Die Ausbildung von Flüchtlingen aus Afghanistan und Syrien an deutschen Berufsschulen. Wie bisherige Erfahrungen mit Partizipation und Demokratie berücksichtigt werden können


Masterarbeit, 2017

109 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Problemstellung

2 Partizipation
2.1 Der Begriff Partizipation
2.2 Formen, Modi und Bereiche von Partizipation
2.3 Voraussetzungen für Partizipation
2.4 Partizipation von Jugendlichen
2.5 Partizipationserfahrungen und Demokratieverständnis

3 Rahmenbedingungen politischer, schulischer, beruflicher und sozialer Partizipation in Afghanistan und Syrien
3.1 Afghanistan
3.2 Syrien
3.3 Zusammenfassung

4 Thesen zu integrationsrelevanten Auffassungen unbegleiteter, minderjähriger, berufsschulpflichtiger Flüchtlinge und Asylsuchender aus Afghanistan und Syrien
4.1 Afghanistan
4.2 Syrien

5 Fazit, zentrale Ergebnisse und Limitationen

Literaturverzeichnis

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Der Partizipationswürfel (Abs 2006)

Abb. 2: Partizipatives Erleben und Aspekte politischer Identität in Anlehnung an Biedermann (2006)

Abb. 3: Politisches System Afghanistans (EoA 2017a)

Abb. 4: Afghanisches Bildungssystem (IRA 1967, Karlsson & Mansory 2007, 5f., MoE 2008, 6, NUFFIC 2015)

Abb. 5: Politisches System Syriens (Syrian Arab Republic 2012)

Abb. 6: Syrisches Bildungssystem (WES 2016)

Abb. 7: Integrationsrelevante Einflussvariablen

Abb. 8: Provinzen Afghanistans (European Country of Origin Network 2011)

Abb. 9: Verteilung ethnolinguistischer Gruppen in Afghanistan (CIA 2012)

Abb. 10: Afghanische Gebiete unter Kontrolle von Taliban und ISIS zum 22. November 2016 in Anlehnung an ISW (2016b)

Abb. 11: Ausmaß und Verteilung von Sicherheitsvorfällen, ziviler Opfer und konfliktbedingter Vertreibung in Afghanistan (OCHA 2015, 10)

Abb. 12: Syrische Gouvernements (CIA 2007)

Abb. 13: Verteilung ethnisch-religiöser Gruppen in Syrien (CIA 2011)

Abb. 14: Kontrolle der Konfliktparteien über syrische Gebiete am 3. März 2017 in Anlehnung an ISW (2017)

Abb. 15: Ausmaß und Verteilung von Sicherheitsvorfällen, ziviler Opfer und konfliktbedingter Vertreibung in Syrien in Anlehnung an OCHA (2017, 32)

1 Problemstellung

Sage es mir,

und ich werde es vergessen.

Zeige es mir,

und ich werde mich daran erinnern.

Beteilige mich,

und ich werde es verstehen.

(Lao Tse, 6. Jh. v. Chr.)

Allein im Jahr 2015 ist die Zahl der in der Europäischen Union gestellten Asylanträge um über 110% gegenüber dem Vorjahr gewachsen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016a, 27). Deutschland, als ein in der Wahrnehmung der Flüchtlinge sicherer Staat, sowohl in politisch-rechtlicher als auch ökonomischer und medizinischer Hinsicht (Scholz 2013, 126), verzeichnet dabei unter allen EU-Staaten den stärksten Anstieg an Asylgesuchen von knapp 202.000 auf über 476.000 – eine Zahl, die sich in die bereits 2009 beginnende Entwicklung kontinuierlich steigender und in den letzten vier Jahren sprunghaft zunehmender Asylbewerberzahlen einreiht (BAMF 2016a, 14, 27). Ein beträchtlicher Teil der Flüchtlinge lässt sich der Gruppe der unbegleiteten, minderjährigen Berufsschulpflichtigen (UM), also solche, die sich ohne ihre Eltern oder einen gesetzlichen Vormund auf die Flucht begeben haben oder von diesen in deren Verlauf getrennt wurden, zuordnen. Die meisten der 22.255 minderjährigen, unbegleiteten Personen, die im Jahr 2015 einen Asylantrag in Deutschland stellten, kommen aus Afghanistan (34,4%), Syrien (31,3%) dem Irak (8,4%), Eritrea (8,1%) und Somalia (4,5%), wobei knapp 70% zwischen 16 und 18 Jahren alt und damit in der Bunderepublik vollzeitschul- oder aber berufsschulpflichtig sind (BAMF 2016a, 23, Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2016, 41f., 49ff.). Überdies liegt die bereinigte Gesamtschutzquote[1] im Jahr 2015 für Afghanistan bei 76% und für Syrien bei 100% (Deutscher Bundestag 2016b, 4). Zudem wurde im Zuge des neuen Integrationsgesetzes die bisherige Altersgrenze von 21 Jahren für die Aufnahme einer Berufsausbildung aufgehoben (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2016, 3). Gerade in Anbetracht dieser Zahlen ist auch mittel- bzw. langfristig vom Aufenthalt eines Großteils der UM in Deutschland auszugehen, weshalb sich vor allem die Berufsschulen sowohl gegenwärtig als auch in der Zukunft großen Herausforderungen gegenüber sehen.

In den vergangenen Jahren wurde daher das Beschulungsangebot deutschlandweit bereits stark ausgebaut. Alleine in Bayern stieg die Zahl der Klassen zur Beschulung von Flüchtlingen von 190 Anfang 2015 auf rund 770 bis Juli 2016 und wird im Schuljahr 2016/17 voraussichtlich auf bis zu 1.000 Klassen aufgestockt (Bayerischer Landtag 2015, 2, Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst 2016, VBW 2016, 50). Die Modelle sind vielfältig und unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Ausgestaltung von Bundesland zu Bundesland (Massumi, von Dewitz, Grießbach, Terhart, Wagner, Hippmann & Altinay 2015, 12, 45ff.). So wird mancherorts durch die Einrichtung von speziellen Übergangs-, Vorbereitungs- oder Willkommensklassen versucht, die Eingliederung der vielen, neu hinzugekommenen, ausländischen Schüler in Gesellschaft und Schulsystem zu bewerkstelligen, während in anderen Regionen unmittelbar die Teilnahme am Regelunterricht, ergänzt durch spezifische Maßnahmen, möglich ist (Massumi, von Dewitz, Grießbach, Terhart, Wagner, Hippmann & Altinay 2015, 6f., Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2015, VBW 2016, 44f.). In Bayern bspw. wurde mit den sogenannten Berufsintegrationsklassen ein zweijähriges Programm für berufsschulpflichtige Flüchtlinge konzipiert, um diese, schwerpunktmäßig durch die Vermittlung der deutschen Sprache und von Grundwerten, auf die Aufnahme einer Berufsausbildung oder den Besuch einer weiterführenden Schule vorzubereiten (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung 2015, KM Bayern 2016). Darüber hinaus existieren weitere Maßnahmen, wie die ethische Erziehung, die Zusammenarbeit mit Sozialpädagogen, Schulpsychologen oder der Asylsozialberatung, Kurse für Lehrkräfte zur Förderung interkultureller Kompetenz, zum Umgang mit Heterogenität, zu Integration oder mit generellen Informationen zu den Herkunftsländern der Schüler, Werkstattgespräche und Netzwerktreffen (Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg 2016, ISB 2015, 33ff., KM Bayern 2016).

