Über die (Un)Natürlichkeit der Geschlechter. Zeit für eine neue Betrachtungsweise von Geschlechtlichkeit


Dossier / Travail, 2017

16 Pages, Note: 1,3


Extrait


Gliederung

1. Einleitung

2. Viktorianisches Zeitalter: Vom Eingeschlecht - zum Zweigeschlechtermodell
2.1 Entstehung einer neuen Sexualmoral: Die Repressionshypothese
2.2 Foucault’s Machtmodell und das Sexualdispositiv
2.3 Die Pathologisierung des Anderen oder „die Psychiatrisierung der perversen Lust“
2.4 Die Konstruktion von >>Natürlichkeit<<

3. Die sexuelle Revolution - Freiheit für die Geschlechter ?
3.1 Das Dilemma der Frauen Bewegung
3.2 Butler: Das Potential von Dekonstruktion

4. Erkenntnisse der Biologie: Wider die Natürlichkeit
4.1 Wer bestimmt unser Geschlecht? Chromosome, Hormone & Genetik
4.2 Anne Faust-Sterling: Wie viele Geschlechter gibt es? Ein Vorschlag
4.3 Ausblicke und Chancen: Mehr(wert) Queer

Nicht nur in den Diskursen der Gender Studies um sexuelle Identität und Geschlechtlichkeit werden in letzter Zeit immer wieder Stimmen laut, die sich gegen die Einteilung in dastraditionelle Geschlechtermodell „weiblich“ und „männlich“ aussprechen, auch in derBiologie gibt es immer mehr Befunde, die darauf hinweisen, eine binäreGeschlechtereinteilung wäre wohlmöglich zu simpel. Doch obwohl schon die alten Griechen das dritte Geschlecht kannten, etablierte sich in Europa das heterosexuelleGeschlechtermodel und dies auf Kosten einiger, die durch Operationen zwangsweise einem der beiden Geschlechter zugeordnet werden und anderen, die ihre Geschlechtsidentitätaußerhalb der Heteronormativität gefunden haben.

In diesem Essay möchte ich für eine differenziertere aber offene Betrachtung der Geschlechtlichkeit im Allgemeinen plädieren. Zunächst soll anhand der gesellschaftlichenEntwicklungen und der Forschungsfortschritte seit dem 18. Jahrhundert mit EinbezugFoucault’s Machtmodell die Entstehung der Heteronormativität erklären. Im Anschlussdarauf soll kurz erklärt werden, was die sexuelle Befreiung der 1968er Jahre geschafft hatund wo es anzusetzen gilt. In Anbetracht des heutigen Forschungsstands von Biologie sollschließlich gezeigt werden, warum es tatsächlich mehr als zwei Geschlechter gibt undwelche Chancen es unserer Gesellschaft bieten könnte offener mit peripheren sexuellenIdentitäten umzugehen.

Über die (Un)Natürlichkeit der Geschlechter

Zeit für eine neue Betrachtungsweise von Geschlechtlichkeit

1. Einleitung

Unsere heutige Annahme von einem menschlichen Körper, der eindeutig „weiblich“ oder„männlich“ ist, ist altbekannt und simpel - wohlmöglich aber zu simpel. Im Grunde stelltschon der einfache Gang zur Toilette manche Menschen vor die Qual der Wahl: „Hinterwelcher Tür fühle ich mich aufgehoben?“ Kein Wunder also, dass die so genannten GenderStudies, die sich aus den Women Studies der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhundertsetablierten, auch heute noch großen Anklang finden. Unsere Gesellschaft wird immer heterogener und vermehrt gibt es Menschen, die sich ungerne in das traditionelle binäreGeschlechtermodell einsortieren lassen möchten. Trotzdem besteht nicht die Möglichkeitsich auch gesetzlich über diese heterosexuelle Norm hinaus zu setzen. Bei der Geburt einesKindes wird sein Geschlecht anhand des binären Systems bestimmt und festgelegt. Dies kannfür Eltern von Kindern mit uneindeutigem Geschlecht zu einer großen Problematik führen.Intersexuelle und auch immer mehr Transidentitäten möchten sich aber nicht mehrgesetzlich in eine Geschlechtskategorie einordnen lassen, mit der sie sich nicht verbundenfühlen.

