Die Diplomarbeit "Lied und Motette" untersucht die Texte von Johann Sebastian Bachs Motette "Jesu, meine Freude". Bach verwendet das Lied "Jesu, meine Freude" von Johann Franck und interpoliert einzelne Verse aus dem Römerbrief (Römer 8). Interessant ist, dass Bach solche Verse auswählt, die das Thema "Christus in uns - wir in Christus" betonen. Die Motette und damit auch das rezipierte Lied erfahren dadurch eine an der "Mystik des Apostels Paulus" (A. Schweitzer) orientierte Interpretation. Der weiteren Rezeption des Liedes wird mithilfe von psychologischen Kategorien, insbesondere Fritz Riemanns "Grundformen der Angst" nachgegangen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Das Lied "Jesu, meine Freude "
1.1. Dei' Liedtext
1.1.1. Die Zeitgeschichte
1.1.2. Der Dichter (Johann Franck)
1.1.3. Literaturgeschichtliche Einordnung
1.1.4. Analyse und Interpretation des Liedtextes
1. 1.4.1. Formale Analyse
1.1.4.2. Interpretation
1.1.4.3. Zusammenfassung
1.1.5. Frömmigkeitsgeschichtliche Einordnung
1.1.6. Die Rezeptionsgeschichte
1.2. Die Melodie
1.2.1. Der Komponist (Johann Crüger)
1.2.2. Analyse und Interpretation
2. Die Motette "Jesu, meine Freude"
2.1. Der Komponist (Johann Sebastian Bach)
2.2. Die Grunddaten der Motette
2.3. Der Liedtext der Motette
2.4. Der Bibeltext der Motette: Rom 8,1.2.9-11
2.4.1. Kontext von Rom 8
2.4.2. Exegese von Rom 8,1-11
2.4.2.1. Einzelexegese
2.4.2.2. Zusammenfassung
2.4.3. Bachs Text des Römerbriefs
2.4.3.1. Vergleich von Bachs Text mit neueren
Übersetzungen
2.4.3.2. Die Versauswahl
2.4.3.3. Die Mystik des Apostels Paulus
2.5. Die Zusammenstellung von Lied und Bibeltext
2.6. Die Musik der Motette
2.7. Die Einheit der Motette in Musik und Mystik
2.7.1. Die Einheit der Motette in der Musik
2.7.2. Die Einheit der Motette in der Mystik
Anmerkungen
Anhang
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
Zum genauen Verständnis des Themas sollen zunächst die darin verwendeten Begriffe erklärt werden.
'Lied' bezeichnet ein "zum Singen bestimmter und gesungener Text"1. Die Untergattung 'Deutsches Kirchenlied’ wird wie folgt definiert: Es ist "ein deutschsprachiger geistlicher Text christlicher Prägung, gleichgültig welchen Bekenntnisses, in metrischer Form von strophischem Bau, der mit einer für den Gesang einer Gruppe geeigneten Melodie zu wiederholtem Gebrauch angeboten wird."2 Obwohl nun 'Choral' ursprünglich den gregorianischen Gesang benennt, wird hier der Begriff, wie in der älteren evangelischen Kirchengeschichte, synonym zu 'Lied' verwendet.' Hymnologie als "Lehre vom Kirchenlied“ hat "es sowohl mit seiner textlichen als auch mit seiner melodischen Gestalt zu tun" und ist damit "einerseits ein Teilgebiet der theologischen Forschung, andererseits ein Stück Musikwissenschaft."4 Die Motette ist "eine musikalische Gestaltungsweise, die durch den Text und seine Behandlung bestimmt ist"5.
In dieser Arbeit soll nun das Lied "Jesu, meine Freude" hymnologisch untersucht werden. Das Besondere daran ist, daß das Gedicht von Johann Franck mit der dazugehörigen Melodie von Johann Crüger, in der gleichnamigen Motette (BWV 227) von Johann Sebastian Bach mit Versen aus Römer 8 zusammengestellt ist. Die Gliederung ist hiermit vorgegeben: Um die Motette verstehen zu können, muß der Liedtext und die Melodie untersucht, d.h. analysiert und interpretiert werden. Einzuordnen ist das Lied dabei in seinen frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext. Um die Verbindung zu Bach herzustellen, werden Teilfragen der Rezeptionsgeschichte wichtig sein. Als zweites Element der Motette ist daraufhin Römer 8,1-11 auszulegen, um auf dieser Grundlage folgende Fragen beantworten zu können: Warum und nach welchen Kriterien wählt Bach bestimmte Verse dieses Textes aus, und welche Paulusinterpretation resultiert hieraus? Was bewirkt die Zusammenstellung der Bibelverse mit dem Lied? Am Ende stellt sich die Frage nach der Einheit der Komposition.
1, .Das-Lied ..-HJasu,. mein? Fne.uda-
1.1. Der Liedtext
1.1.1. Die Zeitgeschichte
Der Dreißigjährige Krieg (1618-48), ein Kampf um die Vormachtstellung in Europa, endete mit dem Westfälischen Frieden. Katholiken, Lutheraner und Calvinisten stehen nun offiziell und gleichberechtigt nebeneinander. Es entstehen Pietismus und Aufklärung. Mit letzterer ergreift ein neuer humanistischer Geist alle wichtigen kulturellen Gebiete, die eigentliche Neuzeit beginnt. Der Pietismus hingegen wird erst am Ende des Jahrhunderts mit Spener und Francke seine Hauptzeit haben, aber als Frömmigkeitsbewegung fängt er bereits mit Johann Arndt (1555-1621) an. Die Konkordienformel hatte 1580 die innerlutherischen
Streitigkeiten beigelegt und die "Reformation der Lehre" zu ihrem vorläufigen Abschluß gebracht. Es breitete sich eine intellektualistische Orthodoxie aus, der gegenüber viele, die von einem äußerlichen Christentum absahen \md stattdessen individuelle Glaubenserfahrung und Heiligung wollten, eine "Reformation des Lebens"6 forderten. Arndts sich an die Mystik anlehnenden Erbauungsschriften wirkten dabei bahnbrechend. In diesem Umfeld war Johann Ftanck Ratsherr in der durch Pest- und Kriegszeiten auf weniger als 3000 Seelen dezimierten, aber doch wohlhabenden, evangelisch gewordenen Weinbau- und - Tuchmacherstadt Guben (Niederlausitz).7
