Zum Ideal des Perfectus Orator in Quintilians "Institutio Oratoria"

Vir bonus dicendi peritus


Dossier / Travail de Séminaire, 2015

13 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der orator perfectus
2.1. Orator, id est vir bonus – Der gute Redner, ein Philosoph?
2.2. naturae ipsi ars inerit – Die Rolle der Natur
2.3. Orator ille, qui nondum fuit – Erreichbarkeit des Ideals
2.4. Quod magis petimus, bonam voluntatem – Wozu das Ideal?

3. Conclusio: vir bonus dicendi peritus

4. Literaturverzeichnis
4.1. Textausgaben
4.2. Sekundärliteratur

1. Einleitung

Dass Quintilian in der Institutio oratoria mehr als Rhetorik vermitteln will, wird schon mit dem ersten Kapitel vom Buch I deutlich: Begonnen wird die Ausbildung der zukünftigen oratores nicht in der Jugend, wenn sich Tropen, Gestik und Mimik lehren lassen, sondern im frühen Kindesalter. Quintilian hat viel vor mit dem Redner und behandelt in den zwölf Büchern alles von der inventio bis zur moralischen Grundausbildung. Letztere steht spätestens in Buch XII so im Mittelpunkt, dass sich ein genauerer Blick auf Quintilians Rednerideal lohnt. Was ist der perfectus orator, den er immer wieder beschwört, und – vielleicht noch interessanter – wozu dient dieses schwerlich erreichbare Leitbild?

Die vorliegende Arbeit versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Zunächst wird hierbei das Verhältnis von Philosophie und Rhetorik ausgelotet, da Quintilian mit vir bonus einen stark philosophisch konnotierten Begriff als Synonym zum perfectus orator verwendet. Des Weiteren gehen wir der Frage nach, welche Rolle die Natur, auf die Quintilian immer wieder verweist, im Leitbild des idealen Redners spielt. In den folgenden Abschnitten wird schließlich die Frage nach der Erreichbarkeit und nach dem Zweck des ambitionierten Programms Quintilians erörtert. Im Fazit wird sich zeigen, dass Philosophie und Rhetorik im perfectus orator zusammenwirken und dieser weit mehr ist als ein guter Redner.

Die zahlreichen Erwähnungen bei nahezu jeder Gelegenheit deuten darauf hin, wie groß der Einfluss von Ciceros rhetorischen Schriften auf Quintilians eigene Arbeit gewesen ist. Aus Platzgründen kann hier jedoch keine detaillierte Gegenüberstellung der Rednerideale Ciceros und Quintilians erfolgen. So sei, abgesehen von einigen Verweisen im folgenden Text, auf Roblings ausführlichere Darstellung verwiesen.[1]

2. Der orator perfectus

2.1. Orator, id est vir bonus – Der gute Redner, ein Philosoph?

Zu Beginn von Buch I fasst Quintilian die Ansprüche an einen guten Redner folgendermaßen zusammen:

Oratorem autem instituimus illum perfectum, qui esse nisi vir bonus non potest, ideoque non dicendi modo eximiam in eo facultatem, sed omnis animi virtutes exigimus (I Pr., 9).

Ausschlaggebend scheint neben der eloquentia vor allem die Tugendhaftigkeit des Redners zu sein. Der Eindruck, dass Quintilians Idee von einem perfectus orator viel mit philosophischen Leitbildern gemein hat, bestätigt sich immer wieder im Verlauf der Lektüre;[2] ganz besonders am Ende des Werkes, da Cato zitiert wird:

Sit ergo nobis orator quem constituimus is qui a M. Catone finitur vir bonus dicendi peritus, verum, id quod et ille posuit prius et ipsa natura potius ac maius est, utique vir bonus (XII 1, 1).

Der Begriff des vir bonus bildet einen Rahmen um das Werk und die Berufung auf Cato lässt eher an ein philosophisches Idealbild denken denn an ein rhetorisches: Der vir bonus des Cato ist ein pflichtbewusster pater familias, der gewissenhaft dem Staat dient und allen Lastern entsagt – ein stoischer Weiser also.[3] Auch die Pflichten als Redner sind Teil dieser virtus. Es stellt sich demnach die Frage, worin sich Quintilians perfectus orator von einem vir bonus unterscheiden soll, zumal Quintilian die beiden in Buch III quasi gleichsetzt: orator, id est vir bonus (III 7, 25).[4]

Beiden gemein ist das Leitbild der sapientia: In der Philosophie, beispielsweise bei den Stoikern,[5] ist sie ein selten erreichtes und doch zu erstrebendes Ideal; so verhält es sich auch in der Redekunst: Sit igitur orator vir talis qualis vere sapiens appellari possitqualis fortasse nemo adhuc fuerit (I Pr., 18f.). Philosophie und Rhetorik streben gleichermaßen nach Vollkommenheit in allen Lebensbereichen: nobis ad summa tendendum est (I Pr., 19). Entsprechend wurden sie früher in einem Atemzug genannt (idem sapientes atque eloquentes haberentur (I Pr., 13).

