Besser lernen dank Neuro-Wissen? Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die pädagogische Praxis


Tesis de Máster, 2017

63 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Abstract / Zusammenfassung

Abbildungsverzeichnis

1 Einführung

2 Lernen aus neurobiologischer Sicht
2.1 Hirnforschung und ihre Methoden
2.2 Gehirnentwicklung und sensible Phasen
2.3 Was geschieht beim Lernen im Gehirn?

3 Lernen aus pädagogisch-psychologischer Sicht
3.1 Behavioristische Lerntheorien
3.2 Kognitive Lerntheorien
3.3 Konstruktivistische Lerntheorien

4 Einflussfaktoren auf Lernerfolg – Erkenntnisse aus der Hirnforschung
4.1 Vorwissen
4.2 Emotionen
4.3 Motivation

5 Rezeption neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in der Pädagogik
5.1 Empfehlungen für die Unterrichtspraxis
5.2 Kritikpunkte an der Neurodidaktik
5.3 Zwischenfazit
5.4 Neurobiologische Befunde bei Lernstörungen

6 Schlussfolgerungen und Ausblick

Literaturverzeichnis

Abstract / Zusammenfassung

Neurowissenschaftliche Befunde geben Hinweise darauf, welche Mechanismen der Informationsverarbeitung für Lernen und Gedächtnis von Bedeutung sind, welche chemischen und physikalischen Prozesse dabei im Gehirn ablaufen und wie dieses durch individuelle Erfahrungen und Lernen strukturiert und verändert wird. Die Frage, welche wesentlichen hirninternen Prozesse für einen nachhaltigen Lernerfolg verantwortlich sind und inwieweit diese gezielt beeinflusst werden können, kann bislang jedoch lediglich in Ansätzen beantwortet werden.

Unabhängig davon, wie umfassend bzw. unzureichend Lernvorgänge im Gehirn mithilfe bildgebender Verfahren beschrieben werden können, gestaltet sich der Transfer neurobiologischer Befunde auf die Ebene pädagogischer Handlungsempfehlungen für Methodik und Didaktik im Schulunterricht schwierig. Neben der grundsätzlichen Frage der Übertragbarkeit einer Experimentalsituation auf die komplexe Unterrichtssituation haben die Befunde der Hirnforschung bisher wenig neue Erkenntnisse darüber erbracht, wie das Lernen im schulischen Unterricht gefördert bzw. optimiert werden kann.

Wird jedoch über die konkrete Unterrichtssituation hinausgeblickt, lassen sich durchaus Möglichkeiten einer erfolgsversprechenden interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Neurowissenschaften und Pädagogik/Psychologie finden: Insbesondere lässt die Hirnforschung ihren pädagogischen Nutzen bislang in Hinblick auf Lernstörungen erkennen, bei denen sich neuronale Abweichungen zeigen. So gibt es Hinweise darauf, dass Methoden der Hirnforschung früher als die Verhaltensbeobachtung eine Frühdiagnose von Lernstörungen ermöglichen können. Die Validierung dieses Ansatzes und dessen Weiterentwicklung auf verschiedenartige Störungen der Lernfähigkeit könnte eine frühzeitige Intervention und damit eine Abschwächung, möglicherweise sogar eine Beseitigung der Störung ermöglichen, bevor sie für das Kind in der Schule relevant und damit zur Belastung wird.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Schnitt durch die Großhirnrinde: Vernetzungen beim Menschen nach der Geburt, nach 3 Monaten, nach 15 Monaten und nach 3 Jahren (Vester, 2001)

Abbildung 2: Zeitliche Untergliederung des Gedächtnisses (del Monte, 2010)

Abbildung 3: Schematische Darstellung von Baddeleys Arbeitsgedächtnismodell. Transparente Flächen beschreiben die Komponenten des Arbeitsgedächtnisses, grau hinterlegte Flächen kennzeichnen Elemente des Langzeitgedächtnisses (nach Prölß, 2014).

