[...] Eine Vielzahl scheinbarer Gewissheiten umranken jene Diskussion: So wird die Nachkriegsprosperität vielerorts etwa als rein bundesdeutsches Phänomen wahrgenommen – noch dazu als eines, das der wiedergewonnenen Arbeitsfreude der deutschen Bevölkerung geschuldet sei. Einer weiteren landläufigen Ansicht zufolge gilt das ‚Wirtschaftswunder’ als Resultat der Sozialen Marktwirtschaft – und dem ausnehmend liberalen Laissez-Faire ihres Architekten Ludwig Erhard. Zuletzt sehen nicht wenige im Ölschock von 1973 die zentrale Ursache dafür, dass die Nachkriegsprosperität ein Ende fand. Zu zeigen, dass diese durchaus populären Ansichten einer realen Grundlage entbehren und somit als große Irrtümer eingestuft werden müssen, ist eine der zentralen Aufgaben der vorliegenden Arbeit. Erste sich mit diesem Themenkomplex beschäftigende wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten standen indes keineswegs in allzu direktem Widerspruch zu solchen Überzeugungen: Zumindest rückten sie die Bedeutung der scheinbar besonders marktwirtschaftlichen Wirtschaftspolitik im „Modell Deutschland“ ins Zentrum ihrer Betrachtung. In der Folge publizierte Erklärungsversuche konzentrierten sich auf andere Faktoren; etwa situationsspezifische Ausgangsbedingungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Immerhin erkennen diese Theorien die Tatsache an, dass „Wirtschaftswunder und Wirtschaftswachstum [...] an historisch einmalige Voraussetzungen geknüpft“ waren und relativieren somit die Erklärungskraft o.g. Ansichten, sie vernachlässigen indes noch häufig – aufgrund eines auf Westdeutschland begrenzten Bezugsrahmen – parallel stattfindende internationale Entwicklungen. Erst später publizierte Arbeiten erkennen an, dass es sich bei der Nachkriegsprosperität um „eine den westeuropäischen Ländern gemeinsame Erfahrung“ handelt. Taugt also der Begriff des ‚Wunders’? Timmermann stellt angesichts der in den 1950er Jahren herrschenden Voraussetzungen sogar „die Frage, ob der großartige Erfolg der sozialen Marktwirtschaft nicht nur ein ‚historischer Zufall’ [Hervorhebung im Original]“6 war – und eben nicht fruchtbare Folgeerscheinung eben dieser Politik. Zweites Ziel dieser Arbeit ist es, jene spezifischen Bedingungen herauszuarbeiten, die die Phase langanhaltender, exorbitanter Prosperität ermöglicht bzw. bewirkt haben. In diesem Zusammenhang sollen die einflussreichsten Erklärungsversuche beleuchtet werden, die zum Teil in Ergänzung, zum Teil – wie angedeutet – in Widerspruch zueinander stehen. [...]
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung: Die mystifizierte Ära
- 2. Das, Wunder' in Ziffern: Kennzahlen des Booms
- 3. Verklärtes Geschichtsbild: Die prominentesten Irrtümer in Bezug auf die Nachkriegsprosperität
- 3.1 Irrtum I: Die Nachkriegsprosperität war Ergebnis der außergewöhnlichen Arbeitsleistung der westdeutschen Bevölkerung.
- 3.2 Irrtum II: Die Nachkriegsprosperität war ein westdeutsches Phänomen.
- 3.3 Irrtum III: Die Nachkriegsprosperität war Resultat einer der freien Marktwirtschaft verpflichteten Laissez-Faire -Politik Erhards.
- 3.4 Irrtum IV: Die Nachkriegsprosperität kam durch den Ölschock von 1973 zum Erliegen.