Dass der Schule im Zuge der Integration eine entscheidende Rolle zuteilwird, ist zum einen in der Rahmenvereinbarung über die Berufsschule der Kultusministerkonferenz (2015, 2) verankert, wo im Bereich des schulischen Erziehungsauftrags die Befähigung der Schüler zur sozial verantwortlichen Mitgestaltung der Gesellschaft als zentrales Leitziel festgeschrieben ist. Ebenso bestimmt das Bayerischen Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen, dass die Schüler „im Geist der Demokratie … zu erziehen“ sind und definiert die Förderung ihrer „Bereitschaft zum Einsatz für den freiheitlich-demokratischen … Rechtsstaat“ als zentrale Aufgabe schulischer Einrichtungen (Bayerische Staatskanzlei 2016). Zum anderen herrscht in der Literatur Einigkeit darüber, dass den Bildungseinrichtungen im Integrationsprozess entscheidende Bedeutung zukommt: „Die Teilnahme an schulischer und beruflicher Bildung ermöglicht ihnen [Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien] erst Zugehörigkeitsgefühle gegenüber der bundesrepublikanischen Gesellschaft … und … bildet die Voraussetzung für das Zusammenleben von ausländischen und deutschen Kindern und Jugendlichen“, so Beger (2000, 67). Darüber hinaus hat sich Deutschland den Kinderrechtskonventionen der Vereinten Nationen verschrieben, welche den hier lebenden Kindern und Jugendlichen umfassenden Schutz sowie das Recht auf Bildung bzw. einen Schulbesuch und eine Berufsausbildung garantieren (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2014, 10ff.). Auch werden hier die „Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten“ und den kulturellen Werten des Landes, in dem der/die Minderjährige lebt, sowie die Vorbereitung „auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft“, als besonders wichtige Bildungsziele angeführt (ebd., 22f.). Ebenfalls fest verankert ist das grundlegende Recht, sich an Entscheidungen, die ihre Person betreffen, zu beteiligen (ebd., 22f.). Als Schlussfolgerung lässt sich also festhalten, dass nicht nur eine Schulpflicht seitens der UM besteht sondern diese gleichsam ein Recht auf Integration und Partizipation innehaben – ein Anspruch, der vor allem die Berufsschulen zur Übernahme von Verantwortung zwingt, um ein dauerhaft friedliches Zusammenleben zu ermöglichen.

Dennoch geben im Bereich der Flüchtlingsbeschulung erfahrene Lehrkräfte in einer Umfrage häufig an, mit migrationsspezifischen Problemen, wie bspw. dem „Umgang mit kultureller und religiöser Heterogenität, Rassismus sowie empfundene[r] Ablehnung oder Spannungen und Probleme[n]“ konfrontiert zu sein (Heinrichs, Kärner, Ziegler, Feldmann, Reinke & Neubauer 2016, 235). Ebenso kommt Freytag (2016, 3, 8f.) in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass ein nicht unerheblicher Teil der Flüchtlinge zudem nur über ein mangelhaftes Verständnis von Demokratie verfügt und rückständige, unaufgeklärte Positionen vertritt, wenn es um Themen wie außerehelichen Sex, interreligiöse Ehen oder Homosexualität geht. Unabdingbare Voraussetzung für andauernden Frieden in einer Gesellschaft bildet jedoch, neben einer demokratischen Gesellschaftsordnung, die Etablierung einer „Kultur der Demokratie“, also eine Gemeinschaft aus emanzipierten, mündigen, partizipierenden Bürgern, geeint im Verständnis und in der Verteidigung von Demokratie, ihrer Rechte und Pflichten sowie Prinzipien, wie Freiheit, Toleranz, Respekt, Pluralität, Solidarität, Gleichheit und Gerechtigkeit (Khaki 2013, 11f., 46, 76). Für eine gelungene Integration und die Gewährleistung eines künftigen friedlichen Miteinanders spielen die bisherigen Erfahrungen der UM im Bezug auf Demokratie und Partizipation in ihren Heimatländern daher eine Schlüsselrolle. Denn, einerseits sind Demokratie und ebenso die für deren Entstehung unumgängliche Partizipation erlernbar (Khaki 2012, 46ff.), weshalb fehlende Lernmöglichkeiten und Handlungsspielräume zu Unterschieden im Bereich des Demokratie- und Partizipationswissens führen können. Und andererseits weichen in den Heimatländern der UM solche Rahmenbedingungen, welche die Entstehung und Realisierung von Partizipation (und damit von Demokratie) beeinflussen, mitunter sehr stark von den Gegebenheiten in Deutschland ab (s. Kapitel 3), sodass sich ein unvollständiges oder gar falsches Verständnis der beiden Konzepte herausbilden kann.

Gerade in diesem Bereich herrscht jedoch Nachholbedarf, da bestehende Studien sich vor allem mit den Gelingensbedingungen von Integration, wie bspw. dem Einfluss des Erwerbs der Sprache des Ziellandes und des Aufenthaltsstatus, oder der Analyse der gegenwärtigen Situation an Schulen mit Flüchtlingen befassen (z. B. Heimken 2015, Bauer & Schreyer 2016, Scheiermann & Walter 2016). Und obwohl die in der Betreuung von Flüchtlingen durch Sozialarbeiter und Psychotherapeuten angewandte Methode der transnationalen Biografiearbeit die strukturellen Missstände in den Herkunftsländern mit berücksichtigt, bleibt diese Maßnahme auf die Therapierung von Einzelfällen traumatisierter Flüchtlinge ausgerichtet (Schmitt & Homfeldt 2014, 15ff.). Eine erste allgemeine Orientierung aber für Lehrpersonen, inwiefern bestimmte Faktoren in den Herkunftsländern Afghanistan und Syrien die Partizipation von UM im Schulalltag in Deutschland beeinflussen können, liegt noch nicht vor. Daher wird im Rahmen dieser Arbeit folgender Forschungsfrage nachgegangen: Was sind die Erfahrungen minderjähriger, unbegleiteter, berufsschulpflichtiger Asylsuchender und Flüchtlinge aus den Ländern Afghanistan und Syrien im Bezug auf die Rahmenbedingungen politischer, schulischer, beruflicher und sozialer Partizipation in deren Heimatländern?

Ziel vorliegender Arbeit ist es, mittels einer Literaturrecherche einen detaillierten Einblick in die Lebenswirklichkeit der UM zu erhalten. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen als Hilfestellung dienen, um deren partizipationsspezifsches Verhalten besser einschätzen, vorhersagen und nachvollziehen zu können. Zuerst wird mit Kapitel 2 die theoretische Grundlage der Arbeit gelegt. Hierfür wird zunächst der in dieser Arbeit verwendete Partizipationsbegriff definiert und die Bedeutung von Partizipation für Demokratie und Integration dargestellt. Hiernach werden anhand des Partizipationswürfels nach Abs (2006) die einzelnen Formen, Modi und Bereiche von Partizipation und die Möglichkeiten ihrer unterschiedlichen Ausgestaltung näher beleuchtet. Anschließend werden die Voraussetzungen, welche Partizipation überhaupt erst ermöglichen, präsentiert. Es folgt eine Betrachtung von Partizipation im Bereich von Kindern und Jugendlichen und der in diesem Kontext besonders zu berücksichtigenden Gegebenheiten und Qualitätsstandards. Das Kapitel schließt mit den relevanten Ergebnissen einer Studie von Biedermann (2006) zum Zusammenhang von partizipativem Erfahrungslernen mit politischer Identität und Demokratieverständnis sowie den ergänzenden Befunden einiger weiterer Studien. Daran anknüpfend widmet sich Kapitel 3 der Lebenswirklichkeit der Flüchtlinge und Asylsuchenden in den Herkunftsländern Afghanistan und Syrien bezüglich der partizipationsrelevanten Rahmenbedingungen auf politischer, schulischer, beruflicher und gesellschaftlicher Ebene. Nach Analyse der jeweils vorherrschenden Zustände werden aus diesen Variablen gebildet. Darauf aufbauend werden in Kapitel 4 Thesen für solche Situationen im (Schul-)Alltag aufgestellt, in denen, bedingt durch die zuvor identifizierten Abweichungen hinsichtlich Partizipation ermöglichender Rahmenbedingungen in den beiden betrachteten Heimatländern, die Manifestation von Auffassungen und Handlungen zu erwarten sind, welche der besonderen Aufmerksamkeit bei der Beschulung und Integration von UM bedürfen. Im abschließenden Kapitel 5 werden die zentralen Ergebnisse der Arbeit angeführt, Limitationen aufgezeigt sowie auf Potentiale für die künftige Forschung hingewiesen.

