In dieser Arbeit wird beabsichtigt, eine neuartige Rezeption des Denkens Martin Bubers in Bezug auf die psychotherapeutische Theorie und Praxis vorzustellen. Ziel ist es, einige moderne Ansichten der integrativen Psychotherapie in ihren wesentlichen Zügen zu beschreiben und diese in Bezug zur Philosophie Bubers, insbesondere zu seiner Interpretation der osteuropäischen jüdischen Bewegung des Chassidismus zu setzen.
Dabei wird gezeigt, dass in der buber‘schen Darstellung des Chassidismus sowohl die in der Arbeit ausgearbeiteten Merkmale des heutzutage aktuellen integrativen Ansatzes in der Psychotherapie, als auch eine markante Überschneidung mit einigen bekannten Annäherungen an das mögliche Konzept der integrativen Psychotherapie zu finden sind. Insgesamt wird somit zu einer Diskussion über moderne wissenschaftliche Bestätigung kulturgeschichtlicher Erfahrungen und deren Integration in der Psychotherapie beigetragen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
I. Martin Buber, sein Werk, seine Beziehung zur Psychiatrie und Psychotherapie und die Rezeptionsgeschichte
I.1 Leben und Werk von Martin Buber
I.2 Martin Buber und die Psychiatrie und Psychotherapie
II. Die Rezeption von Bubers Denken in der deutschsprachigen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an ausgewählten Beispielen
II.1 Viktor von Weizsäcker
II.2 Ludwig Binswanger
II.3 Beziehungsökologische Psychotherapie von Jürg Willi
III. Osteuropäischer Chassidismus als geistiger Hintergrund Bubers und seine Bedeutung für die Psychotherapie
III.1 Geschichte des Chassidismus und seine historisch bedingte „psychotherapeutisch- seelsorgerische Funktion“
III.2 Chassidismus heute und sein Bezug zur Psychotherapie
IV. „Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre“ als Quintessenz der Buber’schen Ideenwelt und als Quelle therapeutischer Denkanstöße
IV.1 Selbstbesinnung
IV.2 Der besondere Weg
IV.3 Entschlossenheit
IV.4 Bei sich beginnen
IV.5 Sich mit sich nicht befassen
IV.6 Hier wo man steht
V. Moderne Vorstellungen von einer integrativen Psychotherapie und ihr Verhältnis zum chassidischen Gedankengut in der Darstellung Bubers
V.1 Allgemeine Merkmale integrativer Ansätze in der Psychotherapie
V.1.1 „Patientenzentrierung“
V.1.2 Anwendung von Methoden und Techniken aus unterschiedlichen Therapieverfahren
V.1.3 Einbeziehung von Mehrdimensionalität und Interdisziplinarität in die Therapie
V.1.4 Dialogfähigkeit zwischen verschiedenen therapeutischen Denkweisen, praktischen Ansätzen sowie verschiedenen Disziplinen
V.1.5 Offenheit für Neues
V.1.6 Berücksichtigung der aktuellen situativen Realität sowie der therapeutischen Rahmenbedingungen
V.1.7 Gleichzeitige Berücksichtigung unterschiedlicher Einflüsse auf das therapeutische Handeln
V.2 Annäherungen an ein mögliches Modell für eine integrative Psychotherapie
V.2.1 „Allgemeine Psychotherapie“ von Klaus Grawe
V.2.2 „Integrative Psychotherapie“ von Hilarion Petzold
VI. Diskussion und Ausblick
VII. Literatur
Vorwort
Der Leser dieser Arbeit könnte einerseits ein ausgezeichneter Buber-Kenner sein, ganz unabhängig davon, aus welchem Beruf er kommt. Möge er die knappe Darstellung vieler ihm gut bekannter Sachverhalte verzeihen: Wir wollten sie so kurz wie möglich abhandeln. Es existiert eine umfangreiche Literatur sowohl über Buber selbst als auch über alle seine „Tätigkeitsfelder“. Für den in diesem Sinne sachkundigen Leser erschließt sich wohl der Sinn der vorliegenden Arbeit erst allmählich, beginnend ab Kapitel III oder spätestens in Kapitel V.
Andererseits ist es durchaus vorstellbar, dass zum Kreis der Interessenten – und das ist mein eigentliches Ziel – ebenfalls das therapeutische Fachpublikum wie Ärzte, insbesondere Psychiater, Psychosomatiker und Psychotherapeuten bzw. Psychologen gehört. Diese werden möglicherweise relativ wenig über die Person und das Werk Bubers wissen, weil sie sich bisher weder fachlich noch menschlich durch Bubers Schriften angesprochen fühlten. Für diesen Leserkreis darf insbesondere der Inhalt des I. Kapitels nicht „zu kurz kommen“, in dem ein Überblick über die Persönlichkeit und das Schaffen des großen jüdisch-kosmopolitischen Philosophen und Universalgelehrten gegeben werden soll.
Seit dem Tag, an dem mir „Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre“ in die Hände kam, ich den Titel des Buches zum allerersten Mal las und den auf mich gerichteten Blick Bubers vom Buchumschlag wahrnahm, studierte ich diese Schrift mit großem Interesse und sowohl persönlichem als auch wissenschaftlichem Gewinn. Andere seiner Bücher folgten: Auf Buber komme ich immer wieder zurück. Es ist wie eine gute und tiefe Freundschaft mit nie auszuschöpfendem Entwicklungs- und Entfaltungspotential.
Im Übrigen ist jeder Weg zu einer ganzheitlichen psychotherapeutischen Haltung lohnenswert, wenn er mit Sinn erfüllt ist und eine komplexe Sicht der Dinge in einer Gemeinschaft ermöglicht.
Einleitung
Die vorliegende Arbeit ist motiviert durch eine doppelte Forschungsfrage:
1. Die Frage, ob sich in der religiös inspirierten Philosophie des beginnenden 20. Jahrhunderts und insbesondere in den Gedanken Martin Bubers fruchtbare Quellen für die zeitgenössische Theoriebildung einer integrativen Psychotherapie aufschließen lassen.
2. Die Frage, wie diese Quellen dazu beitragen können, die heutige Praxis zu befördern bzw. neue Praxisentwicklungen anzustoßen.
Dabei wird folgendermaßen vorgegangen:
Im I. Kapitel werden die wichtigsten Themen und Argumentationsgänge des umfangreichen Werkes Martin Bubers, seine persönliche Auffassung des psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgebietes sowie die Begegnungen mit dessen zeitgenössischen Vertretern skizziert. Darüber hinaus wird die Geschichte der zeitgenössischen Rezeption von Bubers philosophischen Ideen in der ärztlichen und psychotherapeutischen Fachwelt in wesentlichen Zügen dargestellt.
In Kapitel II wird am Beispiel von Viktor von Weizsäcker, Ludwig Binswanger und Jürg Willi eine charakteristische – sowohl historische als auch zeitgenössische – psychotherapeutische Rezeption der Buber’schen Arbeiten vorgestellt. Es wird damit ein differenzierter und ausführlicher Exkurs zur bisherigen Buber-Rezeption durch namhafte Psychotherapeuten vorgenommen, um auf diese Weise eine systematische Verbindung von Dialogphilosophie und Psychotherapie nachzuweisen.
