In dem folgenden Aufsatz soll die nationale Identität der Frankokanadier im Spiegel ihrer Geschichte und die Neuinterpretierung historischer Ereignisse beleuchtet werden. Kollektive Identitäten sind keine statische Größe, sie existieren nur im Diskurs und sind demzufolge Gegenstand kontinuierlicher Veränderungen. Diese Dynamik ist allerdings oft den Einzelpersonen nicht bewusst, weswegen vor allem in nationalistischen Diskursen oft sozialstrukturelle Innovationen unter dem Deckmantel der Rückbesinnung auf Traditionen eingeleitet werden und alte Symbole mit einer neuen Bedeutung versehen werden (‚invention of tradition’).
Geschichtskenntnissen kommt eine elementare Bedeutung für ein besseres Verständnis von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Einstellungen von Gesellschaften zu. Allerdings ist die Perspektive und der Zweck der Geschichtsbetrachtung ausschlaggebend: nach Hans-Georg Gadamer erhält ein vergangenes Ereignis seine Bedeutung nur durch die Situation, in der wir es interpretieren und durch die Erfahrung, die uns von ihm trennt. In diesem Sinn spiegeln staatlich autorisierte Geschichtslehrwerke die (mehr oder weniger) aktuellen politischen und kulturellen Diskurse des jeweiligen Landes wieder, um ein staatlich abgesegnetes Geschichtsbild zu vermitteln. Mithilfe von ‚invention of tradition’ stärken Wir-Gruppen die jeweilige Gemeinschaft und so ist jede geschichtliche Darstellung im Hinblick auf seine Bewertung kritisch zu sehen. Im Laufe der Zeit können also Terminologien (vom Canadien français zum Québécois) und Begriffe ihre Bezugspunkte ändern und so beinhaltet heute die kollektive Identität der Québecer andere Elemente als noch vor einigen Jahrzehnten. Obwohl oder wahrscheinlich gerade wegen ihrer interpretierbaren Referenten verliert Geschichte nicht an identitätsstiftendem Potential:
«(...) l’histoire d’une collectivité y est conçue comme la matière d’une perpétuelle auto-interprétation d’où émerge une certaine configuration de significations communes, susceptible d’évoluer à mesure que la tradition narrative de la collectivité concernée s’enrichit de nouvelles expériences.»
In diesem Sinn unterliegt auch die québecer Geschichte ständigen Neuinterpretationen. Um diese Modifikationen der québecer Identität in chronologischer Weise darzustellen, stütze ich mich in erster Linie auf Elwert (1989), Balthazar (1994)und Karmis (1994).
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Problematisierung des Konzeptes der nationalen Identität
- Theoretische Vorüberlegungen zum Konzept der,Identität'
- Sprache als identitätsstiftendes Merkmal
- Nationalgeschichte als Quelle der Identität
- Die französische Kolonie (1534-1760)
- Kolonialisierung, Kanadianisierung und der Niedergang Neufrankreichs
- Das Französische in Neufrankreich
- Das britische Regime (1760-1840)
- Die Auswirkungen des Frieden von Paris und der Unabhängigkeit der USA
- Erste Vorahnungen einer national geprägten frankokanadischen Identität
- Die französische Kolonie (1534-1760)
- Ein gleichberechtigter Status für Québec?
- Zwischen Föderalismus und Autonomie
- Die Konföderation: Dominion of Canada
- Das identitätsstiftende Potential von Sprache
- Die spezifischen Merkmale des frankokanadischen Nationalismus
- Die Modernisierung (1960 – 1980)
- Die Révolution tranquille
- Ein neuer Nationalismus
- Die Auswirkungen der Sprachgesetzgebung
- Neuorientierung
- Eine neue Generation von Politikern
- Die Entwicklung einer pluralistischen Québecer Identität
- Zwischen Föderalismus und Autonomie
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Dieser Aufsatz beleuchtet die nationale Identität der Frankokanadier anhand ihrer Geschichte und der Neuinterpretation historischer Ereignisse. Er untersucht, wie sich kollektive Identitäten im Diskurs entwickeln und verändern, wobei der Fokus auf die Rolle von Sprache und Geschichte liegt.
- Die Dynamik der nationalen Identität im Diskurs
- Die Bedeutung von Sprache als identitätsstiftendes Merkmal
- Die Rolle der Geschichte in der Konstruktion der Identität
- Die Entwicklung und Veränderungen der québecer Identität im Laufe der Zeit
- Der Einfluss von "invention of tradition" auf die nationale Identität
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Der Aufsatz stellt die Problematik der nationalen Identität der Frankokanadier dar und zeigt, wie sie durch die Interpretation der Geschichte geprägt ist. Er betont die Dynamik und den Wandel von kollektiven Identitäten und die Bedeutung von Sprache und Geschichte.
- Problematisierung des Konzeptes der nationalen Identität: Dieses Kapitel beleuchtet den theoretischen Hintergrund des Begriffs "Identität" und die verschiedenen Ansätze zur Analyse von Identität. Es werden die Aspekte der Selbst- und Fremdzuschreibung sowie die Rolle von Sprache in diesem Prozess behandelt.
- Nationalgeschichte als Quelle der Identität: Dieses Kapitel untersucht die Geschichte der Frankokanadier und die prägenden Ereignisse, die ihre nationale Identität beeinflusst haben. Es fokussiert sich auf die französische Kolonialzeit und das britische Regime und zeigt, wie die verschiedenen Phasen der Geschichte die Identität der Frankokanadier geprägt haben.
- Ein gleichberechtigter Status für Québec?: Dieses Kapitel analysiert die Bemühungen der Frankokanadier um einen gleichberechtigten Status innerhalb Kanadas. Es behandelt den Föderalismus, die Bedeutung von Sprache, den frankokanadischen Nationalismus und die Modernisierungsphase.
Schlüsselwörter
Nationale Identität, Frankokanadier, Québec, Geschichte, Sprache, "invention of tradition", Kolonialisierung, Föderalismus, Autonomie, Sprachgesetzgebung, Kultur, Mehrsprachigkeit.
- Citation du texte
- Kathrin Rathsam (Auteur), 2005, Die nationale Identität der Québecer, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38820