Motiv und Intention von Drachenkämpfen in der mittelhochdeutschen Literatur

Ein Vergleich der Drachenkampfsymbolik in den Werken Wirnts von Grafenberg ("Wigalois") und Gottfrieds von Strassburg ("Tristan")


Bachelorarbeit, 2012

47 Seiten, Note: 2,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Mythos Drache: Herkunft und Bedeutung des Fabelwesens

3. Wirnt von Grafenberg: „Wigalois“
3.1 Aussendung des auserwählten Kämpfers in das teuflische Korntin
3.2 Der Drache Pfetan, des „tievels bot“
3.3 Die Ohnmacht des christlichen Streiters

4. Gottfried von Strassburg: „Tristan“
4.1 Die intrigante Brautwerbungsfahrt
4.2 Der Drache, des „tiuveles kint“
4.3 Die Ohnmacht des listigen Helden

5. Vergleich der Symbolik beider Drachenkämpfe

6. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Literatur des Mittelalters bietet ein faszinierendes Panoptikum an fabulösen, monströsen und dämonischen Wesen. Besonders der Drache ist in diesem Zusammenhang ein beliebtes literarisches Motiv, um einem Ritter die Möglichkeit zu bieten, seine heldenhafte Tapferkeit unter Beweis zu stellen und durch die Drachentötung seinen Anspruch auf königliche Macht und Herrschaft zu legitimieren. Überhöht wird dieses Motiv, indem der Drache als Inkarnation des Teufels stilisiert wird und all seine dämonischen Kräfte dazu nutzt, dem gottestreuen Helden zu schaden.

Im Rahmen dieser Bachelorarbeit werden zwei Beispiele dieser Omnipräsenz des Drachen untersucht, zum einen der „Tristan“ Gottfrieds von Strassburg, zum anderen der „Wigalois“ Wirnts von Grafenberg. Nach einer ausführlichen Be-trachtung der Herkunft und der Bedeutungsgeschichte des Fabelwesens ausgehend von der Antike bis hin zur Entstehungszeit beider Werke Anfang des 13. Jahr-hunderts steht der literarische Drachenkampf selbst jeweils im Fokus der Betrachtungen. Es wird analysiert, welche Funktion er innerhalb der Versromane einnimmt und wie er die Geschichte weiter beeinflusst. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang neben dem Aussehen des Drachen vor allem die christliche Dimension der Kämpfe und ihre Auswirkungen auf das Bewusstsein des Ritters. In einem abschließenden Vergleich beider Werke wird der Frage nachgegangen, ob Drachenkämpfen in der Literatur eine übergeordnete Funktion zukommt.

2.Mythos Drache: Herkunft und Bedeutung des Fabelwesens

Etymologisch betrachtet hat der Begriff „Drache“ seinen Ursprung im lateinischen Wort „draco“ bzw. im griechischen Wort „drákōn“ und bedeutet zunächst „der scharf Blickende.“ [1] In der abendländischen Tradition beschreiben Drache und Schlange meist ein und dasselbe Wesen, denn die Boshaftigkeit der Schlange wird oftmals durch die Vergrößerung ihrer Attribute in Gestalt eines Drachen übertrieben dargestellt.

Die Vorstellung eines Drachenwesens gibt es schon seit Anbeginn der Menschheit, doch finden sich trotz unterschiedlicher Kulturkreise und Zeitalter immer wieder dieselben optischen Merkmale und Wesenszüge. Auffallend ist, dass ein Drache der äußeren Gestalt nach immer den „vorweltlichen Reptilien und Amphibien“[2] gleicht, denn er ist der Definition nach

„[z]umeist […] von echsenartiger, mit Schuppen bedeckter Gestalt mit fledermausartigen Flügeln und zwei oder vier raubtierartigen Krallenfüßen, […] [er] kann mehrköpfig sein, […] speit Feuer, hat einen giftigen Atem und den bösen Blick.“[3]

Im Bezug auf seine Symbolik finden sich jedoch konträre Ansichten: Während der Drache in Asien aufgrund der Grundbedeutung seines Namens als sehr weise gilt und ihm oft die Aufgabe eines Schatzhüters zugesprochen wird, so gilt er in der abendländischen Tradition vornehmlich „als Verkörperung von Zerstörung und Chaos,“[4] als „ die Inkarnation des Bösen in der Welt, des Teufels Geselle.“[5]