2 Partizipation

Dieses Kapitel widmet sich der aufgrund der Vielzahl an synonym gebrauchten Begriffen notwendigen Abgrenzung und Definition von Partizipation sowie der Darstellung der einzelnen Partizipationsformen, -modi und -bereiche. Danach erfolgt eine Darstellung verschiedener Voraussetzungen, welche für erfolgreiche, echte Partizipation gegeben sein müssen, wobei der Fokus hier entsprechend des Gegenstands der Arbeit nicht auf den individuellen sondern auf den kontextuellen Aspekten liegt. Auch findet eine Betrachtung der Besonderheiten und Qualitätskriterien von Partizipation speziell im Hinblick auf Jugendliche statt. Abschließend werden die Ergebnisse einer Studie von Biedermann (2006) zum Zusammenhang von partizipativem Erfahrungslernen und politischer Identität und Demokratieverständnis in Auszügen vorgestellt sowie um die Erkenntnisse aus weiteren relevanten Studien zu Partizipation und Demokratie ergänzt.

2.1 Der Begriff Partizipation

Die Bedeutung des Wortes Partizipation geht zurück auf den lateinischen Ausdruck partem capere, im Deutschen „einen Teil (weg-)nehmen“ (Moser 2010, 73), und betont damit den aktiven Aspekt von Partizipation. Hart (1992, 5) versteht den Begriff Partizipation als einen Prozess, bei dem solche Entscheidungen, die sich sowohl auf das eigene Leben als auch die Gemeinschaft auswirken, unter Miteinbeziehung aller Akteure getroffen werden. Diese Ansicht deckt sich mit der von Krämer (2013, 11ff.), der Partizipation als „Mittel zum Einbringen eigener Interessen und als Beteiligung an der Fortentwicklung der Gesellschaft“ auf allen Ebenen umschreibt. So bezieht sich Partizipation nicht lediglich auf das politische Milieu, z. B. auf das Wahlrecht oder die Teilnahme an Demonstrationen, obgleich der Begriff in der Vergangenheit hauptsächlich in diesem Kontext diskutiert wurde, sondern erstreckt sich über alle Lebensbereiche und Altersgruppen (Moser 2010, 71ff.). Schulische Partizipation umfasst analog dazu, neben der generellen Teilhabe, also dem Zugang zu Bildung, die Gestaltungsmöglichkeiten im Bildungsbereich, z. B. Mitsprache von Schülern beim Umbau des Pausenhofs oder die Wahl von Klassensprechern (Coelen & Wagener 2011, 118, Oser, Ullrich & Biedermann 2000, 24). Berufliche Partizipation schließt bspw. die Freiheit der Berufswahl sowie den Zugang zum Arbeitsmarkt oder die Organisation in Gewerkschaften mit ein (ebd., 27). Soziale Partizipation schließlich, für die in der Literatur keine einheitliche Definition vorherrscht, beschreibt in dieser Arbeit Art und Ausmaß der Kontakte zu anderen und erstreckt sich damit auch über alle Spielarten gesellschaftlicher Handlungs- und Gestaltungsprozesse, von der Teilnahme am Vereinsleben über Feste und Elterngespräche bis hin zu pädagogischen, religiösen, kulturellen oder karitativen – nicht jedoch politischen – Aktivitäten (Fuchs-Heinritz 2007, 483, Gabriel & Völkl 2008, 269, Preiser 2013, 17).

Neben der aktiven findet sich auch ein passive Form von Partizipation im Sinne von „Zugehörigkeit, Akzeptanz und Ermöglichung“ (Oser, Ullrich & Biedermann 2000, 10), welche die Voraussetzung für Integration[2], also den „positiven Umgang mit Unterschiedlichkeit“ (Krämer 2013, 11), bildet (Preiser 2013, 17). Das heißt, die Möglichkeit, dabei zu sein, wird der zu integrierenden Person oder Gruppe gewährt und die Einbindung vollzieht sich über die Gesellschaft z. B. des jeweiligen Landes (Preiser 2013, 22). Zugleich erfolgt die weitere Integration mittels aktiver Beteiligung, weshalb Preiser (ebd.) Partizipation als „Motor und Wegbereiter“ für Integration und diese wiederum als Voraussetzung für Partizipation bezeichnet. Allerdings ist nicht jede Ausprägung von Partizipation mit Integrationsbemühungen gleichzusetzen, wie am Beispiel von Bürgerinitiativen gegen den Bau von Asylunterkünften ersichtlich wird (Krämer 2013, 13).

Des Weiteren ist Partizipation ein unerlässlicher Baustein für das Zustandekommen von Demokratie, die Biedermann (2006, 79) als:

„…öffentliches Ringen um Geltungsanspruch von einer Gemeinschaft angehörenden Mitgliedern, welche mit einem Willen zur Macht die sie betreffenden Lebensräume in bestimmter Hinsicht dauerhaft verändern wollen, und welche zum Ziele eines Kompromissbedarfs – unter der Akzeptanz der im Voraus definierten und der für alle Mitglieder geltenden Gleichheits- und Freiheitsbestimmungen – eine auf argumentativen Überzeugungskämpfen basierende Entscheidungsfindung in Mehrheitsverhältnissen als geltend akzeptieren“

definiert. Bereits das Element der gemeinschaftlichen Gestaltung von Lebensbereichen mittels eindeutiger Entscheidungsprozesse spiegelt die enge Verwobenheit mit dem Partizipationsbegriff wider, wobei Demokratie sich jedoch stets im öffentlichen Raum verwirklicht und hierfür sowohl im geltenden politischen Prinzip, in Form von Volkssouveränität, Wahlen, Grundrechten und Gewaltenteilung, als auch in der tatsächlich realisierten Staatsform gemäß dieser demokratischen Prinzipien sowie in der Lebensform der Bürger verankert sein muss (Mickel 1983, 75ff.). Moser (2010, 88) unterstreicht die Verflechtung von Partizipation und Demokratie weiter, indem er „Partizipation gleichzeitig als Mittel und Ergebnis der Erziehung zur Demokratie“ umschreibt. So wäre Demokratie ohne ein Mindestmaß an Bürgerbeteiligung nicht überlebensfähig und dient andererseits als Kriterium, anhand dessen sich Aussagen darüber treffen lassen, wie demokratisch oder undemokratisch eine Gesellschaft ist (Hart 1992, 5, van Deth 2009, 141). Das heißt, je umfassender Partizipation verwirklicht ist, desto demokratischer ist die jeweilige Gesellschaft. Schnurr (2001, 1330) beschreibt Partizipation in diesem Zusammenhang daher als „Moment der konstitutionell verbürgten Freiheit und Gleichheit aller, sowie der verbindlichen Anerkennung von Pluralität und offenem Widerstreit der Interessen als unhintergehbare Errungenschaften demokratischer Gesellschaften“. Er betont damit den diskursiven Charakter von Partizipation sowie deren Verständnis als Bürgerrecht, und erweitert das Konzept um die Komponente der Grund- und Menschenrechte, die dadurch garantierten Freiheiten und damit einhergehenden Pflichten.

In der Literatur werden Begriffe wie „Mitsprache, Mitbestimmung, Mitwirkung, Teilhabe, Teilnahme, Beteiligung, Mitgestaltung, Mitentscheidung, Einbeziehung“ bisweilen als Synonyme für Partizipation verwendet, während manche Autoren wiederum Wert auf eine klare Abgrenzung der einzelnen Begriffe legen (Moser 2010, 73ff., Schröder 1995, 16ff., von Schwanenflügel 2015, 15). Um jedoch eine Aussage darüber zu treffen, inwieweit Partizipation in einer konkreten Situation als verwirklicht angesehen werden kann und was genau unter den einzelnen Begriffen zu verstehen ist, bedarf es daher immer einer zusätzlichen Spezifikation hinsichtlich Umfang und Art der Teilnahme, Teilhabe etc. bzw. des Ausmaßes der Verantwortungsübernahme und der Eigenaktivität (Oser, Ullrich & Biedermann 2000, 13, Preiser 2013, 17). Im Rahmen dieser Arbeit soll in Anlehnung an Knauer & Sturzenhecker (2005, 68) und Biedermann (2006, 116) Partizipation als das Recht der Gesellschaftsmitglieder auf demokratische, d. h. hinsichtlich Zugang und Macht freie und gleichberechtigte, Teilhabe in Form mitverantwortlicher Selbstbestimmung an gemeinschaftlichen, diskursiven Entscheidungsprozessen in allen Lebensbereichen gelten.

