Sprachmerkmale des Pirahã


Hausarbeit (Hauptseminar), 2016

17 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abstract

1 Einleitung

3 Das Abstrakte in Pirahã

4 Zahlen, Numerus und Zählen
4.1 Numerus
4.2 Nummern/Numerale
4.3 Quantoren

5 Farbterme

6 Diskussionen und Kritiken zu Everetts Theorie

7 Fazit

8 Quellen

Der Sprachwissenschaftler Daniel Leonard Everett besuchte im Jahr 1977 als Missionar das Amazonas-Volk, die Pirahã. Dort verbrachten er und seine Familie mehrere Jahre mit dem Ziel, die Pirahã zum Christentum zu bekehren, worin er jedoch scheiterte, und sich selbst zum Atheist wurde (Oesterreicher, 2014, 69). Nachdem Everett die Pirahã-Sprache erlernt hatte, veröffentlichte er verschiedene linguistische Studien über die Kultur und Sprache der Pirahã. Im Jahr 2005 publi- zierte Everett den Artikel ÄCultural Constraints on Pirahm Grammar“ in der Zeitschrift ÄCurrent Anthropology“. Darin beschreibt Everett verschiedene Merkmale der Sprache, die seiner Meinung nach belegen sollen, dass die Struktur der Pirahã-Sprache von ihrer Kultur beeinflusst und einge- schränkt wird. Mit Kultur der Lebensraum und die Lebensweise der Pirahã gemeint. Darüber hin- aus behauptet Everett, dass die Merkmale, welche er in seinem Text aufführt, als Beweis dienen, die universalistischen Ansätze der Sprachwissenschaft zu wiederlegen, wie z.B. Noam Chomskys Modell der Universalgrammatik. Nach dieser Publikation äußerten sich manche Wissenschaftler kritisch zu Everetts Stellungnahme (Kay 2005; Levinson, 2005; Wierzbicka, 2005).

Diese akademische Debatte, welche auch von den Medien berichtet wurde, ist deshalb so spannend und wirft viel Kritik ein, weil Everetts Theorie Chomskys Modell der Sprachwissen- schaft widerspricht und eine ganz andere Ansicht und Herangehensweise der Sprachwissenschaft an universalistische Sprachtheorien darstellt, in dem Everett davon ausgeht, dass die Kultur und die Umgebung entscheidend für die Sprachentwicklung sind und diese stark beeinflussen. Everett sieht die Pirahã-Sprache als Beweis für die Falsifizierung von Chomskys universaler Gram- matik, da er der Meinung ist, dass Grammatik auch kulturell beeinflussbar ist, was Chomsky jedoch ablehnt. Um dies zu beweisen, zieht Everett die Pirahã-Sprache heran, von der er behauptet, sie sei stark durch die Kultur und die Erfahrung des Interaktors beeinflusst. Everett behauptet, dass die Grammatik sowie andere Lebensbereiche von den unmittelbaren Erfahrungen abhängen. Bei den Pirahã bedeutet Äerfahren“, wenn etwas gesehen oder von jemandem erzählt wurde, der in der Zeit des Geschehens gelebt hat. Everett ist der Meinung, dass das Fehlen von Zahlen, des Zählens, des Numerus und der Quantifikatoren kulturell zusammenhängt (Everett, 2005, 622). Chomsky hinge- gen ist der Meinung, dass die Kultur die Sprache nicht beeinflusst, sondern dass sie angeboren ist. Chomskys Theorie besagt ebenfalls, dass jede Sprache rekursiv ist und man unendlich viele Aus- drücke von unbegrenzter Länge generieren kann (Chomsky, 2002, 1578). In Pirahã meint Everett den Beweis gefunden zu haben, dass Rekursion nicht unbedingt ein Teil der Sprache ist. Das Pirahã besitzt keine Rekursion, sie bilden eher kleine Phrasen und ketten sie aneinander an (Everett, 2005, 634).

Everetts Feldforschung beruht auf seinen eigenen Erfahrungen, die er über die Jahre bei den Pirahã gesammelt hat. Zu bemerken ist, dass Everett nicht als Linguist, sondern als Missionar in das Amazonasdorf eingezogen ist. Dies sollte im Blick behalten werden, da es möglicherweise die Datensammlung und die Schlussfolgerung, die er gezogen hat, beeinflusst haben könnte. Die Daten wurden gesammelt, indem Everett die Pirahã nach bestimmten Bezeichnungen von Gegen- ständen gefragt hat. Auch dies ist kritisch zu betrachten, da es nicht sicher ist, ob alle Situationen und somit alle Daten erfasst wurden. Darüber hinaus sind die Daten, die Everett liefert, sehr gering, um ganz sichere Schlüsse zu ziehen.