Diese negative Konnotation geht vor allem auf zahlreiche griechische Mythen zurück, unter anderem auf die Sage des Herakles[6]. Dieser sieht sich gleich nach seiner Geburt der Gefahr eines Schlangenangriffs ausgesetzt, denn als unehelicher Sohn des Zeus´ hat er den Zorn Heras, Zeus´ eifersüchtiger Frau, auf sich gezogen. Zwar gelingt es dem Säugling, beide Schlangen zu erwürgen, doch mit seiner Jugend gehen weitere Kämpfe mit Ungeheuern einher. Im Rahmen der ihm auferlegten zwölf Aufgaben muss sich Herakles gleich zweimal gegen drachenartige Ungeheuer bewähren, zum einen gegen die Hydra, eine lernäische Schlange mit neun Köpfen und einem tödlichem Atem, zum anderen gegen den Feuer speienden Drachen Ladon, der die von ihm zu pflückenden Äpfel der Hesperiden bewacht.

„[D]urch die Fortführung des Herakles- und Apollokultes“[7] gelangen die Vorstellungen eines menschenverschlingenden Drachen auch in den römischen Kulturkreis. Im ersten Buch der Metamorphosen Ovids (I, 438ff.) wird beispielsweise Apollon von der Pythonschlange verfolgt. Grund hierfür ist ebenfalls die Eifersucht der Hera, denn wie Herakles ist auch Apollon ein unehelicher Sohn Zeus´. Rasend vor Wut sinnt sie auf Rache und lässt Apollon bereits im Mutterleib unerbitterlich von der Schlange verfolgen. Kurz nach seiner Geburt gelingt es ihm jedoch, die Schlange mit Pfeilen zu töten und stiftet als Zeichen seines Sieges das Orakel von Delphi. Ebenso muss auch Cadmus im dritten Buch der Metamorphosen (III, 1 – 98) einen gefährlichen Kampf bestreiten. Veranlasst durch einen Orakel-spruch suchen er und seine Gefährten einen für die Gründung Thebens geeigneten Ort. Als Cadmus sich nach kurzer Zeit über den Verbleib seiner Gefährten wundert, gelangt er zu einer Quelle bei einer Höhle, die von der Marsschlange bewacht wird. Dort sieht er all seine Gefährten bestialisch ermordet am Boden liegend und tötet in einem kräftezehrenden Kampf das riesige Ungeheuer.

Der Drachenglaube beschränkt sich dabei allerdings nicht nur auf den Bereich der Sagen, denn schon im Altertum wird der Drache für ein reales Wesen gehalten und „[s]o geben manche Autoren (wie Plinius, Solinus, Ambrosius, Isidor, Cassiodor) quasi naturwissenschaftliche Beschreibungen des Drachen.“[8] Grundlage dieser Bestiarien sind wahrscheinlich antike Darstellungen des Drachen als furcht-einflößendes Wappentier und auch die Römer übernahmen ihrerseits die „[von den Parthern und Dakern kennengelernten] Heereszeichen […]und machten [sie] zur Kohortenfahne.“[9]

Diese antiken Vorstellungen eines bösen Drachen, eines Widersachers des Menschen werden daraufhin ins Christentum aufgenommen und verstärkt, denn „die Begriffe Drache, Schlange, Teufel und Satan [werden] gleichbedeutend nebeneinander gestellt.“[10] Die dabei wohl bedeutendste biblische Quelle des mittelalterlichen Drachenmythos stellen die Offenbarungen des Johannes (Offb. 12, 3ff.) dar, denn dort wird von einem Drachen berichtet, der am Himmel erscheint und das Kind einer hochschwangeren Frau verschlingen will. Mit Gottes Hilfe gelingt es der Frau jedoch, sich zu retten und einen Sohn zu gebären, dem die Herrschaft über alle Völker verheißen ist. Doch währenddessen entbrennt im Himmel ein Kampf zwischen dem bedrohlichen Drachen und dem Erzengel Michael und seinen Engeln, infolgedessen der Drache zur Erde gestürzt und das Böse sinnbildlich aus dem Himmel verbannt wird.

„Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt, und die ganze Welt verführt; der Drache wurde auf die Erde gestürzt und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen.“[11]

Der Drachenkampf steht hier symbolisch für die Auseinandersetzung mit Satan, dem Bösen schlechthin. Der Sieg über ihn wird gleichgesetzt mit dem Sieg über alles Lebens- und Gottesfeindliche.

Auch in der Schöpfungsgeschichte[12] finden sich bereits Andeutungen auf die Bos-haftigkeit des Drachen, denn es ist eine Schlange, die Eva dazu verführt, die Früchte vom Baum des Lebens zu essen. In Gestalt dieser Schlange bahnt sich das Böse einen Weg in die Welt des Menschen, beendet den paradiesischen Urzustand dieser und symbolisiert so die dämonischen Mächte, die den Menschen von Gott entfernen.

Neben den antiken Schilderungen und der mittelalterlichen Bearbeitung griechischer und römischer Literatur durch gelehrte Mönche wird der Drachenglaube besonders durch die Kreuzzüge genährt.

„[Durch die] Bekanntschaft mit orientalischen Überlieferungen, wird der Drachen-kampf Inbegriff des mittelalterlichen Heldenlebens, und zwar keineswegs nur in der sog. Heldenepik, sondern fast ebensosehr auch im höfischen Roman.“[13]

Diese kulturelle Bereicherung führt allerdings nicht dazu, dass der Drache ins Reich der Sagen und Mythen verbannt wird, vielmehr bleibt er ein real existierendes Geschöpf. Für die Menschen im Mittelalter „[waren] Dämonen, Monster und Fabelwesen nicht allein exotische Geschöpfe fremder Lebenswelten, sondern […] waren im Lebensraum des mittelalterlichen Menschen allgegenwärtig: in Religion und Recht, Medizin und Astronomie, Kunst und Literatur.“[14] Der Glaube daran wurde durch die Vielzahl an illustrierten Welt- und Reisebeschreibungen unter-mauert, aber auch durch die literarischen Weltauffassungen vieler damaliger Autoritäten.

„Das Buch war im Mittelalter das Medium, durch das die Wirklichkeit und die Natur wahrgenommen und gewertet werden. Die empirische Umwelt war kaum der Maßstab für die Darstellungen der Welt in Büchern. Eher wurde umgekehrt die Welt [mittels] Büchern wahrgenommen und bewertet.“[15]

Aus diesem Grund ist es nicht erstaunlich, warum es im Mittelalter kaum einen Unterschied zwischen Fiktion und Realität bzw. imaginären und realen Lebewesen gibt. Zwar wird der Wahrheitsgehalt von Augenzeugenberichten über Drachen-sichtungen hinterfragt, doch schien in der Schöpfung Gottes prinzipiell nichts undenkbar zu sein und „[ sogar] im kirchlichen Schrifttum finden sich Aussagen, die darauf drängen, alle Wesen, sogar die Monster, als Geschöpfe Gottes zu betrachten[…].“[16] Die Begründung all dessen findet sich wiederum in der Bibel: In Gen. 2,19-20 wird von der Erschaffung der Natur und all ihrer Tiere berichtet, die der Mensch eigenständig durch Benennungen einteilen soll, um sie so als komplexes Ganzes erfassen zu können. Entscheidend ist, dass nicht er selbst die Tierarten erfindet, sondern ihm lediglich die Aufgabe des Findens und Benennens zufällt. Aus dieser Tatsache heraus wird ersichtlich, wie es zur Erschaffung phantastischer Lebewesen kommt und warum „das mittelalterlich[e] Bewusstsein [zwischen] wundersamen Phantasiegeschöpfen [und] realen Naturgeschöpfen [nicht] unter-scheidet.“[17] So gesehen ist der Glaube an monströse Geschöpfe im Allgemeinen eher als Huldigung Gottes und dessen Macht und Größe zu verstehen, da laut Auffassung des mittelalterlichen Menschen „Scheusale existieren, weil sie Teil des göttlichen Heilplans sind, und [sich] selbst in der schrecklichsten Fratze […] die Größe des Schöpfers [offenbart].“[18]

