Unter Leitmotiven versteht man in der Literatur sinnstiftende Verzahnungen, die auf metaphorischer Ebene das Leserverständnis intensivieren. Auch Harry Mulisch verwendet in „Das Attentat“ (1982) Leitmotive, um die Auseinandersetzung des Protagonisten Anton mit seiner Vergangenheit darzustellen. Anton verliert durch ein Attentat der deutschen Besatzer Eltern und Haus. Mithilfe des Zahnmotivs etabliert Mulisch Antons Verdrängung der Erinnerungsschmerzen und veranschaulicht anhand des Vulkanmotivs seine sukzessive Verarbeitung.
Ziel dieser Hausarbeit ist daher anhand exemplarischer Analysen aufzuzeigen, wie Mulisch das Leserverständnis des Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess durch Leitmotive intensiviert.
Inhaltsverzeichnis:
Reflective Statement zu Harry Mullischs ‚Das Attentat’ (1982)
Wie veranschaulichen das Vulkan- und Zahnmotiv aus Harry Mulischs ‚ Das Attentat ’ (1982) den Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess des Protagonisten Anton?
Quellenverzeichnis
Reflective Statement zu Harry Mulischs ‚ Das Attentat’ (1982)
How was your understanding of cultural and contextual considerations of the work developed through the interactive oral?
In dem IO haben wir uns mit der niederländischen Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg, sowie Mulischs persönlichen Erfahrungen aus dieser Zeit, und deren Einfluss auf den Roman auseinandergesetzt. Durch dieses Hintergrundwissen haben sich neue Lesweisen eröffnet, welche verdeutlichen, dass Antons kein Einzelschicksal ist, sondern sowohl in gesellschaftlicher Dimension auf die gesamte niederländische Bevölkerung übertragen werden kann, sowie in einer psychoanalytischen Lesweise Mulischs eigene Verarbeitung seines Schicksals darstellt. Ohne dieses Wissen gehen diese zwei Ebenen für den deutschen Leser verloren.
Die Nebenfiguren Cor und Truus habe ich zuerst nur als Attentäter gesehen, jedoch verstehe ich jetzt, dass die Handlung des Romans auf den Taten der beiden bekanntesten niederländischen Widerstandskämpfer, Hannie Schaft und Jan de Bonekamp, basiert. Somit ist es niederländischen Lesern trotz einigen Verfremdungen möglich, in den Figuren Cor und Truus sofort Jan und Hannie zu erkennen. So assoziiert den niederländische Leser Truus „ dichtes, gewelltes, schulterlanges Haar“[1] sofort mit Hannie Schaft. Doch auch die Handlung selbst ist sehr von der Realität geprägt, da Mulisch ein zentrales Attentat kreiert, welches eine Symbiose aller Anschläge, die Jan und Hannie zu Lebzeiten ausgeführt haben, ist.
Durch die Realitätsnähe wird der Roman authentischer und es tut sich eine neue, gesellschaftliche Lesweise auf, in der Antons Ich-Werdung die Verarbeitung des gesamten, niederländischen Volkes widerspiegelt. Zwischen diesen beiden Ebenen sind viele Parallelen vorhanden, da sich die Niederländer genau wie Anton die ersten Jahre nach dem Krieg nicht mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt haben, sondern erst später sukzessiv verarbeitet haben.
Darüber hinaus hat sich durch den biografischen Hintergrund Mulischs auch eine psychoanalytische Lesweise eröffnet. Essentiell zum Verständnis dieser Ebene ist Mulischs Aussage „ Ich bin der Zweite Weltkrieg“[2], die sein Gefangensein zwischen 2 Polen, was sich auf die kontrastive Figurenkonstellation in seinem Roman ausgewirkt hat, widerspiegelt. So verkörpern die beiden Charaktere Fake und Anton die innere Zerrissenheit Mulischs. Soll er die Vaterliebe zulassen oder soll er ihn verabscheuen, da er für den Tod vieler Juden verantwortlich war? Insofern kann die Frage Antons: „warum kannst du deinen Vater nicht lieben, ohne die Sache zu rechtfertigen?“[3] auch als persönliche Auseinandersetzung Mulischs mit seinem eigenen Dilemma gesehen werden.
