Die Frau der Weimarer Republik als Neue Frau. Literarische Frauendarstellung im Roman "Gilgi - eine von uns" von Irmgard Keun


Magisterarbeit, 2010

81 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Die Charakteristika der Neuen Sachlichkeit

1.1. Der geschichtliche Hintergrund
1.2. Sozio-kulturelle Aspekte des Lebens in der Weimarer Republik
1.3. Neue Sachlichkeit - Begriffsbestimmung, Merkmale der Stilrichtung und die Literaturauffassung mit besonderer Berucksichtigung des Romans

2. Die Analyse der literarischen Verwirklichung des Konzepts der Neuen Weiblichkeit bei Irmgard Keun
2.1. Biographie der Schriftstellerin
2.2. „Neue Frau“ - revolutionare Weiblichkeitsvorstellung
2.3. Gilgi - eine von uns - die Personlichkeitsentwicklung der Titelgestalt
2.3.1. Protagonistin Gilgi als Personifikation der neusachlichen Weiblichkeitskonzeption
2.3.2. Identitatskrise der Protagonistin als Verifikation ihrer Lebenshaltung und ihres Weiblichkeitswertekanons
2.3.3. Aufbruch als Negation der bisherigen Lebens- und Weiblichkeitsauffassung der Titelheldin

3. Schlussbemerkungen

Bibliographic

Einleitung

Der Typus der Frau und der Weiblichkeit traten seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts immer deutlicher ins Blickfeld der Schriftstellerlnnen und Wissenschaftlerlnnen. Die Neue Frau und die Neue Weiblichkeit, die als literarische Reprasentationen der Neuen Sachlichkeit gelten und die hier als Gegenstand meines Interesses fungieren, wurden in der Weimarer Republik sehr gern thematisiert. Die Prasenz der Frau in der Offentlichkeit und in der Kunst in den 30er Jahren wurde zur Kontroverse. Die literarischen Weiblichkeitsentwurfe und Frauendarstellungen wurden deswegen auch zum heiklen Thema, dessen Prasenz zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche Debatten in der Weimarer Republik implizierte. Die Kontroverse bestand unter anderem in der Diskrepanz zwischen der mit der „Mannlichkeit“[1] assoziierten Stilrichtung der Neuen Sachlichkeit und den Themen der neusachlichen Literatur und ihrer literarischen Verarbeitung, weil eines von diesen Themen der Typus der Frau war. Die in der Epoche der Weimarer Republik expandierende Frauenliteratur und die Etablierung der Typologie der Neuen Frau haben zur Entstehung des neuen Genres, d. h. des Romans der Neuen Frau, uberwiegend beigetragen. Der Erfolg, den der Roman der Neuen Frau in den 20er und 30er Jahren erzielt hat, war jedoch von kurzer Dauer. Schnell wurde diese Literatur als „Asphaltliteratur“[2] und wissenschaftsunfahig qualifiziert.[3] Diese Beurteilung implizierte, dass das Genre lange Zeit nicht zum Kanon der modernen deutschen Literatur gehorte[4] und ungerecht mit der Trivialliteratur assoziiert wurde. Die nachste Konsequenz war, dass sie als Forschungsobjekt disqualifiziert wurde. Erst die Arbeiten der linken Literaturkritik in den 60er Jahren und der feministischen Literaturwissenschaft in den 70er und 80er Jahren fuhrten zur erneuten Auseinandersetzung mit der Literatur der Neuen Sachlichkeit und ihrer Revidierung.[5] Die Forschung zur Literatur der Neuen Sachlichkeit reprasentiert heutzutage ein Gebiet, auf dem viel umstritten und unklar bleibt. An dieser Stelle muss akzentuiert werden, dass die Frauenliteratur der Neuen Sachlichkeit als bisher unterschatzter und erst seit Kurzem untersuchter Forschungsgegenstad viel entdecken lasst. Die Tatsache, nicht entdeckt zu werden, macht diese Literatur wissenschaftlich interessant aus.

Die Darstellungsweise des Entwurfs der Neuen Weiblichkeit in der Literatur der Neuen Sachlichkeit ist einer der dominanten Impulse, der meine Aufmerksamkeit in die Richtung dieser Problematik gelenkt hat. Die Kultur und die Weiblichkeitsvorstellungen der Weimarer Republik charakterisiert der Traditionsumbruch, der seinen Anfang um die Jahrhundertwende hat. Der Bruch mit den traditionellen Moral- und Kulturvorstellungen sollte als Synonym der Modemitat fungieren. Als Synonym der Modemisierungsprozesse fungierte auch das innovative Frauenbild, nachdem die Neue Frau als Personifizierung der Moderne gait. Weil dieser Aufbruch in der Weiblichkeitsauffassung nicht vollig von den traditionellen Weiblichkeitsentwurfen befreit war, blieb die Neue Frau in der Schwebe zwischen der Moderne und der Tradition. Die vorliegende Arbeit ist deswegen an diesen Diskrepanzen interessiert. An dieser Stelle soil betont werden, dass der Gegenstand der in dieser Arbeit unternommenen Analyse nicht nur das Bild der Neuen Weiblichkeit sondern auch die Transformation des Weimarer Frauenbilds und seiner literarischen Verarbeitung ist. Durch die Darstellung der Differenzen in der traditionellen und modemen Weiblichkeitsvorstellung soil das komplexe Bild des Typus der Frau in der Weimarer Republik rekonstruiert werden. Damit soil die Frage beantwortet werden, warum das neue Frauenbild der Weimarer Republik „neu“ ist. Was macht es im Vergleich zu „alten Damen“, die die Tradition verkorpem, „neu“ aus? Mithilfe dieser Fragen sollen die Attribute der Neuen Frau, ihr neues Selbstbewusstsein und der Wandel in den Zielstrukturen der Frau ausgearbeitet werden.

Der nachste Aspekt, der mich maBgeblich zu diesem Thema inspiriert hat, ist die Frage der Authentizitat und der eigentlichen Selbstbestimmung der Neuen Frau. Es lasst sich nicht ubersehen, dass die Neue Frau eine Art der Brucke zwischen der Tradition und der Moderne personifiziert. Das impliziert die Ambivalenz der Frau, die weder zu traditionellen Weiblichkeitsvorstellungen noch zum modernen Weiblichkeitskonzept der Weimarer Republik passt. Aufgrund dessen wird die Neue Frau als ,,[...] ,Ubergangsgeschopf einer Vorstellung von Modemitat [.. ,]“[6] definiert. Die Authentizitat des neusachlichen Frauenbildes bezweifelt auch Katherina von Ankum, indem sie die Neue Sachlichkeit als „Kultur der Mannlichkeit“ bezeichnet[7]. Das Konzept der Neuen Weiblichkeit wurde zuerst als Befreiung der Frau aus der patriarchalen Vormundschaft verstanden, in seinem Kern aber wurde diese Konzeption als Instrumentalisierung der Frau seitens der Manner entlarvt: ,,[...] die neue Frau [wurde] zu einer sexuell libertaren Imagination von Mannern, die allabendlich in die Berliner Veranstaltungssale sturmten und [...] von sexuellen Eskapaden traumten.“[8] An der nachsten Stelle schreibt Christiane Eifert uber die Neue Frau wieder: „Sie war Werbetragerin einer sich entfaltenden Konsum- und Freizeitindustrie, die Weiblichkeit und Erotik in zuvor unbekannter Weise fur den Verkauf ihrer Produkte instrumentalisierten.“[9] In diesem Zusammenhang mochte ich die Idee der Neuen Weiblichkeit als von Mannern konzipierter Entwurf, der die Neue Frau am grundsatzlich mannlichen Lebenskonzept orientieren lasst, in Erwagung ziehen. Mein Interesse konzentriert sich an dieser Stelle vor allem darauf, in wieweit das Bild der Neuen Frau mit der eigentlichen Selbstvorstellung der Frau in den 30er Jahren korrespondiert. Die leitende Frage dieser Untersuchung ist, wie die mannliche Weiblichkeitsvorstellung das Bild der Neuen Frau wirklich bestimmt und wie damit die Authentizitat determiniert wird. Im Fokus dieser Analyse steht die Frage der Selbst- und Fremdbestimmung der Neuen Frau.