Abbildung 4: Gedächtnisarten nach Squire (del Monte, 2010)

Abbildung 5: Lage von Hippocampus und Amygdala im limbischen System (Heinz, 2016)

1 Einführung

Durch den Einsatz bildgebender Verfahren hat die Neurobiologie in den letzten zwei Jahrzehnten eine beträchtliche Anzahl neuer Erkenntnisse über Lern- und Gedächtnisprozesse im menschlichen Gehirn gewonnen. Die Ergebnisse drängend zunehmend in die allgemeine Öffentlichkeit sowie in pädagogische Fachkreise: Hirnforscher halten Vorträge über „hirngerechtes“ und somit vermeintlich erfolgreicheres Lernen, während wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Veröffentlichungen zu dieser Thematik anhaltend den Markt erobern. Verlockend erscheint die Möglichkeit, den Schülern direkt ins Gehirn zu schauen und ausgehend vom Wissen über dessen Beschaffenheit den Unterricht gestalten und somit vermeintlich verbessern zu können. In der Diskussion über die pädagogische Verwertbarkeit neurobiologischer Erkenntnisse wird häufig der Eindruck erweckt, als könnten die durch die PISA-Studien belegten Missstände im deutschen Bildungswesen – auch wenn sich seit der PISA-Misere im Jahr 2001 grundsätzlich ein leichter Aufwärtstrend erkennen lässt - durch die Befunde der Hirnforschung nun endlich behoben werden.

Die vorliegende Arbeit untersucht, inwieweit die aktuellen neurobiologischen Erkenntnisse tatsächlich einen praktischen Nutzen für die Gestaltung optimaler schulischer Lehr- und Lernbedingungen darstellen. Neben ihrem möglichen Wert in Hinblick auf die konkrete Unterrichtsgestaltung wird die Rolle der Hirnforschung zudem bezüglich der Diagnostik und Therapie von Teilleistungsstörungen diskutiert.

Bei der Literaturrecherche zu neurowissenschaftlichen Erkenntnissen über Lernen wurde nach aktuellen - das heißt vorzugsweise nach 2003 erschienenen - Fachartikeln in wissenschaftlichen Literaturdatenbanken (bibliographische Datenbanken, Bibliothekskataloge) gesucht. Ältere Literaturquellen wurden dann berücksichtigt, wenn diese den derzeitigen Stand der Forschung repräsentieren. Für die Recherche zur Rezeption neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in der Pädagogik wurden insbesondere pädagogische und medizinische Fachzeitschriften herangezogen. Von diesen Ergebnissen ausgehend wurde ferner nach weiteren Publikationen der entsprechenden Autoren gesucht.

Nach der bereits erfolgten allgemeinen Einführung in das Thema betrachtet das zweite Kapitel den Lernbegriff aus neurobiologischer Perspektive. Hierzu werden zunächst die Entwicklung des menschlichen Gehirns sowie die Funktionsweise neuronaler Prozesse beschrieben. Anschließend erfolgt eine Darstellung der unterschiedlichen Gedächtnisarten sowie ausgewählter Hirnstrukturen, die bei Lern- und Gedächtnisprozessen insbesondere involviert sind.

Im dritten Kapitel wird dargelegt, wie Lernen aus pädagogisch-psychologischer Sicht erklärt werden kann. In diesem Zusammenhang werden die drei bekanntesten Lerntheorien skizziert.

Das vierte Kapitel erläutert aktuelle neurobiologische Erkenntnisse über Vorwissen, Emotionen und Motivation als zentrale Einflussfaktoren auf Lernvorgänge.

Von diesen Befunden ausgehend erfolgt im fünften Kapitel zunächst eine Auswahl neurowissenschaftlicher Empfehlungen für die Gestaltung optimaler schulischer Lernprozesse. Im Anschluss daran werden die wesentlichen Kritikpunkte an jenen Vorschlägen erläutert und ein Zwischenfazit gezogen. Das Kapitel schließt mit einer Darstellung weiterer Rezeptionsmöglichkeiten neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in der Pädagogik ab, indem der Fokus auf den Bereich der Teilleistungsstörungen gerichtet wird. Im sechsten und letzten Kapitel werden die Ergebnisse in Hinblick auf Chancen und Grenzen einer Verwertbarkeit neurobiologischer Erkenntnisse für die pädagogische Praxis zusammengefasst und ein Ausblick auf eine mögliche künftige Zusammenarbeit beider Disziplinen gegeben.

2 Lernen aus neurobiologischer Sicht

Bevor der Lernbegriff aus neurobiologischer Perspektive beleuchtet wird, sollen zunächst einige dieser Arbeit zugrundeliegenden Begrifflichkeiten geklärt sowie die Methoden der Hirnforschung skizziert werden.