Somit wird deutlich, dass das Verständnis des Romans von dem Vorwissen der Leser, sowie der Lesweise abhängt. Während sich diese für ein Niederländischer Leser sofort erschließt, bleibt sie für einen deutschen Leser verschlossen. Anhand des IOs hat sich meine Rezeption des Romans verändert, da ich diesen nun auch auf der gesellschaftlichen und psychoanalytischen Ebene verstehe.
Wie veranschaulichen das Vulkan- und Zahnmotiv aus Harry Mulischs ‚ Das Attentat ’ (1982) den Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess des Protagonisten Anton?
Unter Leitmotiven versteht man in der Literatur sinnstiftende Verzahnungen, die auf metaphorischer Ebene das Leserverständnis intensivieren. Auch Harry Mulisch verwendet in „Das Attentat“ (1982) Leitmotive, um die Auseinandersetzung des Protagonisten Anton mit seiner Vergangenheit darzustellen. Anton verliert durch ein Attentat der deutschen Besatzer Eltern und Haus. Mithilfe des Zahnmotivs etabliert Mulisch Antons Verdrängung der Erinnerungsschmerzen und veranschaulicht anhand des Vulkanmotivs seine sukzessive Verarbeitung.
Ziel dieser Hausarbeit ist daher anhand exemplarischer Analysen aufzuzeigen, wie Mulisch das Leserverständnis des Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess durch Leitmotive intensiviert.
Bereits in der Exposition etabliert Mulisch das Zahn- und Vulkanmotiv, um Antons Trauma und Verdrängung darzustellen.
Den Verlusts seiner Familie im Attentat von 1945 konfiguriert Mulisch im zahnmotivischen Bedeutungshorizont als Ursprung Antons Traumas. Dies untermalt er im Sinne des Vulkanmotivs, indem er die Hausexplosion als Vulkanausbruch umschreibt: „ Das Haus brannte von innen und von außen“[4], „donnernde Feuergarben“[5] und „ Lichtblitze“[6] schießen aus dem Haus. Dies symbolisiert Antons verwüstete emotionale Landschaft. Erkennbar ist dies auch im Plinius-Zitat „Überall war heller Tag, nur hier war Nacht, nein, mehr als Nacht“ [7], welches einen Vesuvausbruch beschreibt. Dort versinnbildlicht die „ Nacht “[8] lichtmetaphorisch Antons psychische Schmerzen.
Unmittelbar vor dem Attentat antizipiert Mulisch mithilfe des Zahnmotivs Antons späteren Umgang mit dem Trauma. Seine Mutter hat „ein Loch im Zahn“[9], lässt sich jedoch nicht behandeln, sondern hat „eine Gewürznelke hineingesteckt“[10]. Dies deutet zahnmotivisch Antons Umgang mit dem Trauma an, da er seelischen Schmerzen betäubt und verdrängt, anstatt sich offen mit diesen auseinanderzusetzen.
Mulisch leitet die zweite Episode mit den Worten „ Der Rest ist Nachspiel. Die Aschewolke aus dem Vulkan steigt in die Stratosphäre, kreist um die Erde und regnet noch Jahre später auf alle Kontinente nieder “[11] ein und thematisiert somit erneut Antons Verdrängung des Traumas. Durch die raummetaphorische Entfernung der „Aschewolke“[12], in der „Stratosphäre“[13] veranschaulicht er, dass Anton das Trauma verdrängt. Die „ Aschewolke“[14] „ kreist“[15] jedoch um ihn, was zeigt, dass ihn das Attentat immer wieder einholen wird. Erst wenn alle Aschepartikel durch Auseinandersetzungen mit seiner Vergangenheit „ nieder [geregnet]“[16] sind hat Anton sein Schicksal verarbeitet.
Mulisch etabliert also bereits in der Exposition den Bedeutungshorizont der Leitmotive als Interpretationshilfen für den Leser.
Im weiteren Romanverlauf verdeutlicht Mulisch mittels Leitmotivvariationen, dass Anton das Trauma nicht verarbeitet, sondern verdrängt. Hierbei fungieren die Begegnungen mit Nebenfiguren vulkanmotivisch als Aschepartikel, die seine sukzessive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aufzeigen. Sie resultieren zahnmotivisch in seelischem Erinnerungsschmerz. Je nachdem wie Anton mit dem Schmerz umgeht, wird der Grad der Verarbeitung deutlich.