Die Forschungsrahmen der vorliegenden Arbeit bilden deswegen der partielle Umbruch mit der traditionellen Weiblichkeitsauffassung, die Frage der Authentizitat und die Frage der Selbstbestimmung vs. Fremdbestimmung in der literarischen Darstellung bei Weimarer Schriftstellerin Irmgard Keun. Am Beispiel des Debutromans Irmgard Keuns Gilgi - eine von uns, in dem die Schriftstellerin ihre Protagonistin mit unterschiedlichen Lebenskonzeptionen konfrontiert, hoffe ich, die Einzelteile der differenzierten Weiblichkeitsvorstellungen aufzuzeigen, anhand deren das Gesamtbild der Neuen Frau bei Irmgard Keun rekonstruiert werden soil. Gerade wegen dieser schichtspezifischen Unterschiede ist das Bild der Neuen Frau bei Irmgard Keun komplexer, weil sie aus unterschiedlichen Perspektiven verschiedene Aspekte des Lebens der Frau in der Weimarer Republik darstellt.

Das Ziel der in der vorliegenden Arbeit unternommenen Untersuchung ist, die im neusachlichen Fruhwerk Irmgard Keuns dargestellte Frau in der 30er Jahren der Weimarer Republik als „Neue Frau“ zu prasentieren.

Das erste Kapitel der Arbeit widmet sich der Charakterisik der Neuen Sachlichkeit. Hier soil nicht nur der geschichtliche Hintergrund der Epoche naher illustriert werden, sondern auch die Grundannahmen der Richtung, die den Roman sowie die Alltagskultur pragten. Mit diesem Uberblick soil der Umriss der Epoche skizziert werden, ohne den das Verstehen des Weimarer Weiblichkeitsentwurfs unmoglich ware. Zu Beginn des zweiten Kapitels soil die Weiblichkeitsvorstellung in der Neuen Sachlichkeit prasentiert werden. Diese Presentation bemuht sich, den innovativen Charakter der neuen Weiblichkeitsauffassung zu schildern. Dieses Kapitel wendet sich aber grundsatzlich der Analyse der Protagonistin unter solchen Aspekten ihrer Existenz wie der Alltag, die Berufstatigkeit sowie die Rolle der Liebe zu. Die Verarbeitung der Fragen soil helfen, den Entwurf der Neuen Weiblichkeit unter dem Aspekt der Authentizitat zu erortern. In der Analyse sollen namlich die Antagonismen im Gesamtkonzept herausgearbeitet werden, die die Authentizitat der Neuen Frau negieren und die diese Konzeption als mannliche Projektion entlarven.

Zusammenfassend soil nochmals das Ziel der Untersuchung hervorgehoben werden. Die ganze Arbeit dient der Ausarbeitung des Typus der Neuen Frau, der sich in den 30er Jahren in der Literatur der Weimarer Republik als eine von den avantgardistischen Neuerungen etabliert hat. Der Analyse werden die Elemente der Modernitat und der Tradition in der Konzeption der Neuen Weiblichkeit sowie der Aspekt der Authentizitat und der Vereinbarkeit der Idee mit der Selbstvorstellung der Frau in den 30er Jahren unterzogen. Dabei durfen die okonomische Situation der Frau samt den Schwierigkeiten ihrer Existenz und die psychische Konstruktion der Protagonistinnen nicht ubersehen werden. Zum Fokus des letzten Kapitels wird das komplexe Bild der Neuen Weiblichkeit gemacht.

1. Die Charakteristika der Neuen Sachlichkeit

1.1. Der geschichtliche Hintergrund

Zweifelsohne reprasentiert die Weimarer Republik einen der heiBumstrittenen Geschichtsabschnitte Deutschlands, dessen Historiographie eine hochstkomplizierte Aufgabe fur Geschichtsschreiber ist. Um die soziokulturellen Aspekte des Lebens in der Weimarer Republik verstandlich zu machen, soil deswegen vorerst eine Geschichtsdarstellung der ersten deutschen Republik unter Berucksichtigung der sozio-okonomischen und -wirtschaftlichen Konsequenzen der deutschen Innen- und AuBenpolitik dieser Jahre zum Fokus gemacht werden.

In der Entwicklung der Weimarer Republik differenzieren die Historiographen drei Geschichtsabschnitte. Die Entstehung der Weimarer Republik, deren Beginn mit der Beendigung des 1. Weltkrieges und mit dem Ende der Ara des Kaisers Wilhelm II. assoziiert wird, und die Zeiten der Selbstbehauptung der Republik bilden den ersten Geschichtsabschnitt, der die Jahre von 1918 bis 1923 umfasst. Das nachste Jahrfunft 1924­1929 ist sowohl die Zeit der Festigung als auch der Gefahrdung fur das Bestehen der Weimarer Republik. Die letzte Geschichtsperiode, von 1930 bis 1933, fungiert im Bewusstsein der ganzen Menschheit als die Zeit der Zerstorung der Demokratie, die in die Regierungsubertragung auf die NSDAP und in die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler von Hindenburg im Jahre 1933 mundete. Mit der Ubernahme des Amtes des Reichkanzlers von AdolfHitler horte die Weimarer Republik auf zu existieren.[10]

Die militarische Niederlage der deutschen Westoffensive im Jahre 1918 implizierte die Entscheidung der deutschen Obersten Heeresleitung, das Waffenstillstandgesuch zu richten. Infolgedessen musste der Reichskanzler, Prinz Max von Baden, am 3. Oktober 1918 eine diplomatische Note an den amerikanischen Prasidenten Woodrow Wilson richten, in der er schrieb: ,,Um weiteres BlutvergieBen zu vermeiden, ersucht die deutsche Regierung, den sofortigen Abschluss eines Waffenstillstandes zu Lande, zu Wasser und in der Luft herbeizufuhren“n. Damit forderte der Reichskanzler alle kriegfuhrenden Staaten zu Friedensverhandlungen auf. Wahrend einerseits die Friedensverhandlungen aufgenommen und gefuhrt wurden, tagte die deutsche Regierung im Reichstag uber die politische Zukunft ihres Staates. Eine der Prioritaten der von der Regierung abgehaltenen Tagungen war die Durchfuhrung der Verfassungsreform, deren In-Kraft-Treten am 28. Oktober 1918 die Transformierung des Kaiserreichs in eine parlamentarisch-demokratische Monarchic implizierte. Die Verfassungsberatungen im Reichstag fielen zeitlich mit der Kieler Matrosenrevolte zusammen. Der Aufstand der Matrosengruppen und Marinesoldaten gegen die Plane der Seekriegsleitung, die britische Flotte im Armelkanal anzugreifen, verwandelte sich rasch in eine revolutionare Friedensbewegung, die ein immer groBeres Gebiet Deutschlands uberspannte. Die revolutionaren Stimmungen erreichten in kurzer Zeit auch die Hauptstadt, in der die Revolution mit dem Generalstreik der groBen Berliner Betriebe am 9. November begann. Infolge der Eskalation der Krawalle und Unruhen sowie der politischen Instability wurde der Kaiser Wilhelm II. am 9. November zur Abdankung gezwungen. Diese Nachricht wurde sofort bekannt gegeben. Die Bevolkerung lieB sich aber nicht zufrieden geben und forderte von der Regierung eine Erklarung des politischen Neubeginns. Das Resultat dieses Drucks war die Ausrufung der Republik von Philipp Scheidemann. Kurz danach wurde von den beiden sozialdemokratischen Parteien SPD und USPD eine provisorische Regierung unter dem Namen „Rat der Volksbeauftragten“ gebildet. Die Aufgabe der neuberufenen Regierung war die Vorbereitung auf die Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung am 19. November. Die durch eine Mehrheit getroffene Entscheidung fur die burgerliche parlamentarische Demokratie implizierte jedoch die Radikalisierung der Linken, die sich im Januaraufstand und in seiner vehementen Niederschlagung verscharfte. Infolgedessen traf die Nationalversammlung eine Entscheidung, am 6. Februar 1919 im Weimarer Nationaltheater zusammenzutreten. Die Stadt Weimar, die mit der humanistischen Tradition des deutschen Kulturerbes assoziiert wird, wurde aufgrund ihres Symbolcharakters zum Ort der Beratung der Nationalversammlung gezielt ausgewahlt - der Konstituierung und dem Bestehen der Republik sollten die Weimarer Ideale vorschweben. Wahrend der Beratungen, am 11. Februar 1919, wurde Friedrich Ebert von den Abgeordneten zum ersten Reichsprasidenten der Weimarer Republik ausgewahlt. Zwei Tage spater, am 13.[11]

Februar, wurde die erste parlamentarisch-demokratische Regierung vereidigt, die die Minister der „Weimarer Koalition“ von der MSPD, der DDP und dem Zentrum bildeten.[12]

