Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Herausforderungen und Störungsquellen interkultureller Kommunikation und Kompetenz.
2.1 Zum Begriff und Konzeption von „Interkultureller Kompetenz“.
2.2 Ein heuristisches Modell zur Interpretation interkultureller Kommunikationsstörungen
2.3 Zur Dialektik der Differenz im interkulturellen Umgang
3. Objektiv-hermeneutische Fallrekonstruktion:
3.1 Zum Interpretationsverfahren der Objektiven Hermeneutik
3.2 Interpretation einer Unterrichtssequenz
4. Diskussion und theoretische Rahmung des Falls..
5. Ausblick und Konsequenzen für Theorie, Praxis und Forschung.
Literaturverzeichnis
Anhang
Erklärung.
1. Einleitung
Die erfolgreiche Kommunikation in Schulklassen, in denen eine Vielfalt von unterschiedlichen Nationalitäten, Kulturen und Religionen vertreten ist, bildet für das konstruktive Miteinander eine wichtige Basis, aus der sich die Bedeutung Interkultureller Kompetenz als „Schlüsselqualifikation“ (Bender-Szymanski 2010) im pädagogischen Handeln entwickelt hat. Die Vielfalt der Kulturen ist im Schulalltag der Lehrkraft präsent – und mit ihr ebenso vielfältige Herausforderungen. Eine Hauptherausforderung besteht darin, interkulturelle Kommunikation störungsfrei zu ermöglichen und dabei gleichzeitig den Paradoxien und Antinomien professionellen Handelns (Helsper 2004) ausgesetzt zu sein. Im Hinblick auf die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen, geprägt durch starke Migrationsflüsse, stellt die Dialektik der Differenz (Doris Edelmann 2015), auf die in Kapitel 2.3 eingegangen wird, eine im Kontext interkulturellen Unterrichts besonders zu berücksichtigende Antinomie dar. Daher stellt sich in dieser Arbeit zum Einen die Frage, inwiefern interkulturell kompetentes Handeln in der rekonstruierten Stunde erkennbar ist, zum Anderen, welche Ursachen den Kommunikationsstörungen im rekonstruierten Unterricht zugrunde liegen und inwieweit das dialektische Spannungsverhältnis das Lehrerhandeln im interkulturellen Kontext prägt. Wirft man einen Blick auf die Forschungsliteratur zum Thema Interkulturelle Kompetenz, so wird deutlich, dass sich unterschiedliche Disziplinen mit dem Thema „Umgang mit Kommunikationsstörungen in interkulturellen Situationen“ auseinandergesetzt haben. Trotz der in der Fachliteratur aufzufindenden, zahlreichen und vielfältigen Abhandlungen zu diesem Thema scheinen die vorhandenen Studien noch keine für die Unterrichtspraxis zufriedenstellenden Antworten und Lösungen für interkulturelles Lehrerhandeln geliefert zu haben (vgl. Bender-Szymanski 2010, S. 153). Aus diesem Grund werden zunächst verschiedene Sichtweisen zur Begrifflichkeit der Interkulturellen Kompetenz, darunter das Pyramidenmodell von Deardorff (2006), vorgestellt werden. Daran anschließend soll Auernheimers heuristisches Modell (Auernheimer 2008) für interkulturelle Kommunikationssituationen vorgestellt werden, mit dessen Hilfe die Störfaktoren für bestimme Kommunikationssituationen aufgedeckt und interpretiert werden können. Forschungsmethodisch wird „detektivisch“ und rekonstruktiv eine authentische Situation aus einem naturwissenschaftlichen Unterricht in Anlehnung an die Auswertungsmethode der Objektiven Hermeneutik interpretiert (vgl. z.B. Oevermann 2002, Wernet 2009). Später werden die Ergebnisse im Hinblick auf Möglichkeiten des Lehrerhandelns diskutiert.
