Der Nationalismus in Québec


Dossier / Travail de Séminaire, 2005

21 Pages, Note: Sehr gut


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Was ist Nationalismus?

2. Die Grundlagen des Québecer Nationalismus
2.1. Die Anfänge
2.2. La conquête
2.3. Die verpasste Revolution
2.4. Das Dominion of Canada
2.5. Die kanadische Vernunftehe

3. Der Québecer Nationalismus nach 1960
3.1. Die Révolution tranquille
3.2. Der Parti Québécois
3.3. Die Sprachpolitik

4. Der Québecer Nationalismus heute
4.1. Kritik des Québecer Nationalismus

Schlussbemerkung

Literatur

Einleitung

«Être un peuple minoritaire dans une fédération, c'est être un peuple annexé.»[1] – dieses Zitat des Historikers Maurice Séguin kann als exemplarisch für den heutigen Nationalismus in der kanadischen Provinz Québec gelten. Dabei verfügt der Nationalismus in Québec über wahrlich breiten Rückhalt in der Bevölkerung. So wäre es 1995 beinahe zu einem Austritt Québecs aus der kanadischen Föderation gekommen; damals sprachen sich immerhin 49,4% der Wahlberechtigten in einem Referendum für die Unabhängigkeit der frankophonen Provinz aus.[2]

Das Ergebnis dieses Referendums zeigt die ungebrochene Aktualität des Nationalismus in Québec, der in dieser Arbeit thematisiert werden soll. Dabei wollen wir zwecks Begriffsklärung in einem ersten Schritt versuchen, uns dem Phänomen "Nationalismus" theoretisch anzunähern. Das ist schon deshalb erforderlich, weil Begriffe wie "Nationalismus", "Nationalist", "nationalistisch" durch ihren häufigen Gebrauch im öffentlichen Diskurs stark verwässert sind und insbesondere im Deutschen eine stark negative Konnotation aufweisen. Im Gegensatz zu diesem populären Gebrauch werden sie in der vorliegenden Arbeit als objektive wissenschaftliche Begriffe verwendet. Dementsprechend sollen die Eigenheiten des Québecer Nationalismus anhand des begrifflichen Instrumentariums der Nationalismus-Theorie erarbeitet werden. Dabei liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem Zeitraum von etwa 1970 bis zur Gegenwart – mithin auf der Periode, in der der Québecer Nationalismus seine stärkste politische Bedeutung entfaltet hat. Gezeigt werden soll, was die Québécois mit anderen nationalistischen Bewegungen auf der Welt verbindet und wo die Besonderheiten dieses Nationalismus liegen, eines Nationalismus, dessen separatistische Tendenzen für den kanadischen Bundesstaat manche Zerreißprobe bedeutet haben. Gefragt werden soll schließlich auch, ob eine Unabhängigkeit Québecs in naher Zukunft wahrscheinlich ist – und inwieweit das nationalstaatliche Projekt den Interessen der dortigen Bevölkerung überhaupt entgegenkommt.

1. Was ist Nationalismus?

Nationalismus ist eine Ideologie, die für die Deckungsgleichheit von staatlichen und kulturellen Einheiten plädiert. Anders ausgedrückt: Der Nationalismus tendiert zum National staat.[3] Was aber ist eine "Nation"? Zu dieser Frage hat Benedict Anderson eine überzeugende Definition eingeführt, indem er Nationen als "vorgestellte Gemeinschaften" (imagined communities) bezeichnet.[4] Denn ganz gleich, auf welcher Grundlage sich eine Nation definiert – sei es Kultur, Sprache, Geschichte, Religion – entscheidend ist immer der Glaube der Mitglieder der Nation, dass sie infolge der genannten Faktoren eine Gemeinschaft bilden würden und dementsprechend auch gleiche Interessen hätten. Dieses Konzept hat mit der Wirklichkeit nur wenig gemein. Denn tatsächlich ist es so, dass die Mitglieder einer Nation einander in der Regel gar nicht kennen und dass sie auch nur selten übereinstimmende Interessen haben; statt dessen stehen sie in Bezug auf die meisten materiellen und ideellen Güter dieser Welt in Konkurrenz zueinander. Was nun die gemeinsame Kultur betrifft, die die Mitglieder der meisten Nationen für sich in Anspruch nehmen, so hält auch diese einer kritischen Überprüfung nicht stand.

Nehmen wir einmal die deutsche Nation als Beispiel. Von einer einheitlichen Kultur der Deutschen kann gewiss keine Rede sein: Wo Menschen im Rheinland begeistert Karneval feiern, erfüllt diese Vorstellung Menschen in Norddeutschland mit Grausen, wo Ostdeutsche sich bei fast jeder Begrüßung die Hände schütteln, ist dies in Westdeutschland nur in formellen Zusammenhängen üblich. Auch die Sprache der Deutschen ist heterogen; sie zerfällt in eine Vielzahl von Dialekten und Soziolekten, ganz zu schweigen von denjenigen Deutschen, die, wie viele Russlanddeutsche, nicht einmal Deutsch sprechen können. Was die Religion betrifft, so gibt es Katholiken, Protestanten, Juden und viele andere Glaubensgemeinschaften – abgesehen von der Tatsache, dass die Religiosität sich in der deutschen Gesellschaft ohnehin auf dem Rückmarsch befindet.

