirklichkeit anzusehen und haben als solche auch eine gewisse Macht[8], obgleich sie in einem vorgegebenen institutionalisierten Rahmen agieren. Je nachdem, wie ein Medium eine Nachricht aufarbeitet, kann sich der ganze Diskurs verändern. Die Berichterstattung über Barack Obamas Rede ist nur ein winzig kleiner Teil eines Diskursstranges [9] (man könnte ihn ‚US Wahlkampf 2008‘ nennen) im Mediendiskurs bzw. im politischen Diskurs. Und dennoch kann sie - und mit ihr das Medienecho - im Rückblick ein wichtiger Teil des Diskurses sein, der dazu beigetragen haben könnte, die Wahl in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen und damit auch den gesamten politischen Diskurs zu verändern. Die Medien erschaffen also die Basis für eine Haltung zu oder eine Auseinandersetzung mit dem Thema, die abhängig ist von den Inhalten, der jeweiligen Beschaffenheit der Texte, der Wortwahl, und der Argumentation. Damit konstituieren sie Wirklichkeit im Diskurs.

Diskursstränge verlaufen auf verschiedenen Diskursebenen, in diesem Fall wären mindestens die Ebenen Medien und Politik zu nennen, evtl. auch die Ebene der Wähler, denn auch sie wirken im Diskurs. Da meine Untersuchung allerdings nur die mediale Berichterstattung zum Gegenstand hat, beschränkt sich die Analyse auf Material aus diesem Bereich. Nichtsdestotrotz ist es wichtig den Gesamtdiskurs nicht aus den Augen zu verlieren, denn die Ebenen beeinflussen sich und verweisen aufeinander.

Insgesamt lehnt sich mein methodisches Vorgehen im Kern an die Ansätze von Jäger (2012), Wodak (2001) sowie Hornscheidt/Göttel (2004) an. Wie die diskurs-historische Methode vorgibt, werden bei der Untersuchung drei Ebenen untersucht: Inhalte, Argumentationsstrategien und Formen der Versprachlichung, also sprachlich-rhetorische Mittel. Die Methode arbeitet hermeneutisch-interpretativ und springt zwischen den Analyseebenen, sodass oftmals keine klare Trennung der Ebenen möglich ist. Die Analyse erfolgt unter Einbeziehung des Kontextwissens auf Mikro- wie Makroebene. Nur so können diskursive Sinnzusammenhänge erschlossen werden (vgl. Titscher et al. 1998, S. 192). Nicht ganz außer Acht lassen möchte ich auch den Begriff der Strategie, obwohl in meiner Analyse aufgrund des Umfangs und der angesetzten Zeit nur ansatzweise so weit in die Tiefe gegangen werden kann. Strategien werden als – auch unbewusste – Mittel, um Ziele zu erreichen, angesehen. Sie sind abhängig von subjektiven Einschätzungen und Möglichkeiten des Verfassers und daher nicht rein faktisch erkenn- und analysierbar (vgl. ebd. S. 191).

„Als Methode untersucht die Diskursanalyse die semantische Dimension sprachlicher Äußerungen.“ (Gardt 2007, S. 35) Auf der Basis dieser Überlegungen lautet die Leitfrage dieser Untersuchung: Welche sprachlichen Mittel werden verwendet, um das Ereignis zu beschreiben und in einen größeren Zusammenhang zu setzen? Welche Argumente werden genutzt, um die Rede zu kategorisieren und zu bewerten? Im Kern wird eine diskursanalytische Textanalyse vorgenommen, die vorrangig nach linguistisch beschreibbaren Mustern fragt: Wie genau werden das behandelte Thema und die Akteure benannt, welche Übertragungen oder Bilder werden verwendet, welche Argumentationsmuster lassen sich bei der Bewertung des Ereignisses finden, welche Konzeptualisierungen werden vorgenommen, welche Quellen oder Referenzen werden genannt usw. (Hornscheidt/Göttel 2004).