2. Herausforderungen und Störungsquellen interkultureller Kommunikation und Kompetenz
2.1 Zum Begriff und Konzeption „Interkultureller Kompetenz“
Die Tatsache, dass bereits eine Fülle an unterschiedlichen Modellen zur Beschreibung von Interkultureller Kompetenz entwickelt wurden, macht es besonders schwer sich einen Überblick über die Diskussion zum Thema zu verschaffen. (vgl. Auernheimer 2002, S.183) Um einen Einblick zu gewähren, sollen im Folgenden die wichtigsten Definitionen ausgeführt und Deardorffs Pyramidenmodell (2006) zur interkulturellen Kompetenz vorgestellt werden. Der von Hinz-Rommel (1994) etablierte Begriff der Interkulturellen Kompetenz, fasst die „notwendigen persönlichen Voraussetzungen für angemessene, erfolgreiche oder gelingende Kommunikation in einer fremdkulturellen Umgebung, mit Angehörigen anderer Kulturen.“ (1994, S.56) zusammen. Dabei bezieht er sich auf Fähigkeiten wie der Interaktionsfreudigkeit, Selbstsicherheit, Empathie und die Fertigkeit mit Widersprüchlichkeiten umzugehen. Interkulturelle Kompetenz umfasst nicht nur kulturallgemeines und kulturspezifisches Wissen, sondern auch „dessen Anwendung in einem konkreten Handlungsvollzug“ (Over u.a. 2008, S. 66) Nach dem Pyramidenmodell von Deardorff (2006) lassen sich drei Kategorien bilden, die die Interkulturelle Handlungsfähigkeit umfassen: 1. Haltung und Einstellungen, 2. Wissen und Fähigkeiten, 3. interne und externe Wirkungen. Die Grundlage bilden Haltungen, wie z.B. Respekt, Offenheit, Unvoreingenommenheit, Neugier, Ambiguitätstoleranz u.a. Die zweite Kategorie verdeutlicht die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Wissen und Fähigkeiten, darunter die kulturelle Selbstreflexion, das Kulturverständnis u.a., gekoppelt an Fertigkeiten wie dem Zuhören, dem Beobachten etc. Auf Grundlage dieser Ebenen ergeben sich interne Wirkungen, wie zum Beispiel der Perspektivwechsel, die Relativierung der ethnozentrischen Sicht oder die Empathie, die sich in externe Wirkungen; effektives und angemessenes Verhalten und Kommunikation in interkulturellen Gegebenheiten, manifestieren. In Anbetracht dieser Erkenntnisse beschreibt die Interkulturelle Kompetenz, nach Deardorff, „die Kompetenz, auf Grundlage bestimmter Haltungen und Einstellungen, sowie besonderer Handlungs- und Reflexionsfähigkeiten in interkulturellen Situationen effektiv und angemessen zu interagieren“ (2006, S. 5). Vor dem Hintergrund der theoretischen Erkenntnisse wird deutlich, dass die interkulturelle Handlungsfähigkeit, die für eine erfolgreiche zwischenmenschliche Kommunikation unabdingbar erscheint, zurecht als wichtige Schlüsselqualifikation im Bildungswesen erachtet wird.