1.1.2. Der Dichter (Johann Fraack).
Johann Franck wurde am 1.6.1618 in Guben (Niederlausitz) geboren, wo seine Familie seit über 100 Jahren zur Patrizierschicht gehörte. Trotzdem brachen finanzielle Schwierigkeiten über die Familie herein, als sein Vater 1620 starb. Franck besuchte Schulen in Guben, Cottbus (1633), Stettin (1634) und Thorn (1636). Seine Beschäftigung mit antiker lateinischer und griechischer Literatur begann in dieser Zeit. Als Zwanzigjähriger zog er nach Königsberg, um Jura zu studieren. 1639 wurde dort Simon Dach (1605-1659) "professor poeseos"8. Außer ihm übten Martin Opitz (15971639) und August Buchner (1591-1661) größeren Einfluß auf Franck aus. 1640 verließ dieser auf Bitten seiner Mutter wieder den Ort, weil sie ihn wegen des Krieges bei sich haben wollte. Ab 1645 wohnte der Dichter dauerhaft in Guben. Hinsichtlich seines literarischen Schaffens sind die folgenden Jahre als Höhepunkt zu betrachten: die geistlichen Lieder nehmen einen größeren Raum ein. 1646 heiratete er und veröffentlichte seine erste Gedichtsammlung: Hundert in Verse gebrachte Paraphrasen des Vaterunsers. Später setzte er diese "Vater=unsers=Harffe" fort.9 1648 wurde er Bürger und Ratsherr der Stadt. Zur selben Zeit kam der erste Teil der "Poetischen Werke" heraus. Ein zweiter Teil wurde nie nachgeliefert. 1653 erschienen einige seiner Lieder in Crügers Gesangbuch. 1661 wurde Franck Bürgermeister der Stadt, 1674 veröffentlichte er einen letzten großen Gedichtband mit weltlichen und geistlichen Gedichten: sein "Geistliches [S]ion ... Wie auch sein Irdischer Helicon"10. Am 18.6.1677 verstarb Johann Franck.
1.1.3. Literaturcteschichtliche Einordnung
Sein Freund August Buchner charakterisierte einen Poeten als jemanden, der "die gemeine Art zu reden unter sich ti'it/ und alles höher/11 kühner/ verblümter und fröhlicher setzt/ daß[,] was er vorbringt[,J neu/ ungewohnt/ mit einer sonderbaren Majestät vermischt/ und mehr einem Göttlichen Ausspruch oder Orakel . . . als einer Menschen-Stimme gleich scheine."12 Die barocke Liebe zu gekünstelter, gelehrter Rede und antiker Mythologie ist wie in Buchners Beschreibung, so in Francks Gesellschaftspoesie, deutlich zu erkennen. Diese Epigramme, Widmungen, Liebes- und Hochzeitsgedichte13 lehnen sich "sprachlich und verstechnisch"'4 stark an Opitz an, der mit seinem "Buch von der Deutschen Poeterey"15 1624 den eigentlichen deutschen Literaturbarock einleitete. Ihnen ist ein Humanismus eigen, der, ebenso wie die Mystik, die Literatur dei' Renaissance zum Barock weitergebildet hat.16 Das Barockzeitalter ist also so betrachtet eine "Übergangsepoche", deren "Einheit ... in der Vielfalt der Traditionen und Tendenzen, in der Gestaltung der großen Antinomien von Diesseits und Jenseits, Lebensgier und Lebensangst, Pessimismus und Selbstbehauptung, in einem gebrochenen Lebensgefühl [liegt], das im Nebeneinander der lit[erarisehen] Konventionen ..., Stile ... und Gattungen ... seinen Ausdruck findet."1'
Die barocke Mystik kommt in Francks geistlicher Dichtung zum Tragen. Sie hat er im Blick, wenn er die Poesie "die Säugamme der Frömmigkeit ... eine Mehrerin der Fröhlichkeit, eine Verstörerin der Traurigkeit und ein Vorgeschmack der himmlischen Herrlichkeit"16 nennt. Franck wird darum oft in die Nahe von Paul Gerhard gerückt, der aber eine volkstümlichere, erzählendere Sprache in seinen Kirchenliedern gefunden hat. Francks Lieder wirken dagegen statisch, betrachtend und affektgeladen, in ihrer Andacht der Passionsmystik Johann Heermanns (1585-1647) verwandt. Dies gilt vor allem für seine Jesusminne.19 Diese "Jesuslieder" lassen sich wegen ihrer Innigkeit in diejenige literarische Epoche einordnen, die im Anschluß an Heermann, "deutscher Seelenbarock" genannt wird.21 Ihre häufige Aufnahme in die Gesangbücher beweist, daß sie den Geschmack der Zeit getroffen haben.” "Jesu, meine Freude" ist eines davon.
