Die Sozialdemokratie in der Krise

Ursachenanalyse und Ansätze zur Krisenbewältigung am Beispiel der Sozialdemokratischen Partei Österreichs


Bachelorarbeit, 2017

123 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abstract

1 Einleitung

2 Die SPÖ: Eine Partei auf Profilsuche Warum sich die SPÖ neu positionieren muss

3 Das Ende derfordistischen Ära: Die Entzauberung des Proletariats
3.1 Die Entwicklung zurArbeitnehmergesellschaft
3.2 Der Einfluss des Fordismus-Konzepts auf die Sozialdemokratie
3.2.1 Organisatorische Strukturen
3.2.2 Sozialpartnerschaft
3.2.3 Bildung
3.2.3.1 Bildungsexpansion
3.2.4 Bürokratie
3.3 Die Krise des Fordismus und die Konsequenzen für die Sozialdemokratie
3.3.1 Die Krise derverstaatlichten Industrie
3.4 Die Veränderung der Sozialstruktur und des Wählerverhaltens

4 Sozialdemokratie und Postmaterialismus: Neue soziale Bewegungen, Individualisierung und Wertewandel
4.1 Die Studentenbewegung von 1968
4.2 Die 1980er Jahre: Phase des Umbruchs und der „Dekonzentration“
4.2.1 PolitischeEmanzipation
4.2.2 Die Proteste in der Hainburger Au und die Etablierung der Grünen
4.2.3 Der Aufstieg der FPÖ: Rechtspopulismus und Sozialdemokratie

5 Sozialdemokratie im Postfordismus: Der Einzug des neoliberalen Paradigmas
5.1 Veränderung der ökonomischen Rahmenbedingungen
5.2 Der österreichische „Dritte Weg“
5.2.1 Die„Mitte“-Positionierung
5.2.2 Der Umbau des Wohlfahrtsstaats
5.2.3 Die Umwertung der Werte
5.2.4 New Public Management

6 Sozialdemokratische Regierungspraxis: Große Koalitionen und sozialreformerischer Stillstand

7 Wiederbelebung der Sozialdemokratie: Reformansätze in Theorie und Praxis
7.1 G0staEsping-Andersen
7.2 Herbert Kitschelt
7.3 Fritz Scharpf
7.4 Thomas Nowotny
7.5 Die Sozialdemokratie unter Bundeskanzler Christian Kern
7.5.1 Der „Plan A“ für Österreich: Inhalt und kritische Analyse
7.5.2 Der „Plan A“ als Chance

8 Résumé

I Literaturverzeichnis

II Abkürzungsverzeichnis

III Abbildungsverzeichnis

Dankesworte

Mein größter Dank gebührt meinen Eltern für ihren konsequenten, unermüdlichen Er­ziehungseinsatz. Die frühe Vermittlung gesellschaftlicher Grundwerte, ein Verantwor­tungsgefühl gegenüber Mitmenschen und der Umwelt sowie die Anleitung zu Fleiß und Disziplin hatten wesentlichen Einfluss auf meine Entwicklung zu dem Menschen, der ich heute bin. Das Interesse an Politik und ihr Wirken auf die Gesellschaft darf ich eben­falls meinen Eltern verdanken, die durch ihre kritische Auseinandersetzung mit dem tagesaktuellen politischen Geschehen oft für hitzige Debatten innerhalb der Familie sorgten. Zudem bin ich Mama und Papa unendlich dankbarfür die frühzeitige Förderung von Talenten und Interessen sowie die Ermöglichung einer ausgezeichneten Ausbil­dung an der Handelsakademie Gmunden, die neben dem selbstfinanzierten Studium an der Johannes Kepler Universität wesentlich dazu beitrug, dass ich zu einem autono­men, selbstbewussten und kritikfähigen Individuum wachsen konnte.

Posthum möchte ich meine verstorbene Mama würdigen, die Bildung stets als essenti­ellen Bestandteil einer gelingenden Frauenemanzipation sah und meinen Weg an die Universität aus vollen Kräften unterstützt hätte.

Ein herzliches Dankeschön gebührt meinem wunderbaren Lebensgefährten Philipp so­wie meinen lieben Geschwistern, die durch ihre Kinderbetreuungsdienste wesentlich zum erfolgreichen Abschluss des Bachelorstudiums Sozialwirtschaft beigetragen ha­ben. Unsere Tochter Viktoria Elisabeth ist eine wahre Bereicherung und es ist uns ein großes Anliegen, auch ihrjene Werte weiterzugeben, die mir vermittelt wurden und die in unserer Gesellschaft wichtiger sind denn je: Toleranz, Offenheit, Gerechtigkeitsemp­finden, Nachhaltigkeitsdenken und Solidarität mit den Mitmenschen.

Abschließend bedanke ich mich bei Herrn Mag. Hansjörg Seckauerfür seine vorzügli­che Betreuung, die konstruktiven Feedbacks zwischendurch und die wertvollen Anre­gungen, die einen wesentlichen Beitrag dazu leisteten, dass diese Arbeit den Ansprü­chen der Wissenschaftlichkeit gerecht wurde. Zudem möchte ich seine Engelsgeduld hervorheben, ohne die meine Abschlussarbeit nicht in diesem Umfang und in dieser Qualität hätte entstehen können.

Gender-Aspekte

Grundsätzlich wurde beim Verfassen dieser Arbeit auf eine geschlechtsneutrale Schreibweise geachtet. Dort, wo sich keine entsprechenden Formulierungen finden lie­ßen, habe ich die Variante mit dem Binnen-I gewählt (etwa: Arbeiterinnen, zu lesen als: Arbeiter und Arbeiterinnen).

Aus Zitaten übernommene Formulierungen wurden in ihrer ursprünglichen Form belas­sen. In diesen Fällen kann jedoch davon ausgegangen werden, dass beide Geschlech­ter gleichermaßen gemeint sind.

Bei Komposita wird aufgrund der leichteren Lesbarkeit ausschließlich das generische Masculinum verwendet (z.B. Arbeitnehmerinteressen statt Arbeitnehmerinneninteres­sen). Ich möchte ausdrücklich betonen, dass hier keine Ausgrenzung von Frauen be­absichtigt ist, sondern diese Entscheidung rein aus Vereinfachungsgründen getroffen wurde und geschlechtsunabhängig verstanden werden soll.

Abstract

Die vorliegende Bachelorarbeit widmet sich zwei Fragen: Erstens, warum sich die So­zialdemokratie in der Krise befindet und zweitens, ob sie noch eine Chance hat, aus dieser herauszufinden. Ziel der ersten Fragestellung ist es, jene Faktoren zu identifizie­ren, die zur Schwächung der Sozialdemokratie entschieden beigetragen haben. Dies scheint vor allem deshalb notwendig, weil die Zukunft der Sozialdemokratie wesentlich davon abhängt, ob und in welchem Ausmaß sie imstande ist, aus den Erfahrungen und Entwicklungen der Vergangenheit zu lernen.

Da die Rolle der Sozialdemokratie als sozialpolitischer Gestaltungsfaktor gefährdet ist, werden zur Beantwortung der zweiten Fragestellung unterschiedliche Perspektiven für eine sozialdemokratische Erneuerung behandelt und verschiedene theoretische An­sätze vorgestellt. Dabei wird besonders auf die Politikgestaltung des gegenwärtigen ös­terreichischen Bundeskanzlers und Parteivorsitzenden Christian Kern eingegangen um zu analysieren, inwieweit sich diese mit den wissenschaftlichen Krisenbewältigungsan­sätzen deckt. Auf dieser Basis konnte eine abschließende Beurteilung getroffen und festgestellt werden, dass die Sozialdemokratie durchaus noch zu retten ist.

Die Beantwortung der Forschungsfragen erfolgte mittels einer umfangreichen Literatur­recherche. Die Ursachenanalyse am Beispiel Österreich ist deshalb angebracht, da Ös­terreich im europäischen Vergleich eine der stärksten und politisch erfolgreichsten so­zialdemokratischen Parteien hervorgebracht hat und lange Zeit einen Sonderweg inner­halb der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ging. Dennoch blieb auch sie von der Krise nicht verschont.

Schlagworte: Sozialdemokratie, Krise, Keynesianismus, Bildungsexpansion, Individua­lisierung, Neoliberalismus, Wohlfahrtsstaat

The bachelor thesis deals with the reasons why social democracy is in crisis and if there is still a chance of survival. In a first step it targets on identifying the most relevant fac­tors, which contributed to the debilitation of social democracy. This is essential because the future of social democracy is dependent on the question, if social democracy is able to learn from its experiences and developments in the past.