Doch Weisheit allein genügt nicht: Romanum quendam velim esse sapientem qui non secretis disputationibus sed rerum experimentis atque operibus vere civilem virum exhibeat (XII 2, 7). Der Redner soll eine Person des öffentlichen Lebens sein, ein „wahrer Bürger“. Als solcher handelt er unter den wachsamen Augen des Volkes. Entsprechend wichtig ist sein gutes Benehmen, denn einem Redner mit zweifelhaftem Ruf wird man vor Gericht nicht trauen.[6] Mit dem Anspruch non secretis disputationibus exhibeat hebt Quintilian den Redner eindeutig von den Philosophen ab, die zwar ebenfalls der sapientia teilhaftig sein können, aber von der Betätigung im öffentlichen Leben oft weit entfernt sind. Nam quis philosophorum aut in iudiciis frequens aut clarus in contionibus fuit? (XII 2, 7). Das wäre für einen guten Redner undenkbar. Hier leuchtet bereits die Bedeutung des Redner(ideal)s für den Staat auf, was wir in 2.4. ausführlicher behandeln.

Ein weiterer Unterscheid zwischen perfectus orator und vir bonus liegt in der Frage nach der Überzeugung. Der gute Redner soll sich allein von seiner Urteilskraft leiten lassen: si ... de falsis iudicare et colligere ac resolvere quae velis oratorum est (XII 2, 10). Dieser Urteilskraft wohnt ein Verständnis de aequo iusto vero bono deque iis quae sunt contra posita (XII 2, 5) inne; über diese Dinge zu sprechen, ist dem Redner eigen, ac philosophos, cum ea dicendi viribus tuentur, uti rhetorum armis, non suis (ebd.). Die Philosophen dagegen lassen sich von ihren Dogmen beeinflussen:

sed haec inter ipsos [sc. philosophos] qui velut sacramento rogati vel etiam superstitione constricti nefas ducunt a suscepta semel persuasione discedere: oratori vel nihil est necesse in cuiusdam iurare leges (XII 2, 26f.).

Solche Zugehörigkeitsgefühle zu einer bestimmten Schule sind, gerade vor Gericht, fehl am Platz. Der Redner muss seine Unabhängigkeit wahren.

Das wichtigste Abgrenzungsmerkmal von perfectus orator und vir bonus besteht jedoch in der eloquentia. Quintilian bezeichnet sie als die Tugend, die (gemeinsam mit der ratio) die Überlegenheit des Menschen gegenüber anderen Tieren ausmacht (XII 1, 1). Unter Berufung auf Cicero ordnet Quintilian die eloquentia unter die summae virtutes (II 20, 9). Redekunst und sittliches Handeln gehen hier erneut Hand in Hand. Ein rechtschaffener Mensch, behauptet er in Buch XII, wird immer die richtigen Worte finden: nec quicquam non diserte quod honeste, dicitur (XII 1, 30). Jedoch ist nicht jeder vir bonus automatisch auch Meister der Beredsamkeit; andernfalls wäre es ein Pleonasmus, von einem vir bonus dicendi peritus (XII 1, 1) zu sprechen. Dass Philosophie und eloquentia zwei verschiedene Dinge sind, wird spätestens aus dieser Sentenz deutlich: philosophia enim simulari potest, eloquentia non potest (XII 3, 12). Quintilians guter Redner ist damit der bessere Philosoph.[7]

Die Beredsamkeit zeichnet den perfectus orator besonders aus, daneben gibt es eine lange Liste von Tugenden, die Quintilian von einem wahrhaft guten Redner erwartet: Disziplin (quae si omnia [sc. tempora] studiis inpenderentur, iam nobis longa aetas et abunde satis ad discendum spatii videretur, XII 11, 19), Pflichtgefühl (humanitatis … communi ductus officio, XII 11, 5), Bescheidenheit (illa … modestia, XII 9, 12; ebenso XII 7, 12), Demut (ante omnia ne … praesentis cupido laudis abducat, XII 9, 1), Ausge­glichenheit (impudens, tumultuosa, iracunda actio omnibus indecora, XI 1, 29), Beson­nenheit (velut imperatoria virtus, VII 10, 13), Gerechtigkeitssinn (citra iustitiae quoque scientiam, II 15, 29), schlicht: omnis animi virtutes (I Pr., 9).[8] Alles Gute soll der perfectus orator in sich vereinen, denn: non erit totum cui vel parva deerunt (I 10, 8).

Quintilian wird nicht müde, den Zusammenhang zwischen rhetorischer Leistung und guter Lebensführung zu betonen.[9] Kann ein schlechter Mensch also kein Redner werden? Ausschließen kann Quintilian das nicht, aber: etiam si potest [sc. esse oratorem malum], nolo. (I 2, 3). Wer ein schlechter Mensch ist, mag zwar auch Redner sein, aber sicher nur ein schlechter: Nam qui dum dicit malus videtur utique male dicit (VI 2, 18). Ausführlicher äußert sich Quintilian zu dieser These in Buch XII: Zunächst stellt er fest, dass es schlechten Menschen an intelligentia und prudentia (XII 1, 3) mangelt, da sie sich ständig sowohl potenziellen Strafen für ihre Vergehen als auch der Last des schlechten Gewissens aussetzen. Quintilian geht davon aus, dass das Gute den Naturzustand darstellt, das Schlechte dagegen eine (als unangenehm empfundene) Abweichung (vgl. 2.2.). Wer sich gegen die Natur stellt und Gewissensbisse in Kauf nimmt, kann nur stultus (XII 1, 4) sein. Und Dummheit, so fährt Quintilian fort, lässt sich mit der Rhetorik nicht vereinen (ebd.).