2.1 Hirnforschung und ihre Methoden

Neurowissenschaften befassen sich mit der „wissenschaftliche[n] Erforschung des Gehirns und der Verbindung zwischen Gehirnaktivität und Verhalten“ (Gerrig & Zimbardo, 2004, S. 77). Im Fokus der vorliegenden Arbeit steht eine Grunddisziplin der Neurowissenschaft, die ein besseres Verständnis der Funktionsweise des menschlichen Gehirns zum Ziel hat: Die Neurobiologie bzw. Hirnforschung (engl.: brain research) untersucht den Bau, die Funktion und Entwicklung von Nervenzellen sowie deren Beziehung zur Umwelt (Roth, 1997).[1] Hierbei setzt die Untersuchung des Gehirns auf insgesamt drei Ebenen an:

Auf der oberen Ebene können Funktionen größerer Hirnareale (z. B. spezifische Aufgaben verschiedener Gebiete der Großhirnrinde oder der Amygdala) beschrieben und ihre Aktivität mithilfe bildgebender Verfahren sichtbar gemacht werden. Ein Einblick in diese Organisationsebene des Gehirns wird durch verschiedene Methoden ermöglicht: Bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) oder die Positronenemissionstomografie (PET), die den Energiebedarf von Hirnregionen messen, besitzen eine bis in den Millimeterbereich gehende räumliche Auflösung, bilden die Aktivitäten jedoch erst Sekunden nach ihrem tatsächlichen Auftreten ab. Dagegen misst die Elektroenzephalografie (EEG) die elektrische Aktivität von Nervenzellverbänden zeitgleich, kann jedoch nicht exakt Aufschluss über den Ort des Vorgangs geben. Die räumliche Auflösung bei der neueren Magnetenzephalografie (MEG) liegt im Zentimeterbereich und ist somit etwas besser; hiermit lassen sich die Änderungen von Magnetfeldern um elektrisch aktive Neuronenverbände millisekundengenau sichtbar machen.

Auf mittlerer Ebene werden Neuronennetzwerke sowie die Verbindungen zwischen verschiedenen Nervenzellen erforscht, während auf unterer Ebene molekulare Einflüsse zwischen und innerhalb der Zellen untersucht werden (Borner, 2009).[2]

2.2 Gehirnentwicklung und sensible Phasen

Neurobiologisch betrachtet bedeutet Lernen den Aufbau von Neuronenpopulationen im Kortex. Das menschliche Gehirn enthält rund 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen), die über 100 Billionen Synapsen (Kontaktstellen) miteinander kommunizieren. Bei einem Neugeborenen sind diese Neuronen noch nicht voll ausgebildet und wenig miteinander vernetzt. Durch die Vielzahl an unterschiedlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen („Lernen“) vergrößert sich die Menge der Synapsen jedoch rasant: Mit zwei Lebensjahren entspricht die Synapsenanzahl derjenigen eines Erwachsenen, während ein dreijähriges Kind mit rund 200 Billionen Synapsen bereits doppelt so viele aufweist. Die Synapsenmenge bleibt bis zum Ende des ersten Lebensjahrzehnts ungefähr gleich; anschließend wird etwa die Hälfte der Synapsen wieder abgebaut, sodass das erwachsene Gehirn durchschnittlich 100 Billionen Synapsen aufweist (Textor, 2006).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Schnitt durch die Großhirnrinde: Vernetzungen beim Menschen nach der Geburt, nach 3 Monaten, nach 15 Monaten und nach 3 Jahren (Vester, 2001)

Mit der rasanten Zunahme an Synapsen ist auch eine rasche Gewichtszunahme der Gehirnmasse verbunden: Das Gehirn verdreifacht sein Gewicht im ersten Lebensjahr von ca. 250 auf 750 Gramm und hat in der Pubertät sein Endgewicht zwischen durchschnittlich 1,3 und 1,4 kg erreicht (Grein, 2013).

Sowohl die Synapsen-Überproduktion als auch die Synapsen–Selektion ereignen sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität in jeweils spezifischen Regionen des Gehirns. So wird beispielsweise in den für die visuelle Wahrnehmung zuständigen Hinterhauptslappen die höchste Synapsendichte bereits in den ersten Lebensmonaten erreicht, während ihr Ausbau in den Stirnlappen, die u.a. für das Planen von Handlungen zuständig sind, zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr am größten ist (Textor, 2006).