1.1.4. Analyse und Interpretation des Liedtextes
Buchner beschreibt, auf welcher Grundlage ein jegliches Gedicht fußt: 1. "auf der Erfindung der Sachen", 2. deren "Ordnung", 3. "der Rede" und 4. dem "Vers".23 Zu Punkt eins kann keine Auskunft mehr gegeben werden. Zweitens und Viertens soll zu einer formalen Analyse zusammengefaßt werden, um auf dieser Grundlage eine Interpretation der "Rede" zu ermöglichen. Neben Francks Geistlichen Liedern wird dabei Johann Arndts "Paradies-Gärtlein" herangezogen werden.2'
1.1.4.1. Formale Analyse
Handschriftliche Quellen sind für das Lied "Jesu, meine Freude" nicht bekannt. Der ursprüngliche Text ist in J. Crügers Praxis Pietatis Melica (PPM) von 1653 zu finden {1}. Dort steht das Lied unter der Rubrik "Vom Creutz/ und Anfechtung", unter welcher auch 1655 die zweite Veröffentlichung durch Christoph Peter'5 (1626-1669) in dessen "AndachtsZymbeln" (P) erfolgte {2}. Der Textbestand hat bei ihm einige Veränderungen erfahren, die im Zusammenhang der jeweiligen Strophe besprochen werden. Das Lied ist wahrscheinlich eine Kontrafaktur des Liebesliedes "Flora, meine Freude" von Christoph Caldenbach, abgedruckt in den Arien des H. Albert {6}Jb "Jesu, meine Freude" besteht aus sechs isometrischen,27 10zeiligen Strophen, die die Barform aufweisen {5}. Die beiden Stollen sind gleich gebaut, und ihre Schweifreime erinnern wie die Form selbst an das Volkslied. Die Reime sind rein und unrein. Das Lied hat viertaktige^ Verse29, von denen 9 trochäischJj sind, Vers 8 ist jambisch.31 Die rhythmische Sinnbetonung und metrische Gliederung einer Strophe stimmen nur größtenteils überein; z.B. in 1,8; 2,6; 3,3; 4,6; 6,6 muß ein Daktylus gelesen werden. Wie das Schema zeigt hat das Lied einen akatalektischen Vers und mehrere brachykatalektische und katalektische Verse mit unterschiedlich vielen Pausen.” Silben wurden zu Francks Zeit aber nicht nur gewogen, sondern auch gezählt. Akzentverteilung und Silbenverteilung, Reimschema und Versschluß lassen die Gliederung einer Strophe erkennen: Verse 1-3.4-6.7f.9f {5}. Am Übergang der einzelnen Abschnitte treffen je zwei Hebungen aufeinander. Obwohl der Abgesang immer aus einem Satz besteht, wird Bei Vers 7 und 8 die Schematik der Strophe durchbrochen: Beide Zeilen ergeben zwar einen siebensilbigen, viertaktigen Trochäus wie V9, aber katalektisch, sie müssen jedoch als getrennte Verse aufgefaßt werden, weil Franck alle ersten Buchstaben einer Zeile groß schreibt. Die Gleichmäßigkeit des Liedes und das Durchbrechen derselben, geben dem Lied seinen überzeitlichen Reiz.
1.1.4.2. Interpretation
"Worte" bestehen laut Opitz aus dreierlei: 1. Eleganz und Zierlichkeit, 2. Komposition und Zusammensetzung und 3. Dignität und Ansehen. Eleganz gewinnt die "Rede" durch eine deutliche Sprache, Ansehen durch Epitheta. Adjektive kommen in "Jesu, meine Freude" aber wenige vor. Der Text beschreibt mehr einen Zustand oder emotionalen Vorgang, aks in erzählender Art und Weise ein Geschehen.
An den Überschriften, die übel' die einzelnen Strophen gestellt werden können {9}, wird deutlich, daß das Lied ein Gebet ist, das zwischen der anbetenden Anrede Jesu (1,1; 2,1; 6,9f)3< (1,6) und dem Bekenntnis zu ihm (2,6; 4,9f) hin- und herschwankt. Es wird zum Zuspruch Gottes an den Menschen, denn der Dichter sagt sich selbst (4,7-10), was ihm gesagt ist (Röm 8,38f ) : Nichts kann mich scheiden von der Liebe Gottes, welche in Christus Jesus ist.
(1) Nach dieser Liebe sehnt sich der Beter von ganzem Herzen. Wie eine Braut um den abwesenden Geliebten bangt,3" ihn herbeisehnt und sucht (Cant 3,lf), verlangt er mit seiner ganzen Person (1,5.9) nah bei Jesus zu sein (28,2,1- 8)J'>. Er nennt ihn seinen "Bräutigam" (1,8)37, der kommen soll (Apk 22,20) und die Gläubigen zur Hochzeit führen (Apk 19,7f). "Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Lilien weidet" singt das Hohelied (6,3).38 Ps 23,2 klingt an: "Er weidet mich auf einer grünen Aue", der gute Hirte, der seine Schafe sicher leitet. Das Bild des Hirten und des
Bräutigams durchkreuzen sich auf der Weide, wo ein fröhliches Herz gerne sein will. Jesus selbst ist die Weide und die Zier0 des Beters, sein Ein-und-Alles (l,9f), wie es ein Kind für seine Eltern ist (56,1,1).
"Das Herz erscheint als der Ort liebender Sehnsucht"*0, in dem Jesus Wohnung nehmen kann (4,8,1-6; Eph 3,17). Franck bezeichnet ihn als seine "Freude"*1 (1,1). Von den mitschwingenden biblischen Traditionen werden diejenigen betont, die eine Verbindung hersteilen zwischen dem Weg des Menschen und der Freude. Ps 16,11; 43,3f: Gott leitet den Menschen in Wahrheit einen lebensdienlichen Weg, der zu ihm hinführt, wo Freude in Fülle ist. Franck versteht dieses Bei-Gott-Sein aber nicht nur als eine innerweltliche Innigkeit, denn eine gewisse Todessehnsucht schwingt bei ihm mit. Im Grabe würde er Ruhe finden und seine Seele würde frei von diesem Kerker des Leibes (28,5,3-8; 28,7,1). Er schickt sich drein in dieses bange "Thränenthal", weil er den "Himmelssaal" eben noch nicht "schauen" kann (II Kor 5,6f). Bis dahin will er all sein "Sinnen" bei Jesus haben (28,8,1-8; 22,3,1-4). Wichts liebers40 soll ihm werden. Er sehnt sich nach seinem Kommen. Weil aber Jesus gekommen ist (Joh 1,14.29), und als das Lamm Gottes (Ex 12,3; Lev 12,6) durch sein Blut die Sünde der Menschen reingewaschen hat (34,2,3f; Apk 7,14-17), ist er, Jesus, gerade dadurch die Voraussetzung geworden für die Hochzeit des Lammes*0 mit seinen Heiligen (Apk 19,7f) und Grund der himmlischen Freude auf Erden (Lk 2,10).
