Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1.Einleitung
2.Die Flüchtlingsdebatte in den Medien
3.Aylan Kurdi und die Symbolträchtigkeit von Fotos
4.Bildikonen als Nonplusultra der Dokumentarfotogr fe
5.Ethische Diskurse und die Bedeutung des Kontexts
6.Abstumpfung oder Emotionalisierung - die Auswirkungen der Bilde fut
7.Fazit
8.Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Die Fluchtbewegungen von Armuts- und Kriegsverfolgten aus der arabischen Welt nach Europa bestimmten im Jahr 2015 und danach die mediale Aufmerksamkeit.Der plötzliche und enorme Anstieg der Zahl an g fü hteten Menschen sorgt für Ausnahmezustände und stellt die Europäische Union vor eine große Herausforderung.
In Zeiten von digitaler Fotogr feundHandy-Kameras Internet und sozialen Online- Medien ist die massenhafte und rasche Verbreitung von Bildern zur Normalität geworden.Es scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein,sich der enormen Bilde fut und ihrer Macht zu entziehen.Als der,seit 2011 andauernde Bürgerkrieg in Syrien plötzlich in Form von unzähligen G fü hteten direkte Auswirkungen auf die europäische Gesellschaft und Politik zeigte,beherrschten Bilder von überfüllten Booten im Mittelmeer,prekären Zuständen in den Flüchtlingslagern und wandernden Menschenmassen auf Autobahnen sämtliche Medienkanäle.Zahlreiche FotografInnen, ProfessionistInnen wie AmateurInnen,reisen zu den Orten des Geschehens um das Elend der Menschen in möglichst eindrücklichen Momentaufnahmen festzuhalten und Erfahrungen von G fü hteten zu dokumentieren.Erfahrungen von Menschen,die aus weit entfernten Teilen der Welt unter Einsatz ihres Lebens vor Verfolgung,Krieg, Armut und sozialem Elend füchten und unterschiedliche Formen entgrenzter Gewalt durchlebt haben,werden bildlich zu erfassen versucht und in ein europäisches Narrativ eingefügt.Mit den erzeugten Bildern werden Gefühle und Gedanken berührt und belebt.Sie verlangen nach einer Resonanz und können verschiedene Reaktionen,wie Mitleid,Ident fk tion,Abwehr,Wut,Resignation oder Ind f renz auslösen.1 Das Foto von Aylan Kurdi,einem ertrunkenen Flüchtlingsjungen am Strand der türkischen Ägäis geht um die Welt und wird zu einem Symbolfoto der dramatischen Ereignisse.Die [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Macht der Bilder ist stärker als je zuvor.Im politischen Kontext haben sie die Kraft, über subjektive Einstellungen zu entscheiden und bestimmte Ansichten zu forcieren. Bilder verdrängen jegliche Ambivalenz mit Hilfe der Illusion von Evidenz und Eindeutigkeit.2
Im Rahmen der vorliegenden Abschlussarbeit zum Seminar „Dinge,die uns angehen - Mikropolitik der Betr f nheit“ möchte ich die Macht und Wirkung von Bildern anhand von fotogr f chen Darstellungen der Flüchtlingskrise in den Medien seit dem Frühjahr 2015 genauer unter die Lupe nehmen.Welche Bilder werden im Zusammenhang mit den Ereignissen gezeigt und aus welchen Gründen? Welche Auswirkungen haben die jeweiligen Repräsentationen auf die BetrachterInnen? Welches Bild von Flüchtlingen und ihren Erfahrungen wird der westlichen Gesellschaft vermittelt und wie viel hat das mit der Realität der Betr f nen zu tun? Im Rahmen dieser Auseinandersetzung werde ich,vor allem in Bezug auf die deutschen Berichterstatter und unter Einbeziehung deutscher Studien zum Tema, zunächst die gängigen Repräsentationsformen von Flüchtlingen in den Medien beleuchten.Dies führt zu einer Auseinandersetzung mit dem symbolträchtigen Foto des ertrunkenen Jungen Aylan Kurdi und der Beschäftigung mit dem Phänomen von ikonischen Bildern im Allgemeinen,der Repräsentation von Leid und Schrecken im Speziellen.Das Siegerfoto des World Press Photo Awards,welches ebenfalls im Rahmen der Fluchtbewegungen aufgenommen wurde,stellt einen Teil meiner Arbeit dar.In Anlehnung an Susan Sontags Aufsatzsammlung „Das Leiden anderer betrachten“ geht es im weiteren Verlauf um die Macht und Ohnmacht,welche von berührenden oder schockierenden Bildern ausgelöst werden können.Die Bedeutung von Bildern nimmt seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts rapide zu.Neben den „Bildphänomenen der Alltagskultur“,also den unüberschaubaren digitalen Bilde fu en in der Mediengesellschaft,wird hier vor allem eine neue kulturwissenschaftliche Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Bildaufmerksamkeit ausgelöst.In Verbindung mit Erkenntnis- und Sprachkritik wird im Rahmen des iconic turns auf eine visuelle Kompetenz hingearbeitet,die in unserer Gesellschaft leider noch nicht ausreichend vorhanden ist.Die Sprachdominanz war in den westlichen Kulturwissenschaften lange Zeit vorherrschend.3 Vor diesem Hintergrund beleuchte ich verschiedene ethische,philosophische und theoretische Standpunkte im Hinblick auf die Bilde fu ,der wir täglich ausgesetzt sind und möchte versuchen,mich an einen Ausblick in Richtung möglicher Strategien oder Perspektiven für den Umgang damit heranzutasten.