In Kapitel III geht es in Vorbereitung auf das folgende Hauptkapitel IV darum, die Entstehung der jüdisch-religiösen Bewegung des Chassidismus vor ihrem spezifischen historischen Hintergrund zu beleuchten. Darüber hinaus werden die sich daraus ergebende historisch bedingte „psychodynamische Funktion“ und psychotherapeutisch-seelsorgerische Bedeutung des Chassidismus für den betreffenden Teil des jüdischen Volkes in Osteuropa diskutiert. Die kurze Einleitung zu diesem Kapitel beschreibt die Beziehung Bubers zum Chassidismus. Abschließend wird der heutige Chassidismus in Bezug auf die Psychotherapie thematisiert.
In Kapitel IV, dem Zentrum der Arbeit, formuliere ich meine Thesen und Gedanken zur psychotherapeutischen Theorie und Praxis, welche anhand der systematischen Lektüre einer der bekanntesten Buber-Schriften zum Chassidismus „Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre“ (im folgenden WdM) entstanden sind. Dabei handelt es sich um die Überprüfung des primär religiös-philosophischen Textes auf psychotherapeutische Gehalte unter Anwendung einer hermeneutischen Methode (siehe dazu: S. 49–50). Buber entfaltet in dieser Schrift, wie tiefsinnig und vielfältig, aber auch ganzheitlich der Chassidismus ist. Ziel dieses Kapitels ist es, deutlich zu machen, dass im WdM sowohl Grundgedanken der Psychotherapie im Allgemeinen als auch verschiedener psychotherapeutischer Schulen im Besonderen zu finden sind, dass also die chassidische Lehre (in der Darstellung Bubers), ähnlich wie die in Kapitel III dargestellte chassidische Lebenspraxis, Ansätze unterschiedlicher Richtungen der Psychotherapie in sich vereint.
In Kapitel V wird, basierend auf der in Kap. II dargestellten „klassischen“ Rezeption der Ideen Bubers sowie den in den Kapiteln III und IV beschriebenen praktischen und theoretischen Aspekten des Chassidismus, eine neuartige Rezeption des Buber’schen Denkens vorgestellt, die über das Leitthema „Begegnung“ hinausgeht. Ziel des Kapitels ist es, diverse aktuelle Positionen zu einer integrativen Psychotherapie in wesentlichen Zügen zu beschreiben und deren Bezug zum Buber’schen Chassidismus herauszuarbeiten. In diesem Zusammenhang wird spezifiziert, inwieweit Bubers WdM nicht nur allgemein als Inspiration für die Psychotherapie dienen kann, sondern die Theoriebildung und Praxis einer integrativen Sichtweise in der Psychotherapie befördern könnte. Zu diesem Zweck wird eine Strukturähnlichkeit zwischen dem Denken Bubers und dem zweier wichtiger zeitgenössischer Repräsentanten des integrativen Ansatzes in der Theorie der Psychotherapie (Klaus Grawe und Hilarion Petzold) nachgewiesen.
In Kapitel VI werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und diskutiert, abschließend erfolgt ein Ausblick auf den weiteren Forschungsbedarf.[1]
I. Martin Buber, sein Werk, seine Beziehung zur Psychiatrie und Psychotherapie und die Rezeptionsgeschichte
I.1 Leben und Werk von Martin Buber
Martin (Mordechai) Buber wurde am 08.02.1878 in Wien geboren. Nach der Scheidung seiner Eltern kam er im Kleinkindalter nach Lemberg (Lwow) in der heutigen Ukraine zu seinen Großeltern, wo er im Spannungsfeld von westlicher Aufklärung und osteuropäischer jüdischer Tradition zwischen mehreren Kulturen und Sprachen aufwuchs. Nach dem Gymnasialabschluss wurde er 1896 Student in Wien, später in Leipzig, Berlin und Zürich, wo er Philosophie, Kunstgeschichte, Germanistik und Philologie studierte. Früh beschäftigte sich Buber mit dem Thema Judentum; bereits während seiner Studienzeit in Berlin fand er Anschluss an die zionistische Bewegung. Nach der Gründung einer eigenen Familie und der Geburt zweier Kinder kam es im Jahre 1905 während des Aufenthaltes der jungen Familie Buber in Florenz zu einer wichtigen Ruhe- und „Selbstbesinnungsphase“ in seinem Leben: Er reaktualisierte (wie im Kapitel III beschrieben wird) seine Kindheitserinnerungen und fand seinen eigenen Weg zum Chassidismus.
Von 1906 bis 1916 lebte Buber in Berlin und war als Lektor beim Verlag Rütten & Loening tätig. 1916 zog er in die kleine südhessische Stadt Heppenheim, seine naturnahe Wahlheimat. Bis 1924 war er Herausgeber der Monatsschrift „Der Jude“. Neben seiner Lehrtätigkeit am Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt/Main (1922–1929) übernahm Buber einen Lehrauftrag für jüdische Religionslehre und jüdische Ethik an der Universität Frankfurt. Sein Lektorat wurde 1930 in eine Honorarprofessur für allgemeine Religionswissenschaft umgewandelt. Einen Tag nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten legte Buber seine Professur nieder, noch bevor ihm die Lehrerlaubnis durch die Nationalsozialisten offiziell entzogen wurde. Für die Reichsvertretung der Juden in Deutschland gründete und leitete er die sogenannte „Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung“, bis ihm 1935 jede öffentliche Tätigkeit verboten wurde.
1938 floh Buber mit seiner Familie nach Palästina. Im gleichen Jahr wurde er Professor für Sozialphilosophie an der Hebräischen Universität in Jerusalem, wo er sich in die politischen Diskussionen um die Rechte der Araber in Palästina einschaltete. 1942 wurde er Mitbegründer der Gruppe „Ichud“, welche die für die Gründung eines Staates Israel mit Juden und Arabern als gleichberechtigten Völkern eintrat. Viel später, auf dem Sterbebett, ordnete er die Verdoppelung der Stipendien für bedürftige arabische Studenten an.
1947, nach dem Zweiten Weltkrieg, unternahm Buber seine erste Vortragsreise nach Europa. Ihr folgten bis zum Ende seines Lebens weitere Reisen, u. a. in die USA. Bis 1953 leitete Buber das von ihm gegründete „Seminar für Erwachsenenbildner“ in Jerusalem. Neben dem Hansischen Goethe-Preis 1951 erhielt er weitere Auszeichnungen, u. a. den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in Frankfurt/Main 1953. 1958 folgten zu seinem 80. Geburtstag Ehrungen aus der ganzen Welt sowie Anfang der 1960er Jahre zahlreiche Ehrungen aus verschiedenen europäischen Ländern, z. B. der Große österreichische Staatspreis (1961), der niederländische Erasmuspreis (1963) sowie Ehrenpromotionen der Universitäten Münster (1962) und Heidelberg (1964). Buber starb am 13.06.1965 in seinem Haus in Jerusalem.