2.2 Formen, Modi und Bereiche von Partizipation

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Der Partizipationswürfel (Abs 2006)

In der Literatur findet sich eine Vielzahl an Partizipationsmodellen, die sich vornehmlich einer bestimmten Dimension von Partizipation, z. B. deren Form oder Modus, widmen (vgl. Arnstein 1969, Dürr 2005, 34f., Hart 1992, 8ff., Heissenberger 2006, 14). Abs (2006) hingegen liefert, aufbauend auf einigen dieser Modelle, mit seinem Partizipationswürfel (s. Abbildung 1) ein dreidimensionales, ganzheitliches Konzept, in dem er Formen, Modi sowie Bereiche von Partizipation abbildet, weshalb dieses nachfolgend näher betrachtet wird: Unter Formen, in der Abbildung auf der Rückseite des Würfels zu finden, erfasst Abs Partizipationspraktiken, welche hinsichtlich ihrer Qualität aufsteigend von informiert werden bis hin zu (Mit-)repräsentieren angeordnet sind. Auf der untersten Ebene, informiert werden, wird den Partizipierenden die für das jeweilige Vorhaben notwendige Information zugänglich gemacht und so die Voraussetzung für Meinungsbildung, Diskurs und Entscheidung geschaffen. Mitarbeit meint die Übernahme definierter Aufgaben in einem Projekt, wobei die eigene Verantwortung jedoch auf ein Minimum beschränkt bleibt. Obliegt es den Akteuren darüber hinaus, selbständig einzelne Bereiche einer Aktion auszuarbeiten, so ist von Mitgestalten zu sprechen. Auf der nächsthöheren Stufe erfahren die Individuen weitreichendere Einbindung in das Geschehen, indem ihre Ideen und Meinungen zu den verschiedenen Projektstufen und -aspekten abgefragt werden. Eine Verpflichtung auf tatsächliche Umsetzung der Vorschläge seitens der Entscheider besteht beim (Mit-)beraten jedoch nicht. Genießen die Akteure zudem ein Mitspracherecht, mittels dessen sie gezielt und entsprechend des festgelegten Abstimmungsprozesses an Entscheidungen mitzuwirken vermögen, kann die Praktik (Mit-)entscheiden als verwirklicht angesehen werden. Wird den Mitwirkenden die Vertretung der Interessen Dritter zuteil, sodass sie in deren Namen zu sprechen oder handeln befugt sind, gilt dies als (Mit-)repräsentieren.

Die Partizipationsmodi unterscheidet Abs hinsichtlich ihrer Formalisierung, des Problemtyps (real oder virtuell) sowie der notwendigen Form der Teilhabe (reaktiv oder initiativ). Simulierend beschreibt das Partizipationshandeln in virtuellen Umgebungen, z. B. in einem Rollenspiel, zu Lernzwecken, während es bei problem-lösenden Ansätzen gilt, auf Herausforderungen virtueller oder realer Natur, bspw. als Mediator, zu reagieren. Stark formalisierte, regelbasierte Partizipationsmodi, wie z. B. Schülergremien, werden als institutionell bezeichnet, wohingegen ein geringer Grad an Formalisierung und spontanes Agieren, bspw. bei der Informationsbeschaffung, als informeller Modus eizuordnen ist. Projekt-basiert sind solche Modi, die sich vorübergehend der intensiven Bearbeitung eines klar definierten Themas, etwa der Gestaltung des Schulhofes, widmen.

Die Bereiche schließlich, als dritte, auf der Unterseite des Würfels verortete Dimension, meinen die sozialen Kontexte, in denen Partizipation stattfinden kann, hier beispielhaft an der Lebenswelt Schule dargestellt. Auf der individuellen Stufe kann dies eine Schulempfehlung für einen Schüler, im sozialen Umfeld die Sitzordnung, auf Klassenebene die Wahl eines Klassensprechers, unter dem Schulpersonal personelle Entscheidungen, für die Schule deren curriculare Ausgestaltung und im externen Bereich den Kontakt zu Eltern oder Presse bedeuten. Je nach Kontext, z. B. beruflich oder politisch, können die einzelnen Stufen der dritten Dimension flexibel angepasst werden, sodass der Partizipationswürfel in unterschiedlichen Settings die Einstufung vorhandener Partizipationsaktivitäten ermöglicht und die Chance zur Identifikation etwaiger Entwicklungspotenziale bietet.

2.3 Voraussetzungen für Partizipation

Neben den individuellen Faktoren, wie z. B. Motivation, Kompetenz und handlungsleitenden Kognitionen (s. dazu Preiser 2013, 18ff.), welche nicht Gegenstand dieser Arbeit sind, bestimmen vor allem die gesellschaftlichen, politischen oder gesetzlichen Strukturen und Kontextbedingungen, ob und inwieweit Partizipation verwirklicht werden kann (BLK 2005, 3). Diesbezüglich können generell folgende grundlegende Voraussetzungen für Partizipation identifiziert werden: Zunächst einmal ist Partizipation selbst eine essentielle Vorbedingung für Partizipationshandeln, da es sich hierbei um einen Erfahrungs- und Lernprozess handelt (BLK 2005, 5, Moser 2010, 91). Dies heißt, das Verstehen von Partizipation und der hierfür notwendige Erwerb von Wissen und die Kompetenzentwicklung setzen eigene Partizipationserfahrungen voraus und können nicht durch abstrakte Lehre sondern nur durch Beteiligung am Prozess selbst schrittweise realisiert werden (Hart 1992, 5). Jedoch ist der Transfer solcher Erfahrungswerte von einem Lebensbereich auf einen anderen zumindest fraglich, sodass umfassende Partizipationschancen in allen Bereichen der Lebenswirklichkeit angeboten werden müssen (Biedermann & Oser 2010, 4). Zudem braucht es Empowerment im Sinne der Ermöglichung von Selbstbestimmung (BLK 2005, 5, Moser, 2010, 81). Das bedeutet, es gilt diejenigen mit Macht und Kompetenz auszustatten, die am Entscheidungsprozess beteiligt sind. Damit einher geht die eindeutige Zuweisung von Zuständigkeiten für die Folgen des eigenen Partizipationshandelns, da bei bloßer Machtausübung ohne die Übernahme von Verantwortung das für Partizipation entscheidende Gleichgewicht aus „freiheitlicher Entfaltung“ und „verantwortungstragender Belastung“ als Grundlage für eine kritische Reflexion und damit für die Weiterentwicklung sowohl der Akteure als auch der Beteiligungssysteme selbst fehlen würde (Biedermann & Oser 2010, 28f., Moser 2010, 74). Auch muss das Zustandekommen von Entscheidungen hinsichtlich Struktur, Limitationen und Entscheidungsträger transparent gestaltet sein (BLK 2005, 5, Preiser 2013, 19). Entscheidend hierbei ist die umfassende Information aller Prozessbeteiligten über deren Handlungsspielraum und eventuelle Einschränkungen im Vorfeld (Biedermann & Oser 2010, 29) Nicht zuletzt müssen auch sämtliche Kontextbedingungen darauf ausgerichtet sein, allen Menschen unter Berücksichtigung ihrer individuellen Situationen (z. B. materielle oder soziale Ressourcen) oder Merkmale (z. B. Herkunft) und Veranlagungen (z. B. Intelligenz) die gleichen Chancen auf Partizipation einzuräumen und so eine möglichst weitgehende Demokratisierung des Alltags zu verwirklichen (BLK 2005, 5, Knauer & Sturzenhecker 2005, 69). Außerdem betont Krämer (2013, 13) die Gewissheit der Partizipierenden darüber, keine negativen Konsequenzen infolge ihres Engagements befürchten zu müssen, als besonders bedeutsam für gelingende Partizipation. Ebenso muss als weiterer Faktor die Zwanglosigkeit gegeben sein, d. h. die Teilnahme am Partizipationsprozess darf sich nur als Folge individueller Bereitschaft vollziehen (Biedermann 2006, 114f.). So bleibt echte Partizipation bspw. dann gewährleistet, wenn einem vom Gericht bestellten Zeugen freisteht, ob er eine Aussage machen möchte oder nicht (Oser, Ullrich & Biedermann 2000, 26). Mit Blick auf die oben entwickelte Definition von Partizipation sind ergänzend die Kenntnis und das Verstehen von sowie die Achtung vor demokratischen Werten, Grund- und Menschenrechten und entsprechend darauf gegründete gesellschaftliche Strukturen als Prämisse für gelingende Partizipation zu nennen. Abschließend sei betont, dass Partizipation bzw. das Bedürfnis danach erst dann überhaupt aufkommen und wahrgenommen werden kann, wenn eine materielle Grundsicherung und, als logische Konsequenz, die Befriedigung grundlegender physiologischer Bedürfnisse gewährleistet sind (Knauer & Sturzenhecker 2005, 67f., Maslow 1981, 60ff.).