Ein letzter wichtiger Punkt bezüglich der Herkunft von Fabelwesen ist die symbolische Sprache und Bildlichkeit des Mittelalters mit dem Bedürfnis, „in diesen Geschöpfen existenzielle Ängste zu veranschaulichen.“ [19] Auf diese Weise werden bedrohliche, furchterregende Vorstellungen nicht verdrängt oder tabuisiert, sondern „in eine dämonische Gegenwelt ausgelagert, […] [wodurch] Ängste […] übersetzt […] und dadurch beherrschbar [gemacht werden].“[20] Besonders deutlich wird dadurch, dass ein Drachenkampf oftmals vor der Kulisse einer chaotischen, dämonisch anmutenden, höllengleichen Welt stattfindet, dem genauen Gegenbild der idealen ritterlich-höfischen Ordnung. Durch ihr erschreckendes und oft entstelltes Aussehen sollen Fabelwesen zudem „die didaktische und mnemotechnische Funktion [erfüllen], […] schreckliche[…] Laster zu verdeutlichen und stets erinnerlich zu halten.“[21] Diese Tatsache erklärt, warum reale Wesen stark verfremdet, dämonisiert und durch Worte in ihrer Erscheinung noch übertriebender dargestellt oder auch eigens zu diesem Zweck erfunden werden.

Insgesamt wird also deutlich, dass der mittelalterliche Glaube an Fabelwesen und Drachen seinen Ursprung in vielen verschiedenen Quellen findet, die Funktion der Fabelwesen aber stets dieselbe ist: Drachen dienen in all den literarischen Darstellungen in erster Linie dazu, die Helden in ihrem Auftreten, ihrem Mut und ihrer Stärke noch wirkungsvoller darzustellen. Wichtig ist nicht allein die Tatsache, dass es Drachen gibt, sondern die beeindruckende Wirkung, die ein solch ungleicher Kampf beim Leser hinterlässt. Ein Sieg über einen überdimensionalen, bedrohlichen Drachen steht somit symbolisch für den Kampf des Göttlichen gegen die bösen Mächte, die die friedliche Lebenswelt der Menschen bedrohen, und unterstreicht vor allem die gewaltige Kraft der Macht und der Liebe Gottes, die ihn die sündigen Menschen immer wieder begnadigen und befreien lässt.

3. Wirnt von Grafenberg: „Wigalois“

Das von Wirnt von Grafenberg verfasste Werk „Wigalois“ ist ein in der mediaevistischen Forschung vielseitig betrachtetes Werk. Bis heute ist das genaue Entstehungsdatum sehr umstritten und wird auf einen Zeitraum von ca. 1205 – 1230 datiert. Obwohl von der Person von Grafenbergs nicht mehr bekannt ist als das, was er seinen Leser durch seinen Versroman selbst wissen lässt, erfreute sich sein Werk seit seiner Entstehung großem Interesse und fand viele Nachahmer.[22]

Der Artusroman beginnt mit der Geschichte von Gawein, einem Ritter am Artushof, der infolge eines verlorenen Gefechts als Gefangener in das Reich des Königs Joram verschleppt wird. Dort vermählt er sich mit dessen Nichte Florie und zeugt mit ihr einen Sohn namens Wigalois. Die Sehnsucht nach seinem früheren Leben, dem Leben als Ritter am Artushof, veranlasst Gawein aber bald, Florie heimlich zu verlassen und in die Heimat zurückzukehren. Dort angekommen wird er zwar freudig empfangen, doch nun ist es die Sehnsucht nach Florie, die Gawein quält. Vergeblich versucht er, zu ihr zurück zu gelangen, doch der Zugang bleibt ihm verwehrt.

Jahre später verlässt Wigalois seine Mutter, um in der Welt Ruhm und Ehre zu erwerben und seinen Vater zu suchen, und gelangt schließlich an den Artushof. Dort nimmt sich sein Vater seiner ritterlichen Ausbildung an, ohne dass Vater und Sohn einander erkennen. Nachdem Wigalois einige Zeit lang seine Tapferkeit unter Beweis gestellt, eine Tugendprobe bestanden und König Artus treu gedient hat, erhält er die Schwertleite.

