Die Geschichte der Homosexuellenbewegung in Deutschland seit 1968 und ihre Auswirkungen auf das Bild von Schwulen und Lesben in der Gesellschaft


Trabajo, 2005

42 Páginas, Calificación: sehr gut (1,0)


Extracto


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Zur Schwulenbewegung seit 1968
1. Die Geschichte der Schwulenbewegung
1.1 Deutsche Demokratische Republik
1.2 Bundesrepublik Deutschland
2. Die Auswirkungen der Schwulenbewegung auf das Bild Homosexueller in der Gesellschaft

III. Die Lesbenbewegung in Deutschland seit 1968
1. Bundesrepublik Deutschland
2. Deutsche Demokratische Republik
3. Die Lesbenbewegung im vereinten Deutschland

IV. Homosexualität im Spiegel der Medien der 1970er bis 90er Jahre

V. Gesellschaft und Homosexualität heute
1. Gründe für die Abneigung gegenüber Homosexuellen
2. Ressentiments gegen Homosexuelle in der heutigen Gesellschaft
3. Identitätsproblematik lesbischer Frauen

VI. Fazit

VII. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Die Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK), am 15. Mai 1897 in Magnus Hirschfelds Berliner Wohnung, gilt als Ursprung der Schwulenbewegung. Zwar haben einige Männer schon Jahrzehnte vorher Anstrengungen unternommen, die Allgemeinheit über das Thema Homosexualität aufzuklären und Homosexuellen zu einem humanen Leben zu verhelfen, doch wurden diese Bemühungen erst im WhK zusammengeführt und in organisierter Form fortgesetzt: Mit der Arbeit des Komitees wurde die Grundlage für die Emanzipation politischen Handelns von Homosexuellen geschaffen. Jedoch geschah dies weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit, da „die nichthomosexuelle Mehrheit der Gesellschaft [...] sich stets ihrer Rolle des Gegenparts“ (Kraushaar[1], 7 f.) widersetzte.

Weibliche Homosexualität hingegen vollzog sich im Laufe der Geschichte eher in nichtöffentlichen Bereichen.

In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts erblühte in den Großstädten Deutschlands eine Homosexuellenkultur, die sich vor allem in der Eröffnung von Lokalen und in der Herausgabe von einschlägiger Literatur ausdrückte. Daneben entstanden eine Vielzahl von Organisationen und Verbänden, die vereint für die Abschaffung des Paragraphen 175 eintraten, der sexuellen Verkehr zwischen Männern verbot. (Herrn[2], 25) Zu Zeiten der Weimarer Republik flammte dann auch zum ersten Mal eine Form der „Lesbenbewegung“ auf, die sich ähnlich ausdrückte. (Jäger[3], 55)

Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 und der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurden Homosexuelle beiderlei Geschlechts verfolgt (Herrn, 25) und ihre kulturellen, politischen und sozialen Strukturen zerstört. (Kraushaar, 8) Nach Kriegsende blieb der § 175 StGB in der Bundesrepublik bestehen, in der DDR wurde er in die Fassung von vor 1935 umgeändert[4]. (Herrn, 36) Nachdem 1962 eine öffentliche Diskussion über Homosexualität aufbrandete und sich die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, der Deutsche Juristentag und 1967 Bundesjustizminister Heinemann für die Streichung des § 175 aussprachen, änderte die Große Koalition unter Kiesinger mit Wirkung zum September 1969 den Paragraphen, woraufhin homosexuelle Handlungen zwischen Männern straffrei blieben[5]. (a.a.O., 49 ff.)