2.2 Ein heuristisches Modell zur Interpretation interkultureller Kommunikationsstörungen
Auernheimer geht davon aus, dass jegliche Art von Kommunikationsstörung durch divergente, potentiell kulturell geprägte Erwartungen entsteht, die zu Erwartungsenttäuschungen führen können. Der Rahmen („framing“), der sich auf die Kommunikationssituation auswirkt, kann dabei von den Kommunikationsteilnehmern beeinflusst werden. Überdies geht Auernheimer von der Annahme aus, dass eine entscheidende Störungsquelle der Kommunikationssituation auf der Beziehungsebene der Interaktanten liegt. Diese Tatsache könnte letztendlich im schlimmsten Fall in Diskriminierung und Herabwürdigung ausarten. Auf Grundlage dieser Überlegungen erarbeitete Auernheimer (2008) ein heuristisches Modell für die Interpretation interkultureller Begegnungen und die Herauskristallisierung möglicher kommunikativer Störfaktoren. Der Interaktionsverlauf wird nach ihm durch folgende Dimensionen bestimmt: „Machtasymmetrien, Kollektiverfahrungen, Fremdbilder und differente Kulturmuster oder Scripts“ (Auernheimer 2008, S. 45). Obwohl die Machtasymmetrie die Interkulturelle Kommunikation deutlich beeinträchtigt, sind noch immer „Interkulturelle Beziehungen […] fast durchweg durch Machtasymmetrie – Status -, Rechtsungleichheit, Wohlstandsgefälle – gekennzeichnet“ (Auernheimer, 2010, S.185 ). Auch die Sprachmächtigkeit (diskursive Macht) kann in ein Ungleichgewicht in der Kommunikation resultieren, das das Aushandeln von Kommunikationssituationen erschwert, wenn nicht sogar verunmöglicht, da der Unterlegene in der Regel die – meist nonverbal vermittelte – Beziehungsdefinition des Überlegenen übernehmen muss (vgl. Ebd. S.186). Unter Kollektiverfahrungen fasst Auernheimer sowohl geschichtliche als auch gegenwärtige Kollektiverfahrungen zusammen, wie z.B. Rassismuserfahrungen von Minderheiten, oder historisch zurückliegende Geschichten, wie die Kolonialgeschichte oder auch die deutsche Geschichte des Nationalsozialismus. Wichtig anzumerken ist die Tatsache, dass Kollektiverfahrungen die gegenseitige Wahrnehmung und Verhaltenserwartung bestimmen, auch wenn sie oft Unterbewusst in einem schlummern (vgl. Auernheimer 2008, S. 49). Fremdbilder sind diskursive Konstrukte, die ebenso die Erwartungshaltung der Kommunikationsteilnehmer/innen beeinflussen können. Es wird angenommen, dass sich jene zum Teil aus Kollektiverfahrungen speisen und zu bestimmten Vorstellungen können, die nicht der sozialen Realität entsprechen. Sie entstehen durch die Bildung Vorurteile und Stereotypen, die wiederum das „Aushandeln kultureller Identität“ (Ebd., S. 54) erschweren. Differente Kulturmuster stehen erst an letzter Stelle, da Auernheimer diese Dimension zwar für relevant, aber gleichzeitig auch oft überbewertet hält. Unsere Erwartungen werden ausgehend von unseren Deutungsmustern, den „kulturellen Codes“ (Ebd., S. 54), nach denen wir unreflektiert und selten darüber bewusst unsere Lebensweise anpassen, geformt. Darunter zählen u.a. viele nonverbale Ausdrucksformen (Mimik, Gestik, Körperhaltung) und Kommunikationsrituale, die je nach kulturellen Kontext unterschiedlich interpretiert, und zu interkulturellen Missverständnissen können (vgl. Ebd., S. 55).