Die massenhafte Ausbildung letztlich nicht benötigter Synapsen ist ein Hinweis auf die große Plastizität des Gehirns und die überragende Lern- und Anpassungsfähigkeit des Säuglings und Kleinkinds: Sie ermöglicht das schnelle Erlernen unterschiedlichster Sprachen, Verhaltensweisen etc. Sämtliche Erfahrungen, die das Kind macht, bewirken eine Aktivierung bzw. Verfestigung und damit die Chance auf den Erhalt bestimmter Synapsen, während Synapsen, „die selten aktiviert werden – ob wegen nie gehörter Sprachen, nie gespielter Musik, nie ausgeübter Sportarten, nie gesehener Berge oder nie empfundener Liebe -, verkümmern“ (Eliot, 2001, S. 49).[3] Neben individueller Gene bestimmt somit zu einem großen Teil die Umwelt des Einzelnen Struktur und Funktion des Gehirns.

Solange ein Synapsen-Überschuss vorhanden ist, wird häufig von kritischen oder sensiblen Phasen gesprochen, in denen sich das zu diesem Zeitpunkt noch stark formbare und für bestimmte Lernerfahrungen sehr empfängliche Gehirn in verschiedenste Richtungen entwickeln kann – sofern es den entsprechenden Input erhält (Schaner-Wolles, 2005). Die für den Spracherwerb angenommene sensible Phase dauert etwa bis zum sechsten oder siebten Lebensjahr: Während ein Säugling noch sämtliche Laute jeglicher Sprachen unterscheiden und ein Kleinkind alle Phoneme korrekt nachsprechen kann, bauen sich die nicht benötigten Synapsen innerhalb der darauffolgenden Lebensjahre ab, da sich das Kind ja für gewöhnlich nur eine einzige Sprache mit einer limitierten Anzahl von Phonemen aneignet. Daher gelingt es einem Schulkind insbesondere ab der Pubertät in der Regel nicht mehr eine neue Sprache fehler- und akzentfrei zu erlernen (Textor, 2006).

Dass ein Mensch jedoch auch nach diesem Zeitraum noch in der Lage ist, eine oder mehrere neue Sprachen - wenn auch nicht mehr perfekt - zu erwerben, zeigt, dass die Bedeutung sensibler Phasen nicht überbetont werden darf. Nach Klatte (2007) sollten sensible Phasen als Zeiträume betrachtet werden, in denen bestimmte Fähigkeiten besonders leicht und schnell erworben werden können anstatt von einem Zeitfenster auszugehen, das sich irgendwann unwiderruflich schließe.[4] Insbesondere aus pädagogischer Sicht sollte die allgemeine Lernfähigkeit auch außerhalb dieser Phasen daher nicht unterschätzt werden.

2.3 Was geschieht beim Lernen im Gehirn?

Wie dargestellt wurde, werden neuronale Verbindungen während eines Lernprozesses unter dem Einfluss von Umweltreizen entweder verstärkt oder geschwächt. Diese neuronalen Aktivitäten bewirken veränderte Funktionsabläufe im Gehirn, die schließlich zu einer Modifikation unseres Verhaltenspotentials führen. Lernen kann jedoch nur dann erfolgen, wenn Erfahrungen und Informationen gespeichert und bei Bedarf abgerufen werden können. Für diese Leistungen ist das Gedächtnis zuständig, das sich entsprechend seiner Komplexität und Funktionsvielfalt nach unterschiedlichen Kriterien wie z. B. Zeit (Speicherdauer) und Inhalt unterteilen lässt. Im nächsten Abschnitt erfolgt zunächst eine knappe Darstellung der Untergliederung entlang der Zeitachse.