In diesem Essay möchte ich klären, welche historischen, politischen und gesellschaftlichen Ereignisse im 17. und 18. Jahrhundert dazu führten, dass sich das binäre Geschlechtermodellentwickelte. Um verständlich darzulegen, warum das heterosexuelle Geschlechtermodell bisheute seine Wirkmacht entfaltet, zeige ich anhand von Foucault’s philosophischer Theorieüber das Machtmodell, das sich zu jener Zeit entwickelte, zeigen, welchen Nutzen dies fürHerrschende und Bevölkerung hatte. Danach zeige ich anhand der gesellschaftlichenEntwicklungen des 20. Jahrhundert, welchen Einfluss die sexuelle Revolution auf dieheutigen Vorstellungen von Sexualität und Geschlechtlichkeit hatte. Anschließend möchteich in Anbetracht aktueller biologischer Theorien veranschaulichen, warum unsereGesellschaft periphere Geschlechtsidentitäten immer noch vor große Herausforderungenstellt und wieso es endlich Zeit ist für eine neue Betrachtungsweise von Geschlechtlichkeit.

2. Viktorianisches Zeitalter: Vom Eingeschlecht - zum Zweigeschlechtermodell

Beginnen möchte ich meine Analyse mit einem Rückblick in das Mittelalter. Denn nichtimmer wurde Geschlechtlichkeit vom Blickwinkel des Zwei-Geschlechtermodells ausbetrachtet. Bevor das viktorianische Zeitalter begann und die Wissenschaften in ihremErkenntnisstand noch an der Humoralpathologie mit der Viersäftelehre nach Hippokratesund Franz Josef Galen festhielten, wurde vom menschlichen Geschlecht angenommen, dasses nur eines gebe. So glaubte mensch in der Tradition antiker Medizin, dass der Penis einnach Außen gestülpter Uterus ist und lediglich die Temperatur der Frau während desGeschlechtsverkehrs darüber entscheidet, ob die befruchtete Eizelle sich zu einemweiblichen oder einem männlichen Kind entwickelt. Diese Vorstellung der Geschlechterwurde bis in das späte Mittelalter um ca. 1750 n.Chr. geteilt. (Laqueur, 1992)

Mit Fortschritten in der Medizin wurde die Erkenntnis gewonnen, dass Penis und Uterus distinkte Organe sind. Dadurch kam der Mensch jedoch auch zu dem Entschluss, dass Frauen und Männer unterschiedliche Körper haben und die Suche nach weiteren wissenschaftlich legitimierbaren Geschlechtsunterschieden begann. Mit dieser Entwicklung popularisiertesich auch die Vorstellung von Mann und Frau als zwei sich ausschließende Gegensätze.(Laqueur, 1992) Der Mensch begann also Frauen und Männer ihrem scheinbaren Wesennach unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen zuzuordnen und war überzeugt von derVorstellung zweier „Geschlechtscharaktere“:

„Daher offenbart sich in der Form des Mannes mehr die Idee der Kraft, in der Form desWeibes mehr die Idee der Schönheit: … Der Geist des Mannes ist mehr schaffend, aussich heraus in das Weite hinwirkend, zu Anstrengungen, zur Verbreitung abstractererGegenstände, zu weitaussehenden Plänen geeigneter; unter Leidenschaften undAffekten gehören die raschen, ausbrechenden dem Manne, die langsamen, heimlich insich selbst gekehrten dem Weibe an. Aus dem Manne stimmt die laute Begierde; indem Weibe siedelt sich die stille Sehnsucht an. Das Weibe ist auf einen kleinen Kreisbeschränkt, den es aber klarer überschaut; es hat mehr Geduld und Ausdauer inkleinen Arbeiten. (…)“ (Brockhaus von 1815 zitiert nach Malich, 2017, S.23)