2.3 Zur Dialektik der Differenz im interkulturellen Umgang
Antinomien zeichnen sich dadurch aus, dass sie für das pädagogische Handeln „konstitutiv[...] und nicht aufhebbar[...]“ (Helsper 2004, S.67) sind. In Bezug auf pädagogisches Handeln im interkulturellen Unterricht stellt die „Dialektik der Differenz“ (Edelmann 2015) ein Antinomiegeflecht dar, das für professionelles Handeln besonders zu berücksichtigen ist . Das dialektische Spannungsverhältnis im Lehrerhandeln liegt dabei zwischen der „Beachtung und Nichtbeachtung kultureller Hintergründe ihrer Schüler/innen” (Edelmann 2006, S. 239). Diesen unauflösbaren Widerspruch im Umgang mit der migrationsbedingten Heterogenität erklärt Edelmann anhand des folgenden Modells (Abb.1), das von Schulz von Thun (1997) in Anlehnung von Helwig (1967) weiterentwickelt wurde:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Dialektk der Differenzen im Werte- und Entwicklungsquadrat. (Entnommen aus Edelmann 2007, S. 223)
Die jeweiligen Gegenpole “Gleichheit” und “Differenz”, die sich einerseits in der expliziten Nichtbeachtung von Unterschieden (links oben in der Abb.), und der dazugehörigen Antipode “Differenz”, der sich durch die explizite Herausstellung von Unterschieden charakterisiert, bilden das Spannungsfeld, in dem sich eine Lehrkraft im interkultureller Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität bewegt. Es wird deutlich, dass sich die gegensätzlichen Werteorientierungen gegenseitig bedingen und somit unaufhebbar sind. Würde ein Pol nicht in Abhängigkeit seines Gegenpols stehen, so könnte zum Einen die reine Fixierung auf die “Gleichheit” (links unten in der Abb.), durch die Unbeachtung spezifischer Bedürfnisse zu Diskriminierungen führen, zum Anderen wäre nicht auszuschließen, dass die Überbetonung von “Differenzen” (rechts unten in der Abb.), durch die Negierung gemeinsamer Eigenschaften, unter anderem Kulturalisierungen hervorrufen würde. Dementsprechend wird deutlich, dass „für einen professionellen pädagogischen Umgang mit der migrationsbedingten Heterogenität [...] immer Gleichheitsorientierungen und Differenzorientierungen notwendig sind, damit keine entwertende Übertreibung der einen oder der anderen Position eintreten kann” (Moosmüller 2009, S.129). s An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass es mir hierbei nicht darum geht, die dargestellten Aspekte über den Forschungsgegenstand bei der späteren Fallrekonstruktion zu subsumieren. Die herauszuarbeitenden Definitionen Interkultureller Kompetenz, die Ursachen verschiedener Kommunikationsstörungen, sowie das Spannungsverhältnis in der Dialektik der Differenz sind als allgemeine Wissenskontexte und -informationen zu verstehen, auf die bei der folgenden Interpretation zurückgegriffen werden, wenn sie anhand der auszuwertenden Unterrichtsinteraktionen deutlich rekonstruierbar sind.
3. Objektiv-hermeneutische Fallrekonstruktion
3.1 Zum Interpretationsverfahren der Objektiven Hermeneutik
Das Verfahren der Objektiven Hermeneutik geht auf Ulrich Oevermann (2002) zurück und wird besonders in der qualitativen Sozialforschung zur Textinterpretation genutzt. Ziel hierbei ist es, hinter den einzelnen subjektiven Bedeutungsstrukturen einer Äußerung oder Handlung, die objektiven Bedeutungen (latente Sinnstrukturen) (vgl. Schelle 2010, S.47), festzustellen. Bei der Objektiven Hermeneutik wird davon ausgegangen, „dass sich die sinnstrukturierte Welt durch Sprache konstruiert und in Texten materialisiert.“ (Wernet 2009, S.11) Es handelt sich um ein regelgeleitetes Verfahren, durch das die objektiven Bedeutungsstrukturen eines Textes, rekonstruiert werden sollen. Der Textinterpretation liegen folgende fünf Prinzipien zugrunde (vgl. Wernet 2009, S.21ff.):