2.3.1 Das Mehrspeichermodell

Bei den Vorgängen der Aufnahme und Speicherung von Informationen unterscheiden Atkinson und Shiffrin (1968) drei interagierende Gedächtnissysteme mit unterschiedlicher Haltedauer: das Ultrakurzzeitgedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis (KZG) und das Langzeitgedächtnis (LZG). Nach diesem Modell gelangt eine aus der Umwelt aufgenommene Information vom Ultrakurzzeitgedächtnis (auch: sensorische Speicher oder sensorisches Register), das hauptsächlich Sinneseindrücke speichert, zum Kurzzeitgedächtnis und kann schließlich im Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Die zeitliche Begrenzung des Ultrakurzzeitgedächtnisses liegt dabei im Millisekundenbereich (visuelle Reize) bis Sekundenbereich (bis zu 4 Sekunden für akustische Information), während das Kurzzeitgedächtnis eine Zeitspanne im Sekundenbereich bis maximal wenige Minuten umfasst (Pritzel, Brand & Markowitsch, 2009).

Im Kurzzeitgedächtnis können Inhalte durch inneres Sprechen (Rehearsal) aktiv aufrechterhalten werden (z. B. inneres Aufsagen einer Telefonnummer). Je häufiger dabei eine Information im Kurzzeitgedächtnis wiederholt wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit ihres Transfers ins Langzeitgedächtnis. Im Langzeitgedächtnis, dem eine unbegrenzte Kapazität zugesprochen wird, sind die Informationseinheiten diesem Modell zufolge überwiegend semantisch abgelegt.

Neuropsychologische Untersuchungen konnten bestätigende Hinweise für die von Atkinson & Shiffrin postulierte Gedächtnisstruktur - Unterteilung des Gedächtnisses in verschiedene Subsysteme mit unterschiedlichen Charakteristika - liefern (Roediger, Gallo & Geraci, 2002). Andere Befunde kann das Modell in seiner ursprünglichen Form dagegen nicht erklären; so wurde beispielsweise nachgewiesen, dass nicht nur die Artikulationsrate, sondern auch andere Itemcharakteristika wie die Vorkommenshäufigkeit eines Wortes oder die Konkretheit eines Begriffs einen Einfluss auf die Wiedergabeleistung haben (Nairne, 2002).

Eine Weiterentwicklung des skizzierten Modells führte zum Konzept des Arbeitsgedächtnisses (working memory), das gleichzeitig eine Präzisierung der Modellidee des Kurzzeitgedächtnisses darstellt: Baddeley & Hitch (1974) konzipierten das Arbeitsgedächtnis als ein aktives Verarbeitungssystem, zunächst bestehend aus einer zentralen Exekutive und zwei Subsystemen, in denen Informationen nicht nur für kurze Zeit passiv aufbewahrt, sondern so aufbereitet werden, dass sie bei aktuellen Aufgabenstellungen (z. B. beim Lesen eines Textes oder beim Rechnen) zielgerichtet verwendet werden können. Konkret dient die phonologische Schleife (phonological loop), die sich aus dem phonologischen Speicher und dem artikulatorischen Kontrollprozess zusammensetzt, der Aufbewahrung sprachlicher Information, während der visuell-räumliche Notizblock (visuo-spatial sketch pad), der aus dem what-System (Objektidentifikation, Musterverarbeitung) und dem where-System (Objektlokalisation im Raum) besteht, visuelle Informationen bearbeitet. Die darüber hinaus angenommene zentrale Exekutive (central executive) wird als übergeordnete Leitzentrale betrachtet, die für die Steuerung von Aufmerksamkeit sowie für die Koordination von Lernprozessen zuständig ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Zeitliche Untergliederung des Gedächtnisses (del Monte, 2010)

Baddeley ergänzte sein Modell im Jahr 2000 um den episodischen Speicher bzw. episodischen Puffer (episodic buffer), der eingehende Stimuli mit den gegenwärtig abgerufenen Informationen aus dem Langzeitgedächtnis zu einer kurzfristigen kohärenten Episode verknüpft. Dem erweiterten Modell nach ist dieser somit für den Austausch von Informationen mit dem Langzeitgedächtnis zuständig.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Schematische Darstellung von Baddeleys Arbeitsgedächtnismodell. Transparente Flächen beschreiben die Komponenten des Arbeitsgedächtnisses, grau hinterlegte Flächen kennzeichnen Elemente des Langzeitgedächtnisses (nach Prölß, 2014).