In der seit einigen Jahren erscheinenden Gesamtausgabe der Werke Bubers wird der Versuch unternommen, alle seine Schriften nach Themenbereichen in einzelnen Bänden zu ordnen.[2] Ein solcher Versuch der Einteilung kann allerdings kaum zufriedenstellend gelingen, weil es nahezu in jeder seiner Schriften gewaltige Themen-, Ebenen- und Fachüberschneidungen gibt, welche von der seltenen geistigen Universalität ihres Autors zeugen. In der Tat erfuhren einige Werke Bubers, beispielsweise das bekannte Buch „Bilder von Gut und Böse“, bis heute keine wissenschaftliche Interpretation, da weder Philosophen noch Theologen bzw. Psychologen den Text ihrem jeweiligen Fachgebiet zuschlagen mochten. Gerade auf dieser Universalität fußt jedoch das spezifische und bereichernde Phänomen Buber: Unabhängig davon, welcher „Fachmann“ sie liest, sind seine Schriften aus der jeweiligen Fachperspektive des Lesers interessant. Seine Beiträge wurden und werden immer wieder als Inspirationsquelle in unterschiedlichen Wissenschaften und Praxisfeldern rezipiert. Harald Beck schreibt in seiner Studie „Buber und Rogers“: „Ihm [Buber] ist nicht zuerst daran gelegen, eine eigene philosophische Schule zu entwickeln – sondern auf eine Verständigung menschlicher Gemeinschaften untereinander hinzuwirken“ (Beck 1991: 42), und es lässt sich ergänzend anfügen: seinen Leser persönlich anzusprechen und zu berühren. In dem 1919 geschriebenen Essay „Was ist zu tun?“ beantwortet Buber die im Titel gestellte Frage wie folgt: „Du sollst dich nicht vorenthalten. [...] du eingetan in die Schalen, in die dich Gesellschaft, Staat, Kirche, Schule, Wirtschaft, öffentliche Meinung und dein eigner Hochmut gesteckt haben [. . .] durchbrich deine Schalen [...], werde unmittelbar, rühre Mensch die Menschen an!“ (Buber 2001b: 293)
Genau diese letzten Worte drücken das Kernstück der Philosophie Bubers aus, die als „Ich-Du-“, „Dialog-“ bzw. „Begegnungs-Philosophie“ bezeichnet wird. Nach Buber nehmen die Menschen im Leben grundsätzlich zwei Haltungen ein, welche als Begriffspaar „Ich-Es“ und „Ich-Du“ definiert werden können. Im Alltag wird gegenüber den anderen Menschen am häufigsten die „Ich-Es“ Einstellung ausgelebt, d. h. die Mitmenschen werden als „Geschäftspartner“ in ihrer Rolle wahrgenommen und „gebraucht“, z. B. als Mittel zum Erwerb von Wissen, zur eigenen Unterstützung, zur Hilfestellung bzw. im wahrsten Sinne des Wortes zur „Befriedigung“ unterschiedlicher eigener Bedürfnisse. Alles das ist Buber zufolge auch unumgänglich, jedoch nicht ausreichend, um unseren Sinn und Auftrag in der Welt zu erfüllen und ein wirklich befriedigendes und glückliches Leben zu führen. Dazu bedarf es der in jeder Beziehung auch gegebenen „Ich-Du“-Einstellung, die alle Kontakte elementarer Art kennzeichnet, seien es fundamentale wie lebenslange Partnerschaften oder periphere wie etwa eine flüchtige Begegnung mit dem Anderen. Es handelt sich um eine offene, unmittelbare und nicht auf sich selbst, sondern auf den Anderen bezogene Haltung den Menschen und auch anderen Kreaturen gegenüber: von Wesen zu Wesen, für gläubige Menschen wie Buber auch gegenüber Gott, dem Schöpfer und der Welt.[3]. Letztendlich geht es Buber zufolge darum, auch gegenüber jedem Gegenstand dieser Schöpfung, mit welchem wir in Kontakt treten, diese Offenheit zu bewahren: Jede Situation unseres Lebens spricht uns an, fordert uns zur verantwortlichen Teilhabe bzw. Anteilnahme heraus. Diese Herausforderung anzunehmen, ist, so Buber, ein Weg zum „wirklichen Leben“. Viele seiner Schriften, welche dieses Thema behandeln – wie das grundlegende Werk „Ich und Du“ (1923) – lesen sich dabei allerdings weniger als wissenschaftlicher denn vielmehr eher als meditativ-poetischer Text.
Die Bedeutung von Bubers Werk fasst vielleicht am besten die Laudatio anlässlich der Verleihung des Erasmuspreises 1963 zusammen: „Der Erasmus Preis 1963 wird verliehen dem weltberühmten Gelehrten Martin Buber, weil er länger als ein halbes Jahrhundert der Humanität und Kultur Europas gedient hat, weil er der schöpferische Urheber war, dass die Bücher der Hebräischen Bibel in neuartigem und bisher nicht erklungenem Deutsch zu uns sprachen, weil er die Schätze der Religion und Sittlichkeit, die bisher verborgen im Osten lagen, in den Chassidischen Erzählungen ans Licht brachte und unseren in Westeuropa lebenden Zeitgenossen vorstellte, überlieferte und erklärte, weil er die Religion Israels unter dem Gesichtspunkt 'Leben im Zwiegespräch' aus innerster Tiefe unter Anwendung philosophischer und psychologischer Kategorien entfaltete, mit der Wirkung, dass er sowohl die gegenseitigen Beziehungen zwischen Juden und Christen, als auch zwischen denen, die in den Heiligen Büchern die göttliche und überzeitliche Grundlage des Lebens suchen, als auch zwischen denjenigen, die in heutigen Zeiten die größte Bedeutung der Humanität beimessen, von falschen und vorurteilsbelasteten Meinungen voneinander befreit hat“ (Thiemann und Vorndran 2006: 40).
I.2 Martin Buber und die Psychiatrie und Psychotherapie
Neben diesen Tätigkeitsbereichen und Wissenschaftsgebieten besaß Buber während seines ganzen Lebens sowohl ein ausgeprägtes Interesse am psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgebiet als auch persönliche Verbindungen mit dessen bekannten Vertretern. Diese Verbindungen waren einerseits wohl motiviert durch die Absicht, sich in eigenen Anschauungen von ihnen kritisch abzusetzen, andererseits dadurch, gemeinsam mit ihnen verwandte Vorstellungen neuer Wege der Psychotherapie zu entwickeln. Die kritische Distanzierung von vorherrschenden psychiatrischen und psychotherapeutischen Konzepten hing in erster Linie damit zusammen, dass Buber als Philosoph in einer perspektivisch anderen Weise über den Menschen nachdenken musste, als es Psychotherapeuten üblicherweise in ihrer Praxis tun.
Zu den Ursprüngen seines Interesses an Psychiatrie und Psychotherapie lassen wir am besten Buber selbst zum Wort kommen. In einem öffentlichen Dialog zwischen ihm und Carl Rogers an der University of Michigan in Ann Arbor am 18. April 1958 gibt Buber eine relativ ausführliche Antwort auf die Frage von Rogers, wie er sich „ein tiefes Verstehen über das menschliche Individuum“ angeeignet habe, ohne jemals selbst Psychotherapeut zu sein und „[. . .] welche die Kanäle des Wissens waren, durch die Sie die Fähigkeit gewonnen haben, wirklich so tiefgründig Menschen und Beziehungen zu studieren?“ (Mendes-Flohr und Schäfer 2008: 238) In seiner Antwort sagt Buber, dass er in der Psychiatrie nicht „ein völlig Fremder“ sei, „[. . .] denn als ich Student war [. . .] studierte ich drei Semester Psychiatrie und was man in Deutschland 'Psychiatrische Klinik' nennt. Das interessierte mich am meisten. Sehen Sie, ich studierte nicht Psychiatrie, um ein Psychotherapeut zu werden. Ich studierte [. . .] zuerst [. . .] in Leipzig, wo ich ein Student Wundts war. Daraufhin in Berlin mit Mendel, und das dritte Semester mit Bleuler in Zürich, welches das interessanteste der drei war. [. . .] ich hatte das Gefühl, über den Menschen wissen zu wollen, und über den Mensch im sogenannten pathologischen Zustand. [. . .] Ich wollte solche Leute sehen, wenn möglich treffen, und [. . .] die Beziehung aufbauen, die wirkliche Beziehung zwischen dem, was wir einen gesunden Menschen nennen und was wir einen pathologischen Menschen nennen“ (ebd.).