Während vor der Verbreitung des Zwei-Geschlechtermodells noch die Vermutung bestand,dass Frauen lediglich als unvollständige Männer auf die Welt kamen, bestand jedoch auchdie Möglichkeit des Geschlechts als Kontinuum: So fanden sich in der damaligen Gesellschaftweibliche Männer wie männliche Frauen. So war auch Homosexualität nicht strafbar,höchstens aufgrund von Statusdifferenzen verpönt. Trotzdem galt der Mann als das Maß derDinge, wohingegen die Frau als eine ontologisch distinkte Kategorie gar nicht vorhandenwar. (Laqueur, 1992) Der französische Philiosoph Laqueur vertritt die Annahme, dass für dasdamalig aktuelle Sozialgefüge wissenschaftliche Legitimierungsgründe für die Hierarchiezwischen Mann und Frau gesucht wurden: „Die Geschichte der Darstellung deranatomischen Unterschiede zwischen Mann und Frau ist demnach weitgehend unabhängigvon den tatsächlichen Strukturen dieser Organe oder von dem, was man über sie wusste. DieIdeologie, nicht die Genauigkeit der Beobachtung, entschied darüber, wie man sie sah undauf welche Unterschiede es ankam“ (Laqueur, 1992, S.106). So kam es mit derwissenschaftlichen Bestätigung des Zweigeschlechtermodells dazu, dass nichtBesonderheiten zwischen Männern und Frauen erkannt und erforscht wurden, sondern dieUnterschiedlichkeit zwischen den Geschlechtern konstatiert wurde und die sozialeUngleichbehandlung der Geschlechter eine Berechtigung erhielt. Schon in derwissenschaftlichen Begründung des neuen Geschlechtermodells sieht Laqueur somit keinerevolutionäre wissenschaftliche Erkenntnis, sondern eine Erfindung, die dem sozialenGefüge eine neue legitimierende Grundlage geben sollte. (Laqueur, 1992)

2.1 Entstehung einer neuen Sexualmoral: Die Repressionshypothese

Mit den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Änderungen im industriellen 19.Jahrhundert veränderte sich auch die Gesellschaftsstruktur der großen westlichen Staaten.Den Übergang von der Agrar - zur Industriegesellschaft prägten zahlreiche technischeNeuerungen wie die Erfindung der Dampfmaschine, des Dieselmotors aber auch Fortschrittein der Medizin; so wurden Schutzimpfungen entdeckt oder auch die Bakteriologie begründet. Diese modernen Errungenschaften spiegelten sich in dem Ausbau eines neuenWirtschaftssektors wieder, welcher zum Ausbau der Infrastruktur und zur Massenmigrationin die Städte führte. War vorher Familie Zentrum des Lebens und der eigene Hof vonunschätzbarem Wert, zog es die Menschen nun in die Stadt auf die Suche nach einerFestanstellung in einer der neuen Fabriken. Während des Höhepunkts der politischen undökonomischen Macht des britischen Königreichs organisierte sich die britische Gesellschaftvon der herkömmlichen Ständegesellschaft um hin zu einer Klassengesellschaft, in derjedoch immer noch großes soziales Ungleichgewicht herrschte. Dieser gesamteuropäischeUmschwung sorgte dafür, dass sich auch die Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaftverschoben. Neue Eliten, die vom Ausbau des neuen Wirtschaftssektors profitierten,bildeten sich während sich an den Stadtränden Slums bildeten, in denen Menschen unterunmenschlichen Bedingungen lebten. Es gab keine Regelungen der neuen Arbeitsplätze,Menschen wurden für Niedriglöhne ausgebeutet und Kinderarbeit war Alltag. (Kaelble, 1983)