Im Zuge dessen konstituierten sich Ende der sechziger Jahre Studentengruppen Homosexueller. 1971 brach ein Generationskonflikt aus, „der zu einem radikalen Bruch in der Tradition der Homosexuellenbewegung“ (a.a.O., 53) führte: Tarnvereine Homosexueller wurden in offen sichtbare Aktionsgruppen umgewandelt. Zum Aufbruch in die Öffentlichkeit trug vor allem Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der lebt“ bei. Neben neuen Gruppierungen gründeten sich eine Vielzahl von Zeitschriften, Verlagen, Cafés und kulturelle Einrichtungen; bundesweite Homosexuellentreffen fanden statt. (ebd.) Kraushaar berichtet, daß es der Studentenbewegung gelang, den Schwulen den erforderlichen Freiraum zu verschaffen, in dem sie ihre gesellschaftliche und politische Lage neu überdenken konnten. Alsbald glaubten sie „an einen radikalen Bruch mit ihrer eigenen Geschichte“ (Kraushaar, 8) und hofften ein Teil der linken und feministischen Bewegung zu werden, dem durch die AIDS-Krise zu Beginn der achtziger Jahre allerdings Grenzen gesetzt wurden. (ebd.) Die Geschichte und die Folgen dieses finalen Aufbruchs Homosexueller in das Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit, sind Gegenstand dieser Arbeit.

Ziel ist es, aufzuzeigen, wieviel Anteil die Homosexuellenbewegung bei der Entwicklung eines Selbstverständnisses der Schwulen und Lesben hatte. Ebenfalls Gegenstand sind die Zielsetzungen der Bewegung und deren Realisierung. Darüber hinaus interessieren die Fragen nach dem Warum und Wie der Herausbildung der öffentlichen Akzeptanz, Ignoranz und/oder Abneigung Homosexueller.

II. Zur Schwulenbewegung seit 1968

1. Die Geschichte der Schwulenbewegung

Zwei Tage nach Änderung des Paragraphen 175 durch den Bundestag, kam es in der Nacht vom 27. zum 28. Juni 1969 zum ersten bekannten Aufstand von Schwulen und Lesben gegen eine Razzia und die Willkür der Polizei in der Christopher Street in New York. Die Ausschreitungen der folgenden vier Wochen, deren Abschluß die erste Demonstration Homosexueller bildet, „sind der Beginn einer neuen, radikalen Lesben- und Schwulenbewegung weltweit“ (Kraushaar, 125 ff.). An diesen Aufstand Unterdrückter soll der in Großstädten jährlich abgehaltene Christopher Street Day erinnern.

Neben den Krawallen in der Christopher Street, kann man die Liberalisierung des § 175 StGB als hauptsächliche Ursachen für das Erstarken der Schwulenbewegung in Deutschland ansehen.

Weitere wichtige Stationen und Ereignisse, die die Schwulenbewegung, sowohl in der BRD als auch in der DDR, beeinflußten, werden im folgenden beschrieben.

1.1 Deutsche Demokratische Republik

Mit dem Bau der Berliner Mauer, 1961, war den homosexuellen Bürgern der DDR ein Austausch mit Homosexuellen aus der BRD nicht mehr möglich. Bis 1973 durften keine Homosexuellenorganisationen gegründet werden und spezifische Zeitschriften nicht erscheinen. Homosexuelle waren gezwungen sich in privaten Räumen zu treffen oder anonym auf öffentlichen Toiletten und in Parks. In großen Städten existierten einschlägige Restaurants, die nach einiger Zeit jedoch geschlossen werden mußten. Einige Zeit später eröffneten sie mit neuem Ambiente wieder. (Herrn, 50)

1968 beschloß die Volkskammer, ohne öffentliche Diskussion, ein neues Strafgesetzbuch, in dem der Paragraph 175 gestrichen wurde. Fortan sind homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen über 18 Jahren nicht mehr strafbar. Weiterhin besteht jedoch ein Zeitschriftenpublikations- und Organisationsverbot für Homosexuelle. (Herrn, 52)

Ähnlich wie in der BRD, finden sich 1973 durch die Ausstrahlung des Praunheim-Films „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, der auch in großen Teilen der DDR empfangbar war, in Ost-Berlin homosexuelle Frauen und Männer zusammen und gründen die Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin – die erste Homosexuellenbewegung der DDR –, mit dem Ziel in der sozialistischen Gesellschaft anerkannt zu werden. Nach vielen Bemühungen (kulturelle Veranstaltungen, DDR-weite Treffen) und dem vergeblichen Versuch sich als staatlich anerkannten Verein eintragen zu lassen, löste sich die Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin 1979 auf, nachdem der Ministerrat erklärte, daß das Sich-Organisieren von Homosexuellen untersagt bleibt, um sexuell unschlüssige Jugendliche nicht dazu zu verleiten sich gegen „die bessere (heterosexuelle) Seite zu entscheiden“ (Herrn, 59).