Als nun eine Jungfrau mit dem Hilfegesuch am Artushof erscheint, der tapferste Ritter solle das Land ihrer Herrin vom einen Tyrannen befreien, bittet Wigalois darum, sich dieser Aufgabe widmen zu dürfen. Doch die Jungfrau Nereja ist aufgrund seiner Unerfahrenheit nicht von seinen ritterlichen Qualitäten überzeugt, so dass er im Rahmen einer Reihe von Bewährungsproben seine Eignung erst unter Beweis stellen muss. Ihr Bestehen überzeugt Nereja schließlich doch davon, dass er der erwählte Kämpfer ist, der im Kampf gegen den Teufelsbündler Roaz das Land Korntin befreien soll.

In Roimunt angekommen erblickt Wigalois zum ersten Mal Larie und verliebt sich unsterblich in die Königstochter, als er erfährt, dass dem Sieger dieser Aventiure neben der Herrschaft über Korntin auch ihre Hand versprochen ist. Ausgestattet mit christlichen Schutzzaubern wird Wigalois nun von König Lar in Gestalt eines wundersamen Tieres in das von Roaz beherrschte Land Kortin geführt. Dieser offenbart Wiglaois die Geschehnisse, die sich in Kortin ereignet haben und auch diejenigen, die ihm in dieser höllengleichen Welt bevorstehen werden.

Vor dem eigentlichen Kampf mit dem Teufelsbündler muss sich Wigalois dem Kampf mit dem schrecklichen Drachen Pfetan stellen, der das Land und Roaz selbst seit vielen Jahren in Bedrängnis hält. Mit ritterlicher Tapferkeit und Gottes Hilfe gelingt es Wigalois letztendlich, nicht nur den bedrohlichen Drachen, sondern auch Roaz in einem langen, schweren Kampf zu besiegen und somit Korntin von den bösen Mächten zu befreien.

Nach dieser Erlösungstat wird ein großes Hoffest zu seinen Ehren veranstaltet, in dessen Rahmen zum einen die Hochzeit mit Larie, zum anderen seine Krönung gefeiert wird. Doch die friedliche Stimmung währt nicht lang, denn es erscheint ein klagender Knabe am Hofe des Wigalois, der ein Hilfsgesuch seiner Königin übermittelt. Nun muss der frisch gekrönte König erneut seine Herrscher-qualifikationen unter Beweis stellen, denn es gilt, die von Lion besetzte Stadt Namur zu befreien. Mithilfe eines großen Heeraufgebots und einer erfolgreichen Belagerung gelingt es Wigalois erneut, die Stadt zu befreien und im ganzen Herrschaftsgebiet Frieden und Gerechtigkeit herzustellen.

In der nun folgenden Analyse soll der Kampf zwischen Wigalois und dem Drachen Pfetan sowie seine Funktion im Rahmen der Gesamthandlung näher betrachtet werden. Zu diesem Zweck wird zunächst die Atmosphäre in Korntin sowie die Offenbarung König Lars analysiert, bevor der eigentliche Kampf im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Welche Bedeutung er für die weitere Entwicklung der Geschichte hat, wird in einem nächsten Schritt gezeigt werden.

3.1 Aussendung des auserwählten Kämpfers in das teuflische Korntin

Nachdem Wigalois eine Reihe schwerer Bewährungsproben bestanden und Nereja von seiner Tapferkeit überzeugt hat, dankt sie ihm für seine Kampfesmühen und offenbart ihm, wie Korntin den Händen des Königspaars entrissen und Roaz zuteil wurde, dem Mann, der „ [d]urch sînen zouberlist / beidiu sêle unde / leben einem tievel gegeben“ (V. 3656ff.). Diesem Heiden gelang es nämlich, sich durch „ guoter mære vil“ (V. 3681) das Vertrauen des Königs zu erschleichen, um ihn dann hinterrücks zu überfallen und sein Volk zu töten. Einzig die Königin und ihre Tochter entgingen dem jämmerlichen Schicksal, da sie sich zur Zeit des Hinterhalts nicht in Korntin befanden. Nunmehr zehn Jahre ist dies her und Roaz führt seitdem eine Schreckensherrschaft, die schon viele Ritter vergeblich zu brechen versuchten. Grund dafür sind aber nicht Ruhm und Ehre allein, sondern die Königstochter Larie, die Teil eines Plans ist, den das verbliebene Volk ersann, um von ihrem Leid erlöst zu werden:

„wirn wellen die juncvrouwen mîn

ân daz lant ze Korntîn

nieman geben ze wîbe,

wan der mit sînem lîbe

daz goute lant erwerben mac;“ (V. 3785ff.)