Um die Ordnung in der sich ändernden Gesellschaft zu garantieren, wurde ein Herrschaftssystem angewendet, das auf Beherrschung und Unterwerfung beruhte. Die Beachtung verschiedenster Gesetze, Regeln und Verbote sicherte die Ordnung unterhalb derBeherrschten. Um die neuen Missstände unter Kontrolle zu bringen und das Land vorAufständen zu bewahren, wurde der Umgang mit der Sexualmoral immer strenger. MitHerrschaft der frommen britischen Königin Viktoria begann die Unterdrückung von und dasSchweigen über sexuelle Praktiken. Deutlich wurde dies auch in Gesetzesänderungen wie dieVerschärfung von Gesetzen gegen Prostitution oder gegen ‚öffentliche Trunkenheit’ 1872.Auch Sodomie - gleichgeschlechtliche Neigungen - wurde stärker verfolgt.Ebenfalls zu dieser Zeit entstand das Idealbild einer bürgerlichen Familie, welches wie folgtaussah: Der Mann hatte sich als Versorger der Familie um das Einkommen zu kümmern,während die Frau als Ehefrau und Mutter daheimblieb um sich um Haushalt undKindererziehung zu kümmern. Es entstand jedoch auch eine immer größere Kluft zwischendiesem Idealbild der Familie im 19. Jahrhundert und dem tatsächlichen Alltag imindustriellen Zeitalter. (Kaelble, 1983; Laqueur, 1992)

Als ein Vertreter der Repressionshypothese sieht Wilhelm Reich in den Entwicklungen desviktorianischen Zeitalters die Ursprünge für die Unterdrückung einer offenen Sexualmoral.Das Machtmodell, was von der Repressionshypothese beschrieben wird, geht von einer vonoben auf die Bevölkerung herab wirkenden Macht aus: Von den Herrschenden auf dieBeherrschten wirkend. Hat es im 17. Jahrhundert noch einen freien lustvollen undöffentlichen Umgang mit Sexualität gegeben, wurde dieser in den entstehendenkapitalistischen Gesellschaften unterdrückt - und zwar zum Zweck der Entstehung dieser.Wilhelm Reich sieht weiteren Sinn der Unterdrückung darin, die Energie der Menschen zuregulieren und auf den Arbeitsalltag der Industrialisierung aufzuteilen. Ungeregelter Sex istmit der neuen Arbeitsethik nicht mehr vereinbar. (Laqueur, 1992; Foucault, 1977). DieMacht der Unterdrückung der Sexualität ist neue Herrschaftsform des Kapitalismus, diedarauf ausgerichtet ist, menschliche Energien optimal an den neuen kapitalistischen Alltaganzupassen.

2.2 Foucaults Sexualdispositiv: Unterdrückung und Aufwertung des Diskurses über Sex

Anders als Wilhelm Reich sieht Foucault in der Macht des Kapitalismus nicht die Unterdrückung der Sexualität, ganz im Gegenteil sieht er in den historischen Entwicklungen eine erneute Aufwertung des Diskurses über die Sexualität, die durch die neue scheinbarePrüderie erst geschaffen wird. Foucault beschreibt in Der Wille zum Wissen - Sexualit ä t undWahrheit I, es habe zwar „eine Säuberung - und zwar eine unerbittliche Säuberung - deszugelassenen Vokabulars stattgefunden” (Foucault, 1977, S.23), andererseits seien dieDiskurse über Sexualität im Gesamten jedoch stark angereizt worden. Macht ist in diesemSinne nicht negativ zu bewerten, sie hat auch positive Aspekte und ist immer schon anWissen und Sexualität geknüpft. Foucault geht von der Annahme aus, dass Sexualität immerschon an bestimmte Machtformen gebunden ist. Reproduziert wird die Macht im Diskurs.Die gesellschaftlichen Veränderungen brachten seiner Ansicht nach erst den Anreiz zu einemneuen Diskurs um Sexualität. Um „minutiöse Regeln der Selbstprüfung durchzusetzen“(Foucault, 1977, S.25) wurde die Beichte, die zuvor auf die generelle Sünde beschränkt war,durch neue Fragetechniken um die persönliche Sexualität ausgeweitet: „Der neuen Pastoralzufolge darf der Sex nur noch vorsichtig beim Namen genannt werden, wogegen seineeinzelnen Aspekte, seine Verbindungen und Wirkungen bis in ihre feinsten Verzweigungenverfolgt werden müssen (…)“ (Foucault, 1977, S. 25). Wo in der Öffentlichkeit betretenesSchweigen herrschte, wurde von den Machtinstanzen informative Redseligkeit verlangt.