2.3.2 Die inhaltliche Untergliederung des Langzeitgedächtnisses

Unterteilt nach den Kriterien der Bewusstheit und der sprachlichen Fassbarkeit von Informationen unterscheidet das Modell von Squire (1987) insgesamt zwei Langzeitgedächtnissysteme: das deklarative (explizite) und das nicht-deklarative (implizite) Gedächtnis. Die Inhalte des deklarativen Gedächtnisses können aktiv ins Bewusstsein gerufen werden, lassen sich sprachlich beschreiben (engl. “to declare“) und bewusst erinnern. Dem gegenüber sind Inhalte des nicht-deklarativen Gedächtnisses nicht zwangsläufig mit bewussten Erinnerungen oder einem Vertrautheitsgefühl verbunden. Stattdessen scheinen sie zu veränderten Verhaltensdispositionen zu führen und lassen sich sprachlich nicht ausdrücken (Goschke, 2007).

Während das deklarative Gedächtnis in diesem Modell in episodisches und semantisches Gedächtnis unterteilt wird, also autobiographische Ereignisse und Faktenwissen beinhaltet, umfasst das nicht-deklarative Gedächtnis Priming, prozedurale Fertigkeiten, assoziatives Lernen (klassische Konditionierung) sowie nicht-assoziatives Lernen (Habituation).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Gedächtnisarten nach Squire (del Monte, 2010)

In Anlehnung an Tulving (1995) schlagen Markowitsch & Welzer (2005) fünf Systeme des Langzeitgedächtnisses vor, wobei die Aufzählung der Reihenfolge ihrer jeweiligen Entwicklung entspricht:

1. Das prozedurale Gedächtnis umfasst motorische Fertigkeiten sowie Gewohnheitshandlungen (z. B. Fahrradfahren oder Kaffeekochen).

2. Priming meint eine bessere Leistung im Wiedererkennen von zuvor (unbewusst) Wahrgenommenem aufgrund vereinzelter Elemente (z. B. das Wiedererkennen einer zuvor gehörten Melodie anhand weniger Tonabfolgen).

3. Das perzeptuelle Gedächtnis befähigt zum Erkennen von Objekten und Geräuschen einzig aufgrund ihrer wahrnehmbaren Charakteristika, die eine Bekanntheits- bzw. Vertrautheitsempfindung auslösen (z. B. Obstsorte, die man schon einmal gesehen hat und daher als „bekannt“ eingestuft wird, obwohl weder Name noch Geschmack geläufig sind).

4. Im semantischen Gedächtnis sind Fakten sowie allgemeines Weltwissen abgelegt, die keinen persönlichen Bezug aufweisen und daher ohne Kontext abgespeichert sind (z. B. das Wissen um die Bedeutung der Relativitätstheorie).

5. Im episodischen Gedächtnis sind autobiographische Erlebnisse einer Person abgespeichert, die einen räumlichen, zeitlichen und situativen Bezug besitzen und in der Regel auch emotional bewertet werden (z. B. die Erinnerung an die letzte Geburtstagsfeier).

Im Schulunterricht am häufigsten anzutreffen ist das bewusste, explizite Lernen von Fakten und Ereignissen. Auch wenn diese Inhalte unterschiedlichen Gedächtnissystemen zugeordnet werden, sind sie nicht immer leicht voneinander zu trennen: Beispielsweise kann das Lernen von Fakten (z. B. bestimmter physikalischer Gegebenheiten) in ein bestimmtes Ereignis integriert sein, das Teil unseres episodischen Gedächtnisses wird; so könnten wir uns während der Beantwortung einer Frage an die Vorführung eines dazu thematisch passenden Experimentes erinnern (Brand & Markowitsch, 2006a).

2.3.3 Relevante Hirnstrukturen bei Gedächtnisleistungen

In den vergangenen Jahrzehnten hat die Hirnforschung Erkenntnisse darüber gewinnen können, welche Hirnareale an Lernvorgängen sowie an der kognitiven Entwicklung von

Menschen beteiligt sind (Jozefowiez, 2012; Matejko & Ansari, 2012).

Bei der Gedächtnisbildung können drei Prozesse unterschieden werden, an denen jeweils unterschiedliche Hirnstrukturen beteiligt sind: Enkodierung, Speicherung/ Konsolidierung und Abruf. In jeder dieser Phasen, die miteinander interagieren, kann eine Störung vorkommen und bewirken, dass das Gedächtnis versagt (Horstmann & Dreisbach, 2012).