2.4 Partizipation von Jugendlichen

Jugendlichen (ebenso wie auch Kindern) kommt in der Diskussion um Partizipation eine immense Bedeutung zu, da diese als die künftigen Gestalter sozio-politischer und kultureller Rahmenbedingungen die gesellschaftliche Entwicklung entscheidend prägen und somit ihr Verständnis von und ihr Umgang mit Partizipation die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft widerspiegeln (Bundesjugendkuratorium 2009). Das BJK (2009, 6) definiert die Partizipation Jugendlicher allgemein als „Prozess der Teilhabe bzw. Mitbestimmung von jungen Menschen an den sie betreffenden Entscheidungsprozessen in allen relevanten Lebensbereichen“. Rechtlich verbrieft ist die Mitwirkung von Minderjährigen im Partizipationsprozess in Artikel zwölf der Kinderrechtscharta der Vereinten Nationen, welcher die freie Äußerung von Ansichten in allen sie betreffenden Angelegenheiten sowie die Berücksichtigung ihrer Meinungen festschreibt (United Nations Human Rights Office Of The High Commissioner 1990). Auch Jaun (1999, 266) unterstreicht die Relevanz der aktiven Mitgestaltung der Heranwachsenden mit seiner Forderung nach deren „verbindliche[r] Einflussnahme“, wodurch er gleichsam die mit Partizipation einhergehende Verantwortung betont, differenziert seine Aussage allerdings mit dem Zusatz „mittels ihnen angepasster Formen und Methoden“. Diese Definitionen lassen sich vollständig mit dem oben erschlossenen Partizipationsbegriff vereinbaren und übertragen bzw. konzentrieren diesen auf die Lebenswelt Minderjähriger. Die bereits als unumgänglich thematisierte Machtumverteilung findet hierbei von den Erwachsenen auf die Jugendlichen entsprechend deren Alter und Reife statt und die graduelle Einführung in den Partizipationsprozess stellt dabei keine Benachteiligung dar sondern hilft beim schrittweisen Verstehen und Erlernen, was, wie bereits gezeigt, unumgängliche Voraussetzung für Partizipation ist (ebd., 6ff.). Obgleich Minderjährige noch nicht wahlberechtigt sind, schließt dieser Partizipationsbegriff auch hier die politische Ebene mit ein – ebenso wie alle weiteren „relevanten Lebensbereiche“ (BJK 2009, 6f.), wie z. B. Schule, Familie oder den kommunalen Raum. Weiter weist Jaun (1999, 270f.) darauf hin, dass gerade Transparenz, aufgrund der zwangsläufigen Prozessbegleitung durch Erwachsene und die dadurch möglichen Missverständnisse oder (unbeabsichtigte) Einflussnahme, sowie eine unmittelbare Umsetzung oder aber die Formulierung von Teilzielen, wegen des im Vergleich zu Erwachsenen anders gestalteten Zeitempfindens von Jugendlichen, von großer Relevanz sind. Besonderes Augenmerk verdient auch die Steigerung der Attraktivität von Partizipationsgelegenheiten durch ein breit gefächertes Angebot, um den Jugendlichen einen Zugang zu Partizipation über alle Sinnesebenen hinweg zu ermöglichen (BMFSFJ 2015, 10ff.). Darüber hinaus sind im Bereich der Jugendpartizipation die Verfügbarkeit von erwachsenen Ansprechpartnern, eine gleichberechtigte Kommunikation unter allen Akteuren, die Etablierung eines von Partizipationskultur geprägten Netzwerkes aus möglichen Partnern, Qualifikationsangebote für den Erwerb und die Fortentwicklung von Partizipations- und Demokratiekompetenzen, die öffentliche Anerkennung von Engagement und die gemeinsame Bewertung und Sicherung sowohl des Prozesses als auch der Resultate von Bedeutung (ebd.).

2.5 Partizipationserfahrungen und Demokratieverständnis

Aufbauend auf einer Studie von Oser, Biedermann & Ullrich (2001) untersuchte Biedermann (2006) den Zusammenhang zwischen (den Gelegenheiten zu) partizipativem Erfahrungslernen in den alltäglichen Lebenswelten Familie, Schule, Beruf und Freizeit, und dem Demokratieverständnis sowie der politischen Identität unter jungen Personen in der Deutschschweiz. Die für die Zwecke dieser Arbeit bedeutenden Ergebnisse werden nachfolgend präsentiert und das resultierende Modell (s. Abbildung 2) hinsichtlich seiner relevanten Aspekte (schwarz eingefärbt) erläutert.

Im Rahmen der Studie erfolgt eine dreifache Unterteilung des Partizipationsbegriffes bzw. der erwarteten Spielarten partizipativer Erfahrungen. Partizipation als Polis beschreibt, inwieweit eine echte Einbindung in den diskursiven Prozess zum Zwecke der Entscheidungsfindung und die Übertragung von Verantwortung stattfindet, Partizipation als Gemeinschaft meint die Kooperation, Konsensorientierung, Zusammengehörigkeit und gegenseitige Unterstützung sowie gegenseitiges Vertrauen und Partizipation als Citoyenität steht, im Gegensatz zum qualitativen Fokus der beiden anderen, für das Ausmaß explizit im öffentlichen Raum (Sozialisationsinstanz öffentliches Leben) stattfindender, freiwilliger, gemeinsamer Interessenverfolgung von Bürgern als Form der bspw. politischen, sportlichen oder kulturellen Freizeitgestaltung. Und die politische Identität umfasst – neben dem Demokratieverständnis als separat untergeordnetes Konstrukt zu den demokratischen Prinzipien Freiheit und Gleichheit – politische Konzepte und Einstellungen, politisches Wissen, Zutrauen, Interesse sowie politische Aktivitätsbereitschaft und Wirksamkeitserwartung.