Die in der DDR praktizierte Trennung von Religion und Staat erlaubte es den Kirchen, in ihren Räumen zur Sammelstätte oppositioneller Gruppen und Initiativen zu werden. So fand 1981, organisiert durch die Evangelische Akademie, erstmals eine Tagung zum Thema Homosexualität statt. 1982 gründete sich in Leipzig der Arbeitskreis Homosexualität unter dem Dach der Kirche – systematisch von der Staatssicherheit überwacht. Ab 1983 präsentierten sich Homosexuellengruppen mit einem eigenen Stand in der Öffentlichkeit auf den jährlich stattfindenden Kirchentagen. Zur Konfrontation mit den Behörden führte die ebenfalls seit 1983 durchgeführte Kranzniederlegung im Konzentrationslager Buchenwald zum Gedenken an die Verfolgung Homosexueller. Auch wenn lesbische Frauen in der Minderzahl waren, arbeiteten sie mit schwulen Männern zusammen – dies war, im Gegensatz zur BRD, in der DDR die Regel (lediglich in Berlin gab es von 1983 bis 1989 den Geschlechterrollen reflektierenden Arbeitskreis Lesben in der Kirche). Bis 1989 entstanden in vielen Städten der DDR insgesamt 17 Arbeitskreise Homosexueller unter der Obhut der Kirche. Ab 1984 fanden Koordinationstreffen mit Vertretern aller Arbeitskreise statt, um die Vernetzung der Initiative voranzutreiben. Ab 1985 wurde in Tages- und Wochenzeitungen aufklärend über Homosexualität berichtet. Einige Zeit später folgten auch Rundfunk- und Fernsehbeiträge, die sich kritisch mit der Situation der Homosexuellen und dem Umgang mit ihnen auseinandersetzten. 1985 wurde an der Humboldt-Universität eine interdisziplinäre, aus Wissenschaftlern bestehende Arbeitsgruppe Homosexualität gebildet, die Empfehlungen für den Umgang mit Homosexuellen erarbeiten sollte. 1986 wurden erste nicht-kirchliche Homosexuellengruppen gegründet. Erste Feindseligkeiten zwischen „Parteischwulen“ und „Kirchenschwulen“ kamen auf, da zu Zielen und strategischem Vorgehen zum Erreichen dieser, unterschiedliche Auffassungen bestanden. 1987, vier Jahre nach Beginn der Diskussion in der BRD, wurde bei einem Koordinationstreffen in Erfurt erstmals AIDS und die autoritäre staatliche AIDS-Politik thematisiert. 1988 wurde die Schutzaltersgrenze auf 16 Jahre heruntergesetzt: Homosexuelle Handlungen waren fortan an heterosexuelle angepaßt. Eine öffentliche Diskussion fand nicht statt; das Wort Homosexualität kam im Strafgesetzbuch nicht mehr vor. 1989 kam es in Budapest zu einem internationalen Treffen von Lesben- und Schwulengruppen aus den Ostblock-Staaten. Im gleichen Jahr erschienen einige Bücher zum Thema Homosexualität. Am 09. November 1989, dem Tag der Maueröffnung, feierte der erste schwule Spielfilm der DDR, „Coming Out“, Premiere. Erste Austäusche zwischen Ost und West waren wieder möglich. (Herrn, 60 ff.)

1.2 Bundesrepublik Deutschland

Im November 1969 gründete sich „du und ich – Magazin für Freunde von heute“ – die erste Schwulenzeitschrift, die nach Änderung des § 175 in den deutschen Zeitungshandel gelangte. (Kraushaar, 131) Die Aufmachung und der Inhalt dieses und anderer innerhalb kurzer Zeit gegründeter Magazine unterschieden sich radikal von den Bildern und Artikeln, die noch vor 1969 einschlägige Zeitschriften zum Inhalt hatten: „Rausch, Lust und Intellektualität werden stilprägend“ (Herrn, 54).