(2) Unabhängig von der Fortsetzung der Anrede Jesu aus Strophe 1 bis 2,3, stellt Franck drei Vertrauensaussagen in den Raum: 1. Bei dir bin ich frei von allen Feinden; 2. Er steht mir bei; 3. Er wil'd mich zudecken. Der Dichter hätte auch sagen können: Du befreist mich; doch formuliert er in der ersten Aussage nicht die Aktion, sondern das Ergebnis. Franck beginnt fast wie Paul Gerhardt: "Breit aus die Flügel beide,/ о Jesu meine Freude" (EG 477,8). Diese Flügel "schirmen"44 (2,1; 30,1,6) alle anstürmenden4' (2,2) Unwetter (2,7f) und Feinde (2,3) ab. Die Vorstellung einer Glucke, die ihre Flügel wie einen Schirm (Ps 17,8; 32,7; 91,lf) zur Schutzhütte (Ps 27,5) oder Höhle (14,3,lf) über den Bedrängten ausbreitet, steht im Hintergrund.4' Die Feinde (2,3) sind zum einen konkret gemeint, Blitz und Donner (2,7f; Apk 13,13) oder feindlich gesinnte Menschen (Ps 13,3; 18,4; 41,6). Zum anderen sind sie metaphorisch "zum Inbegriff alles dessen geworden, was den Menschen bedroht und anficht"4' (2,4f). Davon ist er befreit (2,3). Es hat keine Macht mehr über ihn.
Der zweite Stollen setzt dann neu ein mit der Anapher "Laß". Es wird der Welt als personifizierter Macht (3,3-8) zugerufen, sie solle ruhig "Satan"49 (Apk 12,12) als mächtigsten Gegner4' schicken. Denn durch Jesu Tod (52,4, 1-4)5 weiß sich der Beter gegenüber dem Versucher" in Gottes vergebender und bergender Kraft (Ps 37,40; 109,26). Der zweite Stollen verschränkt den ersten mit dem Abgesang. 2,5 bezieht sich zurück durch die Wiederholung "feind", der sich im Gegensatz zur Liebe (I Kor 13,5), zum Zorn reizen und aufbringen läßt", und 2,4 nimmt durch "wittern"53 den Abgesang vorweg.
Dort parallelisiert der Dichter ein Gewitter54 (2,7f) mit dem Schrecken (2,9; 29,2,5), den Sünde und Hölle auf die Menschen bringen.55 Bild- und Sachhälfte, wie es Franck versteht, werden chiastisch gestaltet. Im Bild verwendet er das Stilmittel des Hysteronproteron, d.h. er nennt das Spätere zuerst. Bei der Sachhälfte (2,9) erscheint dann die richtige Reihenfolge: die Hölle als Folge der Sünde. "Schrecken" enthält zweierlei: Das Erschrecken der Selbsterkenntnis über die Sündenverfallenheit56 und Vergänglichkeit der eigenen Existenz (29,3,5) und die Furcht vor dem Jüngsten Tag. Der Weltenrichter Christus wird kommen "wie ein Blitz und unversehens", und in seiner "Zukunft werden die Himmel zergehen mit großem Krachen“37. Franck spricht von diesem bestimmten Gewitter der Parusie, die die Sünde(n) der Menschen offenbar machen wird. Alle Stürme dieser Erde aber sind Vorzeichen des Jüngsten Tages (Apk 13,13; II Sam 22,14f; Ps 18,15). Dieser ist zu fürchten, denn der Sünde folgt die Verdammnis in die Holle (20,1+2,1- 5).Nicht so bei Jesus (Rom 8,1 ): "Auch dürft ihr nicht erschrecken/ vor eurer Sünden Schuld;/ nein, Jesus will sie decken [Ps 27,5; 91,4; Spr 10,12]/ mit seiner Lieb und Huld" (EG 11,8). "Decken" (2,10) schließt den Kreis zum Verbum "schirmen" am Anfang der Strophe.
(3) Gerade aus dieser Sicherheit des "hier" (3,5) und Jetzt, quoad sub alas Dei, braucht das Ich angesichts der Gefährlichkeit und Trostlosigkeit der Welt nicht die Flucht zu ergreifen, sondern kann ihr aufgrund von Jesu Leben, Leiden, Tod und Auferstehen trotzen. "Trotz" verknüpft also beides, Substantiv und imperativische Selbstanrede, etwa im Sinne: "Trotz ist gebracht, deshalb trotze!"
Franck greift jetzt mit den Begriffen "drachen", "todesrachen"611 und "furcht" die biblisch-apokalyptische Vorstellungswelt auf; ebenso mit "sünd und hölle" (2,9) und "erd und abgrund" (3,9); "Satan" war erwähnt. Der Dichter zieht mit Hilfe des Drachens einen großen Bogen von dem alttestamentlichen ],3F1 (Ps 74,13), das LXX (Ps 73,13) mit δράκων übersetzt, zum Drachen in der Offenbarung des Johannes. Franck faßt Apk 12-20 zusammen und benützt Elemente dieses Textes, um die menschliche Grundspannung von Gefahr und Geborgenheit, den Kampf zwischen Glaube und Unglaube darzustellen.61
In 3,1-3 setzt Franck den "drachen" parallel zum "todesrachen", dem "Höllenhaus", das seine "Fresse" zum Verschlingen aufgesperrt hat (20,2,2.4f; Jes 5,14), und zur "furcht" (20,3,1-5). Sie bezeichnen jeweils einen anderen Aspekt desselben Zusammenhangs. Die alte Schlange verführt mit List und Tücke den Menschen zur Sünde (Gen 3,lf). Die ihrerseits befördert ihn höllenwärts an ihren extremsten Ort, den Tod (Gen 3,3; Jes 5,14; Rom 6,23). Davor hat der Mensch Angst (Ps 55,5). Allen dreien aber kann der Gläubige Jesu "Trotz" (3,1-3) entgegensetzen, denn am Ende wird der Drachen durch das Kommen Christi überwunden (34,3,1-11) und im Abgrund hinter Schloß und Riegel gesetzt (Apk 20,1-3). Deshalb müssen die Sünden und Dämonen auf der Erde verstummen (Mk 1,25) und der Abgrund der Hölle kann sich nicht mehr brummend“ wie das Maul eines Bären öffnen (Spr 27,20). Er ist versiegelt (Apk 20,3).6'
Wie die Offenbarung im Bild des Drachen den doch letztlich ohnmächtigen Widersacher Gottes zeigt, so stellt Franck seinem Gott (3,7) die Welt (3,4) als Antithese''[1]gegenüber.
Die Welt tobt (3,4; 30,5,5; Ps 65,8; 77,16-20; 83,3).