3. Historisch-politischer Rahmen

Um die Bedeutung der Rede Barack Obamas für den Wahlkampf oder die Geschichte verstehen zu können, ist es notwendig, den Kontext ihrer Entstehung nachzuzeichnen. Das Kernthema, nämlich die Rassenfrage, verleitet schnell zu Vergleichen mit Reden von Malcolm X und Martin Luther King. Eine solche vorschnelle Bewertung wird dem Kontext allerdings nicht gerecht, vielmehr muss man die Rede in einem kulturell-politischen Umfeld betrachten, das die Rassenfrage in ihrer Gesamtheit beinhaltet und die zeitgeschichtlichen Umstände im US-Vorwahlkampf 2008 beleuchtet. Zudem ist es wichtig, Eckdaten aus dem Leben Barack Obamas zu kennen, denn die Rede ist nicht bloß gesprochenes Wort, sondern muss im Zusammenhang mit ihrem Urheber und seiner Geschichte betrachtet werden. In der Rezeption (also in den Medien) sind Inhalt und Urheber so stark miteinander verknüpft, dass sie manchmal kaum zu trennen sind. Obama ist das, was er sagt und andersherum. Daher ist es wichtig zu verstehen, welche Ereignisse evtl. prägend für die Person Barack Obama waren, welches seine Kern-Themen sind und welche Einstellung er in seiner frühen Politiker-Laufbahn zum Thema Rassenfrage gezeigt hat.

Obama ist Sohn des Kenianers Barack Hussein Obama Senior und der US-Amerikanerin Stanley Ann Dunham. Zu der Zeit, als die beiden heirateten, war die gemischtrassige Ehe in vielen US-Bundesstaaten noch verboten, die Themen Rassismus und Rassentrennung waren Teil des täglichen Lebens (vgl. Schild 2010, S. 105). Jedoch kann aus Obamas Werdegang geschlossen werden, dass er „weder in seiner Jugend auf Hawaii noch im Studium an Eliteuniversitäten in Boston und Chicago auf unmittelbare Diskriminierung […] gestoßen war“ (ebd. S. 106). So folgert der Historiker Georg Schild, Obama habe „bis ins frühe Erwachsenenalter hinein […] der Rassenfrage keine große Bedeutung beigemessen“ (ebd. a.a.O.).

Etwa ab 2004 wurde Barack Obama durch sein politisches Engagement in der Öffentlichkeit wahrgenommen und seine Sprachhandlungen sind Teil des politischen Diskurses. Die Rassenproblematik war über weite Strecken kein zentrales Thema für Obama, stattdessen fokussierte er sich auf Narrative der Hoffnung und der Reise, richtete seine Rhetorik auf Dialog, kollektive Hoffnung und Zukunft aus (vgl. Thunert 2010, S. 84). Rasse und Diskriminierung wurden in Obamas Reden erstmalig 2007 zu einem Kernbegriff.[10] Im Vorwahlkampf zur Präsidentschaftskandidatur 2008 hielt er das Thema eher im Hintergrund, bevor ihn die Kontroverse um seinen ehemaligen Pastor dazu drängte, Stellung zu dessen Aussagen zu beziehen.

3.1 Der Vorwahlkampf der demokratischen Präsidentschaftskandidaten

In den USA gibt es kein einheitliches Verfahren, wie die Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen zu bestimmen sind. Daher werden die Präsidentschaftskandidaten der jeweiligen Parteien in sogenannten Vorwahlen ermittelt, die in allen Bundesstaaten der USA stattfinden. Bei diesen Wahlen werden Delegierte gewählt, die dann auf einem Parteitag über den Kandidaten entscheiden.[11] Bei den Vorwahlen 2008 traten innerhalb der demokratischen Partei insgesamt acht Kandidaten an, von denen aber die meisten bereits Ende Januar 2008 ausstiegen, da sie im Rennen um die Kandidatur zu starke Verluste gegenüber Barack Obama und Hillary Clinton hinnehmen mussten.

Während Clinton über lange Strecken in den Umfragen dominiert hatte, brachen ihre Umfragewerte nach den Wahlen in Iowa im Januar stark ein. Der demokratische Vorwahlkampf spitzte sich auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden übriggebliebenen Kandidaten Clinton und Obama zu, die sich einen sehr intensiven Wahlkampf lieferten. Im weiteren Verlauf lagen die beiden Kandidaten lange Zeit etwa gleichauf: Obama konnte sich zwar in mehr Bundesstaaten durchsetzen, doch Clinton gewann die bevölkerungsreicheren Staaten für sich. Inmitten dieses medial verfolgten und kontrovers diskutierten Rennens um die Präsidentschaftskandidatur wurde Barack Obama mit dem Thema Rasse konfrontiert, als Kritik an seinem ehemaligen Pastor Jeremiah Wright laut wurde.