Das Interesse Bubers an der Psychiatrie im engeren Sinne, d. h. auch an den nach der älteren Klassifikation der psychischen Erkrankungen exogenen und endogenen Krankheitsbildern, lässt sich bis in die späten 1950er Jahre anhand seiner Briefe und mündlichen Äußerungen verfolgen. Allerdings betrachtete er diese Krankheitsbilder aus einem besonderen Blickwinkel, welchen wir heute eher einer anthropologischen bzw. phänomenologischen Psychiatrie zuordnen würden. Buber sagte selbst, er interessiere sich für den „pathologischen Menschen“, für die pathologischen Zustände, ihn interessiere sozusagen die innere Seelenwelt, das Selbst- und Welterleben der seelisch kranken Menschen und wiederum die Beziehung zwischen der „normalen“ Welt und der Welt der Kranken. In einem Brief an seinen Freund Hans Trüb aus dem Jahre 1936 schreibt er: „Das Problem, das ich für mein Buch meine, ist das Verhältnis zwischen Sonderwelt und Gemeinwelt etwa bei Schizophrenen, die doppelte Bewusstseinsreihe usw. Das Beste darüber steht doch wohl immer noch bei Bleuler; aber es befriedigt mich nicht“ (Mendes-Flohr und Schäfer 2008: 167). In einem anderen Brief an den gleichen Adressaten schreibt er 10 Jahre später über sein Vorhaben, im zweiten und letzten Teil seiner Philosophie, zu welchem es nicht gekommen ist, die Studien über die Grenzzustände der menschlichen Psyche zusammenzufassen. Hierbei handelt es sich um – tiefenpsychologisch gesprochen – die sogenannten „Primärprozesse“, „um das Verhältnis zwischen der uns so geläufigen 'kosmischen' Sinnenwelt und der 'chaotischen' Welt, die im Traum, im Rausch, in der Psychose erfahren wird“ (a. a. O.: 170). Im gleichen Jahr wendet sich Buber an den schweizerischen Psychiater Ludwig Binswanger mit der Bitte, ihm mit der Literatur zu diesem Thema zu helfen, er spricht von seiner Beschäftigung mit dem „Problem der Chaotisierung des Weltbildes bei verschiedenen abnormen Zuständen“ (a. a. O.: 180–181). Im Dialog über „Das Unbewußte“ berichtet Buber 1957 in der School of Psychiatry in Washington D.C. über eine interessante persönliche Erfahrung mit einem an Schizophrenie erkrankten Freund, der ihm „ganz normal“ erschien, ohne dass Buber offensichtlich den bestehenden Residualwahn oder die doppelte Buchführung erkennen konnte und davon nur im Nachhinein erfuhr. Spannend waren auch die Erlebnisse der Ehefrau des Freundes mit ihrem Ehemann. Als sie seine katatonen Bewegungsstörungen nachahmte und auf diese Weise mit ihm seine Sonderwelt teilte, „kam er heraus“ und lernte auch ihre „normale“ Welt zu schätzen (a. a. O.: 225).
Die Enkelin von Buber, Judith Buber-Agassi, weist darauf hin, dass bei Buber keine Aussagen über die Rolle von „physiologischen (vielleicht ererbten) Ursachen der psychischen Erkrankung“, aber genauso wenig über Krieg, Gewalt, Kindheitstraumata etc. zu finden sind (Mendes-Flohr und Schäfer 2008: 25). Was die „physiologischen“, ätiologischen Faktoren betrifft, nimmt Buber dazu keine Stellung, da er einerseits kein Psychiater ist und andererseits die entsprechenden Kenntnisse zu seinen Lebzeiten noch sehr eingeschränkt waren. Im Hinblick auf die von Buber-Agassi erwähnten psychotraumatologischen Ursachen der psychischen Störungen benannte Buber zwar tatsächlich nicht die direkten Auswirkungen von Traumata auf das seelische Erleben, verfasste jedoch beispielsweise seit spätestens 1942 regelmäßig Schriften und Briefe über die Katastrophe des Holocaust. Darin drückt er einerseits die extrem schmerzhaften Gefühle der Ohnmacht, Fassungslosigkeit und Traurigkeit, andererseits jedoch auch ein Gefühl der Hoffnung aus.[4] Explizit benannt werden in Bubers Schriften existentiell-psychologische und anthropologische Gründe für seelische Erkrankungen wie z. B. Verlust des zwischenmenschlichen Vertrauens, Verlust des Lebensweges und die existenzielle (reale) Schuld des Menschen (a. a. O.: 127–152).
In seinen Stellungnahmen über psychotherapeutische Theorien setzt sich Buber überwiegend mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs auseinander. Er geht auch später nicht auf andere, vordergründig humanistische Konzepte ein, die zu seinen Lebzeiten bereits existieren. In erster Linie wäre hier an die bereits in den 1920er Jahren von Jakob Moreno und in den 1930er Jahren von Viktor Frankl[5] entwickelten Ansätze sowie nach dem Zweiten Weltkrieg an die Gestalttherapie von Fritz Perls[6] zu denken.
Die erste Psychoanalytikerin, die versuchte, Buber die Psychoanalyse näher zu bringen, war Lou Andreas-Salomé (1861–1937). Sie verfasste 1909 in Bubers Zeitschrift „Gesellschaft“ eine Monographie über Erotik. Laut Mitteilung der Enkelin von Buber, Judith Buber-Agassi, habe Andreas-Salomé ihm später ausgeredet, ein Buch „gegen Freud“ zu schreiben, mit der Behauptung, „die Freudianische Psychoanalyse brauche noch Zeit zum Reifen“ (Mendes-Flohr und Schäfer 2008: 12). Bereits 1903 bzw. 1904 traf Buber Freud persönlich, 1908 bat er ihn, einen Artikel für die „Gesellschaft“ zu schreiben und schlug ihm ein erneutes Treffen vor, wobei Freud zwar für den Besuch bei ihm offen blieb, das Verfassen eines Beitrags für die Zeitschrift jedoch indirekt ablehnte.