Auch wenn Everett oft versucht klarzustellen, dass das Pirahã eine komplexe Sprache (eine schwere Spreche bezüglich Grammatik) ist - trotz des Fehlens von Numerus, Nummer, Quantoren, Farbtermen (auf welche in dieser Abhandlung eingegangen wird), Rekursion (gemeint ist morpho- /syntaktische Einbettung) und Tempus und obwohl sie den einfachsten Pronomen-Bestand über- haupt hat -, stellt sich die Frage, ob die Pirahã-Sprache tatsächlich komplex ist. Sind die gramma- tischen Merkmale, die dem Pirahã fehlen, nicht die, welche eine Sprache erst komplex machen? Ist das Pirahã vielleicht gar rückständig im Gegensatz zu den anderen Sprachen der Welt? Warum ist die Sprache der Pirahã so, wie sie ist, was könnte sie geformt haben? Was ist überhaupt Komple- xität und welche Sprachen können als komplex gelten? Warum ist Pirahã komplex oder eben nicht komplex? Auf all diese Fragen wird eingegangen, um einen genaues Bild über das Pirahã zu ge- winnen.

3 Das Abstrakte in Pirahã

Die Kultur der Pirahã schränkt deren Sprache und Kommunikation auf Dinge ein, die sie unmittelbar erfahren haben, das heißt über alles, was die Pirahã nicht selbst erfahren haben, wird nicht gesprochen, Everett bezeichnet es als Äabstrakt“ (Everett, 2005, 621 & 623). Zahlen tauchen nicht in der Natur auf, deshalb sind sie für die Pirahã abstrakt. Genauso wie eine Glaubensrichtung. Religion ist ein Konstrukt, welches in der Natur nirgendwo auftaucht, und somit irrelevant für die Pirahã. Farben lassen sich in der Natur beobachten und sind für die Pirahã deshalb nicht abstrakt, jedoch sind explizite Farbterme nicht vorhanden, deshalb werden Bezeichnungen von typisch ge- färbten Dinge genutzt, um Farben zu beschreiben, wie z.B. das Blut. Die Pirahã benutzen die Be- zeichnung Äwie Blut“, um die Farbe Rot auszudrücken. Das bedeutet, die Farben (und nur die, die im Lebensraum der Pirahã vorkommen) an sich sind für die Pirahã nicht abstrakt, die Farbterme aber schon (Robbins, 2011, 85ff), (Everett, 2005, 627f). Mengen lassen sich auch in der Natur beobachten, wie z.B. beim Fischfang, man kann viele Fische oder wenig Fische fangen bzw. einen kleinen Fisch oder einen großen Fisch, deshalb sind relative Mengenangaben für die Pirahã gegen- wärtig. Alles, was spezifischer ist, wird nicht gebraucht und nicht genutzt, deshalb existiert es auch nicht für die Pirahã und ist somit abstrakt. Die Pirahã haben nur drei Wörter, womit sie Mengen- bzw. Größenangaben machen können. Das sind die Wörter hói, hoí und bá a gi so lit. Mit hói wird eine kleine Menge oder kleine Größe ausgedrückt, hoí steht für eine größere Menge oder Größe und bá a gi so lit bedeutet zusammenkommen/Gruppierung (selten, häufig) (Everett, 2005, 623).

Als Everett versuchte, die Pirahã zu missionieren, fragten sie ihn, ob er Gott gesehen habe oder Leute kenne, die Gott gesehen haben. Als Everett dies verneinte, fragten sie ihn, warum sie an etwas glauben sollten, das sie oder ihre Vorfahren nie gesehen haben. Das heißt, die Pirahã glauben nur an das, was sie selbst gesehen haben oder was jemand gesehen hat, der in der gleichen Zeit gelebt hat wie sie selbst. Die Erinnerung der Pirahã reicht nur zwei Generationen zurück (Oesterreicher, 2014, 27), (Everett, 2005, 623). Nur das unmittelbar Erfahrene ist für die Pirahã nicht abstrakt und nur darüber wird gesprochen, alles andere gehört in die Welt der Abstraktion und ist somit für die Pirahã nicht von Bedeutung (Everett, 2005, 623).