Die Resultate weisen zunächst einmal darauf hin, dass, je nach individueller Erfahrungswelt, den Jugendlichen unterschiedliche Möglichkeiten zum Erleben von Partizipation geboten werden und in bestimmten Kontexten, bspw. Familie und Freizeit, in höherem Maße partizipatorische Elemente, wie eine argumentative Streitkultur oder Kooperationsorientierung, verwirklicht werden als am Arbeitsplatz oder in der Schule.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Partizipatives Erleben und Aspekte politischer Identität in Anlehnung an Biedermann (2006)

Eine strikte Trennung der Dimensionen Partizipation als Gemeinschaft und Partizipation als Polis ist nicht möglich, da die diesbezüglichen Erfahrungen eng miteinander verknüpft sind. Das bedeutet, dass bspw. die Überzeugung, mittels Diskussion auf einen Beschluss Einfluss nehmen zu können, stark positiv mit der gegenseitigen Hilfe bei auftretenden Schwierigkeiten korreliert. Die Beziehungstendenzen der beiden mit der politischen Identität – wenngleich für einige Items vorliegenden Beziehungen durchaus von bedeutsamer Effektstärke sind – gestaltet sich wie folgt: Wo Kooperation in Familie, Schule und Beruf gelebt wird, herrscht größeres Vertrauen in politisch-rechtlichen Institutionen, wie Polizei oder Gerichte. Zudem zeigt sich, dass ein Kooperationserleben in der Familie mit der Auffassung zusammenhängt, dass Migranten gleiche Rechte, z. B. bezüglich Bildungschancen, eigenen Bräuchen oder Lebensstil, genießen sollten. Darüber hinaus liegen positive Korrelationen zwischen kooperativ geprägten Aktivitäten in der Freizeit und der Bereitschaft, an friedlichen Demonstrationen teilzunehmen oder sich für Menschenrechte einzusetzen sowie die Meinung zu vertreten, dass Frauen Männern in allen Aspekten gleichgestellt sind und ihnen das gleiche Recht auf politische Mitgestaltung und Arbeit bzw. auf das gleiche Gehalt zuteilwerden sollte, vor. Die negative Ausgestaltung dieser Zusammenhänge verläuft entsprechend umgekehrt, wobei die Abwesenheit kooperativer Partizipationserfahrungen in Familie und Freizeit zusätzlich mit einer geringeren Wirksamkeitserwartung von konventionell politischen Aktivitäten, wie an Wahlen teilzunehmen oder in eine Partei oder Gewerkschaft einzutreten, einhergeht. Junge Menschen, die sich (in den Kontexten Familie und Freizeit) als im diskursiven Prozess ernst genommene Akteure empfinden, legen tendenziell ein höheres politisches Interpretationsvermögen (Auslegung von Sachverhalten, Texten und Karikaturen politischen Inhalts sowie die Beurteilung von Verletzungen demokratischer Prinzipien) an den Tag und befürworten stärker die Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Ebenso zeigen sich positive Zusammenhänge zwischen politischem Wissen, d. h. Kenntnisse von politischen Grundbegriffen und demokratischen Grundprinzipien sowie politischen Rechten, politischer Kontrollüberzeugung, also die Wahrnehmung selbst zur politisch Einfluss nehmen zu können, und der erwarteten Effektivität konventionell politischer Aktivitäten und Diskursivität in diesen beiden Lebensbereichen. Im familiären Umfeld bestehen zudem positive Beziehungen zwischen Diskursivität dem Zugestehen von Rechten an Migranten, dem Einsatz für Menschenrechte und dem (friedlichen) Protest gegen Unrecht und dem Interesse an Politik. Jugendliche, die eine konsequente Umsetzung gemeinsam getroffener Entscheidungen in der Freizeit erleben, vertreten zudem eher die Idee der Meinungsfreiheit und die Einforderung politischer und sozialer Rechte als demokratieförderliche Aspekte. Außerdem zeichnet sich, unabhängig vom Lebensbereich, eine positive Verbindung zwischen der Übertragung von Verantwortung im Partizipationsprozess und der Befürwortung von Frauenrechten und, im Bereich Schule, die Tendenz zu größerer aktivistischer Staatsbürgerschaft und aktivistischer politischer Aktivitätsbereitschaft, z. B. gemeinnütziges Engagement, Demonstrationen oder Aktionen zur Förderung der Menschenrechte, ab.

Der Besuch von Gemeinde-, Sportanlässen, Dorffesten oder Jugendtreffs (Partizipation als Citoyenität) lässt hinsichtlich der politischen Identität auf eine tolerante Haltung dieser Personen gegenüber regierungskritischen Stimmen bzw. eine ablehnende Haltung gegenüber Redeverboten schließen. Auch wohnt diesen Personen tendenziell ein größeres Vertrauen in politisch-rechtliche Institutionen inne und sie erachten die Beeinflussung von Richtern durch politische Akteure oder die Einflussnahme von Privatpersonen auf Politiker, Vetternwirtschaft und die Abhängigkeit von Medien eher als undemokratisch. Menschen, die sich in internationalen Organisationen einbringen, unterstützen stärker die Gleichstellung von Mann und Frau. Die kulturelle Öffentlichkeitszuwendung zeigt zusätzlich einen Zusammenhang mit der Befürwortung von Frauenrechten und, ebenso wie der Besuch politischer Veranstaltungen, mit politischem Wissen und politischer Interpretationsfähigkeit. Des Weiteren treten diejenigen, die sich in kulturellen Organisationen (z. B. Kunst-, Musik- oder Theatergruppen) engagieren, eher für die freie Meinungsäußerung, die Einforderung sozialer und politischer Rechte und die Gleichberechtigung von Frauen ein.

Ergänzend seien in diesem Zusammenhang einige weitere Studien erwähnt: Die IEA Studie Civic Education (Torney-Purta, Lehmann, Oswald & Schulz 2001) belegt, dass Schüler aus solchen Klassen, in denen die Lehrer eine offene Diskussionskultur – sowohl unter Schülern als auch zwischen Schülern und Lehrern – fördern, demokratische Werte, wie Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter und Unabhängigkeit der Medien stärker befürworten. Verschiedene Studien weisen darüber hinaus auf einen Zusammenhang zwischen dem Bildungsgrad und der Befürwortung von Meinungs- und Redefreiheit (Dee 2004), der Toleranz gegenüber nicht-konformistischen Gruppen, wie bspw. Homosexuellen oder Atheisten (Bobo & Licari 1989), sowie einer aufgeschlosseneren Haltung gegenüber der Gleichberechtigung von Frauen hin (The Asia Foundation 2016).

3 Rahmenbedingungen politischer, schulischer, beruflicher und sozialer Partizipation in Afghanistan und Syrien

Nachdem im vorangegangenen Kapitel das Thema Partizipation vor allem vom theoretischen Standpunkt aus beleuchtet wurde, erfolgt in diesem Kapitel eine Darstellung der konkreten Rahmenverhältnisse hinsichtlich politischer, schulischer, beruflicher und sozialer Teilhabe in den Hauptherkunftsländern der UM: Afghanistan und Syrien. Dem vorangestellt findet sich jeweils eine kurze Darstellung der gegenwärtigen Situation im Land hinsichtlich des vorherrschenden Konfliktes sowie der wirtschaftlichen, humanitären und demografischen Lage.