Auch innerhalb der Paarbeziehungen veränderte sich der Umgang mit der Sexualität. Dasfrühere Allianzdispositiv, das von der Ehe als Allianz ausging, dessen Aufgabe dieAufrechterhaltung der (religiösen) Gesetze bestand und dessen Nutzen es war dieWeitergabe von Reichtümern innerhalb eines Familienstammbaumes zu sichern, wird, soFoucault, vom Sexualdispositiv abgelöst. (Foucault, 1977) Während das herkömmlicheAllianzdispositiv sich auf ein System des Heiratens und der Verwandtschaft stützte und sichauf die Familie als Zentrum bezog, geht es beim Sexualdispositiv vielmehr darum, wie dieSexualität von statten ging. Dieses äußerte sich vor allem in folgenden Punkten: „1.Sozialisierung des Fortpflanzungsverhalten, 2. Hysterisierung der Ehefrau, 3.Pädagogisierung des kindlichen Sexes und 4. Psychiatrisierung der perversen Lust“ (Malich,2017, S.16).

Die Macht des Sexualdispositivs zeigte sich erst in der Erzeugung des Diskurses um Sexualität. Während dieser Entwicklung erhielten Menschen vermehrt Wissen um ihre eigene Sexualität, welches dann aber dafür genutzt wurde bestimmte Teilaspekte dieser zuisolieren und zu problematisieren. Foucaults Ansicht nach gilt die Macht als instabil, jedochallgegenwärtig. „Nicht weil sie alles umfasst, sondern weil sie von überall herkommt, ist dieMacht überall“ (Foucault, 1977, S.94). Macht ist in seinem Sinne nicht gedacht als eineRegierung, die von oben herab auf die sich ihr Unterwerfenden wirkt, sondern als „Strategiezu Integration ungleichgewichtiger, heterogener, instabiler, gespannter Kraftverhältnisse”(Foucault, 1977, S.94). Die immer vorhandene Macht nutzt also in diesem Sinne die eigeneMacht innerhalb des Diskurses, in dem sie reproduziert wird. Dieser Diskurs kann sprachlichsein, aber auch als Alltagswissen oder durch wissenschaftliche Aussagen als Scheinwahrheitreproduziert werden. Im Hinblick auf den sexuellen Diskurs bedeutet dies, das gerade durchdas neue Wissen um die Sexualität diese im gesellschaftlichen Diskurs nie verloren ging,sondern sich durch wissenschaftliche Aussagen, religiöse Vorstellungen und dergesellschaftlichen Norm reproduzierte.

Auch in anderer Weise hatte die Sexualität der Bevölkerung eine enorme Wichtigkeit erlangt. So verdoppelte sich die britische Bevölkerung mit Beginn der Industrialisierung.(Kaelble, 1983) Mit Erkenntnis der Herrschenden, dass das Wissen über die Sexualität der Bevölkerung zu einer besseren Kontrolle dieser führt, etablierte sich ein „politischer, ökonomischer und technischer Anreiz, vom Sex zu sprechen“ (Foucault, 1977, S. 29). Dies istvor allem gemeint „in Form von Analyse, Buchführung, Klassifizierung und Spezifizierung, inForm quantitativer und kausaler Untersuchungen“ (Foucault, 1977, S.29). Denn „dieRegierungen entdecken, dass sie es nicht nur mit Untertanen, auch nicht bloß mit einemVolk, sondern mit einer Bevölkerung mit spezifischen Problemen und eigenen Variablen zutun haben wie Geburtenrate, Sterblichkeit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit,Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit, Ernährungsweise und Wohnverhältnissen“(Foucault, 1977, S.31). So ist diese auf eine ebensolche Analyse jener Faktoren angewiesen,die Reichtum und Macht eines Landes garantieren. Hier zeigt sich auch, inwiefern dieKomplexe Foucaults Sexualdispositivs in Hinblick auf die Regulation der Gesellschaft greifen.Die Sexualität war also wichtiges Werkzeug zur Sicherung einer gesunden und mächtigenBevölkerung in einer frühkapitalistischen Gesellschaft.