3.2 Die Jeremiah Wright Kontroverse

Barack Obamas Umfragewerte brachen ein, als Kritik an den Aussagen des umstrittenen Predigers Jeremiah Wright laut wurde. Wright leitete bis zu seiner Pensionierung die Trinity Church of Christ in Chicago. Obama gehörte über 20 Jahre Wrights Gemeinde an, der Pastor hatte ihn und seine Frau getraut und seine Töchter getauft. Einige Beobachter halten Wright sogar über eine lange Zeit für den einflussreichsten Ratgeber Obamas. Der Einfluss Wrights auf Obama wird auch im Titel seines zweiten Buches ‚The Audacity of Hope‘ erkennbar, der sich an eine Predigt Wrights anlehnt.

Anfang März 2008 gerieten Jeremiah Wright und mit ihm Barack Obama in die Kritik, nachdem Medien Videoausschnitte verbreitet hatten, in denen der Pastor sich rassistisch über die USA äußerte. Es waren hauptsächlich kurze Ausschnitte aus Predigten, die Jeremiah Wright im September 2001 und im April 2003 gehalten hatte. Besonders auffällige Äußerungen, die in der Folge immer wieder diskutiert wurden, waren Passagen, die die USA als ein Land darstellen, das von „weißen Rassisten regiert“ wird. So sagte Wright, die Vereinigten Staaten stünden unter dem Einfluss des Ku Klux Klan („US of KKK-A“) und verurteilte das Land aufgrund der Behandlung von Schwarzen, um schließlich zu fordern: „God damn America for treating our citizens as less than human“[12].

Obama hatte sich zwar bereits vorher von den Äußerungen Wrights distanziert, wurde durch die Kontroverse und die breite Berichterstattung im März 2008 jedoch dazu gedrängt, nochmals Stellung zu beziehen. Die plötzliche Fokussierung auf Obamas Hautfarbe wurde durch Bemerkungen der ehemaligen Kongressabgeordneten und Unterstützerin Hillary Clintons´ Geraldine Ferraro noch verschärft, die gegenüber der kalifornischen Zeitung DAILY BREEZE sagte: “If Obama was a white man, he would not be in this position. And if he was a woman of any color, he would not be in this position. He happens to be very lucky to be who he is. And the country is caught up in the concept” (Zitiert nach Seelye/Bosman 2008).

3.3 Umstände und Inhalt der Rede

Obama hielt die Rede ‚A More Perfect Union‘ am 18. März 2008 im National Constitution Center in Philadelphia, Pennsylvania. Philadelphia ist tatsächlich ein Ort, der für die US-amerikanische Geschichte wichtig ist, denn hier, im Rahmen der Philadelphia Convention, arbeiteten 55 Delegierte aus zwölf Staaten im Jahr 1787 die Verfassung der Vereinigten Staaten aus. Den Ort kann man also durchaus als historisch bezeichnen.

Die Rede umfasst drei Teile bei einer Länge von etwa 38 Minuten. Im ersten Teil nahm Obama Bezug auf den historischen Ort und das historische Ereignis, auf das Versprechen auf Freiheit, das mit der Unterzeichnung der Verfassung abgegeben wurden. Der zweite Teil drehte sich um die andauernde Diskriminierung von Schwarzen in Amerika. Obama erklärte, dass immer noch an der Umsetzung der Ziele gearbeitet werden müsse. Im dritten Teil der Rede zeigte Obama schließlich die Zukunftsaussichten und die Hoffnung auf eine Verbesserung der Verhältnisse auf.

Obama nannte die Ausarbeitung und Unterzeichnung der Verfassung ein Experiment („improbable experiment in democracy“), das den Menschen Freiheit versprochen habe („a constitution that promised its people liberty, and justice, and a union that could be and should be perfected over the time“). Die Verfassung sei allerdings „unfertig“ und befleckt durch die Sünde der Sklaverei („stained by this nation’s original sin of slavery“). Auf der Basis dieser Ausgangslage kam Obama auf seine Gründe für die Präsidentschaftskandidatur und seine eigene Biografie zu sprechen. Er benannte die medialen Diskussionen, die sich seit Beginn seiner Kandidatur auch um die Begriffe ‚schwarz‘ und ‚weiß‘ gedreht hätten („some commentators have deemed me either ‚too black‘ or ‚not black enough‘“). An vielen Stellen habe sich gezeigt, dass Rasse durch die gesamte Zeit der Kandidatur hindurch unterschwellig ein Thema gewesen sei.