Zu einem Gespräch zwischen Buber und Carl Gustav Jung ist es im Jahre 1925 bei einer pädagogischen Konferenz gekommen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass Jung Bubers Vortrag „Von der Verseelung der Welt“ in dem von ihm gegründeten Psychologischen Klub in Zürich persönlich gehört hat. Aus dem Vortrag selbst geht hervor, dass Buber mit den Schriften Jungs vertraut war und dessen analytische Methode für eine „wahre wissenschaftliche Methode“ hielt (Mendes-Flohr und Schäfer 2008: 35). Das Wesen der Religiosität betreffend betont Buber zwar die „Fortschrittlichkeit“ Jungs z. B. gegenüber Freud. Dennoch formuliert er in „Schuld und Schuldgefühle“ prägnant und präzise seine Kritik an Jung bezüglich dieses Themas: „Von ganz anderer [. . .] Art ist die Lehre Jungs, den man als einen Mystiker des modernen, psychologischen Solipsismus bezeichnen kann. Die mystischen und mystisch-religiösen Konzeptionen, die Freud verachtet, sind für Jung der wichtigste Gegenstand seines Studiums; aber sie sind es lediglich als 'Projektionen' der Psyche, nicht als Hinweise auf etwas Außerpsychisches, dem sie begegnet“ (a. a. O.: 130). Einige Passagen weiter spricht Buber von „Freuds Materialismus“ und „Jungs Panpsychismus“. Er fügt hinzu, Jung kenne „überhaupt kein wesenhaftes, die Grenzen der Psychik überschreitendes Verhältnis zwischen der individuellen Seele und einem anderen Seienden“ (ebd.). In diesem Kontext ist auch Bubers Kritik an der Jung’schen „Individuation“ zu sehen, wie er im bereits erwähnten öffentlichen Dialog mit Rogers deutlich macht: „Ein Individuum ist nur eine bestimmte Einzigartigkeit eines menschlichen Wesens [. . .] [Der Mensch] kann mehr und mehr [. . .] zum Individuum werden, ohne mehr und mehr zum Mensch zu werden. Ich kenne viele Beispiele von Menschen, die sehr individuell wurden, sehr abgehoben von den anderen, sehr entwickelt in ihrem So-und-so-Sein, ohne dabei auch nur ein wenig davon zu sein, was ich Mensch nenne [. . .] Aber Person, würde ich sagen, ist nur ein Individuum, das wirklich mit der Welt lebt“ (a. a. O.: 258).
Die wesentlichen Kritikpunkte Bubers an der ihm am besten und wohl auch einzig gut bekannten therapeutischen Richtung, der Psychoanalyse, wurden vorbildlich von Harry Tyrangiel in seiner Dissertation „Martin Buber und die Psychotherapie“ (Tyrangiel 1981) ausgearbeitet. Im Folgenden beziehen wir uns im Wesentlichen auf die Rekonstruktion des Psychotherapie-Verständnisses Bubers durch diesen Autor. Bei den prinzipiellen Einwänden Bubers gegen die Psychotherapie der damaligen Zeit unterscheidet Tyrangiel zwischen der Kritik an den psychologischen Methoden und der Kritik am psychologischen Welt- und Menschenbild. Die für Buber angreifbaren Merkmale der „psychologischen Methode“ seien Analytismus (wie in der Naturwissenschaft behandele man die menschliche Psyche „als zusammengesetzt und zergliederbar“) sowie Reduktionismus (Vernachlässigung der Ganzheit des Menschen und der „vitalen Zusammenhänge“ in seiner Psyche zugunsten überschaubarer Strukturen, Themen- und Problembereiche wie „Sexualität“, „Minderwertigkeitsgefühl“ usw.) (Tyrangiel 1981: 41–46).
Zum psychologischen Welt- und Menschenbild äußerte sich Buber in dem oben erwähnten, im Psychologischen Klub in Zürich 1923 gehaltenen Vortrag „Von der Verseelung der Welt“, welcher zeitlich einerseits mit dem Beginn seiner intensiven Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychotherapie, andererseits mit der Formulierung seines eigenen dialogischen Prinzips korrespondiert. Wie der Titel des Vortrags suggeriert, wird laut Buber in der Psychotherapie – im Rahmen des sogenannten „Psychologismus“ – der Welt und ihrem Netz von Beziehungen die „Seele“ quasi weggenommen und lediglich im Menschen selbst, in seiner „Psyche“ angesiedelt, wobei die Psychoanalyse sich nur mit den intrapsychischen Vorgängen inklusive der in ihnen gespiegelten Welt beschäftige. Bei Bubers Seelenbegriff geht es also nicht um die religionsphilosophische Abstraktion („Verseelung der Welt“), sondern um die Notwendigkeit dessen, was wir heute u. a. als „systemisches Denken“ bezeichnen würden. Dabei sagt Buber: „Die Krankheiten der Seele sind Krankheiten der Beziehung. Sie könnten vollständig nur behandelt werden, indem ich den Bereich des Patienten transzendiere und die Welt dazunehme“ (Mendes-Flohr und Schäfer 2008: 35).[7]
Bubers Kritik an der Psychologie geht jedoch über diese prinzipiellen Einwände hinaus und wird konkreter. Tyrangiel benennt und beschreibt die inhaltliche Auseinandersetzung Bubers mit drei wichtigen psychoanalytisch-tiefenpsychologischen Themen: das Wesen der Schuld, das Wesen der Religiosität und das Wesen des Unbewussten (Tyrangiel 1981: 46–59). Buber wirft beispielsweise den analytischen Schulen vor, dass sie eine „existentielle“, also reale Schuld der Menschen nicht kennen bzw. sich mit dieser nicht befassen, sondern nur mit den neurotischen Schuldgefühlen, deren Existenz selbstverständlich auch von Buber selbst anerkannt wird.
Hervorzuheben ist jedoch, dass Buber, trotz seiner Kritik an den ihm bekannten psycho-therapeutischen Ansätzen, den Einsatz ihrer Methoden dem dialogischen Therapeuten durchaus „erlaubte“: „Natürlich bin ich nicht 'gegen eine Analyse als therapeutisches Mittel' – das hätte doch gar keinen Sinn!“, schreibt er an einen Freund (Mendes-Flohr und Schäfer 2008: 175). Mehr noch: 1948 stellte Buber auf dem 12. Internationalen philosophischen Kongress in Amsterdam öffentlich die „moderne Seelen-Analytik“ Freuds auf die gleiche Stufe mit den Entdeckungen Immanuel Kants.
Im öffentlichen Dialog mit Rogers äußerte Buber relativ ausführlich seine Ideen über die An-wendung der Dialogik in der Psychotherapie, wobei es trotz Meinungsunterschieden und partiellen Missverständnissen auch viele Gemeinsamkeiten bzw. gegenseitige Ergänzungen mit Rogers gab. Trotz der Differenzen zwischen Buber und Rogers könnte Rogers in seinen wichtigsten Grund-einstellungen als „dialogorientierter Psychotherapeut“ bezeichnet werden (Friedman 1987: 13, 81–91, 249–254).[8]
In den 1950er Jahren kam es, nach Veröffentlichung mehrerer Schriften über Bubers Denkansatz sowohl in den USA als auch in Europa, zur Verbreitung seiner psychotherapeutischen Ideen. Insbesondere die Arbeiten von Leslie Farber und Maurice Friedman über Bubers Verhältnis zur Psychiatrie und Psychotherapie fanden weithin Beachtung. Auf Einladung des Direktors der School of Psychiatry in Washington D.C., Leslie Farber, hielt Buber dort im Frühling 1957 einige Vorlesungen und Seminare, so dass er den amerikanischen Psychologen und Psychiatern seine Position präsentieren und mit ihnen diskutieren konnte. In einem Brief an Leslie Farber in Vorbereitung seiner Reise schrieb Buber, dass er „gedenke, einen Teil der Vorlesungen den anthropologischen Problemen [. . .]“, wie sie Gegenstand seiner Schrift „Urdistanz und Beziehung“ seien, sowie der „Neubetrachtung von psychologischen Begriffen“ zu widmen. „Die letzte Frage sollte sein: Was hat die Anthropologie, wie ich sie verstehe, der Psychologie zu geben?“ (Mendes-Flohr und Schäfer 2008: 188) Die Samen fielen auf fruchtbaren Boden: Die School of Psychiatry wurde von Harry Stack Sullivan, einem Befürworter des Studiums zwischenmenschlicher Beziehungen in der Psychiatrie, gegründet und zu einem Forum des interdisziplinären Austausches ausgebaut. Leslie Farber schrieb an Buber: „Sie müssen wissen, dass wir eine ziemlich eklektische Gruppe ohne feste Bindung an ein bestimmtes psychologisches System sind und außerhalb des orthodoxen psychoanalytischen Betriebs stehen“ (a. a. O.: 186).