2.3 Pathologisierung des Anderes oder „Die Psychiatrisierung der perversen Lust“

Wie sich die Diskurse über Sexualität mit Bezug auf das binäre Geschlechtermodell entwickelten, möchte ich an einem der vier Komplexe Foucault’s Sexualdispositivs erläutern: „Die Psychiatrisierung der perversen Lust“ (Malich, 2017, S. 16).

Mit dem Aufkommen neuer Forschungsfelder hinsichtlich der Sexualwissenschaften beschäftigten sich Wissenschaftler immer häufiger mit dem, was als sexuell „normal“ unddem was als „abnormal“ galt. Rückblickend gab die Definition dessen, was folglich als„gesund“ oder „krank“ galt, den Sexualwissenschaften eine Legitimation dafür, um in derMedizin als eigenständige Wissenschaft anerkannt zu werden. Weiteren Nutzen zog dieneue Wissenschaft daraus, dass Masturbation (vgl. auch mit Foucaults 3. Komplex desSexualitätsdispositiv) als ernstzunehmende behandlungswerte Krankheit aufgenommenwurde. Im Einklang mit der Kirche und der neuen Ethik des Kapitalismus wurde davonausgegangen, dass eine gesunde Sexualität nur in geregelten heterosexuellen Beziehungenauszuüben war. Auf die Positivausdeutung heterosexueller Beziehungen folgte vermehrteine Pathologisierung von homosexuellen Neigungen. Masturbation und andere „sexuelleAbartigkeiten“ wurden wie auch homosexuelle Neigungen als Grund für Geisteskrankheitenund körperliche Gebrechen angenommen. (Fiedler, 2004)

Obwohl es von Anfang an auch stets Mediziner gab, die sich gegen eine Pathologisierung derHomosexualität aussprachen, wie beispielsweise Magnus Hirschfeldt, der Homosexualität alsnatürliche Variation von Sexualität verstand, fanden diese kaum Gehör bei den Kritikern.(Foucault, 1977) Richard von Krafft-Ebing formulierte in Psychopathia sexualis Homosexualität als angeborene krankhafte Disposition und viele andere Protagonistenseiner Zeit taten es ihm gleich. (Krafft-Ebing, 1886) In Anbetracht der fortschreitendenKolonialisierungsprozesse und der Entstehung des Gefühls eines neuen Nationalismus wurdedie Wirkmächtigkeit des Diskurses über Sexualität weiterhin verstärkt, da einevorschriftsgemäße Sexualität für den Erhalt der „weißen Rasse“ enorm wichtig war. Doch diefortwirkende Diskussion darüber bewirkte auch gesellschaftliche Diskriminierungsprozesseund politische wie juristische Verfolgungen Homosexueller. Lange Zeit waltete diewissenschaftlich legitimierte Urteilsbildung als Rechtfertigung für Gesetze und juristischeMaßnahmen, die bis in die jüngste Vergangenheit Millionen von Menschen wegen ihrespersönlichen Sexualverhaltens erdulden mussten. (Fiedler 2004, S.5)

2.4 Die Konstruktion von >>Natürlichkeit<<

Im Folgenden möchte ich weiter darauf eingehen, wie sich der Diskurs über die Sexualität auf den politischen, religiösen und gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität auswirkte. Dabei soll auch geklärt werden, warum wir heute das binäre Geschlechtermodell als>>natürlich<< gegeben hinnehmen.