1970/71 wurden erste Homosexuellenorganisationen ins Leben gerufen; lediglich die „Internationale Homophile Weltorganisation“ bestand länger. Im April 1971 wurde die „Homosexuelle Studentengruppe“ gegründet, die der Bewegung bedeutsame Impulse gab. Im Zuge weiterer Zusammenschlüsse Homosexueller entstand „ein Generationskonflikt in der Bewegung, der in den Homosexuellenzeitschriften ausgetragen“ (ebd.) wurde: Die Vertreter der einen Gruppe waren eher bürgerlich-liberal bis konservativ und nannten sich Homoeroten, Homophile oder Kameraden. In den Verbänden bestand eine Hierarchie; Ziel war die Verringerung der Diskriminierung Homosexueller, wobei sich die Aktivitäten auf Geselligkeiten, politischen Bekanntmachungen und Beratung beschränkten. Die Akteure blieben im Hintergrund. Die Aktivisten der neuen Gruppen hingegen gestalteten ihre Arbeit offensiver, indem sie spontane Aktionen durchführten, Demonstrationen veranstalteten und Flugblätter verteilten. Männer und Frauen bezeichneten sich selbst als Schwule, kamen überwiegend aus studentischen Kreisen, waren politisch links orientiert und basisdemokratisch organisiert. Ihre Ziele waren „die sozialistische Gesellschaftsveränderung sowie die Auflösung der Geschlechterrollenfixierung“ (ebd.). 1972, mit Beginn der Frauenbewegung, spaltete sich von der Schwulen- schnell eine Lesbenbewegung ab. (a.a.O., 55)

Am 3. Juli 1971 wurde der Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ bei den Berliner Filmfestspielen uraufgeführt. Autor und Regisseur Rosa von Praunheim zeigte seinen Film in den nächsten Monaten in vielen Großstädten Deutschlands. (Kraushaar, 134 f.) Der Film wirft Schwulen vor, sich in ihrer Subkultur eingerichtet zu haben, ohne für eine Befreiung zu kämpfen. Daraufhin bildeten sich zahlreiche Emanzipations- und Schwulengruppen. (Bruns[6] ) Der Film wurde alsbald, Anfang 1972, erstmals im Fernsehen gezeigt – allerdings nicht wie geplant in der ARD, sondern im Dritten Programm des WDR. 1973 wird der Film dann deutschlandweit (mit Ausnahme Bayerns) ausgestrahlt. Die anschließende Diskussion mit schwulen Aktivisten, Politikern und Journalisten geriet zu einem Eklat, als sich der Moderator im Laufe der Live-Sendung demonstrativ zu den Schwulen setzte; Presse und Zuschauer zeigten sich erzürnt. Es gründeten sich, auch aufgrund dieser öffentlichkeitswirksameren Ausstrahlung, weitere Schwulengruppen; einige fusionierten – wie die Deutsche Aktionsgemeinschaft Homosexualität (DAH) in Bochum, die aus zehn Gruppierungen hervorging. Im Laufe der Zeit zergliederten und spezialisierten sich die Gruppen je nach Berufszugehörigkeit und parteipolitischer Couleur. (Kraushaar, 136 ff.) So fühlten sich diese neuen Gruppen mit der Linken verbunden und standen entweder der sozialliberalen Koalition nahe oder waren antikapitalistisch orientiert und kamen direkt aus der Studentenbewegung; daneben entstanden kommunistische Gruppen, die der Auffassung waren, daß die Unterdrückung Homosexueller „nur ein spezieller Fall der allgemeinen Unterdrückung der Sexualität sei, die der Sicherung der politischen und ökonomischen Macht diene“. (Bruns)