Die Enkodierungsphase bezieht sich auf die anfängliche Aufnahme der Information, infolge derer eine noch sehr labile Repräsentation dieser Information in den neuronalen Netzwerken des Gehirns entsteht (Born, 2006). Anschließend folgt der Prozess der Konsolidierung: Da die gerade enkodierten Gedächtnisspuren sehr instabil sind, wird die betreffende Information schnell vergessen. Folglich erfordert längerfristiges Behalten einen Vorgang, der die Gedächtnisspuren verfestigt. Angenommen wird, dass jene Verfestigung gleichzeitig mit einer Zusammenführung und Vernetzung der neu aufgenommenen Information mit bereits im Langzeitgedächtnis gespeichertem Wissen einhergeht (ebd.).

Das Konsolidieren und Speichern der Gedächtnisinhalte ermöglicht schließlich die dritte Phase der Gedächtnisbildung: das Erinnern bzw. den Abruf der gespeicherten Informationen.

Im folgenden Abschnitt werden die Grundlagen der Verarbeitung episodischer und semantischer Informationen und ihr Transfer vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis dargestellt, wobei die exakte Zuordnung einzelner Gedächtnisfunktionen zu spezifischen Hirnarealen bislang nur bedingt möglich ist.[5] Bekannt ist hingegen, dass die für die unterschiedlichen Funktionen zuständigen Hirnbereiche sehr gut miteinander vernetzt sind.

Episodische und semantische Informationen gelangen zunächst über sensorische Bahnen in das Gehirn. Angenommen wird, dass sie kurzzeitig in kortikalen Assoziationsarealen gespeichert werden, speziell in denen des lateralen parietalen Kortex (Piefke & Markowitsch, 2009). Daneben werden Teile des präfrontalen Kortex als Kurzzeitspeicherorte erörtert. Anschließend gelangen die Informationen zum limbischen System, das die Enkodierung und Konsolidierung emotionaler und kognitiver Information erbringt (Piefke & Fink, 2013). Dabei kommen sowohl dem Hippocampus als auch der Amygdala als „Zentren“ des limbischen Systems eine Schlüsselrolle zu.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Lage von Hippocampus und Amygdala im limbischen System (Heinz, 2016)

Damit Informationen im Langzeitgedächtnis eintreffen, müssen sie in zwei miteinander verbundenen Schaltkreisen mit jeweils unterschiedlicher Funktion und anatomischer Struktur verarbeitet werden. Der nach seinem Entdecker benannte Papez´sche-Schaltkreis besteht selbst ebenfalls aus zwei Schaltkreisen, von denen sich der eine in der linken, der andere in der rechten Gehirnhälfte befindet. Während im linken Schaltkreis sprachliche Inhalte verarbeitet werden, gelangen räumliche Informationen wie z. B. Wege von Straßenkarten in den rechten Schaltkreis. Als Pforte zum Papez´schen Schaltkreis gilt der Hippocampus, der decodierte sensorische Informationen aus den entsprechenden Sinnesbereichen der Hirnlappen erhält. Anschließend gelangen die Informationen durch den Fornix zu den Mamillarkörpern, dem Thalamus und schließlich zum Gyrus Cinguli, von wo aus sie entweder weiter zu spezifischen Speicherorten wandern oder zur weiteren Festigung im Schaltkreis verbleiben.[6]

Unklar ist bislang, wann gespeicherte Erinnerungen vom medialen Temporallappen und somit vom Hippocampus unabhängig sind. Hierzu existieren zwei Theorien:

Das klassische Modell (auch: Standardmodell) der Gedächtniskonsolidierung nimmt an, dass der Hippocampus nur so lange an dem Abruf deklarativer Information beteiligt ist, bis die Informationen in die neokortikalen Speicherorte überführt worden sind und somit eine permanente Ablagerung vollzogen wurde. Im Anschluss daran ist die Information dann ohne Involviertsein des Hippocampus unmittelbar aus den jeweiligen Speicherorten abrufbar (Piefke & Fink, 2013). Dieses Modell postuliert folglich eine Hippocampus-unabhängige Langzeitspeicherung.

Dagegen geht die Theorie multipler Gedächtnisspuren (Multiple Trace Theory) von einer lebenslangen Beteiligung des Hippocampus an Ablagerung und Abruf insbesondere episodischer Erinnerungen aus (ebd.). Auch in diesem Modell wird ein grundsätzliches Zusammenspiel zwischen neokortikalen Strukturen und archikortikalem Hippocampus angenommen.