Wie man es auch dreht und wendet, das einzige objektive Merkmal, das die Mitglieder einer Nation wirklich verbindet, bleibt der gemeinsame Glaube an die Existenz dieser Nation. In diesem Sinne ist Andersons Definition als imagined communities wirklich als geglückt anzusehen.

Nationalismus ist ein, menschheitsgeschichtlich gesehen, relativ junges Phänomen, dessen Anfänge ungefähr mit Beginn der französischen Revolution angesetzt werden können. Wir haben hier, in Frankreich, den eher seltenen Fall, dass ein Nationalismus einen schon bestehenden Staat sozusagen von innen her in Beschlag nahm. Für die 200 folgenden Jahre lassen sich drei geschichtliche Phasen unterscheiden, in denen Nationalismen auf verschiedene Weisen neue Nationalstaaten hervorbrachten[5]:

1. Eine liberale Phase im 19. Jahrhundert. Hier ging es um die Zusammenfassung von Territorien, in die sich eine Nation zersplittert sah. Prominente Beispiele für diese Phase sind die Gründungen der Republik Italien und des Deutschen Reichs.
2. Eine Phase der Entkolonialisierung (bis etwa 1950): Hier entstanden neue Nationalstaaten durch Loslösung eines Gebietes vom entfernt gelegenen "Mutterland". Beispiele hierfür sind Staaten wie Algerien, die Elfenbeinküste, Rhodesien, Vietnam – aber auch Kanada.[6]
3. Schließlich gibt es den aktuellen Nationalismus. Dieser schafft neue Staaten ausschließlich durch Abspaltung von Territorien von bestehenden staatlichen Einheiten. In diesem Sinne könnte man auch von "destruktivem Nationalismus" sprechen. Beispiele hierfür sind die Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Jugoslawiens, deren Nationen zumeist – wie etwa die ukrainische – noch nie einen eigenen Staat hatten.

Angesichts der relativen Jugend des Phänomens Nationalismus muss auf einen weiteren Irrtum der Nationalisten hingewiesen werden. Denn obwohl diese Ideologie erst gut 200 Jahre alt ist, neigen ihre Verfechter in der Regel dazu, ihrer jeweiligen Nation eine uralte Geschichte anzudichten.[7] Um beim Beispiel Deutschland zu bleiben: Obwohl die deutsche Nation frühestens mit den Befreiungskriegen gegen Napoleon (also um 1813) in Erscheinung getreten ist, haben Schüler vieler Generationen gelernt, den fränkischen Herrscher Karl den Großen als "deutschen" Kaiser zu sehen. Dahinter steckte die irrige Annahme, die deutsche Nation sei schon um das Jahr 800 herum präsent gewesen.

Die Entwicklung einzelner Nationalismen bis zur Verwirklichung des Nationalstaates lässt sich mit einem Drei-Phasen-Modell beschreiben[8]:

1. Die erste Phase nennt Eric Hobsbawm die "volkskundliche" Phase. In dieser Phase beginnen einzelne Intellektuelle, sich für Kultur, Sprache, Brauchtum einer Gesellschaft zu interessieren und diese Traditionen zu pflegen.[9]
2. In der zweiten Phase fordert eine (nationalistische) Elite mehr oder weniger militant Rechte und schließlich auch einen Staat für die eigene Nation. In dieser Phase ist die Masse des Volkes gegenüber der nationalen Idee noch recht gleichgültig.
3. Im Zuge der Schaffung des neuen Nationalstaates – und oft erst danach – erwacht auch die Masse des jeweiligen Bevölkerung aus ihrem Dornröschenschlaf und wird nun ebenfalls zu Anhängern der neuen Nation.[10] Um ein Nationalbewusstsein zu erzeugen, stellen die nationalistischen Eliten ein beachtliches Instrumentarium bereit, wie etwa Flaggen, Nationalhymnen, Gedenktage bzw. Nationalfeiertage, nationale Medien zur Durchsetzung der Landessprache etc.

Nationen sind also nicht nur "vorgestellte Gemeinschaften", sie sind auch Konstrukte, die von nationalistischen Eliten geschaffen werden. Dasselbe gilt für fast alle heutigen National sprachen, die keineswegs "entstanden" sind, sondern ihre Existenz vielmehr politischen Entscheidungen und insbesondere der Normierung durch Institutionen wie dem "Duden" verdanken.[11] Dieser Konstrukt-Charakter von Nationen und ihren Attributen steht in krassem Gegensatz zu ihrem Selbstbild als uralte, quasi auf evolutionärem Wege entstandene Gemeinschaften.