As the role of social democracy in forming socio-political arrangements is in danger different perspectives and theories for a social-democratic renewal are treated in con­text of the reasons of the crisis. Especially the policy-making of Austria’s current social- democratic chancellor Christian Kern is focused. By comparing his working style in pol­itics with scientific theories of crisis management a final answer could be found on the question if social democracy has still a chance to survive.

The research question was answered by an extensive survey of literature. I decided for a cause analysis on Austria because Austria’s social democratic party was one of the strongest and most successful! social democratic parties in Europe. It went a special path („Sonderweg“) within the capitalistic order of society. Nevertheless it was hit by the crisis.

Buzzwords: social democracy, crisis, keynesianism, educational expansion, individual­ism, neoliberalism, welfare-state

1 Einleitung

Die sozialdemokratischen Parteien haben die Politik der europäischen Nachkriegszeit wesentlich mitgestaltet und geprägt. Die sozialen Errungenschaften, das hohe Wohl­standsniveau und die gestiegene Lebensqualität sind in einem nicht minderen Ausmaß dem Einsatz und dem Engagement der Sozialdemokratie zu verdanken. Dennoch scheint sie angesichts der jüngsten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwick­lungen nicht mehr salonfähig. In Europa geht die Angst vor dem Nationalismus um, rechtspopulistische Parteien sind im Aufwind und drohen mit Abschottung und der Zer­störung des Integrationsprojektes Europäische Union. Die sozialdemokratischen Par­teien verlieren europaweit zunehmend an Gewicht und Einfluss, was sich in Stimmver­lusten bei Wahlen, sinkenden Mitgliederzahlen und Ratlosigkeit der Parteispitzen ma­nifestiert. Erst jüngst erlitt die französische Parti Socialiste (PS) bei den Präsident­schaftswahlen eine bittere Niederlage und kam nicht einmal in die Stichwahl. In Deutschland, wo im September 2017 Bundestagswahlen anstehen, ist die Euphorie rund um den Spitzenkandidaten der SPD und ehemaligen Präsidenten des Europäi­schen Parlaments, Martin Schulz, nach drei verlorenen Landtagswahlen so schnell ver­flogen, wie sie gekommen war. Auch ihm droht eine Niederlage gegenüber der konser­vativen, wirtschaftsliberalen CDU von Angela Merkel, sollte es ihm in den nächsten Wo­chen nicht gelingen, ein authentisches Wahlprogramm vorzustellen und die Menschen für seine Ideen zu begeistern. Spaniens Sozialisten, einst gefeiert als Modernisierer und Reformer nach Jahrzehnten der Diktatur, erzielten bei den letzten Wahlen im Juni 2016 das schlechteste Ergebnis ihrer 140-jährigen Geschichte (vgl. Wisdorff 2017, online). Ähnlich gestaltet sich die Situation in Griechenland, wo die Panhellenische Sozialisti­sche Bewegung (PASOK) infolge der Finanzkrise vollends abgestürzt ist (vgl. Wisdorff 2017, online). Selbst in den einst sozialdemokratischen Musterländern Skandinaviens regieren die Sozialdemokraten momentan nur noch in Schweden und dort in einem Minderheitskabinett (vgl. Der Spiegel 2016, online).

Die angeführten Beispiele ließen sich noch um etliche Länder ergänzen und sind ein Zeichen dafür, dass sich die Sozialdemokratie europaweit in einer tiefen Krise befindet. Auch Österreich blieb davon nicht verschont. Dabei hätten linke Ideen durchaus Poten­zial und Zuspruch, wie die Wahlerfolge linker Parteien, wie etwa „Die Linke“ in Deutsch­land oder der französischen Linkspartei „La France insoumise“, zeigen. Die gemäßigten sozialdemokratischen Parteien sind jedoch nicht in der Lage daran anzuschließen, was die Frage nach den Gründen aufwirft.

Im Rahmen meiner Bachelorarbeit möchte ich die Ursachen, die zu dieser sozialdemo­kratischen Krise führten, am Beispiel der Sozialdemokratischen Partei Österreichs ana­lysieren. Österreich ist insofern spannend, da es eine der ältesten und stärksten sozial­demokratischen Parteien im europäischen Vergleich hervorgebracht hat. Ihren Zenit er­reichte die SPÖ in den 1970er Jahren unter Bruno Kreisky, als sie dreimal hintereinan­der die absolute Mehrheit erreichte (1971, 1975, 1979) (vgl. Kriechbaumer 2004, 50). Wenn auch nach Kreisky, mit Ausnahme der schwarz-blau/orangen Koalition (2000­2006), immer sozialdemokratisch dominierte Koalitionsregierungen an der Macht wa­ren, so lässt sich doch seither ein kontinuierlicher Wählerstimmeneinbruch verzeichnen, der insbesondere bei der Bundespräsidentenwahl im April 2016 erstmals existenzbe­drohliche Ausmaße annahm.

Fakt ist, dass die Sozialdemokratie auf eine lange und erfolgreiche Geschichte zurück­blicken kann und die Gesellschaft sowohl durch wirtschaftlichen als auch sozialen Fort­schritt geprägt hat. Gerade in Österreich erwies sich eine an sozialdemokratischen Wer­ten und Zielvorstellungen orientierte Politik lange Zeit den Alternativen konservativer Parteien überlegen. Warum also kann die Sozialdemokratie nicht mehr an ihre einstigen Erfolge anknüpfen?

Liegt die Antwort etwa darin, dass sie sich in ihrer historischen Aufgabe selbst erschöpft hat und ihr jetzt die Ideen und Konzepte fehlen, wie etwa Ralf Dahrendorf gemeint hat? (Vgl. Dahrendorf 1983, 16f/Dahrendorf 1987, 22)

Das alleine kann wohl keine ausreichende Erklärung sein, wenn man bedenkt, dass die soziale Ungleichheit immer weiter zunimmt und die Problemlagen auf dem Arbeitsmarkt nicht aufgehoben sind, sondern bloß andere Formen angenommen haben (prekäre Be­schäftigungsverhältnisse, neue Arbeitszeitmodelle, etc.). So gesehen gäbe es also noch genügend Potenzial für die Sozialdemokratie, sich in ihren traditionellen Politikfel­dern für Verbesserungen einzusetzen.

Ein weiteres Argument könnte sein, dass die Krise eine logische Konsequenz des Zeit­geistes ist. Zum einen tragen politische und wirtschaftliche Instabilitäten sowie militäri­sche Aggressionen und die Befürchtung eines neuen kalten Krieges dazu bei, dass sich das politische Kräfteverhältnis nach rechts verschiebt, zum anderen begünstigen die schnelllebige Entwicklung neuer Technologien und die alles umfassende Globalisierung mit ihrem neoliberal ausgerichteten Wirtschaftssystem einen rascheren gesellschaftli­chen Wandel (vgl. Nowotny 2016, 9). Dem ist entgegenzuhalten, dass politische Span­nungen zwischen Ost und West auch zur Blütezeit der Sozialdemokratie präsent waren. Und müssten nicht gerade die negativen Trends der Globalisierung und die infolge des freien „Hardcore-Kapitalismus“ ausgelösten Instabilitäten an den Finanzmärkten der Sozialdemokratie den Rücken stärken, wo diese mit ihren wirtschafts- und sozialpoliti­schen Instrumenten die Folgen der Krise eigentlich abfedern könnte? Wie man sieht, ist demzufolge auch die Erklärung der geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingun­gen nicht ausreichend.

Weiters könnte man die Organisation der Sozialdemokratischen Partei selbst als Kri­senursache heranziehen. Die nach außen hin starren und unbeweglichen Strukturen scheinen in einer individualisierten, sozialstrukturell stark differenzierten Gesellschaft nicht mehr zeitgemäß. Auch die ähnlich strukturierten konservativen Großparteien ver­lieren Wählerinnen, scheinen im internationalen Vergleich jedoch weniger betroffen zu sein als die Sozialdemokraten. Am Beispiel der britischen Conservatives, aber auch an der amerikanischen Republican Party oder der deutsche CDU sieht man deutlich, dass es diesen besser gelingt, Wählerinnen zu mobilisieren und Wahlerfolge zu erzielen (vgl. Nowotny 2016, 11). Was machen die Sozialdemokraten also falsch?

Meine Hauptthese lautet, dass die eigentliche Ursache für den politischen Abstieg der Sozialdemokratie im Niedergang des industriellen Zeitalters begründet liegt. Nun, wo das für Industrie 2.0 kennzeichnende fordistische Produktionsparadigma durch Robo- terisierung und Digitalisierung abgelöst wurde, geriet die Sozialdemokratie in einen Identitätskonflikt. Dieser Identitätskonflikt wurde durch den gesellschaftlichen Wandel, durch ideologische Umbrüche und die Anpassung an das neue Zeitalter der Globalisie­rung und Internationalisierung (Postfordismus) weiter verschärft und stellte die Sozial­demokratie vor ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Die aufgestellte These wird in den Kontext der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen, ausgehend von den 1970er Jahren bis heute, eingebettet.