3.1 Afghanistan

Afghanistan ist seit 1979 fast ununterbrochen Schauplatz bewaffneter nationaler oder internationaler Konflikte (United Nations High Commissioner for Refugees 2016b, 91f.). 6,3 der insgesamt 27[3] Millionen Afghanen leben in den konfliktreichsten Gebieten und mehr als acht Millionen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs 2015, 5f.). Doch die gegenwärtigen Bemühungen der afghanischen Regierung um Präsident Ghani, den Friedensprozess neu zu beleben, werden einerseits durch Spannungen innerhalb des Regierungsapparats selbst und andererseits aufgrund der Operationen der vielzähligen, involvierten regierungsfeindlichen Parteien, wie z. B. Taliban, Haqqani-Netzwerk, Daesh[4] oder Hezb-e-Islami, welche sich zum Teil auch untereinander bekriegen, immer wieder zurückgeworfen (General Assembly Security Council 2016a, 2f., United Nations Assistance Mission in Afghanistan 2016a, 33, 57). Die Taliban üben unter den Anti-Regierungsgruppen den bei weitem größten Einfluss aus und kontrollieren schätzungsweise 10%[5] der Bevölkerung, während in den von der Regierung beherrschten Gebieten etwa 70% der Afghanen leben[6] (Institute for the Study of War 2016b). Mit 70% ereignete sich der Großteil der 22.634 registrierten Sicherheitsvorfälle – also solche, bei denen die Integrität physischer Orte und Gebäude, Operationen oder Personen betroffen sind – im Jahr 2015 in den südlichen, östlichen sowie südöstlichen Regionen[7] (GASC 2016a, 4, United Nations Population Fund 2011, 1). Dabei wurden wiederholt gezielt Zivilpersonen attackiert, wobei für über ein Drittel der zivilen Opfer regierungsfreundliche Kräfte entweder direkt oder zumindest mitverantwortlich sind (UNAMA 2016a, 3, 42ff.). Neben den offiziellen Streitkräften, wie Armee, lokaler und nationaler Polizei, zählen hierzu der Regierung wohlgesonnene aber von dieser unabhängige Gruppierungen, welche parallel zu oder zusammen mit den Regierungskräften agieren, jedoch aufgrund ihrer unzureichenden Ausbildung, mangelhafter Ausrüstung, fehlender Befehlsstrukturen und gesetzlicher Grundlage weder dazu befugt noch in der Lage sind, entsprechende Operationen durchzuführen (TAF 2016a, 103, UNAMA 2016a, 64, 76ff.). Hinzu kommt, dass infolge von Konflikten zwischen diesen nichtstaatlichen, pro-Regierung eingestellten Einheiten sowie häufig stattfindenden Eroberungen und Rückeroberungen bisweilen Unübersichtlichkeit und ständig wechselnde Machtverhältnisse in einzelnen Gebieten vorherrschen (GASC 2016a, 6, ISW 2016a, The Long War Journal 2015, UNAMA 2016a, 64f.). Insgesamt wurden durch Krieg und willkürliche Gewalt alleine zwischen Januar und September 2015 mehr als 197.000 Afghanen aus ihrem Heim vertrieben, 42% mehr als noch im Vorjahr, und 70% berichten, immer, oft oder zumindest manchmal Angst um ihr Leben zu haben (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs 2015, 8, TAF 2016a, 36).

Afghanistans Bevölkerung lebt größtenteils auf dem Land (70%) und setzt sich aus verschiedenen, auch intern teils heterogenen Ethnien zusammen, von denen die meisten, so auch der Präsident, den Paschtunen (42%) angehören, gefolgt von den Tadschiken (27%), Hazara, Usbeken (je 9%) und Turkmenen (3%)[8] (Auswärtiges Amt 2016a). Zusätzlich ist das Nomadenvolk der Kutschi zu erwähnen, welches zwischen 1,5 und 3 Millionen Personen umfasst, wovon allerdings ein Großteil heute sesshaft ist (Ministerie van Buitenlandse Zaken 2016, 79, Central Statistics Office 2016, 14). 99% der Afghanen sind bekennende Muslime. Davon zählen sich 84% zum sunnitischen Islam, während sich 15% als Schiiten[9] bezeichnen (Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung 2017). Hindus, Sikh, Bahai und Christen machen zusammen in etwa 0,3% aus (United States Department of State 2016, 2). Mehr als 70% der Bevölkerung leiden unter chronischer Armut und verfügen über weniger als zwei US-Dollar pro Tag (OCHA 2015, 5ff.). Das durchschnittliche Haushaltseinkommen liegt bei 165 USD, wobei die Einkünfte in den urbanen Gebieten mit 215 USD über denen der Landbevölkerung (148 USD) liegen und große Unterschiede zwischen der einkommensstärksten Region, dem Südwesten, mit 226 USD und der ärmsten, Hazaradschat im Zentrum, mit 62 USD liegen (TAF 2016a, 69). Die medizinische Versorgung ist aufgrund der zunehmenden Anschläge auf Krankenhäuser und Kliniken sowie Kollateralschäden in einigen Gebieten, vor allem im Norden, Nordosten und Osten, nicht mehr gewährleistet. 2015 mussten insgesamt 19 Einrichtungen zum Teil dauerhaft schließen, sodass insgesamt ca. 40% der Bevölkerung keinen Zugang zu öffentlichen Gesundheitseinrichtungen mehr haben (United Nations 2016, 7, OCHA 2015, 5). Ca. 100.000 Menschen haben keine Unterkunft, mehr als 1,5 Millionen Personen können sich nicht regelmäßig mit Nahrung versorgen und ebenso viele verfügen nur über unzureichenden Zugang zu sauberem Wasser und Sanitäranlagen (OCHA 2015, 12ff.). Insgesamt sind schätzungsweise 8,1 Millionen Afghanen auf humanitäre Hilfe angewiesen (ebd., 12).

3.1.1 Politische Partizipation

Die Verfassung Afghanistans steht weitestgehend in Einklang mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und garantiert, obgleich sie den Islam als Staatsreligion anführt, den Anhängern aller Konfessionen freie Religionsausübung, und verschreibt sich der Gleichberechtigung der Geschlechter sowie aller ethnischen Gruppen und den Werten der Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Freiheit und der Würde des Menschen. Sie lässt jedoch zugleich die Todesstrafe zu und besagt, dass kein Gesetz dem Islam widersprechen darf. Das politische System Afghanistans ist in der aktuell gültigen, im Jahre 2004 ratifizierten Verfassung wie folgt festgeschrieben (Embassy of Afghanistan 2017a): Afghanistan ist eine Islamische Republik mit einem präsidentiellen Regierungssystem. Jeder nicht vorbestrafte Muslim afghanischer Abstammung von mindestens 40 Jahren, der ausschließlich die afghanische Staatsbürgerschaft besitzt und in einer freien, allgemeinen, geheimen und direkten Wahl mehr als 50% der Stimmen auf sich vereinigt, kann für maximal zwei Amtszeiten à fünf Jahre das Präsidentenamt ausüben. Der Präsident, im Falle von Abwesenheit, Rücktritt oder Tod vertreten durch seinen ersten bzw. zweiten Vizepräsidenten, ist laut Verfassung Staatsoberhaupt, Regierungschef und Oberbefehlshaber über die Streitkräfte. Jedoch schuf der 2014 gewählte Präsident Ashraf Ghani in Absprache mit seinem Konkurrenten Abdullah Abdullah – ohne demokratische oder konstitutionelle Legitimierung um der politischen Stabilität willen – per Dekret den Posten des Chief Executive Officer (CEO), sodass seither die beiden in der sogenannten Nationalen Einheitsregierung die Geschicke des Landes lenken (Auswärtiges Amt 2016a, United States Institute of Peace 2015, 1). Dem CEO wurden, ebenfalls per Dekret, exekutive Befugnisse zugestanden. Er nimmt an bilateralen Entscheidungstreffen mit dem Präsidenten teil und ernennt, obgleich er diesem hierarchisch untergeordnet ist, paritätisch mit ihm die Chefs der Sicherheits- und Wirtschaftsinstitutionen sowie Mitglieder des nationalen Sicherheitsrates (USIP 2015, 1f.). Der Präsident ist verantwortlich für die Durchsetzung der in der Verfassung verbürgten Rechte und Pflichten. Zudem bestimmt er die grundlegende politische Ausrichtung des Landes, erklärt Krieg bzw. Frieden, entsendet bewaffnete Truppen in andere Länder, verhängt bzw. erklärt den Ausnahmenzustand für aufgehoben (hierfür ist jeweils die Zustimmung durch das Parlament notwendig), ernennt und entlässt, die Zustimmung durch das Unterhaus vorausgesetzt, die Kabinettsminister, den Generalstaatsanwalt, den Leiter der Zentralbank, den nationalen Sicherheitschef und die Richter des Obersten Gerichtshofes, ernennt und entlässt Richter, Offiziere der bewaffneten Streitkräfte, Polizeibeamte, nationale Sicherheitskräfte und hochrangige Beamte, bestätigt Gesetze und Gerichtsbeschlüsse und gewährt Strafminderung oder Amnestie. Darüber hinaus steht es ihm zu, eine Loya Jirga, eine große Ratsversammlung, einzuberufen, wann immer Themen der nationalen Souveränität, Unabhängigkeit, territorialen Integrität oder von übergeordnetem nationalen Interesse zu behandeln sind sowie bei geplanten Verfassungsänderungen. Die Loya Jirga wird aus den Mitgliedern des Parlaments und den Präsidenten der Bezirks- und Provinzräte gebildet und ist beschlussfähig, sobald die Mehrheit der Mitglieder anwesend ist. Das Parlament besteht aus dem Oberhaus, das Haus der Ältesten, und dem Unterhaus, das Haus des Volkes, wobei die gleichzeitige Mitgliedschaft in beiden Häusern ebenso wie das gleichzeitige Bekleiden eines Ministerpostens ausgeschlossen ist. Die Mitglieder des Unterhauses werden alle fünf Jahre direkt vom Volk in freien, allgemeinen, geheimen Wahlen gewählt und ihre Anzahl verhält sich proportional zum Wählerkreis, wobei maximal 250 Sitze vergeben werden. Mindestens zwei Frauen müssen jede Provinz im Unterhaus vertreten. Dem Unterhaus steht es zu, bei begründetem Verdacht, z. B. auf Verbrechen gegen die Menschheit, ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten mittels Loya Jirga zu initiieren. Zudem obliegt es ihm, ein Misstrauensvotum gegen Minister anzustrengen. Das Oberhaus setzt sich wie folgt zusammen: Jeder Provinzrat entsendet eines seiner Mitglieder für vier Jahre, jeder Bezirksrat wählt einen Repräsentanten für drei Jahre und das übrige Drittel, worunter mindestens 50% Frauen, zwei Behinderte und zwei Nomaden sein müssen, wird vom Präsidenten auf fünf Jahre ernannt. Die Provinz- und Bezirksräte werden in freien, allgemeinen, geheimen und direkten Wahlen auf vier bzw. drei Jahre vom Volk gewählt. Die Judikative umfasst den Obersten Gerichtshof, die Berufungs- sowie die Bezirksgerichte. Den Obersten Gerichtshof bilden neun Mitglieder, die vom Präsidenten einmalig auf zehn Jahre ernannt und vom Unterhaus befürwortet wurden. Richter werden auf Vorschlag des Obersten Gerichtshofes durch den Präsidenten ernannt und ebenso entlassen. Die Richter müssen afghanische Staatsbürger, mindestens 40 alt und nicht vorbestraft sein, einen Abschluss in Jura oder islamischer Rechtsprechung vorweisen und dürfen keiner politischen Partei angehören. Ihnen ist, gemäß Verfassung und sofern kein Widerspruch zu dieser besteht, auch die Rechtsprechung im Sinne der hanafitischen und schiitischen Rechtsschule gestattet. Gesetzesvorschläge können sowohl von der Regierung als auch von Parlamentsmitgliedern oder durch den Obersten Gerichtshof eingereicht werden. Eine Verabschiedung erfolgt nur mit der Zustimmung beider Häuser und des Präsidenten. Weist der Präsident einen Gesetzesentwurf des Parlaments zurück, so wird dieser jedoch durch fristgerechte, erneute Bestätigung mit einer zweidrittel Mehrheit dennoch rechtskräftig.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Politisches System Afghanistans (EoA 2017a)