4 Zahlen, Numerus und Zählen

Laut Everetts Studie verwendet das Pirahã-Volk keine Zahlen und kann demnach auch nicht rechnen. Darüber hinaus benutzen die Pirahã auch keine Quatoren, wie z.B. Äalles“, und unterscheiden auch nicht zwischen Plural und Singular (Everett, 2005, 625). Als Maßeinheit benutzen sie Äwenig“ oder Äviele“, exaktere Angaben existieren in der Pirahã-Sprache nicht. Everett behauptet, dass nur die Pirahã-Sprache dieses Merkmal besitzt (Everett, 2005, 623f). Everett (2005: 625) sieht den Grund dafür darin, dass Quantifizierungsprozesse durch abstrakte Verallgemeinerungen bedingt sind und dass diese Abstraktionen sich außerhalb der unmittelbaren Erfahrung befinden und deshalb für das Pirahã-Volk nicht von Bedeutung sind.

Everett hat festgestellt, dass es in Pirahã keine Zahlen gibt, indem er den Pirahã Objekte, die sie kannten vorgelegt hat und sie gebeten hat, die Anzahl von Objekten zu benennen. Everett begann mit einem Objekt und legte nach und nach bis zehn dazu. Bei einem Gegenstand, haben die Pirahã das gleiche Wort benutzt, wie wenn da wenige oder kleine Dinge waren (Wood & O'Neill, 2012, Dokumentarfilm).

Das Pirahã-Volk hat laut Everett zwar keinen Numerus, keine Zahlwörter und keine Zahlen, trotzdem treten Dinge im Plural bei ihnen auf, wie z.B. Bäume oder Menschen. Wie drücken sie solche Mengen aus? Darüber hinaus treiben sie Handel mit anderen Menschen, dies setzt jedoch ein Verständnis von gewissen Mengen aus. Um dies zu veranschaulichen, werden einige Beispiele aus Everetts Text herangezogen. Alle unten aufgeführten Beispiele sind aus Everetts Artikel ÄCul- tural Constraints on Grammar and Cognition in Pirahã. Another Look at the Design Features of Human Language“ (Everett, 2005).

4.1 Numerus

In der Sprache Pirahã wird kein Numerus verwendet. Wenn sie von mehreren Personen oder einer einzigen Person sprechen, verwenden sie immer den gleichen Numerus.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Pirahã people he evil spirit fear -be

“The Pirahã are afraid of evil spirits”, “A Pirahã is afraid of an evil spirit”, “The Pirahã are afraid of an evil spirit” or “A Pirahã is afraid of evil spirits”.

(Quelle: Everett, 2005, 623)

An diesem Satz kann man genau sehen, dass der Numerus nicht existiert. Die Pirahã unterscheiden also nicht zwischen Singular und Plural. Man kann den oben genannten Satz sowohl als Plural als auch Singular verstehen beziehungsweise übersetzen, man kann von einem Äevil spirit“ (deutsch: böser Geist) reden und auch von Äevil spirits“ (deutsch: böse Geister). Auf Deutsch könnte man den Pirahã-Satz wie im Englischen mit vier verschiedenen Bedeutungen übersetzen. Erstens: ÄDie Pirahã haben Angst vor einem bösen Geist“, zweitens: ÄDie Pirahã haben Angst vor bösen Geistern“, drittens: ÄDer Pirahã hat Angst vor einem bösen Geist“ und viertens: ÄDer Pirahm hat Angst vor bösen Geistern“. Offensichtlich kann man sowohl das Wort ÄPirahm“ als auch ÄGeist“ als Plural- und als Singularform verstehen und übersetzen.

4.2 Nummern/Numerale

Everett nennt in seinem Artikel (Everett, 2005, 623) drei Wörter, die man mit Numerale verwechseln kann, da diese als solche übersetzt werden können, nämlich die Wörter hói, hoí und bá a gi so lit. Hói bedeutet kleine Menge oder kleine Größe, hoí kann man als eine größere Menge oder Größe übersetzen. Bá a gi so lit bedeutet zusammenkommen (selten, häufig).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

“I want [a big/big pile of/many] fish.”

(Quelle: Everett, 2005, 623)

[...]

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Sprachmerkmale des Pirahã
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Sprache)
Note
2.0
Autor
Jahr
2016
Seiten
17
Katalognummer
V388787
ISBN (eBook)
9783668627512
ISBN (Buch)
9783668627529
Dateigröße
1002 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sprache, Linguistik, Feldforschung, Piraha, Daniel Everett
Arbeit zitieren
Liridona Gashi (Autor:in), 2016, Sprachmerkmale des Pirahã, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/388787

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