In Europa gab es im Wesentlichen zwei Gruppen von Ärzten und Psychotherapeuten, die sich in ihrer praktischen Arbeit für die „begegnungs-existentiellen“ Fragen einsetzten, und die entsprechende Konzepte entwickelten: Zu der einen Gruppe gehörten diejenigen, die sich zeitlich parallel mit Buber – jedoch gleichwohl unabhängig von ihm – der dialogisch-humanistischen Problematik stellten, und deren geistig-philosophischen Wurzeln sich aus anderen Quellen speisten. Hier sind beispielsweise Jakob Moreno oder Fritz Perls zu nennen. Die Tatsache, dass sich humanistische Ansätze in der Psychotherapie zeitgleich mit entsprechenden Ideen Bubers entwickelten, zeugt offensichtlich von der Notwendigkeit solcher Konzepte, dem richtigen „Reifepunkt“ ihrer geschichtlichen Entstehung (Stichwort: „Zeitgeist“).[9] Buber selbst galt und gilt sicherlich als bedeutendster, jedoch nicht als einziger dialogischer Philosoph.[10]
Zur anderen Gruppe der Rezipienten Bubers gehörten die Ärzte und Psychotherapeuten, welche Buber persönlich kannten, sich von seinen Ideen inspirieren ließen und sie in ihrer therapeutischen Praxis umsetzten. Neben den im Kapitel II ausführlich dargestellten Viktor von Weizsäcker und Ludwig Binswanger sind hier vor allem Hans Trüb, Ernst Michel, Arie Sborowitz und Rudolf Diepen zu nennen.
Hans Trüb (1889–1949) war ein Schweizer Psychoanalytiker und Schüler von Carl Gustav Jung. Er war derjenige, der Buber eingeladen hatte, im Psychologischen Klub in Zürich nach der Veröffentlichung von „Ich und Du“ den auf S. 12 und 13 erwähnten Vortrag „Von der Verseelung der Welt“ zu halten. Im Laufe der entstandenen Freundschaft mit Buber und einem regelmäßigen Briefwechsel entfernte sich Trüb von Jung und beschäftigte sich zunehmend mit der menschlichen Begegnung zwischen Therapeuten und Patienten. Seine psychotherapeutische Methode nannte er zunächst „Psychosynthese“, später „anthropologische Psychotherapie“ und beschrieb sie in seinem Buch „Heilung aus der Begegnung“. Trüb sah „[. . .] den Ursprung der Neurose darin begründet, dass das Selbst des Menschen sich auf der Flucht vor der partnerischen Begegnung mit der Wirklichkeit befindet“ (Trüb 1951: 48). „Die anthropologische Psychologie [. . .] kennt den Menschen auch als den autonomen, in sich geschlossenen Einzelnen [. . .] Aber im Unterschied zur Komplexen Psychologie ist seine abgeschlossene Individualität – nicht Ziel und Ergebnis ihrer Anstrengungen, sondern dieser Mensch verkörpert ihr in seiner Abgeschlossenheit und Vereinzelung einen Notzustand, der durchbrochen und überwunden werden soll“ (a. a. O.: 42). Zu Trübs Buch schrieb Buber selbst das Vorwort und sah in dessen Arbeit ein Beispiel für die gelungene Anwendung seiner Dialogphilosophie in der psychotherapeutischen Praxis. Das Buch erschien erst 1951 posthum. Es wurde von gemeinsamen Freunden Trübs und Bubers, Ernst Michel und Arie Sborowitz, vollendet.
Ernst Michel (1889–1964) war Soziologie-Professor an der Universität Frankfurt, begann nach seiner Entlassung 1933 eine psychotherapeutische Ausbildung und eröffnete später eine Praxis für „persönliche Psychotherapie“, die im Sinne von Bubers Ansatz geführt wurde. Arie Sborowitz (1899–1986), wie auch Hans Trüb ein Schüler von Jung, hatte eine psychotherapeutische Praxis in Jerusalem und bemühte sich, die „Lehren“ Bubers und Jungs in Einklang zu bringen.
Neben Trüb, Michel und Sborowitz war der niederländische Neuroanatom Rudolf Diepen (1912–2003) wohl der vierte Therapeut, welcher eine auf Bubers Denken basierende Psychotherapie praktiziert hat. Diepen war nach 1945 am Max-Planck-Institut in Gießen tätig und wandte sich nach der Begegnung mit Ernst Michel, dem Lesen von Bubers Schriften und der persönlichen Begegnung mit Buber 1962 in Jerusalem der Psychotherapie zu. Ebenfalls 1962 eröffnete er eine Praxis für Psychotherapie in Frankfurt/Main. In einem Brief an Buber vom 23.05.1963 schrieb Diepen, dass Psychotherapie nur „[. . .] allein auf der Basis jenes existentiellen Seins [. . .], das sich aus dem 'Erkennen des Ich und Du' ergibt“, ausführbar sei (zitiert nach Stiehm 2003: 97).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Buber in den Theorien und Methoden sowie im Welt- und Menschenbild der ihm wohl einzig bekannten psychotherapeutischen Richtung – der Psychoanalyse – eine Gefahr für die Unmittelbarkeit der Begegnung zwischen dem Patienten und dem Psychotherapeuten sah. Von Letzterem fordert er den Aufbau einer „dialogischen Beziehung“ zum Patienten, um diesen unvoreingenommen als ganze und einzigartige Person („Ich-Du“) und nicht nur als Objekt der Untersuchung und der therapeutischen Intervention („Ich-Es“) betrachten zu können. Buber versuchte, vor dem Hintergrund seiner prinzipiellen und speziellen Kritikpunkte an der Psychoanalyse, in verschiedenen Werken eigene Vorstellungen von der Psychotherapie zu entwickeln, ohne jedoch zu einer systematischen Darstellung zu gelangen. Die zu seiner Zeit bereits existierenden humanistischen Konzepte von Psychotherapie kannte er offenbar nicht, ging auf diese zumindest in keinem seiner Werke ein. Hingegen wurden sowohl das philosophische Werk Bubers im Allgemeinen als auch seine Stellungnahmen zur Psychotherapie im Speziellen bereits zu seinen Lebzeiten in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Wissenschaft aktiv rezipiert.