Anschließend ging Obama auf die Debatte um Jeremiah Wright ein und distanzierte sich nochmals von dessen Äußerungen: „Reverend Wright’s comments were not only wrong but divisive, divisive at a time when we need unity.“ Obama führte diesen Punkt der Rede allerdings noch weiter aus, indem er Erklärungsversuche abgab, die Wright zu seinen rassistischen Äußerungen gebracht haben könnten. Er beschrieb nicht nur seine eigene Beziehung zu Wright, sondern auch den Hintergrund des Reverends und die gesellschaftlichen Umstände, in denen ein Mann wie Wright zu solcher Systemkritik getrieben worden sei. Obama zeigte die fortwährende Diskriminierung und Ungleichheit von Schwarzen und Weißen auf, die immer noch an der Tagesordnung seien und erklärte, Amerika verharre seit Jahren in diesem Zustand. Er grenzte sich zwar von den Äußerungen Wrights ab, stellte sich selbst aber – auch biografisch begründet – als Teil seiner Gemeinschaft dar: „These people are a part of me. And they are part of America, this country that I love.“

Aus dieser Situationsbeschreibung heraus kam Obama im dritten Teil seiner Rede auf seine Hoffnungen für die Zukunft zu sprechen. Amerika könne sich wandeln, konstatierte er; das sei die wahre Stärke der USA: „The profound mistake of Reverend Wright’s sermons is not that he spoke about racism in our society. It’s that he spoke as if our society was static; as if no progress has been made; as if this country […] is still irrevocably bound to a tragic past. But what we know, what we have seen, is, that America can change. That ist the true genius of this Nation.“ Die Rassenfrage könne nur gelöst werden, wenn alle Amerikaner ihre Verantwortung wahrnehmen und in ihre Zukunft in die eigene Hand nähmen. Obama betonte, es sei eine Aufgabe aller und bestärkte dadurch seine Idee vom neuen Zusammengehörigkeitsgefühl der Nation.[13]

Die Rede ‚A More Perfect Union‘ hat große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfahren. Innerhalb von 24 Stunden wurde sie auf YouTube über 1,2 Millionen Mal aufgerufen. Medien, Bloggerszene und Wissenschaftler gaben Einschätzungen und Kommentare dazu ab.[14] Wie deutsche Medien das Ereignis in ihren ersten Reaktionen bewerteten, soll in der folgenden Analyse herausgearbeitet werden.

4. Das Medienecho: Konstruktion eines Konzepts „historische Rede“

Der Grundtenor des analysierten Materials ist nahezu durchweg positiv. Kommentatoren aller Zeitungen lobten die Rede und betonten ihre außergewöhnliche Rolle im politischen Diskurs. Der Ausdruck ‚historische Rede‘ tauchte nur in einem Artikel der TAZ (vgl. TAZ 2008) explizit auf, andere Zeitungen benutzten den Ausdruck „große Rede“ (Wernicke 2008; Shrivastava 2008). Ein typisches Vorgehen, das in vielen untersuchten Artikeln praktiziert wurde, ist der Verzicht auf Quellen oder Belege. So kam die Zuschreibung ‚historisch“ indirekt auch in einem Artikel der FR[15] vor: „Allerdings sorgte letzterer [Obama] zugleich mit einer als ‚historisch‘ umjubelten Rede über Rasse und Rassismus in Amerika landesweit für Aufsehen“ (Günther 2008). Insgesamt wurden wenige explizite Erklärungen für die jeweilige Bewertung abgegeben, dennoch konnten bei der Analyse wichtige Erklärungsmuster identifiziert werden.

[...]


[1] Der Titel der Rede ‚A More Perfect Union‘ ist aus der Präambel der US-amerikanischen Verfassung entnommen. In ersten Zeitungsartikeln wird lediglich auf „eine Rede“ verwiesen, letztlich setzte sich der Titel aber für die eindeutige Beschreibung durch.