Die thematische Schwerpunktsetzung liegt auf dem Untergang des Proletariats und der Veränderung der Sozialstruktur, den manifesten Krisensymptomen des Fordismus, postmaterialistischen Strömungen und dem Neoliberalismus als Ideologie der postfor- distischen Wirtschaftsform.

Ausgehend von der Behauptung, dass die aufstrebende Sozialdemokratie eng mit dem reifen Industrialismus verbunden war (vgl. Nowotny 2016, 11), werde ich anfangs einige signifikante Einflussmerkmale des Fordismus auf die Sozialdemokratie erläutern. Un­tersucht werden die Organisationsstrukturen der Partei, die Sozialpartnerschaft als zentraler Regulationsmodus des nachkriegszeitlichen Fordismus, der fordistische Bil­dungsbegriff sowie die Rolle der Bürokratie als zentraler fordistischer Verwaltungsme­chanismus. Ziel dieses Kapitels ist es, einerseits die enge Bindung der Sozialdemokra­tie mit dem Akkumulationsregime des Fordismus aufzuzeigen, andererseits sollen die mit dem Übergang vom Fordismus zum Postfordismus auftretenden strukturellen, orga- nisationalen und institutionellen Schwächen und Probleme erläutert werden.

Die zweite große Frage, die ich mir in meiner Bachelorarbeit stelle, ist die, ob die Krise irreversibel und chronisch ist, oder ob sich trotz aller negativen Zukunftsprognosen noch eine Chance für die Sozialdemokratie abzeichnet. Fakt ist, dass die Sozialdemokratie schon mehrmals im Verlauf der Geschichte schwierigen Umständen getrotzt und Krisen überstanden hat (vgl. Butzlaff & Micus & Walter 2011,7), denkt man nur an das Verbot der Sozialdemokratischen Partei während der Zeit des Austrofaschismus und des Na­tionalsozialismus.

Auch in den Politikwissenschaften gibt es neben „Niedergangstheoretikern“ zahlreiche namhafte Wissenschaftler, die der Sozialdemokratie durchaus noch eine Zukunftsper­spektive einräumen. Welche Reformen zur Rettung der Sozialdemokratie aus Sicht die­ser Theoretiker notwendig wären, werde ich im letzten Kapitel dieser Arbeit erläutern. Am Beispiel des im Jänner 2017 vorgestellten Plan A für Österreich werde ich abschlie­ßend Parallelen zur Politikgestaltung von Bundeskanzler Christian Kern ziehen, um zu bewerten, ob die österreichische Sozialdemokratie noch eine Chance hat.

2 Die SPÖ: Eine Partei auf Profilsuche

Warum sich die SPÖ neu positionieren muss

„Die anhaltende Bedeutungslosigkeit der politischen Linken in Österreich hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass in verschiedenen Teilen derselben über die Notwen­digkeit und (Un-)Möglichkeit neuer „Organisierung“ diskutiert wird.“ (Opratko/Probst 2010)

Warum sich die SPÖ neu positionieren muss, könnte man kurz gefasst mit abnehmen­dem Wahlerfolg begründen (siehe Abb. 1):

Nationairatswahlen in Österreich 1945 bis 2013

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Ergebnisse der Nationalratswahlen in Österreich seit 1945 (FAZ 2013, online)

Der SPÖ laufen die Wählerinnen scharenweise davon. Bei der Bundespräsidentenwahl 2016 konnte sie nur den drittletzten Platz[1] erringen (vgl. Bundesministerium für Inneres 2016, online). Währenddessen erlebt die rechtspopulistische FPÖ einen enormen Auf­schwung. Seit 1986 mischen auch die Grünen kräftig am politischen Geschehen mit.

Man könnte sagen, die SPÖ befindet sich in einer „grün-blauen Zange“ (Heimlich 2013, 82) und in einem permanenten Kräftemessen mit der ÖVP.

Die Stamm Wählerschaft besteht zum größten Teil aus Funktionärlnnen und Pensionis- tlnnen und hat sich seit den 1970er Jahren von 80% auf 25% reduziert (vgl. Oberöster­reichische Nachrichten 2014, online). Die SPÖ erreicht die junge Wählergeneration nicht mehr, dort liegt sie auf dem letzten Platz hinter den Konkurrenzparteien ÖVP, FPÖ und den Grünen (vgl. Tálos 2015, online). Vom Erfolgsfundament der SPÖ in den Kreisky-Jahren, bestehend aus Arbeiterinnenschaft, Neubürgertum und kritischer Ju­gend, ist nicht viel übrig geblieben (vgl. Micus 2011, 32).

Laut dem Soziologen Ralf Dahrendorf[2] ist auch der Grund für die Krise simpel: Die So­zialdemokratie hat sich mit Erreichung ihrer Ziele, nämlich dem Auf- und Ausbau des Sozialstaates selbst erschöpft. Dahrendorf behauptet sogar, sie wäre durch ihren eige­nen Erfolg überflüssig geworden und ihre programmatischen Grundlagen somit Schnee von gestern. (Vgl. Dahrendorf 1983, 16f/Dahrendorf 1987, 22)

Die Erfahrungen der letzten Jahre haben in der Tat gezeigt, dass mit dem Ende der sozialdemokratischen Hochzeit unter Bruno Kreisky der Sozialstaat brüchig geworden ist. Die Gestaltungsmöglichkeiten der SPÖ reduzierten sich deutlich, als sie 1987 bis 2000 eine Koalition mit der konservativen ÖVP einging und schwanden fast völlig, als die ÖVP zwischen 2000 und 2005 gemeinsam mit der FPÖ und anschließend mit dem von der FPÖ abgespalteten BZÖ regierte. (Vgl. Nowotny 2016, 13)

Seit dem Wendepunkt in der Erfolgsgeschichte der Sozialdemokratie ist es nicht nur zu einem teilweisen Rückbau der sozialen Sicherungssysteme gekommen, es hat auch die soziale Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten in erheblichem Ausmaß zugenom­men. Die Finanzkrise 2008 hat zudem die Schwächen des neoliberalen Wirtschaftssys­tems offen zutage gelegt und in der SPÖ stellt man sich die Frage, warum man diese nicht für sich nutzen konnte - hatte die Sozialdemokratie doch immer schon liberale Marktkonzepte angeprangert und ist für eben jene Sicherungsmechanismen eingetre­ten, die die sozialen Auswirkungen der Krise abmildern. (Vgl. Konecny & Lichtenberger 2011,1)

Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten mit hoher Arbeitslosigkeit, schlechter Kon­junkturlage und dem Wandel der Arbeitswelt wäre die SPÖ eigentlich jene Partei, die aus ihrer historischen Mission heraus den Anspruch erheben müsste, Lösungen zu ent­wickeln und umzusetzen, ohne dabei die mit Arbeit verknüpften Faktoren wie soziale Sicherheit, Verteilung und Gerechtigkeit aus den Augen zu verlieren (vgl. Nowotny 2016, 41/Kepplinger2012, 54). Doch die SPÖ ist lahm geworden. Sie vermittelte in den letzten Jahren nicht den Eindruck von Problemlösungskompetenz und Gestaltungswil­len (vgl. Nowotny 2016, 41). Viele Bürgerinnen wandten sich deshalb enttäuscht von ihr ab. Die SPÖ ist in Begriff, sich von einer schlagkräftigen Traditionspartei zu einer unbedeutenden Kleinpartei zu verwandeln.

Die Gründe für die Krise zu analysieren und zu kennen, erscheint unausweichlich, wenn sich die SPÖ einer Erneuerungsdebatte stellen will.