II. Die Rezeption von Bubers Denken in der deutschsprachigen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an ausgewählten Beispielen
Im ersten Kapitel wurden bereits einige Ärzte und Psychotherapeuten erwähnt, welche sich durch die persönliche Begegnung mit Martin Buber und seinen Gedanken in ihrer Praxis inspirieren ließen. Im vorliegenden Kapitel ist beabsichtigt, die Ausarbeitung des Themas fortzusetzen und die „klassische“ Umsetzung der Ideen Bubers in der Medizin und Psychotherapie ausführlich darzustellen.[11] Dass und wie herausragende Vertreter der Psychotherapie an Buber anknüpften, soll hier an drei charakteristischen Beispielen illustriert werden.
Zwei von ihnen, Viktor von Weizsäcker und Ludwig Binswanger, kannten Martin Buber persönlich und standen mit ihm in einem zum Teil sehr intensiven Austausch. Der zeitgenössische Psychiater und Psychotherapeut Jürg Willi ist ein Beispiel für eine bis heute fortdauernde Rezeption der Buber’schen Ideen.[12] Sie setzt die historische Auffassung seiner Werke, beispielsweise durch Ludwig Binswanger, fort und ergänzt diese, so dass die Reihenfolge: von Weizsäcker – Binswanger – Willi repräsentativ für den Einfluss Bubers in der Psychotherapie erscheint. Von außen betrachtet vertreten die genannten Autoren verschiedene berufliche Wirkungskreise: von Weizsäcker die somatische Medizin und Psychosomatik, Binswanger und Willi dagegen Psychiatrie und Psychotherapie, wobei Letzterer sich auf die Psychotherapie spezialisiert und darin u. a. unter Einbeziehung der Begegnungsphilosophie Bubers eigene Ansätze entwickelt hat. Von Weizsäcker und Binswanger hingegen strebten ihrer Zeit entsprechend die Humanisierung der Medizin im Allgemeinen und der Psychiatrie im Speziellen an. Mit dieser Auswahl lässt sich außerdem in drei aufeinander folgenden Subkapiteln die Umsetzung des Buber’schen Denkens sozusagen „von der Basis bis zur Spitze“ zeigen: im „allgemeinen Bereich“ der Medizin als Ganzes beginnend und nach der Zwischenstufe „Psychiatrie und Psychotherapie“ bei einem „engeren“ Gebiet der Psychotherapie, speziell der Paartherapie, endend.
II.1 Viktor von Weizsäcker
Viktor von Weizsäcker, Internist und Neurologe, beschäftigte sich in seinen jungen Jahren aktiv mit der physiologischen Forschung und bemühte sich um die Anwendung der Psychoanalyse Sigmund Freuds in der Inneren Medizin. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Ordinarius für Allgemeine Klinische Medizin an der Ludolf-Krehl-Klinik in Heidelberg und wurde mit seiner praktischen Arbeit und seinem umfassenden schriftlichen Werk zu einem bedeutenden Wegbereiter der psychosomatischen Medizin in Deutschland.
Von Weizsäcker war offensichtlich der erste Arzt, mit welchem Buber nach seiner Studentenzeit – als reifer Philosoph – in einem lebendigen persönlichen Austausch stand. Sowohl Buber als auch von Weizsäcker überschritten in ihrem Werk die Grenzen des eigenen Fachgebietes und wiesen ihr Leben lang mit bewundernswerter Eigenständigkeit und großem Selbstbewusstsein eine keiner Schule zuzuordnende Originalität im Denken auf. „Es war das mächtige geistige Fluidum Bubers, vor allem seine strenge Observanz des religiösen Apriori, das den Arzt faszinierte,“ sagte der Heidelberger Psychiater Hubertus Tellenbach in seinem Vortrag zum 100. Geburtstag Bubers 1978 und zitierte weiter von Weizsäcker, welcher vom Respekt vor der „geistigen Macht“ Bubers und der „Beunruhigung“ durch sie sprach (Tellenbach 2008/2009: 8).
Im gleichen Vortrag berichtete Tellenbach über die tiefer gehenden Ursachen der Gründung der Zeitschrift „Kreatur“ im Jahre 1926, in welcher von Weizsäcker seine damals wichtigsten Beiträge veröffentlichte: „[. . .] aus einer dunklen Ahnung, dass nur im Trigonum von Theologie, Philosophie und Medizin neues Leben sich entzünden könne, schloß Buber sich mit dem Protestanten v. Weizsäcker und dem kritischen Katholiken Joseph Wittig[13] zusammen“ (ebd.). Trotz anfänglicher Zweifel an der eigenen Herausgeberschaft schrieb von Weizsäcker später an Buber: „Unsere 'Kreatur' wird mir zur Herzensangelegenheit [. . .]“ und berichtete dann mit Erleichterung über „die Aussicht, eine Zeitlang fortlaufend mich aussprechen zu können“. In einem anderen Brief bekannte er Buber, dass seine Aufsätze in der „Kreatur“ ihn selbst weitergebracht hätten (Stiehm 2008/2009b: 15).
Es waren drei Aufsätze Weizsäckers, welche, vom Gedankengut Bubers beeinflusst, nach der Auffassung von Tellenbach die sogenannte „anthropologische Wende“ in der Medizin als Gegenposition zu einer reinen Versachlichung der Heilkunde einleiteten: „Der Arzt und der Kranke“, „Die Schmerzen“ und die „Krankengeschichte“. Alle drei Aufsätze trugen die Überschrift: „Stücke einer medizinischen Anthropologie“. Beim Lesen dieser und anderer Schriften von Weizsäckers ist der „Buber’sche Geist“ in der Sprache des praktischen Arztes deutlich wahrnehmbar. In „Der Arzt und der Kranke“ arbeitet von Weizsäcker heraus, dass nicht das naturwissenschaftlich und psychologisch Objektivierte das entscheidende Erkenntnismoment des Arztes im Umgang mit dem Patienten darstellt. Es geht nicht nur um die Krankheit, sondern auch um das „Krank sein “ eines Menschen. Das Ziel des ärztlichen Handelns ist „die wissenschaftliche Herstellung der Gemeinschaftlichkeit “ (Von Weizsäcker 2008a: 133). Mit der Frage des Arztes „Wo fehlt es dir“ „[. . .] ist die Sachlichkeit und das Urphänomen des Arztseins in die Wirklichkeit eingeführt. Dieses Alltägliche verdient mit Ernst, ja mit Feierlichkeit betrachtet zu werden.“ Und: „Dieser Anfang ist eine biographische Szene und ist zuerst ein Gespräch“ (a. a. O.: 137–138). Zur erwähnten Urszene sagte Tellenbach: „ Und in diesem Augenblick taucht der Schatten Martin Bubers auf; denn hier – in dieser anthropologischen Erhellung und Verdeutlichung des Gespräches 'Arzt-Patient' – ist Bubers 'dialogisches Prinzip' in seiner methodologischen Tragweite in die Medizin eingeführt. Die Klage des Ich (d. h. des Patienten) und die Frage des Du (d. h. des Arztes): diese Relation von 'Ich und Du' ist ärztliche Verifikation von Bubers fundamentalem Wissen um das Phänomen Anthropos“ (Tellenbach 2008/2009: 9). Von Weizsäcker schreibt: „das Erste ist nicht, daß ich das Ich erkennen muß, sondern daß ich mit ihm sprechen muß. Jetzt ist das Ich gar kein Ich mehr: es wird ein Du für mich. Das Ich, wir haben es gesehen, kann ja, da es das Subjekt für alles Objekt ist, eben darum niemals selbst Objekt 'werden', auch nicht für mich. Aber es kann doch 'für mich' werden, nur nicht 'Etwas', sondern 'Du'“ (Von Weizsäcker 2008a: 138–139). In „Die Schmerzen“ betont von Weizsäcker, dass keine objektive Wissenschaft eine Verbindung zwischen dem Nerv im entzündeten Gewebe und dem Leid des Patienten schlagen kann und der Schmerz damit immer die ganze Person betrifft. Die Medizin muss nach Weizsäcker immer „den ganzen Menschen“ meinen (Von Weizsäcker 1987: 27–47). In „Krankengeschichte“ beschreibt von Weizsäcker schließlich die Erfahrung des gleichen Patienten mit fünf verschiedenen Ärzten, welche ihn unterschiedlich behandeln, da jeder Arzt leider nur die einzelnen Aspekte (mal mehr somatische, mal mehr psychische) seiner Erkrankung sieht und dementsprechend nur sehr eingeschränkt wirksame Behandlungsmethoden anwendet. Dabei unterstreicht von Weizsäcker die Notwendigkeit der „biographischen Methode“, um alle möglichen Zusammenhänge zwischen der Lebensgeschichte des Patienten und seinem (auch „nur“ körperlichem) Leiden zu verstehen, was ein dialogisches Denken und Handeln von ärztlicher Seite erfordere (Von Weizsäcker 2008b: 164–188).