Die Konstituierung der in der Geschichte Deutschlands ersten Demokratie wurde durch zahlreiche wirtschaftliche und politische Krisen gepragt, die aus der militarischen Niederlage im Ersten Weltkrieg und deren Konsequenzen resultierten. In den ersten vier Jahren des Bestehens der Weimarer Republik wurde die junge Demokratie ebenfalls mit den auBen- und innenpolitischen Schwierigkeiten konfrontiert. Die im Versailler Vertrag gestellten Bedingungen, nach denen der Frieden abgeschlossen wurde, sahen Gebietsabtretungen, Souveranitatsbeschrankungen, Reparationen und die Zuweisung der Alleinschuld am Ersten Weltkrieg ans Deutschland vor. Wiewohl die Forderungen die finanzielle Potenz ihrer Erfullung seitens der Weimarer Republik zweifelsohne uberschritten, beschloss - angesichts des Mangels an Altemativen - die Nationalversammlung am 23. Juni 1919 mehrheitlich, den Friedensvertrag zu akzeptierten. Die Ratifizierung des Versailler Vertrags erfolgte am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles. Weil gerade dort im Jahre 1871 Wilhelm I. von den deutschen Fursten zum Kaiser ausgerufen wurde, was fur Frankreich eine Art der Emiedrigung war, sollte jetzt der Friedensvertrag im Zeichen der Erniedrigung Deutschlands im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles unterzeichnet werden. Mit der Ratifizierung des Friedensvertrags wurde die Finanz- und Wirtschaftslage des Staates gravierend belastet. Die infolge der Politik des Kaiserreichs entstandene Staatsverschuldung, die Erfullung des Versailler Vertrags und der Aufbau des im Krieg zerstorten Staates tragen maBgeblich zur betrachtlichen Nachkriegsinflation bei. Die schlechte Finanzlage wurde durch die verfehlte Finanzpolitik des Reichfinanzministers Erzberger verschlechtert, durch die sich die fortschreitende Inflation dezidiert vergroBerte. Im Fruhjahr 1920 wurde die Weimarer Republik wieder auf eine harte Bewahrungsprobe gestellt: die eine Militardiktatur anstrebende Verschworergruppe „Nationale Vereinigung“ organisierte einen Rechtsputsch. Eine der leitenden Pramissen, die die Putschvorbereitungen ausgelost haben, waren die Abrustungsbestimmungen des Versailler Vertrags. Der am 10. Januar 1920 in Kraft tretende Friedensvertrag sah eine obligatorische Truppenreduzierung und Fristverlangerung vor, infolgedessen drohte den Reichswehrangehorigen und Freikorpsleuten die Entlassung. Der in der Nomenklatur der Historiographie als „Kapp-Luttwitz-Putsch“ bezeichnete Aufstand endete fur das republikanische Deutschland ohne erhebliche Konsequenzen.

Nichtsdestoweniger wurde die legitime Reichsregierung zur Flucht nach Stuttgart gezwungen, wahrenddessen Wolfgang Kapp sich zum Reichskanzler ausrief und den General Walther Freiherr von Luttwitz zum Oberbefehlshaber der Reichswehr emannte. Der Zusammenbruch des schlecht vorbereiteten Putsches implizierte fur von Luttwitz und Kapp eine Flucht ins Exil. Parallel zum Kapp-Luttwitz-Putsch ubemahmen die lokalen, politisch links orientierten „Vollzugsrate“ die politische Macht im Ruhrgebiet. Bis Ende Marz hatte die „Roten Ruhrarmee“, die sich zum groBen Teil aus Mitgliedem der Arbeiterwehren rekrutierte, bereits unter ihrer Kontrolle. Die gegen den Rechtsputsch unter der Herrschaft von Luttwitz und Kapp opponierte Widerstandbewegung „Rote Ruhrarmee“ verwandelte sich rasch in die groBte bewaffnete Arbeiteraktion in der Geschichte Deutschlands - in die Marzrevolution 1920. In der vorhandenen Ausweglosigkeit der Situation, in der der Regierung nur die gewaltsame Handlung gegen die Aufstandischen blieb, erteilte sie am 2. April 1920 den Reichswehrtruppen „volle Freiheit des Handelns, zu tun, was die Lage gebietet“[13]. Der Erlass involvierte in der Konsequenz auch die Anwendung der vehementesten MaBnahmen - einschlieBlich der Standgerichte, nur um die „Rote Ruhrarmee“ zu bekampfen. Das von dem General von Watter am 12. April verbotene „gesetzwidrig[e] Verhalten“[14] beendete letztlich den Aufstand, der uber 1000 Opfer seitens der Aufstandischen und mehr als 250 Opfer seitens der Reichswehr und Freikorps forderte. Wahrend sich innenpolitisch die Weimarer Republik mit den Streikaktionen, Putschversuchen und der rapid steigenden Welle des Terrorismus seitens der Geheimorganisationen gegen prominente Politiker, die zum Opfer politischer Morde fielen, auseinandersetzen musste, entschieden die Alliierten am 29. Januar 1921 uber die Frage der Reparationen, die Deutschland kunftig zu erbringen hatte. Die in den Vertrag eingesetzte Klausel enthielt aber einen Beschluss, dass falls der deutsche Staat die Schwierigkeiten bei der Erfullung der Forderungen haben konnte, sollte das Ruhrgebiet, das prosperierende Industriegebiet, von den Alliierten (bzw. von franzosischen Truppen) besetzt werden. Die krisenhafte Finanz- und Wirtschaftslage implizierten eine chronische Insuffizienz des Reiches, den Forderungen nach den zu leistenden Reparationen realisieren zu konnen, deren Konsequenz die Ruhrbesetzung von den Alliierten ab 11. Januar 1923 war. Infolgedessen verlor die deutsche Wirtschaft insgesamt etwa vier Milliarden Goldmark. Gegen die schlechte Finanzlage versuchte die Regierung mithilfe der bei der Reichsbank erhaltenen Krediten vorzugehen, aber diese verfehlte Finanzpolitik intensivierte nur die langst galoppierende Inflation bis zur Hyperinflation im Juni 1923. Der Hyperinflation folgten die vehemente Wahrungszerruttung und die Reduzierung des Lebensstandards der Menschen, die in dieser Zeit in vielen Fallen unter dem erforderten Minimum lebten. In der Krisensituation kam es wiederholt zu Plunderungen, Hungerdemonstrationen und auch zu antisemitischen Ausschreitungen. Die Reichsregierung konstatierte die Notwendigkeit der Wahrungsreform, deren Beschlusse am 26. September 1923 in Kraft traten. Das Jahr 1923 ging in die Geschichte als Jahr des „deutschen Oktobers“ und des Hitler-Putsches ein. Der „deutsche Oktober“ unter der Leitung der KPD einerseits und der von der NSDAP organisierte Hitler- Putsch andererseits waren Umsturzversuche, deren Ziel das Profitieren von der krisenhaften Situation im Staat, der Umsturz der legitimen Regierung und zuletzt die Machtergreifung waren. Wiewohl im Jahr 1923, in der Krisenzeit des Bestehens des republikanischen Deutschlands, die deutsche Volkswirtschaft einen Kollaps erfuhr - es besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen den auBen- und innenpolitischen Ereignissen, namlich zwischen der Besetzung der deutschen Industriegebiet an der Ruhr von den franzosischen Truppen sowie der Wahrungskrise, aus denen insgesamt die Wirtschaftskrise resultierte - wurde die Krise allerdings bewaltigt, indem das auf der politischen Szene seitens seiner Verbundeten vereinsamte Frankreich neue, furs Reich gunstigere Richtlinien in seiner AuBenpolitik gegenuber Deutschland festlegen musste und die von Gustav Stresemanns „GroBe Koalition“ konzipierte Wahrungsreform eingefuhrt wurde.[15]

In einem vertraulichen Brief, der vom 7. September 1925 datiert war, schrieb der ReichsauBenminister Gustav Stresemann an Kronprinz Wilhelm:

[...] Die deutsche AuBenpolitik hat nach meiner Auffassung fur die nachste absehbare Zeit [...] groBe Aufgaben: Einmal die Losung der Reparationsfrage in einem fur Deutschland ertraglichen Sinne und die Sicherung des Friedens, die die Voraussetzung fur eine Wiedererstarkung Deutschlands ist.[16]

Die in dem Brief festgelegten Richtlinien fur die auBen- sowie innenpolitischen Angelegenheiten der Weimarer Republik bestimmten die Politik der Reichsregierung, die maBgeblich zur Stabilisierung des Staates im nach der Krisenzeit kommenden Jahrfunft beitrug. Die bevorstehende Geschichtsperiode erwies sich tatsachlich als politisch stabile Zeit, in der Wirtschaft, Kultur und Kunst einen deutlichen Aufschwung erlebten. Parallel dazu vollzog sich ein gesellschaftlicher Strukturwandel, der kunftig das Gesamtbild der differenzierten Gesellschaft Deutschlands pragte.