Das erste Prinzip ist das der Kontextfreiheit, nach dem die Rahmenbedingungen eines Interaktionsprozesses vorerst außer Acht gelassen werden um eine objektive und unvoreingenommene Interpretation der Handlung zu gewährleisten. Eine kontextfreie Sicht auf die Handlung sorgt für die Distanzierung zum vorgegebenen Kontext des Textes, welches dem Wissenschaftler ermöglicht, ein größeres Kontextrepertoire gedankenexperimentell aufzufächern und adäquate Kontexte zu erschließen, die mit den Äußerungen im Text kompatibel erscheinen. Nach dem Prinzip der Wörtlichkeit sollte der Ausgangstext wörtlich genommen werden, d.h. man sollte ausschließlich das interpretieren, was im Text auch steht, ohne eigene Änderungen am Text vorzunehmen, wie zum Beispiel das Hinzufügen oder Entfernen un/passender Äußerungen oder gar eine Umdeutung des Textes. Das Prinzip der Sequentialität beinhaltet, dass ein zu analysierender Text von Sequenzstelle zu Sequenzstelle schrittweise streng nach Ablauf des Textes durchgearbeitet beziehungsweise interpretiert wird und keinesfalls die für die Interpretation vermeintlich wichtigen Textstellen vorgezogen werden. Der Text der nach einer Sequenzstelle folgt, sollte vorerst unbekannt bleiben um diesen unvoreingenommen interpretieren zu können. Nach dieser Interpretation darf die folgende Textpassage mit in die Interpretation eingebettet werden. Nach dem Prinzip der Extensivität sollen kleinste Informationsmengen, selbst Wortpartikel, detailliert ausgearbeitet werden. Durch verschiedene Lesarten sollen neue Möglichkeiten zur Interpretation des Textes in Erscheinung treten. Das letzte Prinzip, Sparsamkeit, beschreibt die textimmanente Interpretation eines Textes. Demnach sollen „nur solche Lesarten gebildet werden, die ohne weiteres Kontextwissen oder weitere Zusatzannahmen über den Fall an den interpretierten Text erzwungen sind''(Wernet 2009, S. 35). So könnte man der Gefahr entgehen, außertextliche Handlungen hinein zu interpretieren, die in keinem Zusammenhang mit dem Text stehen.
3.2 Interpretation einer Unterrichtssequenz
Bei dem vorliegenden Fall handelt es sich um die nachträgliche und gekürzte Beschreibung einer Unterrichtsszene aus dem naturwissenschaftlichen Unterricht einer 5. Klasse, die ein Praktikant beobachtet hat. Die Schülerinnen und Schüler sind seit drei Wochen an der neuen Schule, einer Realschule plus. Inhaltlich geht es im Unterricht um das Thema „Sinnesorgane“, präziser um den Geschmackssinn. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich gegenseitig mit Wattestäbchen, getränkt in verschiedene Lösungen, auf vorgegebene Zonen der Zunge tupfen und die jeweiligen Geschmacksrichtungen (süß, sauer usf.) bestimmen.
S1: Ich darf das nicht machen, weil wir Ramadan haben.
Der Schüler[1] weist eine unbekannte Aufforderung, die persönlicher, gesellschaftlicher, erzieherischer oder religiöser Art sein kann mit der Begründung der Unvereinbarkeit jener unbekannten Bitte oder Aufforderung mit der Glaubenspraxis des Ramadan zurück. Die Aussage des Schülers gibt eine maximal klare negative Antwort auf die Erwartung des unbekannten signifikanten Anderen, die in ihrer Ausführlichkeit durch die Einbezugnahme einer Erklärung einem „Geständnis“ gleichkommt, das die grundsätzliche Anerkennung beinhaltet, dass die Aufforderung des Anforderers berechtigt ist. Auffallend an dieser Sequenz ist weiterhin der Wechsel der Personalpronomina „ich“ zu „wir“, der eine Sicherheit durch die daraus resultierende Gruppenzugehörigkeit des Schülers impliziert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
L: Du isst oder trinkst doch nichts dabei.