Im April 1972 fand in Münster die erste Demonstration von Schwulen statt, zu der sich Menschen aus ganz Deutschland einfanden. Ein Jahr später rief die DAH zu Aktionstagen auf, um gegen den § 175 zu protestieren; diesem Aufruf folgten Gruppen in vielen Großstädten – über 20.000 Stimmen für die Streichung des Paragraphen wurden gesammelt. Im Juni 1973 trafen sich Schwule aus ganz Deutschland und einigen europäischen Ländern zu einer Demonstration in Berlin, die in einen Skandal mündete, da ausländische Gäste in Frauenkleidern mitliefen; die Boulevardzeitungen schrieben vom „Marsch der Lidschatten“. Infolgedessen brach der sogenannte „Tuntenstreit“ aus: Die Gegner der „Demonstranten im Fummel“ (Kraushaar, 144) sahen darin eine nicht angemessene Brüskierung, mit der man in der Bevölkerung Sympathien verlöre. „Die Befürworter, die sich fortan ‚Feministen’ nennen, plädieren für ein Ende der Selbstunterdrückung, die immer auch eine Unterdrückung der Tunten bedeute. [...] Ziel müsse eine Gesellschaft sein, in der man seine Unangepaßtheit und seine Perversionen ausleben könne.“ (ebd.) Infolge dieses Konflikts kam es innerhalb der Schwulengruppierungen zu großen theoretischen Debatten über den richtigen Weg „im Kampf um Emanzipation“ (a.a.O., 145).

Ende November 1973 beschloß der Bundestag die Reform des § 175: Die Schutzaltersgrenze wurde von 21 auf 18 Jahre hinuntergesetzt[7] ; homosexuelle Prostitution wurde straffrei. (a.a.O., 146)

Die Projekte, die sich seit Mitte der siebziger Jahre gründeten (Buchläden, Verlage, Theatergruppen), zielten darauf, eine Gegenkultur aufzubauen, um bald eine gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen. Ab 1975 kam es auch zu Diskussionen über abweichende Sexualitäten, insbesondere Sadomasochismus und Päderastie. Ersteres wurde als krank und faschistoid bezeichnet, woraufhin sich Lederschwule in Motorsportclubs organisierten. Hingegen befürwortete die Schwulenbewegung die Legalisierung gewaltfreier Sexualität mit Kindern und forderte die Außerkraftsetzung des gesamten Sexualstrafrechts, da strafwürdiges bereits in Gesetzen zu Körperverletzung und Nötigung abgedeckt sei. Die Landesarbeitsgruppe Schwule und Päderasten der Grünen legte 1985 ein Arbeitspapier mit diesen Forderungen vor, was im Landtagswahlkampf Nordrhein-Westfalens zum sogenannten Kindersexskandal führte. Nach Bruns' Auffassung lagen die Gründe für die Haltung der Schwulenbewegung hinsichtlich der Päderastie darin, daß man keine „wegen ihrer ‚abweichenden’ Sexualität verfolgte Gruppe den ‚Herrschenden’ ausliefern wollte“ (Bruns); daß die Schwulen, die sich dort zu Wort meldeten erste positive sexuelle Erfahrung in frühester Jugend mit erwachsenen Männern hatten und ihr Coming Out sehr spät erlebten, weshalb sie das Gefühl hatten, die besten Jahre versäumt zu haben und davon träumten um „wie viel besser ihr Leben verlaufen wäre, wenn ein älterer Mann sie schon früher ‚aufgeweckt’ hätte“ (ebd.). Die Frauen berichteten von ihren Gewalterfahrungen erstmals Anfang der achtziger Jahre. Alice Schwarzer und Günter Amendt stellten fest, daß sexuelle Beziehungen zu Kindern niemals gewaltfrei sein könnten. Die Diskussion gestaltete sich sehr emotional und führte „zu einer tiefgreifenden Entfremdung zwischen der Frauen- und der Schwulenbewegung“ (ebd.). Fast alle Schwulengruppen haben sich heute von den Päderasten distanziert, da sie sonst von der Gesellschaft verurteilt werden würden und politisch ohnehin nichts mehr bewerkstelligt werden kann. Auch Diskussionen innerhalb der Gruppen zu dieser Thematik finden nicht mehr statt. (ebd.)