- 4. Erklärungsansätze der westdeutschen Nachkriegsprosperität
- 4.1 Rekonstruktionstheorie
- 4.1.1 Gegenstand/Theorie
- 4.1.2 Kritik
- 4.2 Innovationsschub
- 4.2.1 These/Gegenstand
- 4.2.2 Kritik
- 4.3 Aufholprozess gegenüber den USA
- 4.3.1 Gegenstand/These
- 4.3.2 Kritik
- 4.4 Zerschlagung wachstumshemmender Verteilungskoalitionen
- 4.4.1 These/Gegenstand
- 4.4.2 Kritik
- 4.5 Das 2-Phasen-Modell nach Lindlar: Rekonstruktion und Aufholendes Wirtschaftswachstum
- 4.5.1 Rekonstruktion
- 4.5.2 Aufholendes Wachstum
- 4.5.3 Kritik und Einordnung
- 4.1 Rekonstruktionstheorie
- 5. Fazit und Ausblick
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Ziel dieser Arbeit ist es, das Konzept des „Wirtschaftswunders“ zu hinterfragen und die Ursachen der westdeutschen Nachkriegs-Prosperität wissenschaftlich zu analysieren. Neben der Dekonstruktion gängiger Mythen und Irrtümer werden verschiedene Erklärungsansätze vorgestellt und kritisch beleuchtet.
- Die Mystifizierung des „Wirtschaftswunders“ und die Herausarbeitung der wichtigsten Irrtümer
- Die Analyse verschiedener Erklärungsansätze für die westdeutsche Nachkriegsprosperität
- Die Bedeutung von internationaler Entwicklung im Kontext der westdeutschen Nachkriegsprosperität
- Die Einordnung der westdeutschen Nachkriegsprosperität in einen größeren europäischen Kontext
- Die Relevanz von strukturellen und politischen Rahmenbedingungen für das Wirtschaftswachstum
Zusammenfassung der Kapitel
Kapitel 1: Einleitung: Die mystifizierte Ära
Dieses Kapitel führt in die Thematik des „Wirtschaftswunders“ ein und zeigt auf, dass die verbreitete Vorstellung einer von der Bevölkerung erkämpften, einzigartig erfolgreichen Marktwirtschaft einer kritischen Überprüfung bedarf. Es werden die wichtigsten Mythen und Irrtümer zum „Wirtschaftswunder“ vorgestellt, die im weiteren Verlauf der Arbeit analysiert werden.
Kapitel 2: Das „Wunder“ in Ziffern: Kennzahlen des Booms
Kapitel 2 beleuchtet die wirtschaftlichen Kennzahlen der westdeutschen Nachkriegszeit, die dem „Wirtschaftswunder“ seinen Namen gaben. Anhand von Daten zum BIP, der Pro-Kopf-Produktion und der Arbeitslosigkeit wird die außergewöhnliche wirtschaftliche Entwicklung der 1950er Jahre deutlich gemacht.
Kapitel 3: Verklärtes Geschichtsbild: Die prominentesten Irrtümer in Bezug auf die Nachkriegsprosperität
In Kapitel 3 werden die wichtigsten Irrtümer zum „Wirtschaftswunder“ im Detail analysiert. Es wird beleuchtet, dass die Nachkriegsprosperität nicht allein auf die außergewöhnliche Arbeitsleistung der Bevölkerung, die Rolle der Sozialen Marktwirtschaft, die liberalen Wirtschaftspolitik Erhards oder die vermeintlich einzigartigen deutschen Verhältnisse zurückzuführen ist.
Kapitel 4: Erklärungsansätze der westdeutschen Nachkriegsprosperität
Kapitel 4 widmet sich der Erörterung verschiedener Erklärungsansätze für die westdeutsche Nachkriegsprosperität. Theorien der Rekonstruktion, des Innovationsschubs, des Aufholprozesses und der Zerschlagung wachstumshemmender Verteilungskoalitionen werden vorgestellt und kritisch analysiert.
Schlüsselwörter
Die Arbeit behandelt das „Wirtschaftswunder“ der Bundesrepublik Deutschland, die Nachkriegszeit, die Rolle der Sozialen Marktwirtschaft, verschiedene wirtschaftspolitische Ansätze, die Bedeutung internationaler Entwicklungen und die Analyse von Irrtümern und Mythen, die sich um das „Wirtschaftswunder“ gebildet haben.
- Citation du texte
- Daniel Pontzen (Auteur), 2004, Wirtschaftswunder oder historischer Zufall? Entmythologisierende Erklärungsansätze der westdeutschen Nachkriegsprosperität, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39628