Zum Umbruch in der Reparationsfrage kam es mit der Unterzeichnung des Dawes- Planes von den Alliierten und Deutschland am 16. August 1924 in London. Laut von dem US- amerikanischen Bankier Charles Dawes entworfenen Plans sollte sich die Volkswirtschaft Deutschlands erholen. Die USA forderten zwar die Zuruckzahlung der Kriegsschulden von Deutschland, sie schlugen aber einen zeitlichen Abstand fur die Erholung der deutschen Wirtschaft vor, damit die Weimarer Republik die Reparationszahlungen gewahrleisten konnte. Dieser Beschluss des Dawes-Plans implizierte die Beendigung der Ruhrbesetzung seitens Frankreichs und die Verringerung der finanziellen Belastung mit den Reparationen. In der Konsequenz mussten die franzosischen und belgischen Truppen das deutsche Industriegebiet an der Ruhr noch vor dem In-Kraft-Treten des Dawes-Planes am 1. September 1924 verlassen. Einer der weiteren auBenpolitischen Erfolge von riesiger Importanz fur die Entwicklung Nachkriegsdeutschlands bildeten auch die Vertrage von Locarno vom Jahre 1925. Die Ratifizierung dieses Abkommens zwischen Deutschland, GroBbritannien, Frankreich, Belgien, Italien, Polen und der Tschechoslowakei stellte ein relevantes Politikum fur die Stabilisierung des Friedens in Europa dar, das gleichzeitig als Vorbedingung fur die amerikanischen Kredite fungierte. Die Relevanz der Vertrage wurde unter anderem durch das Faktum bestatigt, dass sich mit der Unterzeichnung des Abkommens die deutsche Position auf der internationalen Arena verbesserte, infolgedessen einerseits die britischen Truppen aus der Kolner Zone im Fruhjahr 1926 abgezogen wurden, andererseits Deutschland am 10. September 1926 in den Volkerbund aufgenommen wurde. Als es sich im Jahre 1928 herausstellte, dass die im Dawes- Plan festgelegte Umstellung der Reparationen auf die „Normalrate“[17] in der Hohe von 2,5 Milliarden Reichsmark ab September 1928 die Zahlungsfahigkeit Deutschlands in bedeutendem MaBe uberschritten, stellte der US- amerikanische Wirtschaftsexpert Owen D. Young einen Plan zusammen, der sich der deutschen Wirtschaft weitgehend entspannen lieB. Die auBen- und innenpolitischen Erfolge, die zur relativen Stabilisierung im Staat gefuhrt haben, belebten nicht nur Volkswirtschaft und Industrie sondern auch Kultur und Kunst wieder, die sich an die aufkommende Epoche der Massenkultur und Konsumgesellschaft anpassen musste, infolgedessen sich ein Wandel in der Funktion und im Selbstverstandnis der Kunst vollzog. Die Phase der relativen Stabilisierung in der Entwicklung der Weimarer Republik charakterisierte sich aber nicht nur durch den wirtschaftlichen, industriellen und kulturellen Aufschwung. Das Jahrfunft ist unter anderem die Zeit, die durch einen Differenzierungsprozess innerhalb der Gesellschaft gekennzeichnet wird. Die sich „[i]nfolge von Konzembildungen, des Ausbaus der Verwaltungen sowie des Wachstums im Handels- und Dienstleistungssektor[.. ,]“[18] und „[...] aufgrund der allgemeinen Burokratisierungstendenz in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat [,..]“[19] [20] [21] vollzogenen Veranderungen im okonomischen Bereich implizierten gesellschaftliche Wandlungen. In der Konsequenz des Wandels wuchs rasant die Anzahl der Angestellten in den genannten Sektoren, wobei in diesen Prozess in erster Linie die Mittelschicht und die maBgeblich dieser Schicht entstammenden Frauen einbezogen wurden.20,21

Der Kollaps der US-amerikanischen Wirtschaft, der mit dem „Schwarzen Freitag“ an der New Yorker Borse am 24. Oktober 1929 begann, rief in der Konsequenz die groBte Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts hervor. Implizite hatten die deutschen Finanz- und Wirtschaftsverflechtungen mit den USA den Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft zur Folge. Es sei allerdings hinzufugen, dass die Krise gerade die Weimarer Republik, gleich nach den USA, am tiefsten betraf. Mit dem Ausbruch der weltweiten Wirtschaftskrise endete der Geschichtsabschnitt in der Entwicklung des Deutschen Reichs, den eine relative Stabilisierung hinsichtlich der Finanz- und Wirtschaftslage in der turbulentesten Epoche Deutschlands charakterisierte. Der US-amerikanische Wirtschaftskollaps destabilisierte die wirtschaftliche, soziale und innenpolitische Lage des republikanischen Staates, so dass aus der chronisch vorangehenden Verscharfung des Destabilisierungsprozesses den rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit resultierte, die Anfang 1933 das erschreckende Niveau von 6 Millionen Arbeitslosen erreichte.[22] Wegen der Massenarbeitslosigkeit und der finanziellen Insuffizienz der Arbeitslosenversicherung intensivierte sich die Labilitat der innenpolitischen Lage in der Regierung noch rigoroser, infolgedessen kam es 1930 zum Bruch der „GroBen Koalition“ und zur Reichstagsauflosung. Wie die Kurzgeschichte illustriert, bestand ein kausaler Zusammenhang zwischen der Wirtschaftskrise und der innenpolitischen Krise im republikanischen Deutschland, deren ungluckliche Verflechtung mit dem Wahlsieg der antisemitisch und antiliberal gesinnten NSDAP endete. Mit dem Sieg der NSDAP, die noch im Jahre 1928 eine Splitterpartei war, begann der systematische Zerstorungsprozess der Demokratie und der Republik. Das Ende fur die Existenz der ersten demokratischen Republik Deutschlands setzte am 30. Januar 1933 Hindenburg, indem er Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte.[23]

1.2. Sozio-kulturelle Aspekte des Lebens in der Weimarer Republik der Neuen Sachlichkeit

Die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden in der Weimarer Republik sowohl durch die Ereignisse der Innen- und AuBenpolitik als auch durch den soziookonomischen Wandel maBgeblich gepragt. Die Kriegs- und Revolutionserlebnisse sowie die Konstituierung der ersten deutschen Demokratie einerseits und der Fortschritt auf dem Gebiet der Technik sowie der Wirtschaftsaufschwung andererseits, die dank den aus dem auslandischen Privatkapital kommenden Investitionen und Krediten erreicht wurden, setzten neue Akzente in der Kultur und den bildenden Kunsten.[24]

Dieser kulturelle Umbruch zwischen 1918 und 1933, den die kunstlerische Kreativitat, die Modemitat und Vielfaltigkeit der kunstlerischen Expressionsformen charakterisierte, wurde von den Kunsthistorikern zur „Klassischen Moderne“ gezahlt, weil er die Kunst und Kultur bis in die Gegenwart hinein pragte. Unter dem kulturellen Umbruch dieser Zeit ist auch der Differenzierungsprozess der Kultur in die anspruchsvolle Kultur und die Massenkultur zu verstehen, deren Entstehung die industrielle Massenproduktion und den Massenkonsum implizierten. Die Voraussetzung fur die Entstehung der Popularkultur fur das Massenpublikum, das sich hauptsachlich fur die Informationen und Zerstreuung interessierte, war die technologische Entwicklung der Massenkommunikationsmittel samt der Industrialisierung, die sich im Rahmen des technischen Fortschritts vollzogen. Die politischen und wirtschaftlichen Veranderungen, die Einfuhrung und Anwendung der modernen Technologien und der infolge der Technisierung verursachten kulturellen Umbruch beeinflussten das kulturelle Leben der Weimarer Gesellschaft und regten den soziokulturellen Strukturwandel in den 20er Jahren an.[25]

Der Impact dieser Modernisierungs- und Transformationsprozesse implizierte die Veranderungen des Lebensstils und der Alltagskultur innerhalb der damaligen Gesellschaft. Zum Fokus des vorliegenden Kapitels werden deswegen die beiden soziokulturellen Aspekte des Lebens d. h. Lebensstil und Alltagskultur gemacht. Die detaillierte Darstellung dieser Aspekte bezieht den Lebensstil der Weimarer GroBstadtgesellschaft samt ihren Freizeitgestaltungsformen und der Mode, Architektur sowie dem Lebensgefuhl mit ein. Da die vorliegende Arbeit an neusachlichen Tendenzen und ihrer Beeinflussung der Kultur, der Gesellschaft und ihrem Lebensstil interessiert ist, bleibt in ihrem Kontext ausschlieBlich die Betrachtung der Aspekte nur hinsichtlich der Prinzipien der Neuen Sachlichkeit relevant.