Habsucht, Haß und Gewalt haben das Sagen. Und trotzdem“ steht der Beter in aller Seelenruhe“ da (3,5f). Nicht mehr die Ruhe vor dem Stunn trügt ihn,“ sondern in wirklicher Friedensruh' und wahrer Freiheit wird er unter der Obhut Gottes bewahrt (3,7f; I Petr 1,5)/' Er singt (3,5) und, wo gesungen wird, da ist Dankbarkeit (Ps 57,10), Dankbarkeit für Errettung aus Todesgefahr (Ps 21,14; 91,3; 116,3). Die Macht des Bösen ist zwar noch nicht beseitigt, aber durchbrochen.
"leiden" (4,9)‘ und menschliche "schmach", sind nicht fähig Gottes Nahesein (4,10; 29,4,1-6; Rom 8,38f) zu beeinflussen.7’ Deshalb haben sie ihre lähmende und Sinn nehmende Kraft eingebüßt (35,5,1-8).73 Ersteres nennt Franck "Elend" (Ps 35,10), "noth" (Ps 46,2), "Creutz"74 und "tod" (4,7f). Schmach weist voraus auf "spott und hohn" (6,8) und bedeutet sowohl die Handlung des Schmähens und der Verunglimpfung, die jemand durch Wort und Tat erfährt, als auch die in der betreffenden Person ausgelöste und haftende Kränkung. Strophe 4 ist also aufgebaut wie ein Artikel aus Überschrift (1.Stollen) mit folgendem Text. Alles Fremde wird weggeschickt, um die intime Nähe der Beziehung zu Jesus zu schützen. Ein anderer "Schatz" stört in dieser Privatsphäre.
(5) Strophe 5 knüpft an das “Weg" aus 4,1.4 an, indem durch viermal "Gute nacht"70 allem weltlichen "wesen" (I Kor 7,31)' eine Absage erteilt wird (57,14,1-4).7' Der Grund: "es kann die unsterbliche Seele nicht . . . gesänftiget werden, denn mit unsterblichen Dingen, nämlich in dir und mit mir"75 (II Tim 1,10). Von Gott erwartet der Beter, daß er "alle ... Welt= und Kreaturliebe die Augenlust, die Fleischeslust, das hoffärtige Leben, welches die Herzen der Menschen von [][ihm] abreißet"8 ", austilge. In 5,4 bezeichnet er das Genannte als "sünden". "Du stolz und pracht" (5,7f) bestimmt dies näher und erinnert nochmals an die Schätze aus der vorigen Strophe (4,1). 'Pracht1 steht in Beziehung zu purpurnen Gewändern (9,l,5f) und meint den Pomp und Glitzer fürstlicher Erscheinung. 'Stolz' (Ps 31,19; Spr 18,23) ist nicht Synonym, sondern meint die Gefühlsregung dessen, der diesen Glanz besitzt in der Annahme, er habe es so verdient, sich selbst erarbeitet und könne ihn darum für sich behalten. Als "Lasterleben" faßt Franck am Ende der Strophe das weltliche Wesen zusammen (5,9; 10,1,5). Implizit kommt dabei die Bewertung dieser von den Menschen erlesenen (5,2) Güter zu ihrem Abschluß und Höhepunkt. Dem Dichter gefallen sie nicht (5,3), sie sollen in der Ferne bleiben und nicht näher kommen (5,5) - im Gegensatz zu Jesus (4,10). Sie sollen nicht ins Blickfeld (5,6) seines Bewußtseins (4,6) geraten.
(6) Zum dritten Mal beginnt Franck mit einer Form, die Anwesendes entfernen soll: "Weicht" (6,1). Das Unreine soll ausziehen,8' weil das, was der Beter so "lange" (1,4) ersehnt und erfleht hat, passiert: Jesus kommt und tritt zur Tür herein (6,3; Ps 24,7; Jes 40,1-11; Mk 11,1-10; Apk 3,20). Der Höhepunkt des Liedes ist mit dem kommen des Geliebten erreicht. Er bringt Rettung und darum Freude0' (6,2), die alle Traurigkeit83 und Gewissensnot angesichts der eigenen Sünde weichen läßt (6,1; 10,l,lf; 20,l,lf).84 Franck geht aber über dies hinaus und stellt fest, daß "Denen/ die Gott lieben" (Röm 8,28) sogar das "betrüben" selbst süß wie "Lauter85 zucker"86 sei (6,4-6) . Dieses Bild der fruitio Dei verbindet das Leiden Christi, Leib und Blut, und die Süße von Wein und Brot.87 Man darf dabei nicht von der heutigen Übersättigung an süßen Lebensmitteln ausgehen, Zucker war früher eine Besonderheit. Der Jammer eines "betrübten Sünders" erfährt Gottes "tröstliches Echo"88 in Jesus Christus, welches ihn die einzigartige Gottesgabe von neuem genießen lehrt.