3 Das Ende der fordistischen Ära: Die Entzauberung des Proletariats

Das Wesen der Sozialdemokratie - angefangen von ihren Gründungsmotiven, über ih­ren Aufstieg, ihrer Programmatik, bis hin zur aktuellen Krise - ist untrennbar mit dem Industrialismus und dem Akkumulationsregime[3] des Fordismus[4] verbunden, in deren Schatten sich die Sozialdemokratie entwickelt hat. (Vgl. Nowotny 2016, 11)

Der Fordismus der Nachkriegszeit ermöglichte nicht nur die Produktion von standardi­sierten Produkten in hoher Zahl, sondern ging auch mit Vollbeschäftigung und einem hohen Lohnniveau einher, mit dem Ziel, den Absatz der massenhaft erzeugten Produkte zu gewährleisten (vgl. Bareis 2012, 295).[5] Die Integration der Arbeiter in soziale Siche­rungssysteme galt dabei als Schlüssel für allgemeinen Wohlstand, zumal auch in Kri­senzeiten die Konsumption gesichert sein sollte (vgl. Schröteler-von Brandt 2008, 177). Insbesondere der europäische Fordismus sah die Einbindung von starken,[6] staatstra­genden Gewerkschaften mit einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und bedeutenden korporativen sozialpartnerschaftlichen Elementen vor, was den Aufstieg der Sozialdemokraten durch ihr traditionelles Naheverhältnis zu den Gewerkschaften erheblich begünstigte. (Vgl. Reitter2005, online)

Eine keynesianische Wirtschaftspolitik mit dem Staat als Wirtschaftsakteur, der den Ausbau des öffentlichen Sektors vorantrieb, eine Bildungsexpansion zur Reproduktion der Arbeitskraft, ihrer Optimierung und Disziplinierung sowie die vergeschlechtlichte Ar­beitsteilung mit ihrer Orientierung am „Male-Breadwinner-Model“5 zählten neben einer nationalstaatlichen Politik ebenfalls zur Regulationsweise der fordistischen Gesell­schaft. (Vgl. Bareis 2012, 295)

Das Akkumulationsregime des Fordismus war die erste kapitalistische Ideologie, wel­che auch politisch gestützt wurde, da sie sicherstellte, dass industrielle Massenproduk­tion einherging mit Massenkaufkraft und Massenabsatz. (Vgl. Zimmermann 2013, 228)

Die Ausstattung der Haushalte mit elektrischen Haushaltsgeräten (Waschmaschine, Fernseher etc.), industriell vorgefertigten Lebensmitteln und Automobilen entsprach dem Trend der effizienten Betriebsführung mit dem Ergebnis der maximalen Produkti­vität. Der Erhaltung der Natur wurde dabei wenig Beachtung geschenkt. Diese wurde auf ein reines Ressourcenreservoir zur Be- und Vernutzung reduziert. (Vgl. Bartelhei- mer&Kädtler 2012, 62)

Möglich wurde die Steigerung des materiellen Wohlstands durch die Beteiligung der Lohnabhängigen an Produktivitätssteigerungen, die Schaffung betrieblicher und wohl­fahrtsstaatlicher Sicherungssysteme, die Ausdehnung von Schutz- und Partizipations­rechten (vgl. Dörre 2009, in: Zimmermann 2013, 228), eine antizyklische keynesianisch geprägte Subventionspolitik und feststehende Wechselkurse bei internationalen Trans­aktionen (Bretton-Woods-System) (vgl. Jessop, in: Zimmermann 2013, 228). Durch eine „Stabilisierung des Instabilen“ (Dörre 2009, 57) konnten soziale Ungleichheiten und Exklusionsmechanismen reduziert und der „soziale Friede“ gesichert werden (vgl. Dörre 2009, 57).

Damit sicherte sich die Politik nicht nur die Arbeitnehmerinteressen, sie wurde auch zu einer der „profiliertesten Steuerungsorgane des kapitalistischen Wirtschaftens selbst (...)“ (Zimmermann 2013, 229).[7]

Damit das ökonomische Konzept des Fordismus seine volle Wirkung entfalten konnte, mussten Voraussetzungen geschaffen werden: Lutz (1984) titulierte dies als „innere Landnahme“ bisher nicht kapitalistischer Lebensbereiche und Wirtschaftssektoren in die kapitalistische Ökonomie. Als Beispiel dient die bereits angesprochene „Industriali­sierung“ der Haushalte, welche durch die Ausstattung mit elektronischen Geräten, die Erzeugung industriell vorgefertigter Lebensmittel und die Massentauglichkeit des Auto­mobils vorangetrieben wurde. (Vgl. Bartelheimer & Kädtler 2012, 62)

Eine ähnliche, von Kühl stammende Formulierung ist die Implementierung des „fordis- tischen ProduktionsparadigmasΊ“6 (Kühl 2008, 129) in Bereiche der nicht-kapitalisti­schen Umwelt (vgl. Bosančic 2014, 29). Diese „innere Landnahme“ führte zu einer for- distischen Vergesellschaftung bzw. zur Installierung einer neuen Gesellschaftsform, in der jede Art von Individualisierung verpönt war: „Das Leben der Menschen wurde ebenso standardisiert wie die Stahlbleche, aus denen sie Autos zusammenschweißten“ (Beck 2000, 39).

Unter diesen Rahmenbedingungen kam es in den westlichen Industrieländern, wie auch im Österreich der Nachkriegszeit, zu einer florierenden wirtschaftlichen Entwicklung. Unter der Kanzlerschaft des SPÖ-Politikers Bruno Kreisky Anfang der 1970er Jahre brach das „Goldene Zeitalter des Sozialstaats“ (Tálos 2015, 1 ) an.

Der Wohlstand stieg, die Einkommensunterschiede waren gering und die gesellschaft­liche Solidarität noch dicht. Dem Staat wurde ein hohes Maß an Vertrauen entgegen­gebracht, hatte er die Bevölkerung doch sicher durch die harten Nachkriegsjahre ge­steuert. Die Behauptung, dass nur durch unbegrenzte freie Märkte und demzufolge durch ein Zurückstutzen des Staates das allgemeine Wohlbefinden gesteigert werden könne, hätte damals wenig Zustimmung gefunden. (Vgl. Nowotny 2016, 15)[8]

Dieses etatistische Vertrauen war auch darin begründet, dass sich der österreichische Sonderweg des „Austro-Keynesianismus“[9] vor allem nach dem ersten Ölpreisschock und der darauffolgenden Wirtschaftskrise zu bewähren schien. (Vgl. Kriechbaumer 2008, 33)

Im Gegensatz zu den restlichen Ländern West- und Mitteleuropas, wo kapitalistisch­marktwirtschaftliche Wirtschaftssysteme herrschten, schien der gemischt-korporative österreichische Kurs zwischen Plan und Markt nicht nur Wirtschaftswachstum und Voll­beschäftigung, sondern auch den Ausbau des Sozialstaats nach dem sozialdemokrati­schen Wohlfahrtsstaatstypus zu gewährleisten. Die negativen Auswirkungen, die sich vor allem in einem hohen Budgetdefizit äußerten, blieben in der öffentlichen Wahrneh­mung lange ausgeblendet. (Vgl. Kriechbaumer2008, 33)

3.1 Die Entwicklung zur Arbeitnehmergesellschaft

Vor allem die Neuerungen in der institutionellen Verankerung des Wohlfahrtsstaats und das Tarifvertragssystem bewirkten eine massenhafte Abwanderung von Arbeitskräften aus dem primären in den sekundären Sektor. Die höheren Löhne in der Industrie und größere Sicherheiten in Bezug auf die Beschäftigung (Kündigungsschutz) und Einkom­men (Kollektivverträge, Pensionsgarantien etc.) veranlassten viele zur Aufgabe ihrer traditionellen, vorkapitalistischen Existenzweisen (vgl. Bosančic 2014, 29/Pasuchin 2012, 43).

Waren zu Beginn der 1950er Jahre noch ca. ein Drittel der Beschäftigten im landwirt­schaftlichen Sektor beschäftigt, sank dieser Anteil bis in die frühen 1980er Jahre auf 8,5 %. (Vgl. Kriechbaumer 2006, 7)

Damit vollzog sich ein grundlegender Wandel in Richtung einer Arbeitnehmergesell­schaft und ein Abschied von der „Proletarität“. Der „proletarische Arbeitertypus“ (Brock, in: Bosančic 2014, 30) manifestierte sich höchstens noch in der Körperlichkeit und in derweitgehenden Fremdbestimmung der Arbeit (vgl. Bosančic 2014, 30).