Die Lehrkraft erwidert mit einer Verwunderung über das vermeintliche Informationsdefizit des Schülers, die durch das Modalpartikel „doch“ folgenden Vorwurf impliziert: „Wie du eigentlich wissen müsstest.“ Wenn man gedankenexperimentell überlegt, in welchen Situationen die vorliegende Sequenz eintreten könnte, lässt sich feststellen, dass diese auch in einem verführerischen Kontext, am Beispiel einer Person, die von Freunden gebeten wird, in eine Bäckerei zu gehen, jedoch diese Bitte ablehnt, da jene, in einer Diät befindend, sich nicht durch die Gerüche in Versuchung zu „sündigen“ verleitet werden möchte, trotz der Tatsache, dass sie dabei „nichts isst und trinkt“. Im übertragenen Sinne auf den Kontext der Fastenzeit stellt die unbekannte Aufforderung auch eine „sündhafte Versuchung“ dar, da der Fastenmonat, der zu den „fünf Säulen“ (islamischen Pflichten) gehört, „eine Zeit der intensiven religiösen Praxis, die sich nicht allein im körperlichen Fasten ausdrückt“ (Brügel u.a. 2010, S.10), ist. Diese Art mangelnder Kenntnis kulturspezifischer Scripts der Lehrkraft, die wiederum falsche Erwartungen bedingt, kann nach Auernheimer zu Beziehungsstörungen führen (vgl. Kap. 2.2).
L: Ich verstehe das nicht.
Die Lehrkraft gibt zu, etwas, auf das sich das deiktische Pronomen bezieht nicht verstanden zu haben. Das „'Verstehen' findet dabei „auf verschiedenen Ebenen statt, die von phonetischer Wahrnehmung über Gestik und Mimik bis zu Wort- und Inhaltsverstehen reichen. In interkulturellen Kommunikationen spielen auf der Wort- und Inhaltsebene auch Metaphorik, Konnotationen wie auch versprachlichte Weltsichten eine Rolle“ (Luchtenberg 1999, S. 225). In diesem Fall ist das Nichtverstehen nicht durch das Unwissen bedingt, da nach der Lehrkraft während des Ramadan nur die Nahrungsaufnahme verboten sei, sondern es wird Unverständnis auf die zuvor versprachlichte Weltsicht des Schülers in Bezug auf die unbekannte Aufforderung ausgedrückt.
L: Das ist doch Arbeitsverweigerung.
Fortgesetzt wird die Interaktion mit einem Vorwurf der Arbeitsverweigerung, der durch den Gebrauch des Modalpartikels „doch“ auf die Selbstverständlichkeit des Bewusstseins über schulische Rahmenbedingungen seitens des Schülers appelliert. Im Vorwurf über die Nichtausführung der Aufforderung konkretisiert sich die Asymmetrie der Sozialbeziehung zwischen den Interaktanten, die auch gedankenexperimentell dem militärischen Kontext zuzuschreiben ist, in dem die Gehorsamsverweigerung, die Weigerung eines Soldaten (gemäß §20 Wehrstrafgesetz), verurteilt wird. Darüber hinaus findet sich eine grundsätzliche Machtasymmetrie bereits in der institutionellen Autorität der Lehrkraft wieder, die wiederum großen Einfluss über das Unterrichtsgeschehen disponiert (vgl. Auernheimer 2008 S. 47f.). Bezüglich des Vorwurfes, verrät ein Blick zurück auf die 1. Sequenz, dass es im vorliegenden Fall nicht um eine Verweigerung der Anweisung handelt, sondern vielmehr die Umstände, die Unmöglichkeit der Anweisung Folge zu leisten, im Weg stehen, sodass, strenggenommen, nicht von Arbeitsverweigerung die Rede sein kann. Ein derart klarer und inadäquater Vorwurf lässt vermuten, dass der Interaktionspartner an dieser Stelle einlenkt. Die Fallstrukturhypothese kann folgendermaßen fortgeschrieben werden:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
S2: Hä, was ist Ramadan?
(Getuschel unter den Schülern)
Ein weiterer Interaktant schließt sich dem Gespräch an. Der in der konventionellen Sprache benutzte Ausdruck des Nichtverstehens oder der Unwissenheit („hä“), in diesem Fall über den Begriff des Ramadan, deutet im Zusammenhang mit der gestellten Frage „was ist Ramadan?“, auf das Bedürfnis einer Klärung. Verstärkt wird diese Annahme durch das Getuschel unter den Schülern, das in gleicher Weise auf den Drang interkulturellen Austauschs hinweist. Es ist zu erwarten, dass die Lehrkraft dieser Verständnisfrage nachkommt oder im ungünstigen Fall bewusst ignoriert, um jener „Krisenkonstellation“ (Oevermann 1997), die die formale Rahmung des Unterrichts gefährden könnte, (vgl. Wernet 2011, S. 5) auszuweichen.