1976 begründete das Bundesverwaltungsgericht Kassel die Ablehnung einer Revision der Gesellschaft für Sexualreform (GSR), die einen Info-Stand in Aachen aufstellen wollte, damit, daß „von der Norm abweichende Verhaltensweisen und Meinungsäußerungen, Jugendliche in der ungestörten Entwicklung ihrer Sexualsphäre“ gefährden. Die Nationale Arbeitsgruppe Repression gegen Schwule gründete sich kurze Zeit später und reichte der britischen Russell Foundation für das Tribunal „Die wachsende politische Repression in der BRD“ Material über die Diskriminierung Homosexueller ein. Das Tribunal bezeichnete das Verbot des Info-Standes der GSR als „Einschränkung der Meinungsfreiheit für Schwule“, die sich „in den Abbau demokratischer Rechte in der BRD“ einreihe. (Kraushaar, 156 ff.)

1978 wurde mit Wolfgang Krömer der erste sich offen als schwul bekennende Politiker, zur Wahl für ein Mandat in der Hamburger Bürgerschaft aufgestellt. (a.a.O., 159)

Am 12. Juli 1980 lud die Allgemeine Homosexuelle Arbeitsgemeinschaft Politiker aller Parteien zu einer Podiumsdiskussion mit dem Titel „Parteien auf dem Prüfstand – Schwule & Lesben befragen Politiker“ ein. Die Veranstaltung wurde bald abgebrochen, da radikale Mitglieder der Schwulenbewegung mit Pfiffen und Zwischenrufen störten. (a.a.O., 179 f.) Trotz staatlicher Behinderung (Jugendschutz) entstanden in den achtziger Jahren eine Vielzahl von Jugend- und Schülergruppen, die ein Coming Out zu unterstützen suchten. (Bruns)

Am 3. Juli 1981 berichtete die New York Times von einer seltenen, das Immunsystem schwächenden Krebserkrankung, die bei 41 homosexuellen Männern festgestellt wurde. Nachdem sich Todesfälle und Erkrankungen unter Homosexuellen[8] häuften, suchten Ärzte und Wissenschaftler, unter besonderer Berücksichtigung des Lebensstils homosexueller Männer, nach der Ursache für die Krankheit. Aufgrund des Mangels körpereigener Abwehrkräfte sprach man bald vom „Acquired Immune Deficiency Syndrom“, kurz: AIDS. 1982 wurde die Erkrankung erstmals bei einem Patienten in Deutschland festgestellt. Das von Wissenschaftlern gefundene AIDS auslösende HI-Virus, über dessen Verbreitung durch Körperflüssigkeiten mit aufgeklärt wurde, führte, bei gleichzeitig reißerischer Medienberichterstattung, die vor allem Schwule und ihr Sexualverhalten zum Gegenstand hatte, zu panischen Reaktionen in der Bevölkerung. Mit dem Ziel über AIDS aufzuklären, einen umsichtigeren Umgang von Politikern und Öffentlichkeit herbeizuführen und Erkrankte und deren Angehörige zu unterstützen, konstituierten sich in vielen Städten Deutschlands AIDS-Selbsthilfegruppen. (Kraushaar, 182 ff.)

Ende 2004 lebten in Deutschland circa 39.000 Menschen mit dem HI-Virus; ungefähr 5.000 sind an AIDS erkrankt. Die Zahl der Neuinfektionen lag im Jahr 2004 bei circa 2.000. Mehr als die Hälfte der Neuinfektionen betrafen Männer, die mit Männern Sex haben. Seit Beginn der Epidemie infizierten sich in Deutschland 67.500 Menschen mit HIV, 23.500 starben.[9]

Das Robert-Koch-Institut verzeichnete in den letzten Jahren einen Anstieg der Neuinfektionen bei Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten. Gleichzeitig sinkt das Schutzverhalten: In riskanten Situationen wird ein Kondom seltener benutzt.[10]

1985 zog mit Herbert Rusche der erste sich als homosexuell bekennende Mann für die Grünen in den Bundestag ein. Seine Antrittsrede begann mit den Worten „Wir sind überall und auch in den Parlamenten“. Die Reaktionen der Regierungsmitglieder darauf waren Gelächter und hämische Zwischenrufe. (Kraushaar, 196 f.) Am 8. Mai 1985 wurden die homosexuellen Opfer des Nazi-Regimes zum ersten Mal offiziell durch Bundespräsident von Weizsäcker geehrt. Vier Tage später wurde im Konzentrationslager Neuengamme der erste Gedenkstein für die Träger des rosa Winkels errichtet. (a.a.O., 199 f.)