[2] Die Begriffe schwarz, weiß sowie Rasse sind im deutschen Sprachraum ausführlich, besonders im Hinblick auf die sog. Political Correctness, diskutiert worden. In den USA haben sie allerdings nicht dieselbe Brisanz wie in Deutschland. Überdies sind es eben die Begrifflichkeiten, die in der medialen Debatte benutzt wurden (afrikanisch-amerikanisch habe ich als Bezeichnung nirgendwo gelesen). In der vorliegenden Arbeit verwende ich die Begriffe ausschließlich für die Beschreibung der Ereignisse, ohne damit eine politische Aussage treffen zu wollen.

[3] Ein detailliertes rhetorisches Profil von Barack Obama findet sich z.B. bei Thunert 2010, S. 81-99.

[4] ‚Aktuell‘ bezieht sich hier auf die mediale Berichterstattung, deren Aufgabe es ist, möglichst zeitnah auf Ereignisse zu reagieren.

[5] Erste Artikel und Reaktionen zu Obamas Rede erschienen in den USA bereits am 18.03.2008, Recherchen in Archiven deutscher Zeitungen brachten früheste Erwähnungen am 19.03.2008 zutage.

[6] Den historisch-kritischen Aspekt betont besonders die Wiener Arbeitsgruppe um Ruth Wodak, z.B. Wodak 2001, Titscher/Meyer/Wodak/Vetter 2000.

[7] Einen Zugang zum Feld der linguistischen Kulturanalyse bieten z.B. die Beiträge von Dietrich Busse, Angelika Linke und Joachim Scharloth in Busse (Hrsg.) 2005.

[8] Zum Macht-Wissens-Komplex vgl. Jäger 2012, S. 38-49.

[9] Zur Strukturierung sprachlich formierter Diskurse vgl. ebd. S. 80-89. Nach seinem Modell würde man die Rede als diskursives Ereignis ansehen, das innerhalb von Diskurssträngen (z.B. zum Wahlkampf) beschrieben wird. Diskursstränge können miteinander verschränkt sein und sich untereinander beeinflussen.

[10] In einer Rede am 4. März 2007 anlässlich der Einweihung einer Erinnerungsstätte für den ‚bloody Sunday‘ im Jahr 1965 sprach Obama über seine Herkunft und das Thema Diskriminierung. Der Historiker Georg Schild vermutet, dass Obama sich damit als Teil der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zu erkennen geben wollte. Vgl. Schild 2010, S. 108.

[11] Das Verfahren ist hier stark verkürzt dargestellt, weil es für die vorliegende Arbeit unerheblich ist.

[12] Die Videoausschnitte sind immer noch im Internet abrufbar. Der kritisierte Ausschnitt aus der Predigt z.B. auf YouTube: Wright, Jeremiah (2003): Confusing God and Government. Ausschnitte aus der Predigt [online]; der TV-Bericht, der die Debatte anstieß, ist ebenfalls online abrufbar: ABC NEWS (2008): Obama’s Preacher. The Wright Message? ABC’s Good Morning America 13.03.2008 [online].

[13] Eine ausführliche Zusammenfassung der Inhalte der Rede findet sich bei Schild 2010, S. 110-112.

[14] Zu den Reaktionen auf die Rede in Amerika vgl. Jackson 2009, S. 113-114.

[15] Gemeint ist die Zeitung FRANKFURTER RUNDSCHAU. In der Folge als FR abgekürzt.

Excerpt out of 22 pages

Details

Title
Barack Obamas "historische" Rede. Berichterstattung über "A More Perfect Union" in deutschen Tageszeitungen
Subtitle
Eine diskursanalytische Untersuchung
College
Bielefeld University  (Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft)
Grade
1,3
Author
Year
2016
Pages
22
Catalog Number
V382795
ISBN (eBook)
9783668581555
ISBN (Book)
9783668581562
File size
500 KB
Language
German
Keywords
Diskursanalyse, Textanalyse, Mediendiskurs, politische Rede, Narrativ, Analyse von Zeitungsartikeln, A more perfect union, Barack Obama, Konstruktion von Bedeutung
Quote paper
Anna Koschinski (Author), 2016, Barack Obamas "historische" Rede. Berichterstattung über "A More Perfect Union" in deutschen Tageszeitungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/382795

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