Die Verbesserung des Lebensstandards der Arbeitenden veranlasste Helmut Schelsky zu seiner Theorie der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“8 (Schelsky 1965):

„In den Wirtschaftswunderjahren nach dem Zweiten Weltkrieg sei erstmals in der Ge­schichte der Arbeiterschaft deren soziale Integration gelungen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um spezialisierte Facharbeiter oder um angelernte ‘Malocher’ han­delte.“ (Bosančic 2014, 28)

Die Konzentration der Arbeiterschaft auf die Industrie, die relative Angleichung der Ein­kommen - die kleine Gruppe der Besserverdienenden beschränkte sich auf Meister und Vorarbeiter - und die meist lebenslange Anstellung im selben Betrieb weisen auf eine[10] starke Homogenisierung der einheimischen, männlichen Arbeiterschaft hin und begüns­tigten eine starke Organisierungs- und Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaften. (Vgl. Bosančic 2014, 30)

Zudem zeichnete sich die Betriebsbelegschaft durch regionale und klassenbezogene Bindungen der Beschäftigten aus. Diese Bindungen spiegelten sich auch in ihrer politi­schen Zugehörigkeit und Gesinnung wider: Hohe Mitgliederzahlen bei den sozialdemo­kratisch dominierten Gewerkschaften waren ein Indiz dafür, dass das Gros der Indust­riearbeiterschaft die Sozialdemokratie als ihre Partei ansah. (Vgl. Pasuchin 2012, 43)

Nowotny bestätigt diese Einschätzung: „Die Industriearbeiter waren ihre Stammwähler und die Sozialdemokratie hat den gesellschaftlichen Aufstieg dieser Stammwähler be­gleitet und gefördert(Nowotny 2016,11)

Erst die Technisierung und Modernisierung der Betriebe in den frühen 1970er Jahren, die damit verbundene Freisetzung manuell tätiger Arbeiterinnen und deren Einsatz in Berufen mit neuen Qualifikationserfordernissen bewirkten eine Heterogenisierung der Arbeiterschicht, die sich auch parteipolitisch nicht mehr eindeutig zuordnen ließ. (Vgl. Faßmann 1995, 93)

3.2 Der Einfluss des Fordismus-Konzepts auf die Sozialdemokratie

3.2.1 Organisatorische Strukturen

Die organisatorischen Strukturen der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerk­schaften waren und sind zum Teil bis heute auf die inklusive fordistische Gesellschaft zugeschnitten: Beide kopierten die streng hierarchische, alles umfassende Pyramide des fordistischen Betriebes. Insbesondere über die fordistischen Strukturen der Sozial­demokratischen Partei schreibt Reitter: „Ebenso wie der fordistische Betrieb dazu ten­dierte, neben der Produktion auch Bereiche wie Sport, Unterhaltung und Wohnen zu organisieren, spannten die Parteien ein umfassendes, hierarchisches Organisations­netz, worin allen, von den Pensionist/innen bis zu den Autofahrern, von den Studieren­den bis zu den Briefmarkensammlern, von Frauenorganisationen bis zu den Sportlern ihr entsprechender Platz angewiesen werden sollte.“ (Reitter 2005, online)

Insofern zeigt sich, dass das gesellschaftliche Leben eine starke parteipolitische Struk­turierung aufwies und es eine klare parteipolitische Zuordnung der Interessen gab. (Vgl. Penz 2007, 77)

Die SPÖ hat durch den Einfluss von Politikberatern, Werbeagenturen, Politstrategen etc. heute zum Teil postfordistische Strukturen angenommen, zumal auch die parteipo­litisch dominierten Verbände ihre Bedeutung verloren haben (vgl. Reitter 2005, on­line/Penz 2007, 77f). Misik kritisiert dennoch die bis heute straffe Parteienstruktur, die vor allem auf ambitionierte junge Menschen abschreckend wirkt. Die Folge ist ein frap­pierender Jugendmangel in der Partei. Viele, die sich entschließen, sich in jungen Jah­ren in der SPÖ politisch zu engagieren, verlassen diese nach einiger Zeit wieder, da sie das Gefühl haben, in einer NGO mehr bewegen zu können (vgl. Misik 2010, o.S.).

Neben der Partei selbst sind insbesondere die Gewerkschaften nach wie vor streng hierarchisch, zentralistisch und paternalistisch organisiert: „Noch immer ist die Grund­einheit der Gewerkschaft der (industrielle) Betrieb, darauf aufbauend - entsprechend dem Industriegruppenprinzip - die Branche. Die Veränderungen der Unternehmens­strukturen mittels Dezentralisierung und Flexibilisierung und der damit einhergehende Wandel der Beschäftigungsstruktur stellen auch die herkömmlichen Organisations­Strukturen der Gewerkschaft in Frage.“ (Moser 1990, 68f)

So wurde dem Anstieg der Frauenerwerbsarbeit nicht in genügendem Ausmaß Rech­nung getragen - gewerkschaftliche Politik geht immer noch in erster Linie von den In­teressen, Bedürfnissen und Erfahrungen männlicher Arbeitnehmer aus-ebenso wenig werden prekäre und atypische Beschäftigungsverhältnisse ausreichend thematisiert (vgl. Weiss 2006, online). Zudem erschwert die zunehmende Heterogenität der Arbeit­nehmerinnen die Interessenvereinheitlichung, was schwindende Mitgliederzahlen zu­folge hat (vgl. Moser 1990, 77). Der Trend in Richtung Internationalisierung der Arbeits­teilung setzt die Gewerkschaften zusätzlich unter Druck (vgl. Moser 1990, 77/Nowotny 2016, 108). Mit dem Erosionsprozess der Gewerkschaften als Teil der Arbeiterbewe­gung ging, infolge der personellen und politischen Verflechtung mit der Sozialdemokra­tischen Partei, auch eine Schwächung dieser einher.

3.2.2 Sozialpartnerschaft

Die Institutionalisierung von ökonomischen Beziehungen als Charakteristikum des for- distischen Regulationsmodus findet in Österreich seinen Ausdruck in der Sozialpartner­schaft (vgl. Maderthaner & Lutz 2007, 51). Diese soll sicherstellen, dass der „soziale Friede“ nicht durch Arbeitskämpfe gefährdet wird. Aus diesem Grund wurden die gro­ßen Arbeiterorganisationen zusehends in die staatlichen Institutionen eingebunden.

Auch heute noch wird über Verhandlungsprozesse Umverteilung zu Lasten des Kapitals organisiert, wenn auch in einem geringeren Ausmaß, als dies noch unter der austro- keynesianischen Wirtschaftspolitik der Fall war. Gewerkschaften und die sozialdemo­kratische Partei verzichten zugunsten eines verstärkten Mitspracherechts auf makropo­litischer Ebene darauf, Kämpfe zu mobilisieren, „welche die Kontrolle über die Arbeit und den Besitz von Produktionsmittel in Frage stellen würden. “ (Becksteiner & Boos & Pire 2009, online)

Es gibt mehrere kritische Sichtweisen, die die Praxis der Sozialpartnerschaft mit dem Niedergang der Sozialdemokratie in Verbindung bringen:

Aus einer marxistischen Sichtweise heraus kann argumentiert werden, dass die Sozial­partnerschaft durch ihren Grundsatz der Tauschbeziehung zumindest oberflächlich eine Versöhnung und einen Ausgleich mit den Kapitalinteressen erzielt, wodurch die Arbei­terinnen zu Passivität erzogen werden. Solidarität kann aber nur dort gedeihen, wo An­tagonismen[11] vorhanden sind (vgl. Walter 2010, 119/Pernicka et al. 2010, 14/Hofer 2007, online). Die Praxis der Sozialpartnerschaft verhindert aber, Antagonismen als solche zu erkennen (vgl. Konecny & Lichtenberger 2011, 4).

Der als „linker“ Autor bekannte Robert Menasse kritisiert ebenfalls den Harmoniedruck, welchen die Sozialpartnerschaft auf nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens aus­übt. Dadurch wird laut Menasse eine aus Antagonismen und gegenläufigen Interessen bestehende Gesellschaft auf subtile Weise entpolitisiert und entdemokratisiert. Dies hat zur Folge, dass Antagonismen nicht mehr als solche wahrgenommen werden. Die ober­flächlich erzeugte, surreale Harmonie führt zu einem spezifischen Verhalten der im Machtzirkel Beteiligten, welches Machtmissbrauch fördert und die Interessen der ei­gentlich zu vertretenden Arbeiterschaft in den Hintergrund drängt. (Vgl. Menasse, in: Maderthaner & Musner 2007, 41 f)

Zudem sieht Menasse in Anlehnung an Max Weber in der Sozialpartnerschaft gar eine „rationale Form der Herrschaftsausübung“ (Menasse 1997, in: Maderthaner & Musner 2007, 41). Sie gilt ihm als ein machtpolitisches Instrument, welches aufgrund ihrer hün­dischen, bürokratischen Strukturen und der Konzentration von Expertinnen und Eliten soziale Konflikte kanalisiert. Da die dominierende Aushandlungspraktik die „Hinterzim­merpolitik“ ist, entzieht sie die Entstehung und Bewältigung von Konflikten der öffentli­chen Diskussion. (Vgl. Menasse, in: Maderthaner& Musner2007, 41)

Menasses Kritik an den Aushandlungspraktiken der Sozialpartnerschaft teilen auch Oberlechner und Micus:

Die Sozialpartnerschaft begünstige insbesondere den Einfluss des ÖVP-SPÖ-Patrona- gesystems („Parteibuchwirtschaft“) auf das sozioökonomische System (vgl. Oberlech- ner 2005, 196):