L: Wenn jetzt jeder Ramadan hätte, könnten wir gar keinen Unterricht mehr machen!
Dabei suchte die Lehrerin ständig Blickkontakt zu den Praktikanten.
Die Lehrkraft geht nicht auf die Frage des signifikanten Anderen ein. Stattdessen überspitzt sie die Kommunikationssituation durch die konditional-hypothetische Verwendung eines Konditionalsatzes, nach dem, generalisierend betrachtet, die Glaubenspraxis den geregelten Unterricht verunmöglicht. Die Aussage der Lehrkraft zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich im Spannungsfeld zwischen den als widersprüchlich zu kennzeichnenden Handlungsanforderungen, ausschließlich auf die strikte Einhaltung der Norm gesetzten „Regeln und Routinen der Schule, die formale Rahmung des Unterrichts" (Wernet 2011, S. 5) positioniert. Überdies sind dem Bedingungssatz sarkastische und auch spöttische Züge wahrzunehmen, da die von der Lehrkraft erbrachte Schlussfolgerung des "Nicht-Unterrichtens" im Widerspruch zu ihrer Lehrerrolle steht und für alle Anwesenden als selbstverständlich angesehen wird. Die Asymmetrie zwischen Schüler und Lehrer wird durch diese Form des Spotts[2] verstärkt. Die ständige Suche nach Blickkontakt der Lehrkraft zu den Praktikanten impliziert zum Einen das Verlangen nach Anerkennung der ergriffenen Maßnahme, zum Anderen könnte sie als Unsicherheit des Lehrerhandelns in der vorliegenden paradoxen Handlungssituationen gedeutet werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
4. Diskussion und theoretische Rahmung des Falls
Aus der Analyse des Fallbeispiels in Bezug auf die Theorie Auernheimers (2008) kann festgehalten werden, dass eine entscheidende Störungsquelle der Kommunikationssituation auf der Beziehungsebene der Interaktanten liegt. Vor allem hinsichtlich des deutlich rekonstruierten Machtverhältnis zwischen den jeweiligen Unterrichtsakteuren, welches sich durch eine starke Asymmetrie auszeichnet, zeigt sich die Unmöglichkeit einer Aushandlung des Konflikts. Der Unterlegene, in diesem Fall der Schüler, übernimmt die Beziehungsdefinition des Überlegenen, der Lehrkraft, indem er sich nicht widersetzt und schweigt. Ein Blick auf die verschiedenen Definitionen der Interkulturellen Kompetenz verrät jedoch, dass ebendies zu vermeiden gilt, da Interkulturalität zu verwirklichen meint, „vielfältige, gerade zum Schweigen gebrachte Stimmen zur Kenntnis zu nehmen“ und nicht „hierarchische Verhältnisse durch Anerkennung des Separatismus zu stützen.“ (Prengel, S.93) Die Analyse des Fallbeispiels zeigt ferner, dass Differente Kulturmuster, die unterschiedliche Erwartungshaltungen prägen, die Interkulturelle Kommunikation beeinträchtigt. In diesem Sinne setzt die Lehrkraft die eigenkulturell geprägte Definition von Ramadan durch und fragt dabei nicht nach der Ansichtsweise des Schüler, was wiederum das Aushandeln der Konfliktsituation verunmöglicht. In Bezug auf das Pyramidenmodell von Deardorff (2006) bleiben alle Kategorien, die die Interkulturelle Handlungsfähigkeit charakterisieren, wie dem Fehlen kommunikationsfördernder Haltungen (Ebene 1), dem mangelnden Kulturverständnis (Ebene 2), als auch dem fehlgeschlagenen Perspektivwechsel (Ebene 3), unberücksichtigt, sodass man nach diesem Modell schlussfolgern kann, dass im rekonstruierten Fallbeispiel, interkulturell kompetentes Handeln nicht zum Tragen gekommen ist. Zu guter Letzt wird aus der Analyse des Fallbeispiels nach dem Modell der Dialektik der Differenz (Edelmann 2008) deutlich, dass dieses Antinomiegeflecht, wie generell alle Antinomien des Lehrerhandelns (u. a. Helsper 2004), eine Herausforderung für pädagogisch professionelles Handeln darstellt. Es stellt sich unter Berücksichtigung des rekonstruierten Fallbeispiels, dass Lehrerhandeln in seiner Struktur sowohl unsicher als auch instabil ist, weil dabei „miteinander im Kern unvereinbare Anforderungen aufeinander prallen“ (Schütze u.a. 1996, S.333).