Des Weiteren sei ein ernsthaftes Rhetorikstudium nur frei von inneren Sorgen möglich (XII 1, 5). Schuldgefühle und Affekte wie cupiditas, avaritia und invidia (XII 1, 6) würden den angehenden Redner viel zu sehr ablenken. Die Möglichkeit, dass jemand nach der Rhetorik (also etwas Gutem) strebt und gleichzeitig schlechte Gedanken hegt, wird sowieso dadurch ausgeschlossen, dass Quintilian ein Nebeneinander honestorum turpiumque (XII 1, 5) nicht für möglich hält. Dies begründet er damit, dass ein Mensch ja auch nicht gleichzeitig gut und schlecht sein könne (ebd.).[10]

Selbst wenn es ein schlechter Mensch doch zum Redner gebracht haben sollte, so kann er in tractatu aequi bonique (XII 1,8), worin für Quintilian die Hauptaufgabe der Rede besteht, niemals so überzeugend sein wie der gute Mensch: Selbst wenn der schlechte Mensch die Wahrheit sagt, wird man ihm nicht trauen (fides desit, XII 1, 13).[11]

[...]


[1] Vgl. F.-H. Robling: Redner und Rhetorik. Studie zur Begriffs- und Ideengeschichte des Rednerideals, Hamburg 2007, S. 109ff., S. 120ff.

[2] So etwa in I Pr., 18: nec moribus modo perfectus … sed etiam scientia et omni facultate dicendi, I 2, 3: neque enim esse oratorem nisi bonum virum iudico, II 15, 33: formare perfectum oratorem, quem in primis esse virum bonum volumus oder II 16, 11: ut sit orator in primis vir bonus.

[3] Vgl. Robling: Redner und Rhetorik, S. 213.

[4] Auch bei Cicero sind Ethik und Rhetorik miteinander verknüpft, vgl. ebd., S. 207.

[5] Quintilian empfiehlt dezidiert die Lektüre Senecas zur moralischen Bildung (X 1, 129), auch wenn er aus stilistischer Sicht von Seneca eine eher geringe Meinung hat: placebat propter sola vitia (X 1, 127).

[6] Diesen Punkt nimmt Quintilian sehr ernst und erörtert in einem eigenen Abschnitt, ob Cicero und Demosthenes, die dem Ideal des perfectus orator bisher am nächsten gekommen seien, denn schlechte Menschen waren oder nicht, vgl. XII 1, 14ff.

[7] Über die Stoiker, die in der Institutio recht häufig genannt werden und am ehesten als philosophisches Vorbild gelten können, sagt Quintilian: minus indulsere eloquentia Stoici veteres, sed cum honesta suaserunt, tum in conligendo probandoque quae instituerant plurimum valuerunt (X 1, 84).

[8] Hier treffen sich Philosophie und Rhetorik wieder, denn auch der Weise im stoischen Sinne ist in höchstem Maße tugendhaft.

[9] Zusätzlich zu den oben genannten Stellen: I 3, 2; I 8, 4; II 17, 43; VIII Pr., 6; XII 1, 3; XII 2, 31; ex negativo: VI 2, 18.

[10] Warum die Menschen von Natur aus nach dem Guten streben, begründet Quintilian nicht weiter.

[11] Nicht umsonst beruft sich Quintilian in Buch XII auf Cato: Die Idee der fides, die aus dem Vertrauens­verhältnis von patronus und clientes entlehnt ist, wird in der republikanischen Zeit für die Rhetorik fruchtbar gemacht, indem die Rolle des patronus auf den orator übertragen wird. Catos Formulierung des Rednerideals fußt auf dieser Verschmelzung, vgl. Robling: Redner und Rhetorik, S. 211ff.

Fin de l'extrait de 13 pages

Résumé des informations

Titre
Zum Ideal des Perfectus Orator in Quintilians "Institutio Oratoria"
Sous-titre
Vir bonus dicendi peritus
Université
University of Heidelberg
Note
1,0
Auteur
Année
2015
Pages
13
N° de catalogue
V412107
ISBN (ebook)
9783668637887
ISBN (Livre)
9783668637894
Taille d'un fichier
538 KB
Langue
allemand
Mots clés
quintilian, institutio oratoria, rednerideal, orator perfectus, perfectus orator, vir bonus
Citation du texte
Lisa Maria Koßmann (Auteur), 2015, Zum Ideal des Perfectus Orator in Quintilians "Institutio Oratoria", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/412107

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