Die Verschränkung der Sozialpartnerschaft mit politischen Regierungsparteien sowie der Einfluss der staatlichen Industrie fördere durch ihre Kultur des Ausgleichs die „Her­ausbildung einer elitären Kameraderie“ (Micus 2011, 35) und Führungsschicht, die kaum noch einen Bezug zu ihrem Herkunftsmilieu aufweist. (Vgl. Micus 2011,35)

Bereits Kreisky missfiel diese Form der „Packelei“ um Macht und Einfluss, die zudem die moralische Verführbarkeit der Parteielite offen an den Tag legte. Er forderte einen Privilegienabbau, der jedoch in seinen Ansätzen stecken blieb, da sich, wie Kreisky es euphemistisch ausdrückte „niemand etwas wegnehmen lassen will“ (Micus 2011, 36). (Vgl. Leser 2008, 169f)

Maderthaner und Lutz stellen fest, dass bei deutlichen Wohlstandszuwächsen die anti­demokratischen Traditionsbestände der Sozialpartnerschaft durchaus akzeptiert und unbestritten waren. Mit der Erosion des Fordismus und der damit einhergehenden Ver­unsicherung und Flexibilisierung aller Lebensbereiche verlor der sozialpartnerschaftli­che Regulationsmodus seine Legitimation: „Nicht mehr seine Versprechungen stehen im Vordergrund, sondern seine antidemokratischen Versatzstücke.“ (Maderthaner & Musner 2007, 52)

3.2.3 Bildung

Der Stellenwert von Bildung im fordistischen Zeitalter ist für das Verständnis der sozial­demokratischen Krise von zentraler Bedeutung. Einerseits hängt diese mit der Dequa- lifizierung der Arbeiterschaft zusammen, zum anderen aber auch mit dem österreichi­schen Spezifikum des Parteienstaats und dessen Einfluss auf die Bildungsinstitutionen.

Das Taylor'sche Konzept der wissenschaftlichen Betriebsführung („scientific manage­ment“) sah eine strenge Trennung in Hand- und Kopfarbeit vor. Nur das Management sollte nach streng wissenschaftlichen Kriterien den Arbeitsprozess analysieren und pla­nen. Der/die Arbeiter/-in hingegen sollte „angelernt und kontrolliert“ (Mikl-Horke 2007, 65) werden. (Vgl. Bosančic 2014, 26f)

Die Aufteilung der Arbeitsschritte in einfache, manuelle Tätigkeiten erforderte keine speziellen Qualifikationen, für die der/die Arbeiterin eine höhere Bildung benötigt hätte. Aus diesem Grund war die Bedeutung von Bildung im fordistischen Zeitalter für die breite Masse der Arbeiterschaft gering. Die etablierten Industrien beschäftigten hauptsächlich un- bzw. angelernte Arbeitskräfte und Facharbeiter, die im Betrieb aus- gebildetwurden. (Vgl. Opratko 2011, online)

Unter dieser spezifischen Zusammensetzung der Arbeiterschaft begriff bereits Karl Marx die Universitäten als „Reproduktionsapparate der herrschenden Klasse“ (Opratko 2011, online), welche anfangs vor allem von Söhnen und Töchtern der Bourgeoisie be­sucht wurden. Die Teilhabe an Wissen und Bildung war für Marx zwar wünschenswert und für den Aufbau einer schlagkräftigen sozialistischen Bewegung unabdingbar, doch fehlte ihm in den Universtäten der kritische, demokratische und sozialistische Geist. (Vgl. Opratko 2011, online)

Die wenigen typischen „Arbeiterkinder“, die es auf die Universitäten schafften, kamen überwiegend aus besser situierten Arbeiterfamilien (vgl. Schmidt 2015, 60). Die konser­vative Ausrichtung der Universitäten blieb nicht ohne Folgen für die dort ausgebildete sozialdemokratische Elite:

Walter skizziert diese Entwicklung folgendermaßen: Sie [die Arbeiterkinder, Anm. M.G.], waren Getriebene auf der Suche nach Prestige, Ruhm und Anerkennung. Sie grenzten sich von ihrem Herkunftsmilieu immer mehr ab, indem sie sich der privilegier­ten Schicht des Besitzbürgertums auch ideologisch zuwandten und sich zunehmend an

dessen Habitus anpassten (vgl. Walter 2010a, 20ff). Diejenigen, die den Aufstieg ge­schafft hatten, sahen darin kein Resultat kollektiven Bemühens, sondern ein Ergebnis der eigenen Willensstärke und Tüchtigkeit, wonach sie sich auch nicht in der Pflicht fühlten, der Gesellschaft dafür etwas zurückzugeben (vgl. Walter 2010a, 24). Im Ge­genteil: Sie forderten von ihren Mitmenschen dieselbe Ausdauer, Disziplin und Selbst­kasteiung - ihnen sei ja schließlich auch nichts geschenkt worden. Laut Walter ist die­sem Schlag sozialdemokratischer Aufsteiger der Einzug des neoliberalen Paradigmas in die Sozialdemokratie zu verdanken, der folglich zu einem Verlust der sozialdemokra­tischen Ideologie führte (vgl. Walter 2010a, 24f).

Begünstigt wurde dieser Aufstieg durch die enge Verflechtung der österreichischen Par­teien mit der studentischen Hochschulpolitik.

Bis Mitte der sechziger Jahre fand das parlamentarische Drei-Parteien-Spektrum (SPÖ, ÖVP, FPÖ) seine vollständige Entsprechung auch in der studentischen Politik, wenn auch die Stärkeverhältnisse anders und die sozialistischen Studierenden verhältnismä­ßig schwach vertreten waren. Das Engagement in den studentischen Funktionen diente als Karriereleiter für den Aufstieg in die jeweiligen Parteien. Die Karrieren Ferdinand Lacinas[12] oder Karl Blechas[13] begannen nebst anderen allesamt im „Verband Sozialis­tischer Studenten“ (VSSTÖ) (vgl. Pelinka 1998, 149). Insgesamt gingen aus den insge­samt 41 Obmännern und Zentralsekretären der VSSTÖ zwischen 1945 und 1969 neun Spitzenpolitiker auf Bundesebene hervor. Der Rekrutierungsanteil späterer ÖVP-Politi- ker aus den politischen Vorfeldinstitutionen blieb dagegen vergleichsweise gering (vgl. Stimmer 1997, 1046f). Jene, die nach 1968 studiert und sich an den Universitäten or­ganisiert haben, haben kaum oder nicht in dem Ausmaß wie vor 1968 politische Karriere gemacht (vgl. Pelinka 1998, 150).

Wenn auch schwach in der hochschulpolitischen Repräsentation, lockte der „Verband Sozialistischer Studenten“ mit der Möglichkeit des schnellen Aufstiegs und Erfolgs in­nerhalb des Parteiapparats. Diese Perspektive veranlasste viele zu einem Beitritt aus rein opportunistisch-karrieristischen Motiven, zumal die umfassenden Patronagemög­lichkeiten der Partei für ihre Klientel zusätzlich anziehend wirkten (vgl. Kriechbaumer 2006, 17). Damit einher ging jedoch ein „Verschwinden der proletarischen Sozialmoral“ (Thurnher, in: Micus 2011, 36).

Kollektive Interessen traten bei den jungen Social Climbers weit hinter egoistische Ziel­setzungen und die Sozialdemokratie als Partei verlor zunehmend an Herz, was durch die zahlreichen Sozialreformen und die erfolgreiche austro-keynesianische Wirtschafts­und Beschäftigungspolitik anfangs noch gut kaschiert werden konnte. Die ab Ende der 1970er und bis in die 1980er Jahre immer wieder auftretenden Korruptionsskandale, in welche hochrangige Staatsbeamte verwickelt waren, die ihren Aufstieg zum Teil der Mitgliedschaft in der VSSTÖ verdankten, verleiten zu der Annahme, dass die konser­vative Hegemonie an den Universitäten vor 1968 bei den ehemaligen Arbeiterkindern einen Wertewandel auslöste, welcher der Partei einen immensen Imageverlust ein­brachte.

3.2.3.1 Die Bildungsexpansion

Der von der Regierung Kreisky angestoßenen Bildungsexpansion Anfang der 1970er Jahre gingen mehrere Überlegungen voraus. Zum einen war sie eine Reaktion auf sich ändernde sozioökonomische Bedingungen, zum anderen aber auch eine Antwort auf das weltpolitische Gefüge. Schließlich erfolgte die Bildungsexpansion aber auch aus einem ideologischen Aspekt heraus. Wie im Anschluss dargestellt wird, hatte die Bil­dungsexpansion weitreichende Folgen für die Sozialdemokratie.