Die rapide technologische Entwicklung und Industrialisierung artikulierten sich in der Entwicklung der deutschen GroBstadte, vor allem aber in der Entwicklung Berlins. Die Hauptstadt wuchs bis zum Rang der Industrie- und Kulturmetropole und zugleich mit etwa 4 Millionen Einwohnern im Jahre 1920 zu einer der groBten Metropole der damaligen Welt.[26] Die sich in dieser Zeit vollzogene Urbanisierung implizierte die Massenmigration in die GroBstadte, in denen einerseits die Provinz verlassenden Menschen bessere Zukunftsperspektiven erwarteten und andererseits ein erregendes, groBstadtisches Abenteuerleben erhofften. Mit dieser Migration ist auch die gangige Vorstellung Berlins eng verbunden, nach der die Hauptstadt die Moderne und den technischen Fortschritt personifizierte. Infolge der kulturellen und technischen Modernisierungen wurde Berlin zum Zentrum des kulturellen Lebens in der Weimarer Republik. Diese konsumorientierte, an Informationen und Unterhaltung orientierte Gesellschaft entdeckte den Berliner groBstadtischen Charakter, der mit dem intensiven Rhythmus des modernen GroBstadtlebens und mit dem neuen Phanomen der Popularkultur verknupft wurde.

Samt dem soziokulturellen Strukturwandel etablierten sich differenzierte Vergnugungsmoglichkeiten der groBstadtischen Massengesellschaft in der Weimarer Republik, die die Kultur- und Freizeitindustrie bestimmten. Relevant fur ihre Durchsetzung war allerdings die amerikanische Zerstreuungskultur, die die neuesten Trends in die Freizeitindustrie setzten. Zu den popularsten Freizeitunterhaltungsformen der Weimarer Gesellschaft gehorten Kinofilme, Revuen, Operetten, Kabaretts, Sport und Sportveranstaltungen, illustrierte Zeitschriften, Tanz und Schlagermusik, die uber Radio und Schallplatten verbreitet wurde. Diese Freizeitunterhaltungsformen pragten das Bewusstsein der modernen Konsumgesellschaft, indem ihnen mithilfe der Massenkommunikationsmittel, der Werbung und der modischen Zerstreuungsformen die fur die Konsummentalitat bestimmten Verbraucherverhalten implizit mitgeteilt wurden und sie derart steuern konnten. Auf diese Art und Weise wurden die Weimarer Freizeitgestaltungsformen zur Mode einerseits, andererseits aber wurden sie selbst von der neuesten Mode bestimmt.

Fur die groBstadtische Gesellschaft, die die Konsummentalitat charakterisierte, war die Mode der entscheidende Ausdruck des GroBstadtlebens. Die Bekleidung nach den neuesten Modetrends gait im groBstadtischen Milieu als Artikulation der Personlichkeit und Betonung des soziookonomischen Status des Einzelnen, der mithilfe der Bekleidung auch eigene Modemitat und Zustimmung fur den Fortschritt zu erkennen gab. Ausschlaggebend fur die Modeentwicklung - besonders in Berlin, das in den 20er Jahren zur kulturellen Metropole avancierte und in dem die Grundlagen fur die Modeentwicklung festgelegt wurden - war die Verbesserung der Finanz- und Wirtschaftslage des deutschen Staates. Die Phase der relativen Stabilisierung beeinflusste positiv die Konfektionsindustrie und den Bekleidungskonsum, nichtsdestoweniger konnte sich nur ein Bruchstuck der groBstadtischen Bevolkerung, aufgrund der schwierigen Situation ihrer Haushalte, die teuren Modeartikel leisten. Die Prasenz der Frau in der Offentlichkeit und der Wandel der Weiblichkeitsvorstellung implizierten nebenbei auch die Veranderungen der Modeindustrie, die einen neuen Kundenkreis gewann: weibliche Angestellte, die an ihrem Arbeitsplatz ausstrahlend und modisch aussehen sollten, nur um ihre Arbeit zu behalten. Die revolutionaren Veranderungen in der Modebranche, die aus der engen Verflechtung zwischen der Mode und der Vergnugungskultur resultierten, waren z. B. die verkurzte Rock- und Kleiderlange bis zum Knie und die bis auf die Hufte gesenkte Taillenlinie. Diese Innovationen auf dem Gebiet der Mode wurden einerseits durch die amerikanischen Tanze wie z. B. Shimmy oder Scottish Espagnol, die eine groBe Bewegungsfreiheit forderten, inspiriert, andererseits waren sie der Ausdruck des „Wunsch[es] nach einem Bruch mit den traditionellen Moral- und Kulturvorstellungen“[27]. Der Wunsch nach dem Umbruch mit der Tradition artikulierten bereits die Revuen und moderne Tanzarten, die wegen ihrer erotischen Ausstrahlungskraft vehement kritisiert wurden.[28] Aus dem Traditionsumbruch und der Etablierung des Konzepts der Neuen Frau resultierte auch die Entwicklung der innovativen Modetendenzen, die die Bedurfnisse der modebewussten Frauen zu befriedigen versuchten. Ein anderer modischer Aspekt des Weimarer Lebensstils war der Sport als bevorzugte Beschaftigung der damaligen Gesellschaft. Sport zu treiben und sich an Sportveranstaltungen zu beteiligen, gait als Pflicht derjenigen, die zur Elite gehoren wollten. Auch die Werbeindustrie lancierte in illustrierten Zeitschriften die Idee der sportlichen Frau, nach der eine auBergewohnliche Beachtung unter Frauen das Autofahren und Boxen fanden, wiewohl diese Sportarten relativ viel kosteten.[29]

Die Bevolkerungsexplosion und die rasante Entwicklung der Stadte zu GroBstadten enthullte die Wohnungsnot der Nachkriegszeit in der Weimarer Republik und der Mangel an offentlichen Gebauden. Auch der gewandelte Lebensstil der GroBstadtgesellschaft, vor allem der Frauen, forderte innovative und funktionale Losungen fur die Einrichtungen, die die Effizienz und Effektivitat der von der Frau durchzufuhrenden Hausarbeiten intensivieren. In der Antwort auf die Forderungen grundete Walter Gropius im Jahre 1919 in Weimar eine neusachliche Kunstlerschule „Bauhaus“, deren Hauptinteresse der Bau und das Design waren. Zu den Grundannahmen des Bauhauses, die Walter Gropius in seinem Manifest (1919) zusammenstellte, gehorten uberwiegend der Verzicht auf Dekorationen, die Funktionalitat und Schlichtheit, die die Schonheit des Bauwerkes bestimmten. Die dominanten Baumaterialien waren Stahl, Beton und Glas. Das Glas fand bei den neusachlichen Architekten besondere Beachtung, weil die Konzeption dieses Baustils die hellen Innenraume annahm. Anfangs wurden nach den Prinzipien des architektonischen Stils nur die offentlichen Hauser wie z. B. Buro- und Geschaftshauser, Handelszentren, Turme und Bahnhofe erbaut. Die nach dem Bauhaus errichteten Gebaude charakterisierte die Benutzung der architektonischen Elemente, die normalerweise mit der sakralen Sphare assoziiert wurden: die neuen, „gottlichen“ Geschaftshauser, Wolkenkratzer und Handelszentren sollten dank der GebaudegroBe, der groBen Fenster und der Gewalt die religiosen Gefuhle, das Gefuhl der Erlosung, Befriedigung, Geborgenheit und des Heilsversprechens hervorrufen. Diese religiosen Anspielungen sollten den sich in diesen „Industriekathedralen“ befindenden Menschen veranschaulichen, dass der sich etablierende Kapitalismus zu ihrem neuen Glauben werden soil. Die Aufgabe der Architektur war also die Forderung der sich entwickelnden Konsummentalitat.