1986 wurde der Bundesverband Homosexualität gegründet, der die Arbeit regionaler Homosexuellengruppen zusammenführte, um zu erreichen, daß die Schwulen „ihre Stärke als gesellschaftliche Gruppe in der Öffentlichkeit offenkundiger zeigen“ (a.a.O., 202). Die Gegensätze Radikaler und Reformer[11] führten 1990 zu einer Spaltung und 1996 zu einer Auflösung des Dachverbandes. 1990 schlossen sich die Reformer dem Schwulenverband in der DDR an, der kurze Zeit später in Schwulenverband in Deutschland umbenannt wurde. Ziel sind Gleichstellung und Gleichberechtigung Schwuler in der Gesellschaft „sowie ihre gleiche Teilhabe am öffentlichen Leben“ (a.a.O., 210). Mit der Einforderung von Bürger- und Menschenrechten war der Schwulenverband sehr erfolgreich und erreichte, daß die Öffentlichkeit auf die Probleme des schwulen Lebens aufmerksam wurde „und die Zustimmungsrate zum Abbau der Diskriminierungen immer mehr“ (Bruns) stieg. Zudem konnten mit dieser Politik auch Lesben gewonnen werden, woraufhin der Lesben- und Schwulenverband Deutschland entstand. Der Bundesverband Homosexualität löste sich 1996 selbst auf. (ebd.)

Am Berliner Schwulenlokal „Mocca Bar“ wurden am 20. April 1990 bei Ausschreitungen 300 jugendlicher Rechtsradikaler 50 Menschen teilweise schwer verletzt. Begleitet wurde der Angriff mit Parolen wie „Schwule raus!“. (Kraushaar, 211 f.)

7.000 Homosexuelle protestierten in Berlin wiederholt gegen den Paragraphen 175. Sie wiesen besonders auf die rechtliche Ungleichheit hin, die bei der Vereinigung von BRD und DDR entstand, da der Einigungsvertrag in den alten Bundesländern eine Bestrafung vorsah, wenn ein Erwachsener mit einem unter Achtzehnjährigen homosexuelle Handlungen vollführte. Da der Paragraph in der DDR bereits abgeschafft und nach der Vereinigung nicht wieder eingeführt wurde, wurden diese Handlungen in den neuen Bundesländern nicht geahndet. (a.a.O., 214 f.) Ab 01. Januar 1993 wird Homosexualität von der Weltgesundheitsorganisation nicht mehr als psychische Krankheit aufgeführt. Vermehrt versuchten Anfang der 90er Jahre schwule und lesbische Paare eine standesamtliche Trauung zu erreichen, wurden jedoch mit Hinweis auf die Rechtslage von den Beamten abgewiesen. Im Oktober 1993 entschied das Bundesverfassungsgericht, daß Geschlechtsverschiedenheit zu den prägenden Merkmalen einer Ehe gehöre; jedoch bedürfe es einer Klärung, „ob Benachteilungen gleichgeschlechtlicher Paare in ihrer privaten Lebensgestaltung sowie im Vergleich mit Ehepaaren verfassungsgemäß seien. Einzelne gesetzliche Bestimmungen müßten womöglich geändert werden“ (a.a.O., 223). Im März 1994 beschloß der Bundestag mit breiter Mehrheit, die Streichung des § 175 aus dem Strafgesetzbuch und verabschiedete eine neue Jugendschutzvorschrift, „die Jugendliche unter 16 Jahren unabhängig von ihrem Geschlecht vor sexuellem Mißbrauch bewahren soll“ (ebd.). Das Schutzalter für Heterosexuelle lag vorher bei 14 Jahren.

[...]


[1] Kraushaar, Elmar, Hrsg. „Hundert Jahre schwul – Eine Revue“. Berlin: Rowohlt, 1997.

[2] Herrn, Rainer. „Anders bewegt – 100 Jahre Schwulenbewegung in Deutschland“. Hamburg: MännerschwarmSkript-Verlag, 1999.