Der basolateral-limbische Schaltkreis - bestehend aus Amygdala, mediodorsalem Thalamus und Teilen des basalen Vorderhirns - ist insbesondere an der Verarbeitung emotionaler Reize beteiligt sowie an der Encodierung von mit Emotionen verbundenen Erfahrungen (Pritzel, Brand & Markowitsch, 2009). Beide Schaltkreise arbeiten jedoch nicht unabhängig voneinander, sondern zwischen ihren Strukturen existieren zahlreiche Verbindungen.

Angenommen wird, dass die Speicherung von Faktenwissen sowie episodischer Informationen im Langzeitgedächtnis in ausgedehnten neuronalen Netzwerken erfolgt, die sich größtenteils in neokortikalen Hirnregionen befinden. Weiter existieren Hinweise darauf, dass die Speicherung zudem einen Rückgriff auf allokortikale und subkortikale Hirnstrukturen verlangt (Piefke & Fink, 2013).[7] Während in der rechten Hirnhälfte eher episodisches Wissen gespeichert wird, bewahrt die linke Hirnhälfte vorwiegend semantische Information. Daneben ist der linke Temporallappen mehr an der Verarbeitung von Sprachlauten (Sprachgedächtnis) beteiligt, der rechte Temporallappen an der Verarbeitung von Musik und dem nicht-sprachlichen Gedächtnis.

Zudem wird davon ausgegangen, dass am Abruf episodischer und semantischer Informationen insbesondere der Stirn- sowie der Schläfenlappen

[...]


[1] Im allgemeinen Sprachgebrauch sowie im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe „Neurowissenschaften“ und „Neurobiologie“ synonym verwendet.

[2] Während die Hirnforschung auf der oberen und unteren Ebene zum Teil bereits beachtliche Fortschritte erzielen konnte, sind diese auf der mittleren Ebene bislang weniger zu verzeichnen (ebd).

[3] Je häufiger eine Verbindung genutzt wird, desto stärker und stabiler werden die Verbindungsfasern. Damit eine ungestörte und schnelle Signalübertragung gewährleistet werden kann, werden jene stark genutzten Verbindungsfasern im Laufe der Zeit mit Myelinfasern überzogen. Diese schützende Faserhülle bewirkt eine zusätzliche Stabilisierung der Gedächtnisinhalte und führt zu deren weitgehenden Unveränderbarkeit. Daher kann in der Kindheit Gelerntes in der Regel besonders leicht und sicher erinnert werden. Im Erwachsenenalter erworbene Nervenbahnen sind dagegen weniger gut myelinisiert (Pauen, 2004).

[4] Dass sich Entwicklungsfenster endgültig schließen können, lässt sich bislang nur für das Sehen sowie für bestimmte Aspekte des Spracherwerbs bestätigen (ebd.).

[5] Informationen über einzelne Hirnfunktionen erhält man insbesondere über Patienten, die in bestimmten Hirngebieten Schädigungen aufweisen, die zu einer Beeinträchtigung spezifischer Funktionen führen.

[6] Neben der Verfestigung von Informationen ist der Papez´sche Schaltkreis auch beim Abruf von Informationen involviert.

[7] Die Informationsspeicherungsprozesse sind mithilfe der fMRT nicht direkt ersichtlich, sondern können über die Messung von Hirnaktivität zum Zeitpunkt von Enkodierung und Abruf nur indirekt erschlossen werden

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Detalles

Título
Besser lernen dank Neuro-Wissen? Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die pädagogische Praxis
Universidad
University of Kaiserslautern
Calificación
1,3
Autor
Año
2017
Páginas
63
No. de catálogo
V386018
ISBN (Ebook)
9783956873119
ISBN (Libro)
9783956873133
Tamaño de fichero
14007 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Gedächtnis, Pädagogik, Lernen, Neurowissenschaften, Lernstörungen, Neurodidaktik, Neurobiologie, Neuropädagogik, ADS, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie, Rechenstörung, Rechenschwäche, Lesestörung, Leseschwäche, Neurofeedback
Citar trabajo
Kerstin Wenderholm (Autor), 2017, Besser lernen dank Neuro-Wissen? Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die pädagogische Praxis, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/386018

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