Noch ein letztes Mal nimmt der Dichter die Schreckgestalt dieser Welt ins Visier: Spott und Hohn (Ps 22,7; 44,14) sind ein Hendiadyoin, das den Schimpf der Leute, das höhnische Gelächter, wenn man in den Schmutz gezogen und verachtet wird, benennt.88 So hat es Christus erfahren (9,5,2f). Sowohl dieser Schmach, als auch den körperlichen Leiden, welche man auf Erden erdulden muß (6,7), setzt Franck sein trotziges, aus Ps 73 entlehntes "Dennoch" entgegen (6,9). Mit dem Rahmenkehrreim "Jesu, meine Freude" (6,10; 1,1; Phil 4,4f; Röm 14,17) kehrt er wieder zum Anfang zurück und bündelt damit schließlich das Lied, indem er sagt: Gerade angesichts von "Creutz/ und Anfechtung." wird die "Geborgen [heit ] in Gottes Liebe"90 zur Freude (52,6,3f; 34,3+4,lf; Joh 16,20).91
1,1.4,3, Züsainnieiifassung ;
Das Lied läßt sich zusammenfassen mit einem Zitat J. Arndts: "Wenn der Bräutigam kommt, so freuet sich die heilige Seele ... Denn durch seine fröhliche, herzerquickende und heilige Ankunft vertreibet er die Finsternis und die Nacht".9* Das stellt Strophe 6 dar und bildet darin den Höhepunkt des Liedes. Sie wird durch den Rahmenkehrvers an (1) gebunden, bezieht sich aber durch ihre Stichworte "freude", "lieben", "betrüben", "leide" auch auf die anderen Strophen zurück9 und schafft so eine fünffache Inclusio. Die Strophen 2f und 4f sind zunächst im Nacheinander verknüpft: Die jeweils erste Strophe bindet den sündigen Beter an Jesus, und die zweite gibt den Ort des Geschehens an: in der Welt. Strophe 3 sagt zusätzlich: vor Gott. Außerdem ist eine Verschränkung über Kreuz sichtbar. In (2) und (4) ist in Entsprechung zu (1) und (6) Jesus je zweimal erwähnt. Seine Nähe (2,1.6.10; 4,3.10) wird der Bedrohung durch die Sünde (2,4.9; 4,1.4) entgegengestellt. (3) und (5) stellen die "Welt" (5,2; 3,4) in Abschiedsstimmung (5,1.4.7.10) und im Gegenüber zu Gott (3,7f) dar, dessen Macht, welche sich gerade in der Ohnmacht des Todes Jesu zeigt, die Welt überwindet. Beide genannten Ordnungsprinzipien wird später Bach in seiner Motette verwenden {8+14}. Die Betrachtung der Verse 8 der einzelnen Strophen {7} ergibt, daß A: (1,8; 6,8) eine Klammer um B:
(1,8; 3,8; 5,8) und C: (2,8; 4,8; 6,8) bildet. Angesichts von Ungewitter, Leiden und menschlicher Schmach (C) ist es der Bräutigam Jesus, der mich vor mir und meinem Stolz (B) dadurch bewahrt, daß er für mich und mit mir Kreuz, Spott und Tod auf sich genommen hat (A) . So macht es der formale Aufbau augenfällig: Das Kreuz Christi ist die Freude des
Gläubigen. Die Sehnsucht aus der Welt wird zum Bekenntnis in der Welt: "In dir ist Freude in allem Leide" (EG 398,1).
1.1.5. frömmicikeitsgeschichtliche Einordnung
Literaturwissenschaft und Frömmigkeitsgeschichte haben denselben Gegenstand und dasselbe Ziel, aber eine andere Fragestellung. Beide untersuchen z.B. Liedtexte, um sie zeitlich einordnen zu können. Die Theologie fragt nach der sich geschichtlich fortentwickelnden Frömmigkeit'’ und die Literaturwissenschaft nach den zur selben Zeit vorherrschenden Charakteristika der Literatur. In einer Zeit,’5 in der Geistliches und Weltliches so nahe beieinander sind wie im Hochbarock ( 1640-1660),ib muß es bei diesen Betrachtungsweisen zu Überschneidungen konunen.
Dem Weltgefühl der Nichtigkeit allen Seins entsprechend, schwankt das Ich zwischen Selbsterniedrigung und Selbstbewahrung. Es weiß sich von einem Extrem ins andere geworfen und hat keinen Halt, außer in sich. Der Mensch rückt in den Mittelpunkt. Der Krieg, der im 17. Jahrhundert fast der Normalzustand war,9 trug seinen Teil zu diesem Empfinden bei. Die Angst vor dem Tod (memento mori) trieb die einen dazu, sie durch den "Taumel der Lebensfreude (carpe diem)" zu ersticken. Den anderen war eine "melancholische Weltfrömmigkeit" eigen, die ihren Ausdruck hauptsächlich in der Liebesdichtung fand.98 Bei "Jesu, meine Freude" ist es "die liebliche Sprache der Jesusminne", die die "Lautmalerei des Schreckens" verscheucht.” Dieses mystische Sein bei Jesus hat seine Quellen im Psalter, dem Hohenlied und der mittelalterlichen Mystik v.a. des Bernhard von Clairvaux (1090-1153) und Johannes Tauler (1300-1366). Johann Arndt war, wie die Liedinterpretation zeigte, wohl der Theologe, der Johann Franck die wesentlichen Elemente dieses Denkens übermittelte.
Als Mystik werden Äußerungen über einen Vorgang bezeichnet, dei' sich jedem begrifflichen Erkennen entzieht (μυστήριον), und sich als innere Schau Gottes (μύειν) oder Erfahrung des Einswerdens mit ihm begreift (unio mystica).100 Im christlichen Bereich wird dies als Kommen Gottes zum Menschen und/oder als Entrückung des Ich zu Gott verstanden.
Mehrere Charakteristika barocker Mystik sollen im folgenden die Einordnung von "Jesu, meine Freude" in eine barocke Jesusmystik erhärten.
Zur unio mystica: Gemeint ist die Einwohnung Jesu im Personkern des Menschen, der Seele. Franck nennt sie "hertz", und zeigt damit an, daß es ihm um Herzensfrömmigkeit101 und nicht um vernünftiges Denken geht (17,4,3). Inhabitatio ist nicht ontisch, sondern als relationale Vereinigung, als Sinnes- oder Willenseinheit zu verstehen. Das kommt zum Vorschein, weil der Dichter von Jesus als der "weyde", "zier" und "lust" (l,2f; 4,3) spricht. Er befindet sich an der Seite Jesu.
Die Braut-Bräutigam-Mystik stiftet mit ihrer erotischen Sprache hierfür die passenden Bilder.102 Franck verknüpft durch die Verwendung des Titels "Gottes Lamm“ diese "Liebesgeschichte Gottes mit dem Menschen" mit Jesu Passion, und trifft damit genau ihren Kern.'
Ein anderes, implizit erscheinendes Motiv ist das der Himmelsleiter. Sie ist Metapher des mystischen Aufstiegs der Seele in Gottes Herz. Seine Gütigkeit, Schönheit und Weisheit kann der Mensch in Christus schauen,104 weil Christus selbst das Herz Gottes, sein Personkern ist. Die Voraussetzung dieser Gottesschau ist eine leere Seele des Menschen. Die Entsagung, die allen weltlichen Dingen, Gedanken und Gefühlen gilt, die Befreiung von allem Irdischen, dient der Bereitung des Herzens für seine Ankunft.‘οε Franck spricht dies an durch "ruh" (3,6), "Weg" (4,1.4) und "Gute nacht" (5,1.4.7.10). Wenn das Herz bei Gott zur Ruhe kommt,1U" füllt er es mit seiner Liebe, mit sich selbst.10
Deutlich wird, daß es in Francks Barock nicht um die Gestaltung antithetischen Lebensgefühls geht, sondern gerade um die Überwindung desselben:109 Umgeben von Welt und Gott, will der Beter mit Christus als der Macht Gottes in Gemeinschaft stehen, denn in der Person Jesu Christi ist der Dualismus von Gott und Welt überwunden.