Schließlich lassen sich grundsätzlich zwei Spielarten des Nationalismus unterscheiden: Auf der einen Seite kann man einen "ethnischen Nationalismus" beobachten. Dieser ist die am meisten verbreitete Form und stützt sich auf Merkmale wie Geschichte, Rasse, Religion etc. Daneben gibt es aber auch das seltenere Phänomen eines Nationalismus, der sich nicht auf kulturelle Merkmale, sondern auf gemeinsame Werte stützt. Diese Werte finden sich dann jeweils in der Verfassung des betreffenden Nationalstaates wieder. Beispiele für einen solchen "konstitutionellen Nationalismus" sind die USA und die Schweiz.

Fassen wir zusammen: Nationalismus ist eine Ideologie, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts existiert. Nationalismus tendiert immer zum Staat, wobei Nationalstaaten zunächst durch Zusammenfassung, dann durch Loslösung und seit kurzem auch durch Abspaltung von Territorien entstanden sind. Nationen sind Konstrukte und vorgestellte Gemeinschaften, die auf einer fiktiven Homogenität ihrer Mitglieder beruhen. Schließlich: Es gibt ethnischen und seltener konstitutionellen Nationalismus.

Doch bei allen Widersprüchen, die eine wissenschaftliche Betrachtung des Phänomens Nationalismus zutage fördert, bei aller "philosophischen Armut"[12] und bei allem Unglück, dass Menschen im Namen dieser Ideologie zugefügt worden ist, darf man doch eines nicht vergessen: Der Nationalismus hätte bis auf den heutigen Tag nie so erfolgreich sein können, wenn er nicht den Sehnsüchten vieler Menschen insbesondere nach Identifikation entgegenkäme. Hinzu kommt der klassenübergreifende Charakter des Nationalismus: Selbst ein Obdachloser hat das Recht, stolz auf seine französische, englische etc. Nationalität zu sein. In diesem Sinne hat Benedict Anderson zu Recht darauf hingewiesen, dass in den letzten zwei Jahrhunderten immer wieder zahlreiche Menschen für ihre Nation ihr Leben hingegeben haben.[13] Man sollte sich also nicht dünkelhaft über die Anhänger einer Nation erheben. Gleichzeitig kann man nur schwer übersehen, dass Nationalismus Zeit seines Bestehens immer wieder zur Legitimierung von Kriegen und Massenmorden gedient hat.[14] Problematisch ist also weniger der ideologische Charakter des Nationalismus, sondern seine ausgesprochene Tendenz zur Exklusivität, die immer wieder zu Diskriminierung und zur Verfolgung der jeweils "Anderen" führt.

[...]


[1] Séguin, Maurice L'idée d'indépendance au Québec, Montréal 1977, 9.

[2] Zit. n. <http://pages.infinit.net/histoire/referd95.html>. Siehe auch Abschnitt XY.

[3] Vergl. Gellner, Ernest Nationalismus : Kultur und Macht, Berlin 1999, 19f.

[4] Anderson, Benedict R. Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/Main 1996, 10.

[5] Vergl. Hobsbawm, Eric Nationen und Nationalismus : Mythos und Realität seit 1870, Frankfurt 1992, 194.

[6] Vergl. die Abschnitte 2.4. und 2.5.

[7] Vergl. Gellner, 147ff.

[8] Vergl. Hobsbawm, 23, der sich in diesem Punkt auf Hroch stützt.

[9] Diese Intellektuellen können sehr gut auch von "außen" kommen, wie das Beispiel Herders beweist. Dessen 1807 erschienenes Werk Stimmen der Völker in Liedern bildete den Auftakt zu nationalen Bewegungen in Ländern wie Estland und Lettland. Vergl. Hobsbawm, 74 sowie die Webseite Johann Gottfried Herder, der Klassiker im Schatten (http://www.mdr.de/kultur/literatur/888117.html).

[10] Dies lässt sich auch für Deutschland beobachten: Die große nationale Begeisterung kam erst nach 1871 auf.

[11] Vergl. Hobsbawm, 64ff. und 131ff., der viele Beispiele für den "Artefakt"-Charakter moderner Nationalsprachen anführt.

[12] Anderson, 15.

[13] Anderson, 17. Ebenso Hobsbawm, 21f.

[14] Man denke nur an die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts oder auch den jugoslawischen Bürgerkrieg der 1990er Jahre.

Fin de l'extrait de 21 pages

Résumé des informations

Titre
Der Nationalismus in Québec
Université
Free University of Berlin  (Institut für Romanische Philologie)
Cours
PS II La France et la Francophonie
Note
Sehr gut
Auteur
Année
2005
Pages
21
N° de catalogue
V40231
ISBN (ebook)
9783638387989
Taille d'un fichier
723 KB
Langue
allemand
Annotations
Die Einwohner der kanadischen Provinz Québec sind die größte frankophone Gemeinde Nordamerikas. Doch obwohl es der Provinz wirtschaftlich sehr gut geht und die französische Sprache in ihrem Bestand umfassend geschützt wird, gibt es seit langem separatistische Tendenzen. Diese Arbeit untersucht die historischen Ursprünge des Nationalismus in Québec und bewertet die Aussichten für eine künftige Eigenstaatlichkeit der Provinz.
Mots clés
Nationalismus, Québec, France, Francophonie
Citation du texte
Arne Friedemann (Auteur), 2005, Der Nationalismus in Québec, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40231

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