Im weiteren zeitlichen Verlauf wich das staatliche Interesse an heteronormativer Sexualitätimmer mehr dem an peripheren Sexualitäten. Während einerseits ein großer Druck auferlegtwurde, andersartige Sexualitäten zu unterdrücken, wurde andererseits nachgefragt bis inskleinste Detail, erforscht, untersucht, kategorisiert und anschließend pathologisiert.Interessant ist - so Foucault - der Doppelmechanismus dieser Macht: Wo einerseitsklassifiziert wird, wird andererseits der Unordnung eine Ordnung gegeben, die als„natürlich“ gegeben gesetzt wird. Wo Menschen kategorisiert und klassifiziert werden,nehmen sich Menschen auch den Kategorien an und passen sich ihnen an. Dies sagt nichtnur Foucault, dieser Effekt ist auch in der heutigen Psychologie als Looping - Effekt bekannt.Dies führt jedoch auch dazu, dass immer dort, wo ein sexueller Diskurs gehalten wird, nichtnur unterdrückt wird, sondern gleichzeitig auch eine Lust geschürt wird, die den verbotenenAnreizen des Diskurses entspringt. (Foucault, 1977)

Wird also wirklich Sexualität unterdrückt, wenn doch dazu angeregt wird sich seinem scheinbar abweichenden sexuellen Handelns hinzugeben? Foucault erklärt dies als Doppeleffekt der Macht:

„Durch die Isolierung, Intensivierung und Verfestigung der peripheren Sexualitätenverästeln und vermehren sich die Beziehungen der Macht zum Sex und zur Lust,durchmessen den Körper und durchdringen das Verhalten. (…) Fortpflanzung derSexualitäten durch Ausdehnung der Macht. (…) Lust und Macht heben sich nicht auf,noch wenden sie sich gegeneinander, sondern übergreifen einander, verfolgen undtreiben sich an. Sie verketten sich vermöge komplexer und positiver Mechanismen vonAufreizung und Anreizung. (…) Zweifellos also muß man die Hypothese fallenlassen,wonach die modernen industriellen Gesellschaften ein Zeitalter verschärfterSexualunterdrückung eingeleitet haben. Wir wohnen nicht nur einer sichtbarenExplosion der häretischen Sexualitäten bei. Sondern vor allem - und das ist der Punkt,auf den es ankommt - sichert hier ein Dispositiv, das sich - selbst wenn es sich örtlichauf Verbotsprozeduren stützt - erheblich vom Gesetz unterscheidet, durch ein Netzuntereinander verketteter Mechanismen die Wucherung der Lustarten und dieVermehrung disparater Sexualitäten“. (Foucault, 1977, S.52f)

Dass Sexualität und Macht keine Gegenspieler sind, sondern die Sexualität der Macht immer immanent ist, verstärkt die Wirkweise der Macht. Durch Erweiterung der Machtzentren findet andererseits eine Steigerung der Lust zwischen den Berührungspunkten dieserZentren statt. Auf der einen Hand wird die heteronormative Norm, die von vielenMachzentren ausgeht besser verinnerlicht, auf der anderen Hand wird der Anreiz „über den Tellerrand zu schauen“ auch immer größer. (Foucault, 1977)

[...]

Fin de l'extrait de 16 pages

Résumé des informations

Titre
Über die (Un)Natürlichkeit der Geschlechter. Zeit für eine neue Betrachtungsweise von Geschlechtlichkeit
Université
University Lübeck  (Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung)
Cours
Geschichte - Theorie - Ethik
Note
1,3
Auteur
Année
2017
Pages
16
N° de catalogue
V412229
ISBN (ebook)
9783668634282
ISBN (Livre)
9783668634299
Taille d'un fichier
434 KB
Langue
allemand
Mots clés
Foucault, Butler, Sterling, Geschlechter, Geschlechtermodelle, Repressionshypothese, Sexualdispositiv, 68er Revolution, Frauenbewegung, sexuelle Revolution, LGBTI, Queer
Citation du texte
Saskia Drapart (Auteur), 2017, Über die (Un)Natürlichkeit der Geschlechter. Zeit für eine neue Betrachtungsweise von Geschlechtlichkeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/412229

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