Die Sinnlichkeit und Affekthaftigkeit der barocken Mystik ist nun in Strophe 2 sichtbar, in der der Weltbegriff mit Naturphänomenen ausgestaltet wird.10' Francks Verwendung der Drachengeschichte aus Apk 12-20 offenbart, wie er in seinen geistlichen Liedern auf die jüdisch-urchristliche Apokalyptik zurückgreift, so wie in seiner weltlichen Dichtung auf die antike Mythologie.
Dabei verläßt Franck nicht den Rahmen der altprotestantischen Orthodoxie. Die Heilsaneignung wird nicht durch einen "poetischen Vergottungsprozeß"110 ästhetisiert, und damit entkirchlicht, sondern bleibt reformatorisch bestimmt. Als Bürgermeister einer evangelischen Stadt hätte er sich damit auch ziemlich schwer getan.
Die Einordnung in den frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext erfolgt bei einem Lied nicht zuletzt durch seine Stellung im Gesangbuch. Die PPM vereint die reformatorischen De tempore- Lieder mit neuen Geist- und Trostliedern.11_ Dazu wird die neue Rubrik "Vom Creutz/ und Anfechtung." eingefügt.111 Im EKG (Nr. 293) ist "Jesu, meine Freude" in die Rubrik "Gottvertrauen/ Kreuz und Trost" und im EG (Nr. 396) als Leitlied unter "Geborgen in Gottes Liebe" eingeordnet. Bei diesem Durchgang zeigt sich eine Akzentverschiebung im Verständnis des Liedes. Zur Zeit Crügers wurde als Rubrik der äußere Anlaß des Liedes angegeben, sozusagen der "Sitz im Leben": in Leiden und Anfechtung soll man dieses Lied singen. Heute hingegen wird der Zustand genannt, in dem der Gläubige sich befindet oder nach dem er sich sehnt. Das Kreuz ist dabei der vermittelnde Begriff, wie es im EKG deutlich wird, der vom Leiden hinüberführt zum Trost in der Geborgenheit bei Gott.
1.1.6. Rezeptionsgeschichte
"Jesu, meine Freude" wurde in viele Gesangbücher auf genommen,113 Übersetzungen wurden angefertigt,11' ebenso Nachdichtungen {10}; die Melodie wurde für andere Choräle verwendet1' oder zusammen mit der Übersetzung verändert,3“ Kompositionen wurden geschrieben, Menschen liebten und lieben es.118 Aber warum wurde es rezipiert? Warum empfand es jemand als überlieferungswürdig? Warum überdauerte ein so in seiner Zeit verwurzeltes Lied die Geschichte? Die Kriterien der "sprachlichen, theologischen und musikalischen Qualität", die an Lieder angelegt werden, reichen oft nicht aus, die "Beliebtheit" eines Liedes zu erklären.1' Darum soll mit Hilfe von Fritz Riemanns Buch "Grundformen der Angst"12 die Lebensbewegung, die "Jesu, meine Freude" einschlägt, untersucht werden.
Riemann {12} stellt zwei "Antinomien des Lebens" dar, die sich in vier "Strebungen" äußern: Selbstwerdung (1.1.) und Selbsthingabe (1.2.), Dauer (2.1.) und Wandlung (2.2.). Weil je das eine "Streben" Angst vor dem entgegengesetzten hat, entdeckt Riemann vier "Grundängste". Jeder Mensch muß mit diesen Antinomien umgehen und wird Akzentuierungen setzen. Wo aber diese Strukturen nicht in einem gewissen Rahmen und Gleichgewicht bleiben, entstehen vier neurotische Strukturtypen: Schizoidie, Depression, Zwangsneurose und Hysterie.121
Das Lied "Jesu, meine Freude" ist zunächst von Selbsthingabe (1.2.) und Dauer (2.1.) geprägt. Der Beter fühlt sich zugehörig zu Jesus und will sich ihm hingeben (1,1—3.9f) . Das soll auf Dauer geschehen (4,7-10) und mit Sicherheit so bleiben (2,1.6.10; 6,9f). Umgekehrt bedeutet dies, daß eine gläubige Existenz spricht, die die Ängste vor Selbsthingabe (l.l.A) und Notwendigkeit (2.2.A) schon überwunden hat.
. Jemand der aber besonders nach Selbsthingabe und
Zugehörigkeit (1.2.), sowie nach Dauer und Sicherheit (2.1.) strebt, hat mehr Angst vor Selbstwerdung, die als
Ungeborgenheit und Isolierung (1.2.А.), und Angst vor
Wandlung, die als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt wird (2.1.А.). Diese Ängste werden in den Strophen 2, 3 und 6 angesprochen. Der Beter tritt ihnen aus der Geborgenheit bei Gott (2,1) entgegen, und versucht sie so im Laufe des
Liedes ansatzweise zu überwinden. Das hat ein bewußtes Sich- Entscheiden für eine Wandlung des Lebensstils mit all seinem Risiko (2.2.) zur Folge, der in (4) und (5) zum Ausdruck kommt. Ein neues Verhältnis zu Elend, Not und Tod (6,4-6) gehört dazu. Der Mensch hat die Möglichkeit dann Selbst zu werden, wenn er sich an einem Ort zuhause und getragen weiß, und die Isolierung und Ungeborgenheit (1.2.А.), die sonst herrscht, nicht mehr als solche erfährt. Es ist nun gerade das Charkteristikum einer christlichen Existenz, daß sie nicht zu einer Emanzipation und Absonderung von Gott gelangen will, sondern eben unter Einbeziehung dieses ureigenen Ursprungs jedes Menschen, Selbst zu werden. Denn Selbstwerdung vollzieht sich immer und nur in Relation zu etwas, aber nicht gleichgültig zu was. Lebensdienlich ist es, wenn das Verhältnis zum tragenden Lebensgrund nicht verlassen wird. Der wird hier benannt: Jesus Christus, bzw. Gott (1,1.3.7; 3,7f; 4,2f).