2. DieFlüchtlingsdebatte indenMedien
Als im September 2015 Tausende g fü htete Menschen an der ungarischen Grenze festsitzen und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen mit ihrem österreichischen Amtskollegen Werner Faymann und der ungarischen Regierung beschließt,im Rahmen einer Ausnahmeregelung die ungehinderte Weiterreise nach Deutschland zu gewähren,tr f n täglich mehrere Tausend Menschen auf österreichischen und deutschen Bahnhöfen ein,wo sie von den EinwohnerInnen und zahlreichen HelferInnen großmütig empfangen werden.4 Die Hilfs- und Einsatzbereitschaft zahlreicher Freiwilliger nehmen eine eindrucksvolle Dynamik an. Die sichtlich erschöpften Menschen werden mit Applaus am Bahnsteig begrüßt und mit allem Wesentlichen erstversorgt.Die Szenen sind emotional,tränenreich und berührend.Bilder derartiger Willkommens-Szenen und die große Hilfsbereitschaft, welche den G fü hteten von Privatleuten und freiwilligen HelferInnen in den Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten daraufo genden Wochen entgegen gebracht wird,gehen dieser Tage durch sämtliche Medienkanäle.Sie werden zu einem „identitätsstiftenden nationalen Großereignis“ stilisiert.Almstadt zufolge sind es Hunderte ehrenamtliche HelferInnen die als RepräsentantInnen eines höheren Wertes,der deutschen Nation,dienen.Im Zuge dessen stellt Almstadt auch eine Huldigung der Kanzlerin fest,die fast wie eine altruistische Schutzheilige für ihre herausragende Menschlichkeit gepriesen wird.5 Auch in den österreichischen Medien wird die Hilfsbereitschaft und der Zusammenhalt gefeiert,sowie Bilder und Videos von g fü hteten Menschen gezeigt,die den Einsatz der BeamtInnen und die PolitikerInnen in höchsten Tönen loben.6
Die Bilder tausender syrischer Flüchtlinge die an deutschen Bahnhöfen herzlich willkommen geheißen werden fndenauch n der arabischen Welt großen Anklang.7 Es fällt auf,dass den Flüchtlingen nur dann eine Stimme in den Medien gegeben wird, wenn es darum geht,die Hilfsbereitschaft der Deutschen oder die Gutherzigkeit der Kanzlerin zu preisen.Euphorisch,märchenhaft und mit religiösen Metaphern wird hier die Heldenhaftigkeit einer Nation gefeiert,während die Flüchtlinge und ihre Bedürfnisse in den Hintergrund wandern.Als stille Masse an Zeugen sind sie auf die Barmherzigkeit der deutschen Kanzlerin angewiesen.Dass diese Menschen ihre Heimatländer wegen Krieg und Armut verlassen,eine mehrwöchige Flucht über das Mittelmeer und die Balkanländer hinter sich,ihr Leben riskiert und womöglich Angehörige verloren haben,darüber wird nicht geredet.Angesichts der Zustände und Situation dieser Menschen,die Anfang September völlig erschöpft,traumatisiert und mittellos auf europäischen Bahnhöfen ankommen,bewertet Esther Almstadt die von den Medien evozierte Euphorie als völlig unangebracht.Die Flüchtlingskrise zu einem „atemberaubenden“ Ereignis zu stilisieren sei nur möglich,„wenn die Bedürfnisse der Flüchtlinge ausgeblendet werden und die ihnen zuteil gewordene Hilfsbereitschaft nicht für sich steht, sondern zum Ausweis nationaler Güte konstruiert wird.“8
[...]
1 Vgl. Doron Kiesel, „Bilder auf der Flucht. Wenn Filme zu Fluchthelfern werden Flüchtlinge. Multiperspektivische Zugänge. Hg. v. Cinur Ghaderi u. Thomas Eppenstein. Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 203 - 212, hier S. 204.
2 Vgl. Kiesel, „Bilder auf der Flucht“, S. 204.
3 Vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Tums. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbeck bei Hamburg: Rohwolt Taschenbuch 2014, S. 330.
4 Vgl. Esther Almstadt, „Flüchtlinge in den Printmedien“. Flüchtlinge. Multiperspektivische Zugänge. Hg. v. Cinur Ghaderi u. Thomas Eppenstein. Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 185 -201, hier S. 187.
5 Vgl. Almstadt, „Flüchtlinge in den Printmedien“, S. 188.
6 Vgl. apa'red, „Ausnahmezustand am Wiener Westbahnhof“, News (5. September 2015). https://www.news.at'a'fluechtlinge-oesterreich-erlaubt-einreise-ankunft (letzter Zugriff: 11. August 2017).
7 Vgl. Almstadt, „Flüchtlinge in den Printmedien“, S. 189.
8 Almstadt, „Flüchtlinge in den Printmedien“, S. 190.