Die krisenhafte Wohnsituation in den GroBstadten, besonders in Berlin, in dem die Wohnungsnot ein groBes soziales Problem und das Wohnen ein Massenbedarf waren, implizierte allerdings, dass das funktionale Bauhaus auch zum sozialen Wohnungsbau angewendet wurde. Der erste Architekt, der sich traute, das Bauhaus zum sozialen Wohnungsbau anzuwenden, war Bruno Taut, der in seiner Zeit als sehr provokativer und kontroverser Architekt empfunden wurde. Seine Bauentwurfe (wie z. B. der erste soziale Wohnungsbau: die Hufeisensiedlung in Berlin-Britz) stellten die traditionellen Ordnungsprinzipien der Mietskasernen auf den Kopf, indem die Frontseite der Mietskasemen ihre bisherige representative Funktion zugunsten der quantitativen Funktion verlor und indem die engen, dusteren Innenhofe der Mietskasernen zugunsten der von einer Seite zur StraBe offenen, begrunten Innenhofe, denen eine neue soziale Funktion zugeschrieben wurde, aufgegeben wurden.[30] Das Ziel seiner Konzeption sozialen Wohnungsbaus war die Nivellierung der gesellschaftlichen Unterschiede und die Verbesserung der Wohnbedingungen im Allgemeinen.[31] Nach denselben Prinzipien d. h. Funktionalitat und Schlichtheit, auch Leichtigkeit und Benutzung moderner Materialien sollten die Einrichtungsgegenstande serienmaBig produziert werden. Das Bauhaus sah fur die Innenraume die Anwendung der weiBen sowie klaren, leuchtenden Farben vor. Durch die Objektivierung der Wohnverhaltnisse sollte das ubergreifende Ziel des Neuen Wohnens erreicht werden: namlich „die Schaffung eines ,neuen Menschen‘ “[32] - ein neues Produkt der Neuen Sachlichkeit. Diese Innovationen trugen zur diametralen Veranderung der Wohnungssituation bei, nichtsdestoweniger blieb die Wohnungssituation nicht befriedigend. Es lasst sich auch nicht ubersehen, dass Design und Architektur als eine von den Aspekten des GroBstadtlebens der Weimarer Gesellschaft wieder mit der herrschenden Moderichtung verknupft wurden.[33]

Die prasentierten sozio-kulturellen Aspekte des Lebens in der Weimarer Republik der Neuen Sachlichkeit sollte die Aneignung eines neuen Lebensgefuhls implizieren. Der Bruch mit den traditionellen Wertvorstellungen war die Voraussetzung fur die Entstehung der Konzeption des neuen Lebensgefuhls, deren Grundannahme die Liberalisierung des Wertekanons und der zwischenmenschliche Beziehungen bestimmenden Prinzipien - implizite des Verstandnisses der Liebe, des Sex und ihrer untrennbaren Reziprozitat - war. Das Lebensgefuhl der Weimarer GroBstadtgesellschaft orientierte sich also an „Neugier, Unterhaltung, Abwechslung, Mobilitat, Entfrustrierung und Triebabfuhr“[34]. Hermand Jost macht auch aufmerksam darauf, dass fur die Befriedigung der neusachlichen Bedurfnisse der Menschen die Freizeit- und Vergnugungsindustrie verantwortlich war, deren die den Lebensstil pragenden Unterhaltungsformen zur obligatorischen Mode kreiert wurde.[35]

Uber das alles hinaus spielten die Massenmedien, Rundfunk, Film und Presse, eine gravierende Rolle in der Etablierung der neuen gesellschaftlichen Mentalitat, weil den fur die neue Mentalitat charakteristischen Lebensstil, dessen das Ganze die neuen Vergnugungsmoglichkeiten samt Freizeitgestaltungsformen, die Mode, Architektur und das neue Lebensgefuhl bildeten, gerade die Massenmedien pragten. Der Impact der neuen Massenkommunikationsmittel implizierte den soziokulturellen Strukturwandel innerhalb der Weimarer GroBstadtgesellschaft, die sich rasch an den mithilfe der Massenmedien propagierten „amerikanischen ,way of life‘ “[36] assimilierte. Aus den amerikanischen Einflussen resultierte auch die Veranderung des Bewusstseins der Frau, die sich nach dem amerikanischen Weiblichkeitsmuster in „new woman"[37] verwandeln sollte.

Resumierend lasst sich feststellen, dass die deutsche Gesellschaft in den 20er Jahren eine Transformation bis zur modemen kapitalistischen Gesellschaft nach dem amerikanischen Gesellschaftssystem erfuhr. Das GroBstadtleben und Freizeitgestaltungsformen, die Konsummentalitat, Modeentwicklung, der Traditionsumbruch und die Prasenz der Frau in der Offentlichkeit pragten den neusachlichen Lebensstil der Weimarer Gesellschaft. Der neue

Lebensstil wurde als das zu konsumierende Produkt lanciert, das der Gesellschaft die Richtlinien des Lebens und Handelns festsetzte.

1.3. Neue Sachlichkeit - Begriffsbestimmung, Merkmale der Stilrichtung und die Literaturauffassung mit besonderer Berucksichtigung des Romans

Abseits von den Spannungen in der Innen- und AuBenpolitik der Weimarer Republik und von den sich daraus fur die Gesellschaft ergebenden soziookonomischen Konsequenzen charakterisierte die 20er und 30er Jahre die Etablierung der diametral entgegengesetzten kunstlerischen Stromungen wie Neue Sachlichkeit, Expressionismus, Impressionismus, Symbolismus, dadaistische Avantgarde, Futurismus, Surrealismus u. a. m. Es lasst sich nicht ubersehen, dass zwischen der im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit perspektivierten Geschichtsperiode Deutschlands und den damals existenten Stilrichtungen eine Analogic bestand, die sich namlich in dem Spannungsverhaltnis innerhalb der beiden Aspekte akzentuierte.

Zu den vorubergehend parallel existenten Stilrichtungen gehorten Expressionismus und Neue Sachlichkeit, deren Charakteristika zweifelsohne in einer Beziehung akuter Widerspruchlichkeit zueinander standen. Der amerikanische Geschichtsschreiber Walter Laqueur konstatiert in seinem Werk „Weimar. Die Kultur der Republik“, dass der Expressionismus ,,[...] eine Stromung in der romantischen Tradition, vielleicht die extremste Form von Romantik [...]“[38] war, wohingegen sich die Neue Sachlichkeit als Gegenentwurf der kunstlerischen Expression fur den Expressionismus etablierte, dessen Literatur ,,[...] Neigung, das innere Erleben uber das auBere Dasein zu stellen [,..]“[39], Subjektivitat, Existenzialismus und gesellschaftliche Relevanz der literarischen Reprasentationen charakterisierte. Die Stilrichtung der Neuen Sachlichkeit, indem sie per definitionem innovative und nuchterne Darstellungsweise dezidiert forderte, insistierte gleichzeitig auf die Abwendung von den oppositionellen, expressionistischen Tendenzen. Fur diese Abkehr blieb relevant, dass der Expressionismus im kollektiven Bewusstsein der Weimarer Gesellschaft mit der alten monarchistischen Staatsform - mit dem Kaisertum assoziiert wurde.[40] Die militarische Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg samt der Konstituierung der Weimarer Republik, einer neuen und demokratischen Staatsform, durch die sich der Untergang der kaiserlichen Monarchie markierte, katalysierten somit die Etablierung derNeuen Sachlichkeit, infolgedessen verlor der Expressionismus als mit der alten, verhassten Ordnung verknupfte Stilrichtung seine Relevanz.

Bei der Etablierung des Terminus der Neuen Sachlichkeit weichen die Datierungen sowohl seitens der Literatur- und Kulturwissenschaftlerlnnen als auch seitens der Etymologen ziemlich voneinander ab, infolgedessen fehlen auf diesem Forschungsgebiet exakte Angaben. Nach Georg Streim, wie auch nach Sabina Becker, leitet der Terminus seine Herkunft aus der Gemaldeausstellung „ ,Neue Sachlichkeit‘. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ von Gustav Friedrich Hartlaub ab, die zum ersten Mai in der Stadtischen Kunsthalle in Mannheim im Jahre 1925 prasentiert wurde; nichtsdestoweniger akzentuieren die beiden Forscherlnnen das Faktum, dass der Begriff der Neuen Sachlichkeit auch in den literaturkritischen Debatten der fruhen 20er Jahre in Erscheinung trat.[41] Zum relevanten Ziel der Neuen Sachlichkeit sowohl in der Malerei als auch in der Literatur wurde die erwahnte Abgrenzung der ,,[...] neue[n], gegenstandlich-nuchterne[n] Stilrichtung gegenuber dem expressionistischen Pathos und Subjektivismus[...]“[42] gesetzt.