5. Ausblick und Konsequenzen für Theorie, Praxis und Forschung
Aus der in dieser Arbeit durchgeführten Fallrekonstruktion ist besonders die Erkenntnis gewonnen, dass im pädagogischen Handeln symmetrische Beziehungskonstellationen anzustreben sind, um das Aushandeln von Kommunikationsstörungen zu ermöglichen und Problemlösungen für Verstehen und Handeln zu entwickeln (Helsper 2004, S. 74f.). Darüber hinaus zeigt sich im Hinblick auf die eigenen als selbstverständlich erachteten festgefahrenen Kulturmuster, die Wichtigkeit einer generelleren offenen Haltung Fremden gegenüber. Offenheit und Sensibilität sind dementsprechend Grundvoraussetzungen um in interkulturellen Situationen effektiv und angemessen zu interagieren. Im Zusammenhang mit den Handlungsdilemmata, geprägt durch die grundsätzlichen Antinomien und Paradoxien des pädagogischen Lehrerhandelns, zeigt sich unter Berücksichtigung hinzukommender Antinomien im Kontext interkulturellen Unterrichts, dass Interkulturelle Kommunikation eine höchst sensible Angelegenheit ist, die bewusster Reflexion bedarf. Die Fähigkeit diese strukturellen Antinomien zu durchschauen und reflexiv zu bearbeiten und folglich ''Krisenkonstellationen'' in der Handlungspraxis als selbstverständlich zu betrachten, sollte als Ziel für eine gelungene Professionalisierung gesetzt werden. Anhand der methodengeleiteten Analyse des Fallbeispiels lassen sich Adressierungsformen, Beziehungsstrukturen, und mögliche Diskriminierungsursachen und -wirkungen, auf die beteiligten Unterrichtsakteure bzw. deren Reaktionen usw. erfassen. Die Arbeit ermöglicht Erfahrungen und verschiedene Sichtweisen auf Unterrichtssituationen zu sammeln und diese im späteren Arbeitsleben reflektiert anwenden zu können (vgl. Schelle u.a. 2010).
Literaturverzeichnis
Auernheimer, Georg (2008²): Interkulturelle Kommunikation, mehrdimensional betrachtet, mit Konsequenzen für das Verständnis von interkultureller Kompetenz. In: Auernheimer, Georg (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität.Wiesbaden : VS, Verl. für Sozialwiss. (Interkulturelle Studien, 13).
[...]
[1] Ob es sich bei S1 um eine Schülerin oder einen Schüler handelt, ist nicht erkennbar. Aufgrund des bekanntes Kontextes wird zum einen von S. als Schüler/in und damit der rollengemäßen Kennzeichnung der anwesenden Jugendlichen ausgegangen. Der einfacheren Lesbarkeit halber wird im Folgenden das männliche Geschlecht verwendet.
[2] Aßmann (2008) beschreibt Sarkasmus als eine Überhöhung der sprechenden Person, die ihr Gegenüber verdeckt verspotte.