[3] Jäger, Susanna. „Doppelaxt oder Regenbogen?“. Tübingen: Edition diskord, 1998.

[4] In der BRD wurde der Paragraph unverändert belassen. Eine Reform wurde abgelehnt, da es „dringlichere Aufgaben“ gebe. Die Nationalsozialisten verschärften ihn insoweit, alsdaß „Unzucht zwischen Männern“ mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus bestraft werden konnte. Der Bundesgerichtshof sah darin kein nationalsozialistisches Gedankengut, das Bundesverfassungsgericht keinen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. (Herrn, 36 ff.)

[5] Bestraft wurden noch männliche Erwachsene, die mit jungen Männern unter 21 Jahren sexuelle Handlungen durchführten. Das Magazin Der Spiegel dazu: „Als eines der wenigen Länder der Welt wird damit die Bundesrepublik an der Meinung festhalten, daß Jugendliche zwischen 18 und 21 Jahren zwar wehrdiensttauglich, aber nicht zur freien Willensentscheidung über ihr Geschlechtsleben fähig seien – sofern es sich um Homosexuelle handelt.“ („Späte Milde“. Der Spiegel 20/1969: 58)

[6] Bruns, Manfred. „Schwulenpolitik in der alten Bundesrepublik“. Quelle: http://www.lsvd.de/bund/schwulenpolitik.html. Abrufdatum: 02/2005.

[7] In der Begründung hieß es: „Ein Schutzalter von 18 Jahren genügt, da die sexuelle Reifung nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen heute in diesem Alter abgeschlossen ist“.

[8] Nur wenige Frauen und heterosexuelle Männer waren betroffen.

[9] Robert-Koch-Institut. „HIV/AIDS in Deutschland – Eckdaten und Trends“. Berlin, 2005.

[10] Robert-Koch-Institut. „AIDS-Situation in Deutschland“. Berlin, 2004.

[11] So forderten die Reformer die Homo-Ehe ein, womit sie sich im Bundesverband jedoch nicht durchsetzen konnten. (Bruns)

Final del extracto de 42 páginas

Detalles

Título
Die Geschichte der Homosexuellenbewegung in Deutschland seit 1968 und ihre Auswirkungen auf das Bild von Schwulen und Lesben in der Gesellschaft
Universidad
Carl von Ossietzky University of Oldenburg
Calificación
sehr gut (1,0)
Autores
Año
2005
Páginas
42
No. de catálogo
V39323
ISBN (Ebook)
9783638381253
ISBN (Libro)
9783638719650
Tamaño de fichero
832 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Geschichte, Homosexuellenbewegung, Deutschland, Auswirkungen, Bild, Schwulen, Lesben, Gesellschaft, Schwule, Hirschfeld, DDR, BRD, Emanzipation, Homosexuelle, homosexuell, schwul, lesbisch, Schwulenbewegung, Akzeptanz, Entwicklung, Lesbenbewegung, Medien, Identität, Ressentiments, Vorbehalte
Citar trabajo
Ricardo Westphal (Autor)J.-Ch. Busker (Autor), 2005, Die Geschichte der Homosexuellenbewegung in Deutschland seit 1968 und ihre Auswirkungen auf das Bild von Schwulen und Lesben in der Gesellschaft, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39323

Comentarios

  • visitante el 7/12/2019

    Inzwischen hat Leidinger herausgestellt, dass die erste (gemischte) Homosexuellengruppe Deutschlands von einer Lesbe gegründet wurde, vgl. Christiane Leidinger: Gründungsmythen zur Geschichtsbemächtigung? - Die erste autonome Schwulengruppe der BRD war eine Frau, in: Invertitot H 13, 2011. Im Übrigen ist es auch nicht korrekt dass die Lesbenbewegung eine Abspaltung von der Schwulenbewegung war. Die erste bundesrepublikanische Lesbengruppe in Köln wurde von Gertraut Müller nicht aus einem Schwulenkollektiv heraus entwickelt.

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Título: Die Geschichte der Homosexuellenbewegung in Deutschland seit 1968 und ihre Auswirkungen auf das Bild von Schwulen und Lesben in der Gesellschaft



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