Georg Streim weist jedoch auf das Problem der literarasthetischen Bestimmung der Stromung hin und differenziert drei Wortbedeutungen: ideologische, soziokulturelle und asthetische Wortbedeutung. Die ideologische Semantik referiert auf eine Denk- und Handlungsweise der Menschen, die ein nuchterner Pragmatismus und Fortschrittlichkeit charakterisieren, wohingegen es sich im Falle der soziokulturellen Wortbedeutung der Neuen Sachlichkeit um die Massenkultur handelt. Im Bezug auf das Phanomen der Massenkultur wurden auch vehemente Debatten zum Thema des Amerikanismus in der Weimarer Republik involviert, weil gerade der Impact der amerikanischen Kultur und der „amerikanischen [Konzeption] ,way of life‘ “[43] das Bild der Weimarer Kultur und Gesellschaft maBgeblich veranderte. Die asthetische Semantik der Neuen Sachlichkeit ist als literarasthetische Kategorie zu verstehen.[44]

Um die Neue Sachlichkeit als literarasthetische Kategorie zu verstehen, wird die semantische Begriffserklarung gebraucht. Das Definiendum „Neue Sachlichkeit“ besteht aus dem Adjektiv „neu“ und dem Substantiv „Sachlichkeit“. Das Wort „neu“ bedeutet laut der Worterbuchdefinition „erst seit kurzem vorhanden, bestehend; vor kurzer Zeit entstanden, begrundet; davor noch nicht da gewesen“[45]. Diese Definition weist darauf hin, dass das Wort „neu“ semantisch auf eine Innovation, Neuerung, Modernitat bzw. einen Fortschritt referiert. Das Substantiv „Sachlichkeit“ bedeutet laut der Worterbuchdefinition „das Sachlichsein“[46], wobei das Adjektiv „sachlich“ im Kompositum „das Sachlichsein“ „nur von der Sache selbst, nicht von Gefuhlen od. Vorurteilen bestimmt; nur auf die Sache, auf den infrage stehenden Sachzusammenhang bezogen“[47] bedeutet. Der Begriff „sachlich“ wird auch mit den Wortern „nuchtern“, „pragmatisch“, „realistisch“ und „wirklichkeitsnah“ assoziiert. Diese semantische Zerlegung des Terminus „Neue Sachlichkeit“ ermoglicht, die Neue Sachlichkeit als literarasthetische Kategorie und ihre programmatischen Grundannahmen exakt zu verstehen. Die Innovation der neusachlichen Literatur involviert - per definitionem - die Ubertragung der technischen Neuerungen auf die Literatur wie z. B. die Anwendung der Collage- oder Montagekunst, die die Fortschrittlichkeit und Modernitat der Literatur imitieren sollten, wahrend ,,[...] Wahrheit, Objektivitat, Beobachtung der auBeren Wirklichkeit, Antisubjektivismus und Antipsychologismus“[48] laut der Asthetik der Stromung zu Charakteristika dieser sich durch den nuchternen Charakter auszeichnenden Literatur wurden.

Im Kontext der vorliegenden Arbeit bleibt die neusachliche Erzahlprosa ein relevanter Aspekt. GroBter Beliebtheit innerhalb der Erzahlprosa der Neuen Sachlichkeit erfreute sich der Roman, den „Orientierung an Zeitlichkeit und Faktizitat[,] [...] Authentizitat der Darstellung, [...] Aktualitat und Gesellschaftsanalyse“[49] charakterisierte, infolgedessen sich der Zeitroman konstituierte. Die Konstituierung des Zeitromans implizierte auch die Veranderung der Literaturauffassung, indem der Literatur der „Gebrauchswert“[50] zugeschrieben wurde.

Weil der Zeitroman an aktuellen, gesellschaftlichen und sozialokonomischen Problemen interessiert war, implizierte das auch den Wandel in der Auswahl der thematisierten Fragen, so dass die zusammengehorenden gesellschaftlichen Fragen und Probleme insgesamt das Themenspektrum des neusachlichen Zeitromans dominierten. Die Vielfalt der literarischen Sujets im neusachlichen Zeitroman umfasste die Verarbeitung der Erlebnisse im 1. Weltkrieg, die Nachwirkungen des 1. Weltkrieges in der Nachkriegswirklichkeit, politische Angelegenheiten, Finanz- und Wirtschaftslage in der Weimarer Republik. Das groBte Interesse der Schriftstellerlnnen erweckten allerdings die gesellschaftlichen Sujets. Das Sujet, das sich groBter Beliebtheit erfreute, war die Gesellschaft, die sich in der Epoche der Weimarer Republik gravierend differenzierte. Der Differenzierungsprozess der Weimarer Gesellschaft wurde maBgeblich durch die Technisierung, Urbanisierung und Modernisierung beeinflusst, die samt ihren Impacts auf die Mentalitat und Befindlichkeit der damaligen Gesellschaft literarisch thematisiert wurden. Samt der technologischen Entwicklung differenzierte sich auch der Arbeitsmarkt - vorwiegend der Dienstleistungssektor: nicht zu ubersehen ist der kausale Zusammenhang zwischen der Herausbildung des Dienstleistungssektors und Veranderungen der Gesellschaftsstrukturen, infolgedessen sich in Deutschland der 20er und 30er Jahre eine Klassengesellschaft etablierte. Die Erhohung der Nachfrage nach Angestellten in dem erwahnten Sektor implizierte die Etablierung der Dienstleistungsgesellschaft - Angestelltenschicht. Die besondere soziookonomische Situation sowie der Lebensstil dieser Gesellschaftsklasse, insbesondere der weiblichen Angestellten, wurden oft im Zeitroman der Neuen Sachlichkeit thematisiert. Das riesige Interesse an dieser Problematik trug deswegen zur Konstituierung des neuen Genres, des Angestelltenromans, bei. Die Jahre der Weimarer Republik pragte auch der Wandel innerhalb der geschlechtsspezifischen Gesellschaftsstrukturen, namlich Frauenemanzipation, nach der der Frau eine neue Qualitat zugeschrieben wurde. Der geschlechtsspezifische Differenzierungsprozess der Gesellschaft, der zum Teil aus der tragischen Finanz- und Wirtschaftslage des republikanischen Deutschlands in den 20er Jahren resultierte, infolgedessen viele Frauen, um ihre Familien zu unterstutzen, eine Lohnarbeit unternehmen mussten, implizierte den Wandel der traditionellen Weiblichkeitskonzeption. In der Erzahlprosa setzten sich die Autorlnnen der Epoche mit der Neuen Weiblichkeitsvorstellung auseinander, indem sie die Frau, deren Existenz die Tragik kennzeichnete, zur Protagonistin stilisierten. Auf diese Art und Weise etablierte sich in der neusachlichen Literatur der Typus der Neuen Frau.[51]

Der Zeitroman - sowie der Angestelltenroman, der eine der Gattungen des Zeitromans reprasentierte - charakterisiert eine soziale Funktion, die die Neue Sachlichkeit von ihren Texten forderte. Die Programmatik der Stilrichtung, gesellschaftlich[e] Typen statt individuell[e] Personlichkeiten [zu prasentieren, und] [...] Sozialanalyse statt Individualanalyse zu liefern [...]“[52] resultierte aus dem Postulat des Antipsychologismus der Erzahlweise. In der Erzahltechnik der neusachlichen Schreibweise dominierten der Ich- Erzahler bzw. der sachliche Beobachter.[53] Die Elimination des Psychologismus sollte in der Konsequenz den Blick der Leser einerseits auf die Zeitfragen und andererseits auf die Befindlichkeit des Einzelnen in Hinsicht auf seine soziookonomische Situation richten. Eine der Pramisse dieser Vorgehensweise nahm an, dass der Leser eine kritische Reflexion uber die Wirklichkeit anstellt. Nicht selten war eine latente Gesellschafts- und Zeitkritik selbst im Werk beinhaltet.

[...]


[1] Bamdt, Kerstin : Sentiment und Sachlichkeit: der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik. Koln [u.a.] : Bohlau Verlag2003, S. 2. Wiewohl Kerstin Bamdt die Bezeichnung „Mannlichkeit“ in Bezug auf die Kultur der Weimarer Republik, implizit in Bezug auf die Neue Weiblichkeit, verwendet - paraphrasiert sie Katherina von Ankum, Introduction, in: dies. (Hg.), Women in the Metropolis. Gender and Modernity in Weimar Germany, S: 1-11, Lethen, Verhaltenslehren derKalte, S. 69.