Mit diesem Wissen begibt sich Wigalois nun nach Roimunt, wo Nereja der Königin Bericht über ihre Reise erstattet und Wigalois „als würdiger und auserwählter Kämpfer vorgestellt [wird].“[23] In dem Moment, als Wigalois die Königstochter Larie zum ersten Mal sieht, ist es um den tapferen Ritter geschehen und er verliebt sich unsterblich in sie.

„vrou Minne vie den rîter sâ

und zôch in in ir hamît

gewalticlîche âne strît,

daz er sich niht mohte erwern;“ (V.4139ff.)

Zwar sind Absicht und Engagement des Wigalois nun auch persönlich motiviert, da doch dem Sieger über Roaz, dem Befreier Korntins, die Hand Laries versprochen ist, doch

„[a]us der Minnebindung ergibt sich keine neue, nun veränderte Verpflichtung, sondern die immergleiche, zielstrebig anvisierte Hauptaventiure hat die Erfüllung des Minne- und nicht zuletzt des Herrschaftsverlangens als Siegespreis. Minne ist nicht Anlaß noch Ursache, motiviert insofern nicht die Handlung, sondern gibt dem Impetus des Helden eine zusätzliche geradezu private Note.“[24]

Vor dem Aufbruch wird zu Ehren Wigalois eine Messe gefeiert, in deren Rahmen er mit zwei magischen Gegenständen ausgestattet wird, die ihm bei den Kämpfen in der dämonisch-magischen Welt des Roaz helfen sollen. Zum einen erhält er den priester-lichen Segen und einen magischen Zettel, den der Priester zum Schutz vor allerlei Zauber an das Schwert heftet, zum anderen schenkt ihm Larie ein Brot, das ihm „muot“ und „ maht“ (V. 4475) verleiht und mit dem er sieben Tage ohne Nahrung überleben kann.

Die nun folgende Abschiedszeremonie wird begleitet von verschiedenen christlichen Ritualen, die die Bedeutung dieser großen, schwierigen Aventiure noch einmal unterstreichen, denn es geht um den Kampf gegen das Böse, den Teufel persönlich, und somit um die „Aussendung eines auserwählten Kämpfers zu einem Erlösungswerk.“[25] Die Zeremonie wird beendet, als ein Bote das Erscheinen des wundersamen Tieres meldet und damit den Beginn der Aventiure ankündigt, denn allein dieses wundersame Tier vermag es, dem auserwählten Kämpfer den Weg nach Korntin zu weisen. Doch „mit dem Eintritt in das Land Korntin ändert sich auch die Situation, [denn] nun steht Wigalois zauberischen und teuflischen Mächten gegenüber, die durch keine Erfahrung berechenbar sind.“[26]

Bevor Wigalois nun seinen ritterlichen Mut unter Beweis stellen soll, offenbart sich das wundersame Tier als König Lar, der ehemalige König Korntins. Wie alle anderen sündigen Menschen hat er sich durch sein lasterhaftes Verhalten den Zorn Gottes zugezogen und muss im täglichen Fegefeuer dafür büßen, doch aufgrund seiner herrscherlichen Güte und Milde hat Gott ihm zugleich auch ein kleines „ paradîse“ (V. 4673) geschaffen, in das er sich inmitten der gequälten Seelen zurückziehen kann. Dieser König ist es, der Wigalois zum einen über seine Abstammung von Gawein aufklärt, zum anderen sagt er ihm voraus, was ihm auf dem Weg zur Hauptaventiure bevorsteht, denn bevor es darum geht, Korntin von den bösen Mächten zu befreien, muss Wigalois den Drachen Pfetan bezwingen, gegen den nicht einmal Roaz zu kämpfen wagt.

„und wizze iedoch, swie küene er sî,

ern getorste den wurm nie bestân,

swie er im doch habe getân

solhen schaden mangen tac“ (V. 4730f.)