Bereits in den 1960erJahren begann sich infolge der technischen Rationalisierung ein Strukturwandel hin von alten zu neuen Industrien (Kohle und Stahl zu Chemie, Elektro­nik und Fahrzeugbau) und von Landwirtschaft und Industrie zu Dienstleistungen abzu­zeichnen (vgl. Baethge & Baethge-Kinsky 2004, 13). Besonders im Handel, im Touris­mus aber auch im Banken- und Versicherungssektor überstieg der Beschäftigungsan­teil den europäischen Durchschnitt (vgl. Penz 2007, 92). Die Verschiebung der Beschäf­tigung hin zum tertiären Sektor zog einen Fachkräftemangel nach sich, der durch eine Bildungsoffensive eingedämmtwerden sollte (vgl. Lichtenberger 2011, online).

Zudem trat die Bedeutung der Wissenschaft als Produktivkraft ins Bewusstsein der po­litischen Eliten (vgl. Weidinger2010, 148).

Zum zweiten gewann der Entwicklungsstand des „Humankapitals“ für die wirtschaftliche Dynamik zentrale Bedeutung, was auf die verschärfte Systemkonkurrenz (Ost-West) zurückzuführen war. „Begabungsreserven“ aus allen Milieus sollten Zugang zu den Bil­dungsinstitutionen erhalten. (Vgl. Bittlingmayer& Bauer 2014, 231)

Zum dritten sollte durch eine Umgestaltung der Bildungslandschaft und kritischer, emanzipatorischer Pädagogik den hierarchischen und autoritären Strukturen der Ge­sellschaft entgegengewirkt werden, um so eine Aufhebung des bisherigen Klassencha­rakters der Erziehung zu erwirken (vgl. Kriechbaumer 2006, 176ff). Ungleich verteilte Bildungschancen zwischen sozialen Schichten, Geschlechtern und Regionen sollten beseitigt werden (vgl. Carnap & Edding, in: Hadjar & Becker 2006, 11).

Höhere Bildung geht mit mehreren Effekten einher: Sie bewirkt nicht nur bessere Chan­cen, beruflich Karriere zu machen, und ermöglicht so einen sozialen Aufstieg, sondern verleiht auch kognitive Kompetenzen und Anregungen, kritisch und selbstbestimmt über das eigene Leben verfügen zu können und entsprechende Entscheidungen zu treffen. (Vgl. Schimank 2012, 28)

Vor allem letztgenannter Effekt von Bildung wirkte sich negativ auf die Sozialdemokratie aus: Es entstand eine Optionenvielfalt, die Raum ließ für eine nicht-milieugebundene Individualität (vgl. Walter 2010a, 13). Der Betrieb als Ort der politischen Sozialisation hatte vielfach ausgedient. Die längere Verweildauer in den Bildungsinstitutionen und die dort stattfindende Konfrontation mit politischen Themen ermöglichte es nicht nur, verschiedene politische Strömungen zu reflektieren, sondern beeinflusste auch die Wahlentscheidungen, die zunehmend aus rationalen Gesichtspunkten heraus getroffen wurden. Zudem verstärkten genannte Faktoren die Tendenz, sich aus einer individuel­len Entscheidung heraus einer politischen Partei abseits des eigenen Herkunftsmilieus anzuschließen und sich dort zu engagieren (vgl. Hadjar 2008, 122).

In der Literatur wird dieser Prozess in den 1970er Jahren als „die Phase eines struktu­rellen dealignments“ (Kriechbaumer 2006, 25/Plasser& Ulram 2000, 178) beschrieben. Diese war gekennzeichnet von einem Verlust der Gruppenloyalität, was eine Auflösung der Parteienloyalität mit sich brachte. (Vgl. Kriechbaumer 2006, 25)

Somit löste die Bildungsexpansion eine Individualisierungswelle aus, die einherging mit einem Identifikationsverlust des Industriearbeiters mit der Sozialdemokratie.

Die Expansion umfasste sowohl das „niedere“ als auch das „höhere“ Schulwesen - unter Einschluss der Berufsausbildung. Damit erhöhte sich nicht nur die Zahl der Fach­arbeiterinnen, sondern auch jene der Maturantinnen und Studierenden. Höhere Bil­dungsabschlüsse führten dazu, dass sozialer Aufstieg über eine berufliche Karriere möglich wurde. (Vgl. Schimank2012, 28)

Bis Ende der 1970er Jahre gelang nahezu der Hälfte der Kinder aus Arbeiterfamilien aufgrund von Bildungsabschlüssen und innerbetrieblichen Karrieren der Aufstieg ins Angestelltenverhältnis. (Vgl. Penz2007, 94)

Durch den sozialen Aufstieg verließen die Kinder der Arbeiterfamilien ihr traditionell an­gestammtes Milieu. Je mehr Aufsteiger aber ein Milieu verkraften muss, desto hetero­generwird es und desto weniger vermag es noch einen Konformitätsdruck auszuüben (vgl. Schimank 2012, 28). Die Bildungsexpansion brachte im Zuge des sozialen Auf­stiegs ressourcenstarke Menschen hervor, die nicht mehr angewiesen waren auf kol­lektive Organisationen und die Vormundschaft von Partei- und Gewerkschaftssekretä­ren (vgl. Walter 201 Ob, 127).

Neben dem Ausbau öffentlicher Dienste und der privatwirtschaftlichen Forcierung des tertiären Sektors trug die Bildungsexpansion wesentlich zur Ausbildung einer „neuen Mittelklasse“ bei. Die in den 1960er Jahren durch die Gastarbeiterwelle eingeleitete „Unterschichtung“ der Arbeiterschaft hat sich dadurch noch weiter verschärft. (Vgl. Penz 2007, 91)

Vor allem gering Qualifizierte zählten zu den Verlierern des Bildungsbooms. Da das duale Berufsbildungssystem diesen nicht zugute kam, blieben sie in der Hierarchie ganz unten angesiedelt. (Vgl. Bosančic 2014, 31)

Es entstand der von Beck beschriebene „Fahrstuhleffekt“ (Beck 1986, 121), der sich bis heute als folgenreich für die Sozialdemokratie erweist: Während der qualifizierte Teil derArbeitnehmerschaft und damit auch nahezu die gesamte sozialdemokratische „Ak- tivitas“ im Zuge des technologischen Wandels eine Etage höher fuhr, blieben die ande­ren aufdem gesellschaftlichen Parterre. (Vgl. Walter2010a, 19)

[...]


[1] Der sozialdemokratische Spitzenkandidat Rudolf Hundstorfer erreichte 11,3 % der abgegebenen Stimmen (4.371.825). Dahinter reihten sich nur der parteilose Kandidat Ing. Richard Lugner (2,3 %) und Dr. Andreas Khol von der ÖVP (11,1 %). (Vgl. Bundesministerium für Inneres 2016, online)

[2] Ralf Dahrendorf (1929-2009) war ein deutsch-britischer Soziologe und Politiker der FDP. Er ent­stammte einem sozialdemokratischen Elternhaus mit väterlichem Engagement im Widerstand während der Zeit des Nationalsozialismus. Auch er selbst war von Jugend an in der SPD, später - wenn auch nur kurzzeitig - im SDS, aktiv. (Vgl. Wikipedia 2017a, online)

Als nachhaltig prägend, sowohl im wissenschaftlichen als auch im politischen Sinne, beschreibt er seine Begegnungen mit dem österreichischen Philosophen Karl Popper an der London School of Economics und die Auseinandersetzung mit dessen Theorie des kritischen Rationalismus (vgl. Rulff 2011, online). Der kritische Rationalismus geht davon aus, dass es nie eine absolute Garantie für die Wahrheit geben kann, da die Welt, wie sie ist, von jedem Menschen anders wahrgenommen wird. Darum muss jede wissenschaftliche Theorie grundsätzlich in Frage gestellt und auf ihre Falsifizierbarkeit hin überprüft wer­den. Den Raum zur Prüfung von Theorien kann nur eine offene, freie und pluralistische Gesellschaft geben, in der Probleme rational diskutiert werden (vgl. Wikipedia 2007, online).

Der autoritäre Umgang der großen Koalition (CDU/SPD) mit der Außerparlamentarischen Opposition in den 1960er Jahren veranlasste Dahrendorf zum Bruch mit der SPD, welche er in dieser Situation ge­meinsam mit dem Regierungspartner CDU als verkrustet und immobil erlebte. 1967 trat er der liberalen FDP bei, welche zu dieser Zeit als Sammelbecken für das studentische Jungbürgertum galt. Dieser Um­stand gab Dahrendorf Hoffnung, die FDP zu einer liberalen Volkspartei zu machen, um die Hegemonial- stellung der beiden Großparteien zu brechen (vgl. Micus 2009, 36). Sein parteiinterner Aufstieg war ko­metenhaft, währte aber nur kurz (vgl. Micus 2009, 31).