Dies erkennt man beispielsweise elf Jahre später (1956) als Anton ins Theater geht, und dort vulkanmotivisch mit dem ersten Aschepartikel konfrontiert wird. Die Figurenkonstellation auf der Bühne erinnert Anton unterbewusst an den letzten Eindruck, den er von seinen Eltern hat[17]. Ein Mann sitzt „ mit gebeugtem Haupt an einem Tisch“[18] und seine Frau ruft „auf einer Terrasse jemandem etwas [zu]"[19]. Daraufhin überkommt ihn „ ein so heftiges und unerklärliches Ekelgefühl“[20], dass er sofort „ auf die Straße“[21] muss. Dieser Schmerz veranschaulicht dem Leser, dass das Trauma Anton immer dann einholt, wenn er an das Attentat erinnert wird. Jedoch setzt er sich nicht mit der Ursache des Ekelgefühls auseinander, sondern vermeidet ein erneutes Auftreten indem er „nicht mehr“[22] ins Theater geht. Somit wird deutlich, dass Anton schmerzende Erinnerungen verdrängt, anstatt nach aktiver Auseinandersetzung mit der Vergangenheit glückliche Ich-Werdung zu erlangen.
Auch die Begegnung mit der Nebenfigur Fake Ploeg[23] auf einer Demonstration veranschaulicht leitmotivisch Antons weiteren Umgang mit dem Trauma.
Anhand der kontrastiven Figurenkonstellation[24] erkennt der Leser Antons Verdrängung. Im Gegensatz zu Fake, der „ in einer Werkstatt“[25] arbeitet und somit metaphorisch seine Vergangenheit repariert, studiert Anton Anästhesie. Dies ist besonders interessant, da Mulisch dem Leser erneut zahnmotivisch Antons Verdrängung verdeutlicht. Er hat sich die Betäubung von Schmerzen zum Beruf gemacht. Ebenso wie seine Patienten ist auch er „unfähig, seine Schmerzen zu äußern“[26].
[...]
[1] Mulisch, Harry (1982), „Das Attentat“. Auflage 16. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, S.144
[2]: Feuerbacher, Melanie & Ernst, Roland (2002): „Ich bin der Zweite Weltkrieg“. Der Tagesspiegel. (Online im Internet) URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/ich-bin-der-zweite-weltkrieg/362000.html [Stand: 02.12.2014]
[3] Mulisch, Harry (1982), „Das Attentat“. Auflage 16. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, S.97
[4] Mulisch, Harry (1982), „Das Attentat“. Auflage 16. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, S.33
[5] Ebd. S.33
[6] Ebd. S.33
[7] Ebd. S.4
[8] Ebd. S.4
[9] Ebd. S.16
[10] Ebd. S.16
[11] Ebd. S.61
[12] Ebd. S.61
[13] Ebd. S.61
[14] Ebd. S.61
[15] Ebd. S.61
[16] Ebd. S.61
[17] Während des Attentats saß sein Vater am Tisch „als betete er“ (Ebd. S. 27) und seine Mutter stand „auf der Schwelle der Haustür und rief Peter“ (ebd. S.22)
[18] Ebd. S.85
[19] Ebd. S.85
[20] Ebd. S.85
[21] Ebd. S.85
[22] Ebd. S.85
[23] Fake Ploeg ist der Sohn des Polizeioberinspektors in Haarlem, der in der Nacht des Attentats vor dem Haus von Antons Familie von Cor Takes und Truus Coster umgebracht wird.
[24] Es gibt zahlreiche kontrastive Elemente, die aufgrund der Ausrichtung der Arbeit nicht alle aufgegriffen werden können. Exemplarisch sei hier jedoch auf die Politik verwiesen. Während sich Fake aktiv politisch engagiert und an Demonstrationen teilnimmt, um sich mit der Vergangenheit auseinander zusetzten, interessiert sich Anton nicht für Politik und meidet Veranstaltungen wie diese (vgl. Mulisch, Harry (1982), „Das Attentat“. Auflage 16. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. S.89-90). Diese Passivität veranschaulicht dem Leser, dass Verdrängung und Ignoranz Antons Leben prägen.
[25] Ebd. S.92
[26] Ebd. S.86
- Quote paper
- Ellen Saleck (Author), 2015, Das Vulkan- und Zahnmotiv aus Harry Mulischs "Das Attentat". Wie werden Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess des Protagonisten Anton dadurch veranschaulicht?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/383583
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