[2] Ebd., S. 4.

[3] Vgl. ebd., S. 4.

[4] Vgl. ebd., S. 6.

[5] Vgl. ebd., S. 4-5.

[6] Bamdt, Kerstin : Sentiment und Sachlichkeit: der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik. Koln [u.a.] : Bohlau Verlag 2003, S. 10.

[7] Vgl. ebd., S. 2.

[8] Eifert, Christiane: Die neue Frau. Bewegung und Alltag. In: Gortemaker, Manfred (Hg.): Weimar in Berlin. Portrat einer Epoche. Berlin 2002. In: Wildermuth, Katharina: Reader zum Seminar, ‘Neue Sachlichkeit?‘ Kunst, Literatur und Alltagskultur im Berlin der 20er Jahre. Freie Universitat Berlin, Institut fur Deutsche und Niederlandische Philologie; Sommersemester 2009, S. 20.

[9] Ebd„ S. 21.

[10] Vgl. Angaben zum Abschnitt entnommen: Bundeszentrale fur politische Bildung/ bpb (Hg.): Informationen zurpolitischen BildungNr. 261/1998. Bonn/Munchen: Franzis‘ print & media 2003, S. 2.

[11] Zit. nachebd., S. 4.

[12] Vgl. Angaben zum Abschnitt entnommen: Bundeszentrale fur politische Bildung/ bpb (Hg.): Informationen zurpolitischen BildungNr. 261/1998. Bonn/Munchen: Franzis‘ print & media 2003, S. 3-16.

[13] Zit. nach: Bundeszentrale fur politische Bildung/ bpb (Hg.): Informationen zur politischen Bildung Nr. 261/1998. Bonn/Munchen: Franzis‘ print & media 2003, S. 24.

[14] Zit. nach: ebd.

[15] Vgl. Angaben zum Abschnitt entnommen: Bundeszentrale fur politische Bildung/ bpb (Hg.): Informationen zurpolitischen BildungNr. 261/1998. Bonn/Munchen: Franzis‘ print & media 2003, S. 18-31.

[16] Zit. nach: ebd., S. 33. [Gustav Stresemann: Vermachtnis, Bd. II. Hg. von Henry Bernhard, Berlin 1932, S. 553 ff.]

[17] Zit. nach: Bundeszentrale fur politische Bildung/ bpb (Hg.): Informationen zur politischen Bildung Nr. 261/1998. Bonn/Munchen: Franzis‘ print & media 2003, S. 32.

[18] Streim, Gregor: Einfuhrung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, S. 22.

[19] Bundeszentrale fur politische Bildung/ bpb (Hg.): Informationen zur politischen Bildung Nr. 261/1998. Bonn/Munchen: Franzis‘ print & media 2003, S. 36.

[20] Vgl. Streim, Gregor: Einfuhrung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, S. 22.

[21] Vgl. Angaben zum Abschnitt entnommen: Bundeszentrale fur politische Bildung/ bpb (Hg.): Informationen zurpolitischen BildungNr. 261/1998. Bonn/Munchen: Franzis‘ print & media 2003, S. 32-39.

[22] Vgl. Streim, Gregor: Einfuhrung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, S. 22.

[23] Vgl. Angaben zum Abschnitt entnommen: Bundeszentrale fur politische Bildung/ bpb (Hg.): Informationen zurpolitischen BildungNr. 261/1998. Bonn/Munchen: Franzis‘ print & media 2003, S. 48-51, 60-61.

[24] Vgl. Angaben zum Abschnitt entnommen: ebd., S. 44.

[25] Vgl. Angaben zum Abschnitt entnommen: ebd. Und: Vgl. auch: Streim, Gregor: Einfuhrung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, S. 23, 28.

[26] Vgl. Streim, Gregor: Einfuhrung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, S. 25.

Universitat Berlin, Institut fur Deutsche und Niederlandische Philologie; Sommersemester 2009, S. 25.

[28] Vgl. Angaben zum Abschnitt entnommen: ebd., S. 23-25.

[29] Vgl. Eifert, Christiane: Die neue Frau. Bewegung und Alltag. In: Gortemaker, Manfred (Hg.): Weimar in Berlin. Portrat einer Epoche. Berlin 2002. In: Wildermuth, Katharina: Reader zum Seminar, ‘Neue Sachlichkeit?‘ Kunst, Literatur und Alltagskultur im Berlin der 20er Jahre. Freie Universitat Berlin, Institut fur Deutsche undNiederlandische Philologie; Sommersemester 2009, S.21.

[30] Vgl. Auszuge aus: Bienert, Michael, Elke Linda Buchholz: Die zwanziger Jahre in Berlin. Ein Wegweiser durch die Stadt. Berlin 2005. In: Wildermuth, Katharina: Reader zum Seminar, ‘Neue Sachlichkeit?‘ Kunst, Literatur und Alltagskultur im Berlin der 20er Jahre. Freie Universitat Berlin, Institut fur Deutsche und Niederlandische Philologie; Sommersemester 2009, S. 4.

[31] Vgl. Kohler, Carola: Architektur und Wahnvorstellungen. Auszug aus: Unterwegs zwischen Grunderzeit und Bauhaus - Wohnverhaltnisse in Berlin in Romanen derNeuen Sachlichkeit. Munster 2003. In: ebd., S. 12.

[32] Ebd.

Seminar, ‘Neue Sachlichkeit?‘ Kunst, Literatur und Alltagskultur im Berlin der 20er Jahre. Freie Universitat Berlin, Institutfur DeutscheundNiederlandische Philologie; Sommersemester 2009, S. 9.

[34] Jost, Hermand: Neue Sachlichkeit. Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis? In: Bodi, Leslie, Gunter Helmes, Egon Schwarz, Friedrich Voit (Hgg.): Weltburger-Textwelten. Helmut Kreuzer zum Dank. Frankfurt am Main: Peter Lang 1995, S. 332.

[35] Vgl. Angaben zum Abschnitt entnommen: ebd.

[36] Streim, Gregor: Einfuhrung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, S. 26.

[37] Ebd.

[38] Laqueur, Walter: Glanz und Elend der Avantgarde 1. Die neue Literatur und das Theater. In: ders.: Weimar. Die Kultur derRepublik. Frankfurt/M. - Berlin: Ullstein 1976, S. 147.

[39] Ebd.

[40] Vgl. Knobloch, Hans-Jorg: Krieg, Revolution, Inflation. Epochenschwelle zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit. In: Acta Germanica. German Studies in Africa. Jahrbuch des Germanistenverbundes im sudlichen Afrika 24 (1996), S. 198.

[41] Vgl. Becker, Sabina: Neue Sachlichkeit im Roman. In: Becker, Sabina, Christoph Weiss (Hgg.): Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 14; und Vgl. Streim, Gregor: Einfuhrung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, S.45.

[42] Streim, Gregor: Einfuhrung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, S. 45.

[43] Ebd., S. 26.

[44] Vgl. ebd., S. 45.

[45] Duden. Deutsches Universalworterbuch. Mannheim: Dudenverlag 2003, S. 1135.

[46] Ebd., S. 1340.

[47] Ebd.

[48] Becker, Sabina: Neue Sachlichkeit im Roman. In: Becker, Sabina, Christoph Weiss (Hgg.): Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 15. [das Zitat ist bei Sabina Becker eine Paraphrase anhand: Becker, Sabina: Urbanitat und Moderne. Studien zur Grofistadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900-1933. St. Ingbert 1993],

[49] Ebd., S. 10.

[50] Ebd., S. 12.

[51] Vgl. Becker, Sabina: Neue Sachlichkeit im Roman. In: Becker, Sabina, Christoph Weiss (Hgg.): Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 10-21.

[52] Becker, Sabina: Neue Sachlichkeit im Roman. In: Becker, Sabina, Christoph Weiss (Hgg.): Neue Sachlichkeit imRoman. Neue Interpretationen zumRomander Weimarer Republik. Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 20.

[53] Vgl. ebd.

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Die Frau der Weimarer Republik als Neue Frau. Literarische Frauendarstellung im Roman "Gilgi - eine von uns" von Irmgard Keun
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
81
Katalognummer
V382980
ISBN (eBook)
9783668583511
Dateigröße
947 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Neue Sachlichkeit Frauenbild Neue Frau
Arbeit zitieren
Krystyna Grat (Autor:in), 2010, Die Frau der Weimarer Republik als Neue Frau. Literarische Frauendarstellung im Roman "Gilgi - eine von uns" von Irmgard Keun, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/382980

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