Interessant ist nun, daß der Weg, der im Lied beschritten wird, der Entwicklung jedes Menschen entspricht. Das geben die Pfeile im Schaubild an {12}. Idealerweise beginnen wir zu leben in einer von Zughörigkeit und Sicherheit (1.2.; 2.1.) geprägten und darum vertrauenswürdigen Atmosphäre. Ihr Fehlen wirkt hemmend und störend. Die Strebungen nach Selbstvierdung (1.1.) und Veränderung (2.2.) sind nachgeordnet und betreffen vermehrt das Erwachsenwerden, das eher mit bewußtem Denken und Entscheiden korreliert. Das ist dennoch nicht weniger wichtig: Um als Erwachsener Geborgenheit und Wärme geben zu können, muß jemand eine eigenständige Persönlichkeit geworden sein. Bis ins Alter wird jeder Mensch zu lernen haben, mit allen vier Strebungen und Ängsten emotional und rational gleichgewichtig umzugehen.
"Jesu, meine Freude" spricht durch diese Bewegung und die Verstärkung angenehmer Emotionen {11} Grundbedürfnisse des Menschen an. Weil diese durch die Geschichte hindurch weniger Wandlung erfahren als Kognitionen, kann sich ein Beter jederzeit in dem Lied wiederfinden und seinerseits den vorgezeichneten und heilsamen Weg nachvollziehen. Vielleicht ist das ein Grund für die große Verbreitung und Beliebtheit des Liedes.
1.2. Die MelQdie
1.2.1. .Per-.KoaipQaist..(Johann Crugeri"
Johann Crüger (1598-1662) wurde in Groß Breesen bei Guben geboren. Daher ist seine Beziehung zu Franck erklärbar. Nach dem Theologiestudium in Wittenberg (1620-22) war er bis zu seinem Tod Kantor an der Berliner Nicolaikirche. Abgesehen von seinem pädagogischen, kompositorischen, editorischen und musiktheoretischen Schaffen, gilt Crüger als einer der bedeutendsten Melodienschöpfer. Bis 1655 war er der einzige Vertoner von Francks Gedichten. Bekannt sind von ihm vor allem seine Melodien zu Texten von Paul Gerhardt. Einflußreich wurde Crüger durch die PPM, die nach 1647 in 44 Auflagen1' unter diesem Titel erschien. "4
1.2.2. Analyse und Interpretation
Von der Melodieanalyse können nur die wichtigsten Ergebnisse mitgeteilt werden. Ich gehe davon aus, daß Crüger die Melodie mit beziffertem Baß"25 anhand der ersten Liedstrophe entwickelt hat. Er füllt die Pausen im Taktschema des Gedichtes konsequent auf, indem er den letzten Takt verdoppelt {5}. Vers 7 und 8 zieht Crüger zusammen. Es gibt darum nur 9 Choralzeilen. Zeile 8 wird zur Ausdeutung des "Ausser dir" um einen Schlag erweitert. Das Allemandemodell, das m.E. der Melodie zugrunde liegt, gibt der Melodie ihren tänzerischen, freudigen Chrakter. Die 4/4-Notierung bei Bach wirkt ruhiger." Die Melodie hat dorische Eigenschaften und fällt in Crügers Kategorie "molliore". Sie besteht nur aus einem Motiv, das ständig abgewandelt wird, dem Quintdurchgang der ersten Choralzeile. Mit dieser Katabasis und der folgenden Anabasis1"’ verdeutlicht Crüger den Grund der Freude: Christi Tod und Auferstehung. Durch den mit "Jesu" textierten Hochton des Liedes wird dies unterstützt. Der letzte Quintdurchgang, der bei Crüger noch mit der DurTerz beginnt, schließt den Kreis zum Anfang, gleich wie im Gedicht, das Jesus die Freude des Betenden nennt. Die Melodie Ch. Peters1' ähnelt der Heinrich Alberts zur weltlichen Vorlage "Flora, meine Freude" {6}. Ein Vergleich der Melodie bei Crüger und Bach findet sich im Apparat zur Melodie {1}. Die wichtigsten Veränderungen gehen, wie NBA1 1 zeigt, nicht auf Bach selbst zurück.
2. Die Motette "Jesu, meine Freude"
2.1. Der Komponist (Johann Sebastian Bach)
Bach wurde 1685 in Eisenach geboren. Er wirkte als Organist in Arnstadt, Mühlhausen und Weimar; dort ab 1714 als Konzertmeister, und nach 1717 als Hofkapellmeister in Köthen. Von 1723 bis zu seinem Tod 1750 war er Thomaskantor in Leipzig. In dieser noch von der Orthodoxie geprägten Universitäts- und Handelsstadt entstand ein Großteil seiner Instrumental- und Vokalwerke, die ihn zum bedeutendsten Komponisten evangelischer Kirchenmusik machten.132"
2.2.Die Grunddatan dar Molette
Die seit Richter vorherrschende Annahme, die Motette BWV 227 sei zum Gedächtnisgottesdienst von Johanna Maria Keese, geb. Rappolt, am 18.7.1723 geschrieben worden, läßt sich nach dem Auffinden der Gottesdienstordnung und den beiden sie auswertenden Artikeln M. Petzoldts nicht mehr halten.134 Dennoch spricht viel Material - z.B. die Predigt oder die Epicedien - dafür, daß im Umfeld ihres Todes die Verbindung von dem Lied "Jesu, meine Freude" und dem Römerbrieftext zustande kam. Als möglicher Aufführungsort der Motette bleibt allein das Trauerhaus übrig. Weil diesbezüglich keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen, müssen entsprechende Rückschlüsse aus einer grundlegenden Analyse der Motette gezogen werden.135
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- Quote paper
- Marc Neufeld (Author), 1997, Lied und Motette. Eine hymnologische Studie anhand des Chorals "Jesu, meine Freude" (Lied: J. Franck; Motette J. S. Bach), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/383211
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