Um gegen dieses Ungeheuer bestehen zu können, stattet König Lar ihn mit zwei weiteren magischen Gegenständen aus, zum einen mit einer wohlduftenden Blüte des Paradiesbaums gegen den übelriechenden Atem des Drachen, zum anderen mit einer heiligen Lanze, die ein Engel im Auftrag Gottes zur Erde brachte und mit der allein der Drache getötet werden kann. Inmitten dieser sündenbehafteten Welt „erhält [Wigalois] also zwei Attribute, die zur Vernichtung des sündigen Reichs dienen, und zwei Attribute, die für die eigene Erhaltung bestimmt sind.“[27] Dass es insgesamt also vier magische Attribute sind, die Wigalois zum Bestehen der Aventiuren verhelfen sollen, ist kein Zufall, denn

„die Gesamtzahl von vier Gaben weist darauf hin, daß in der traditionellen Zahl des irdischen Universums, das hier wieder in den christlichen ordo zurückgeführt werden soll, zugleich der transzendente Bezug erhalten ist, weil das Irdische nicht ohne das Göttliche […] bestehen kann.

[...]


[1] vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. S. 212.

[2] Steffen, Uwe: Drachenkampf. Der Mythos vom Bösen. S. 14.

[3] Wunderlich, Werner: Dämonen, Monster, Fabelwesen. Eine kleine Einführung in Mythen und Typen phantastischer Geschöpfe. In: Mittelalter Mythen (Band 2). S. 664.

[4] Jaeger, Achim: Ein jüdischer Artusritter. Studien zum jüdisch-deutschen „Widuwilt“ („Artushof“) und zum „Wigalois“ des Wirnt von Gravenberc. S. 173.

[5] McConnell, Winder: Mythos Drache. In: Mittelalter Mythen (Band 2). S. 174.

[6] vgl. Fink, Gerhard: Who´s who in der antiken Mythologie. S. 129 – 135.

[7] Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. S. 366.

[8] Röhrich, Lutz: Drache. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Band 3. S. 807.

[9] Wild, Friedrich: Drachen im Beowulf und andere Drachen. In: Sitzungsberichte Band 238 (1962) / Öster-reichische Akademie der Wissenschaften. S. 8.

[10] Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. S. 368.

[11] Offb. 12, 9.

[12] vgl. Gen 3, 1-24.

[13] Röhrich, Lutz: Drache. In: Enzyklopädie des Märchens. S. 796.

[14] Wunderlich, Werner: Dämonen, Monster, Fabelwesen. S. 17f.

[15] ebd. S. 17.

[16] Classen, Albrecht: Die guten Monster im Orient und in Europa. In: Mediaevistik (Band 9). S. 27.

[17] Wunderlich, Werner: Dämonen, Monster, Fabelwesen. S. 16.

[18] ebd. S. 14.

[19] ebd. S. 26.

[20] Giloy-Hirtz, Petra: Begegnungen mit dem Ungeheuer. In: An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters. S. 189.

[21] Wunderlich, Werner: Dämonen, Monster, Fabelwesen. S.17

[22] vgl. Gottzmann, Carola L.: Deutsche Artusdichtung Bd. I. Rittertum, Minne, Ehe und Herrschertum. Die Artusepik der hochhöfischen Zeit. S. 49 – 52.

[23] Fuchs, Stephan: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. S. 137f.

[24] ebd. S. 139.

[25] ebd. S. 142.

[26] Cormeau, Christoph: Wigalois und diu Crône. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nach-klassischen Aventiureromans. S. 39.

[27] Gottzmann, Carola L.: Deutsche Artusdichtung Bd. I. S. 308.

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Details

Titel
Motiv und Intention von Drachenkämpfen in der mittelhochdeutschen Literatur
Untertitel
Ein Vergleich der Drachenkampfsymbolik in den Werken Wirnts von Grafenberg ("Wigalois") und Gottfrieds von Strassburg ("Tristan")
Hochschule
Universität Osnabrück
Note
2,1
Autor
Jahr
2012
Seiten
47
Katalognummer
V383623
ISBN (eBook)
9783668591882
ISBN (Buch)
9783668591899
Dateigröße
666 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Drachen, Mediävistik, Wirnt von Grafenberg, Wigalois, Gottfried von Strassburg, Tristan, Helden, Symbolik, Fabelwesen
Arbeit zitieren
Anna Kuhlmann (Autor:in), 2012, Motiv und Intention von Drachenkämpfen in der mittelhochdeutschen Literatur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/383623

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