Hinsichtlich der politischen Partizipation gestaltet sich die Situation im Land wie folgt: Im Vorfeld der Präsidentschafts- und Bezirkswahlen 2014 kam es zu mehreren Bedrohungen und Entführungen von und Anschlägen auf Wahlhelfer und Wahleinrichtungen durch regierungsfeindliche Gruppierungen während des Wählerregistrierungsprozesses (UNAMA 2014, 30f.). Auch Wähler wurden eingeschüchtert, mit dem Ziel, sie von der für die Teilnahme an den Wahlen notwendigen Registrierung abzuhalten. So wagten in einigen Gegenden die Wahlberechtigten nicht, die Wahllokale aufzusuchen oder aber die Wahlhelfer getrauten sich aufgrund der massiven Drohungen nicht, in bestimmte Gebiete einzureisen (ebd.). Hinzu kommt, dass 42% der Afghanen der Meinung sind, dass die Männer bei Wahlen für ihre Frauen entscheiden bzw. Frauen lediglich nach Absprache mit ihren Männern über die Vergabe ihrer Wahlstimme entscheiden sollten (TAF 2016a, 124). In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass viele Frauen aufgrund der Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit durch das

[...]


[1] Die Gesamtschutzquote bezeichnet den Anteil an Asylbewerbern, die als asylberechtigt oder Flüchtling anerkannt oder mittels eines Abschiebeverbots vor einer Rückführung in ihr Herkunftsland geschützt werden (BAMF 2011, o.S.). Bei der Bereinigung wird dieser Wert abzüglich der rein formeller Entscheidungen, bspw. der Feststellung der Zuständigkeit eines anderen Staates, berechnet, sodass nur die tatsächlichen, inhaltlich geprüften Entscheidungen berücksichtigt werden (Deutscher Bundestag 2016, 1).

[2] In der Literatur wird zudem bisweilen, wenngleich nicht immer (vgl. Koster, Pijl, Nakken & van Houten 2010), zwischen den Begriffen Integration und Inklusion, als Bezeichnung für die Einbeziehung von Menschen mit Behinderung, unterschieden (vgl. BMAS 2016, Krämer 2013, 10). In vorliegender Arbeit wird Inklusion im Begriff Integration subsumiert.

[3] Laut World Bank (2015a) belief sich die Population 2015 auf 32,53 Mio. Afghanen. Die Abweichungen ergeben sich, da die Zahlen auf geschätzten Bevölkerungswachstumsraten beruhen (United Nations International Children’s Emergency Fund 2015).

[4] Bezeichnung für die in Deutschland unter dem Namen Islamischer Staat, ISIL oder ISIS bekannte Terrororganisation (UNAMA 2016, 7).

[5] In den von den Taliban sowie einigen weiteren regierungsfeindlichen Bewegungen besetzten Gebieten wird nicht die afghanische Verfassung anerkannt sondern eine extreme Auslegung der Scharia, des islamischen Rechts, als Gesetz proklamiert. Die Rebellen errichten eine nicht legitimierte, willkürliche Paralleljustiz, welche auch sogenannte moralische Verfehlungen ahndet. Bei Nichteinhalten der Gesetze folgen Strafen, wie das Steinigung, Erschießen, oder Auspeitschen von vermeintlichen Sündern (UNAMA 2016a, 50). Grundfreiheiten werden nicht respektiert und Partizipationsmöglichkeiten existieren praktisch nicht.

[6] Eine grafische Übersicht über die durch die einflussreichsten Konfliktparteien kontrollierten Gebiete findet sich im Anhang (s. Abbildung 10).

[7] Eine grafische Übersicht über die Verteilung der Vorfälle und deren Ausmaß findet sich im Anhang (s. Abbildung 11).

[8] Eine grafische Übersicht über die geografische Verteilung der ethnischen Gruppen findet sich im Anhang (s. Abbildung 9). Für weitere Minderheiten siehe Minority Ritghts Group International 2017a.

[9] Für weiterführende Informationen zu Sunniten und Schiiten siehe Khoury, Hagemann & Heine 2004, 662ff.

Ende der Leseprobe aus 109 Seiten

Details

Titel
Die Ausbildung von Flüchtlingen aus Afghanistan und Syrien an deutschen Berufsschulen. Wie bisherige Erfahrungen mit Partizipation und Demokratie berücksichtigt werden können
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
109
Katalognummer
V385643
ISBN (eBook)
9783956873157
ISBN (Buch)
9783956873171
Dateigröße
12326 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Partizipation, Demokratie, Flüchtlinge, Asylsuchende, Berufliche Schulen, Syrien, Afghanistan, Berufsschule
Arbeit zitieren
Marcel Christ (Autor:in), 2017, Die Ausbildung von Flüchtlingen aus Afghanistan und Syrien an deutschen Berufsschulen. Wie bisherige Erfahrungen mit Partizipation und Demokratie berücksichtigt werden können, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/385643

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