[3] Das Akkumulationsregime ist ein zentrales Konzept der Regulationstheorie und bildet die ökonomischen Gegebenheiten in den jeweils verschiedenen kapitalistischen Phasen ab. Es regelt sowohl den industri­ellen Produktionssektor als auch die gesellschaftlichen Konsumationsbedingungen (vgl. Lipietz 1985, 120). Bezeichnend für ein Akkumulationsregime ist zudem die Beeinflussung von Klassenstrukturen, Wertvorstellungen und Lebensweisen. Es bestimmt die „globalen, gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnisse“ (Hirsch 1995, 75). Zur Stabilisierung des jeweils vorherrschenden Akkumulati­onsregimes dient ein angepasster Regulationsmodus, der im Falle des fordistischen Akkumulationsre­gimes in der Ausbildung des Wohlfahrtsstaats und einem institutionell verankerten Klassenkompromiss, der Sozialpartnerschaft, seinen Ausdruck fand (vgl. Wikipedia 2016c, online).

[4] Der Fordismus - eine Begriffsschöpfung des sozialistischen Theoretikers Antonio Gramsci - ist ein

Akkumulationsregime, in welchem die massenhafte Erzeugung von Konsumgütern durch Massenabsatz bedingt durch Massenkaufkraft ermöglicht werden sollte (vgl. Kühl 2008,128/Hanke 2015,1). Verwirklicht wurde dies durch die rationelle, effiziente und disziplinierte Nutzung der menschlichen Arbeitskraft (Tay­lorismus) im Zuge der zweiten Phase der Industrialisierung (vgl. Kühl 2008,128). Namensgebend für den Fordismus ist die von Henry Ford im frühen 20. Jahrhundert in den USA eingeführte Fließbandarbeit und Produktstandardisierung. Taylorismus und Fordismus sind stets gemeinsam zu denken (vgl. von Saldern

[6] Hachtmann 2009). Der Fordismus war in Österreich das prägende Produktionsmodell der Nachkriegs­zeit bis Mitte der 1970er Jahre (vgl. Konecny & Lichtenberger 2011,2).

[7] Das Male-Breadwinner-Modell sieht den Mann als Vollzeiterwerbstätigen und Familienernährer vor, während sich die Rolle der Frau auf Reproduktionsarbeiten beschränkt. (Vgl. Lewis 2001, 157)

[8] Das fordistische Produktionsparadigma ist gekennzeichnet durch zentrale und hierarchisch aufgebaute Befehlsstrukturen, durch das Prinzip der Normerfüllung und umfassende Überwachung. Disziplin dient dabei als internes Strukturprinzip und wird durch die organisational Ausgestaltung sichergestellt. (Vgl. Witte-Karp 2011,82)

[9] Der Begriff des Austro-Keynesianismus wurde vom österreichischen Wirtschaftsforscher Hans Seidl geprägt und meint eine spezifisch österreichische Form des Keynesianismus während der Kanzlerschaft Bruno Kreiskys (vgl. Wikipedia 2015, online). Kennzeichnend für diese Form der unter Finanzminister Hannes Androsch forcierten Wirtschaftspolitik waren eine antizyklische staatliche Nachfragestimulierung, eine Niedrigzinspolitik zur Förderung von privaten Investitionen, eine Hartwährungspolitik gegenüber der preisstabilen Deutschen Mark, eine moderate Lohnpolitik zur Dämpfung der Inflationseffekte der Vollbe­schäftigungssituation sowie eine Politik der Hortung von Arbeitskräften in der verstaatlichten Industrie zur Überbrückung von Beschäftigungskrisen (vgl. Aust & Leitner 2004, 300). Mittels einer Strategie des „De­ficit Spending“ (Inkaufnahme von Schulden zur Ankurbelung der Nachfrage durch staatliche Investitio­nen) konnte der schwierigen wirtschaftlichen Situation, verursacht durch die erste Ölkrise 1973, entge­gengewirkt werden. Im Vergleich zu anderen Ländern verzeichnete Österreich aufgrund dieser Politik eine relativ geringe Arbeitslosigkeit. Dafür entstanden hohe Budgetdefizite. Der Idee des „Deficit Spen­ding“ zufolge sollten diese in Zeiten der Hochkonjunktur wieder ausgeglichen werden, was jedoch durch Auftreten des zweiten Ölpreisschocks im Jahre 1979 nicht gelang. (Vgl. Wikipedia 2015, online)

[10] Der vom deutschen Soziologen Helmut Schelsky (1912-1984) geprägte Begriffder „nivellierten Mittel­standsgesellschaft“ meint eine Egalisierung der Gesellschaft aufgrund des gesteigerten Wohlstands und der Partizipation der breiten Massen am Konsum (vgl. Brunold o.J., online). Dadurch, so seine Theorie, wäre es zu einer Vereinheitlichung der wirtschaftlichen Lage der Menschen gekommen und die große Interessenskluft, die laut Marx zwischen Bourgeoisie und Proletariat besteht, hätte sich aufgelöst (vgl. Fibich & Richter 2012, online). Eine Folge davon wäre die "Herausbildung einer nivellierten kleinbürger­lich-mittelständischen Gesellschaft, die ebensowenig proletarisch wie bürgerlich ist, d.h. durch den Ver­lust der Klassenspannung und sozialen Hierarchie gekennzeichnet wird" (Schelsky 1954, 218).

Die Theorie wurde bei Erscheinen massiv kritisiert, da in der Praxis keineswegs eine Angleichung der Schichten stattgefunden hatte. Ein großer Teil derArbeiterschaft lebte immer noch in kargen Verhältnis­sen und die Distanz zwischen den verschiedenen Berufsklassen war weit. Es wird davon ausgegangen, dass Schelsky mit seiner Theorie bloß eine Prognose abgeben wollte, wohin die Entwicklung tendieren werde. Die Einordnung in eine komfortable Mitte hinterließ mehr Eindruck als der Verbleib in der unteren Schicht. Heutzutage sind große Bevölkerungsteile in mittleren Soziallagen konzentriert. Eine Polarisie­rung konnte trotz Ausweitung der bürgerlichen Mittelklasse aber nicht verhindert werden. Insofern gibt es keine nivellierte Gesellschaft (vgl. Wehler2003, 103).

[11] Antagonismen liegen im Wesen einer kapitalistischen Gesellschaft begründet, da der Kapitalismus selbst die Existenz einer Klassengesellschaft voraussetzt. Die Empirie zeigt deutlich, dass Schelskys Theorie der „nivellierten Gesellschaft“ auch unter sozialstaatlichen Errungenschaften und der Etablierung der Konsumgesellschaft nicht eingetreten ist. (Vgl. Wehler2003, 103)

[12] Ferdinand Lacinas aktive politische Karriere begann 1980 als er Kabinettschef von Bundeskanzler Bruno Kreisky wurde. Nachdem er von 1982 bis 1984 Staatssekretär im Bundeskanzleramt war, über­nahm er in der Folge das Bundesministerium für Verkehr. Die Krise der verstaatlichten Industrie und der Intertrading-Skandal prägten seine Amtszeit als Verkehrsminister. 1986 berief ihn Bundeskanzler Franz Vranitzky ins Finanzministerium. Die Position als Finanzministers hatte er bis 1995 inne. Er ist damit längstdienender Finanzminister in der Geschichte Österreichs. (Vgl. Wikipedia 2016d, online)

[13] Karl Blecha war von 1983 bis 1989 Innenminister der Republik Österreich. Aufgrund seiner Verwick­lungen in der Lucona-Affäre und in der Noricum-Affäre trat er 1989 von seinen Ämtern zurück. Heute ist Blecha Präsident des Pensionistenverbands Österreich. (Vgl. Wikipedia o.J., online)

Ende der Leseprobe aus 123 Seiten

Details

Titel
Die Sozialdemokratie in der Krise
Untertitel
Ursachenanalyse und Ansätze zur Krisenbewältigung am Beispiel der Sozialdemokratischen Partei Österreichs
Hochschule
Johannes Kepler Universität Linz  (Institit für Gesellschafts- und Sozialpolitik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
123
Katalognummer
V383714
ISBN (eBook)
9783668594166
ISBN (Buch)
9783668594173
Dateigröße
1308 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialdemokratie, Krise, Keynesianismus, Bildungsexpansion, Individualisierung, Neoliberalismus, Wohlfahrtsstaat
Arbeit zitieren
Maria Grashäftl (Autor:in), 2017, Die Sozialdemokratie in der Krise, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/383714

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