Die wichtigsten Bemühungen von Weizsäckers brachte Richard Siebeck in seinem Aufsatz „Medizin in Bewegung“ (1953) auf den Punkt: „Viktor von Weizsäcker erfuhr [. . .], daß nur aus persönlicher Zuwendung echtes Verständnis des Kranken gewonnen werden kann, während das Geheimnis des Krankseins unerhellt bleibt, solange der Kranke dem Arzt nur als Objekt gegenübersteht“ (Stiehm 2008/2009b: 14). In seinem Aufsatz „Soziale Krankheit und soziale Gesundung“ im Abschnitt „Die Situationstherapie“ beschreibt von Weizsäcker die drei ärztlichen Haltungen dem Patienten gegenüber: die „obrigkeitliche“, die er am meisten kritisiert, die Haltung der „wohlwollenden Distanzierung“ und „diejenige Haltung, welche allein geeignet ist, die Neurose nicht zu isolieren (und damit zu konservieren), sondern zu brechen [. . .]“ (von Weizsäcker 1986: 50). Diese letztere Haltung nennt er in Anlehnung an Buber, was er selbst ausdrücklich betont, „die umfassende“: „Sie besteht darin, dass der Arzt von Anfang an durch Eröffnung einer Arbeitsgemeinschaft mit dem Kranken mit ihm sozusagen an den Tatort der Neurose geht, als ob er selbst in derselben Situation stünde und so, was die Erkenntnis- und Urteilsbildung anlangt, sich ihm hinsichtlich der Ebene gleichstellt. Dabei bleibt seine Autorität als Kenner der Krankheit [. . .] unangetastet“ (a. a. O.: 50–51).
Das „geistige Fluidum Bubers“ (Tellenbach 2008/2009: 8) wird in den Schriften Viktor von Weizsäckers weiterhin spürbar, wenn man einen Versuch der Gegenüberstellung der Begrifflichkeit beider unternimmt. Wo es bei Buber um „Unmittelbarkeit“, „Wahrhaftigkeit“, „Innewerden“, „Vergegenwärtigung“, „Akzeptation“ und „Gegenseitigkeit“ geht, spricht von Weizsäcker über die „Biographik“ und „Erschließungsgeschehen“: Der „Anfang ist eine biographische Szene und ist zuerst ein Gespräch“, „Was wird dieser Mensch?“, „die Heilbehandlung besteht ja nur aus der Berührung zweier Menschen“ (Kreß 2011: 40–43). Auch bei den anderen Autoren sind ähnliche Vergleiche der Begriffe und Ausdrücke zu finden. „Was Buber 'Umkehr' und 'Besinnung auf den eigenen Ort' nennt,“ – siehe dazu Kapitel IV dieser Arbeit – „wird bei von Weizsäcker [. . .] zu 'Umgang', zum 'Gesetz der Gegenseitigkeit', zur 'Selbstverborgenheit', zu 'Komplementarität und Simultanität'“ (Petzold E R und Petzold U 2001: 100).[14]
Auch im Spätwerk Viktor von Weizsäckers ist „die geistige Verwandtschaft“ mit Buber offensichtlich. In „Pathosophie“ („Weisheit des Leidens“), geschrieben 1948–1951, erarbeitet von Weizsäcker im 1. Teil die „ontischen“ und die „pathischen“ „Bestimmungen der Existenz“. Während die ersteren mit ihrem Bezug zur Gedankenwelt, Sachlichkeit, Logik, Zweckbestimmtheit, Objektivität und Wissenschaftlichkeit eine Entsprechung der Buber’schen „Es-Welt“ darstellen, stimmen die letzteren mit ihrer Nähe zur Emotionalität, Spontaneität, Unmittelbarkeit, Leidenschaftlichkeit, Subjektivität und Schicksalshaftigkeit mit der „Du-Sphäre“ überein. Ähnlich wie die „Es-“ und „Du-Welt“ bzw. „Ich-Es-“ und „Ich-Du-Beziehung“ bei Buber im realen Leben ohne einander nicht vorstellbar sind, bestimmen auch die Weizsäcker’schen Kategorien „Ontisch“ und „Pathisch“ ausschließlich gemeinsam, in unterschiedlicher Proportion, unser Dasein. Im „Umgang mit Dingen und Menschen“ unterscheidet von Weizsäcker u. a. die drei „Partner des Umgangs“; es sind die „Ich-Du-Begegnung“, die „Ich-Ding-Begegnung“ und die (narzisstische) „Selbstbegegnung“ (Achilles et al. 2005: 68).
In seinem 1946 gehaltenen Vortrag „Von den seelischen Ursachen der Krankheit“ spricht von Weizsäcker den alten jüdisch-chassidischen Gedanken aus, welcher auch von Buber stammen könnte: „Die Welt besteht nicht aus lokalen Ereignissen, sondern sie ist ein kollektiver, zusammenhängender Vorgang [. . .], unser gemeinsames Schicksal erst belehrt uns, dass wir gar nicht nur um uns selbst kreisen, sondern nur ein beschränkter Teil eines größeren, eines gemeinschaftlichen Vorganges sind. Es ist also niemals möglich, die Krankheiten nur individualistisch zu betrachten [. . .]“ (Von Weizsäcker 2008c: 242).
Bereits früh wurde die Bedeutung des u. a. auf der Dialogphilosophie Bubers aufgebauten anthropologischen Denkens von Viktor von Weizsäcker durch Psychiater und Psychotherapeuten anerkannt. In „Geschehnis und Erlebnis“ (1931) schrieb Ludwig Binswanger, dass „mit der von Weizsäckerschen 'Situationstherapie' (bei der übrigens die Persönlichkeit des Arztes als des Mittlers zwischen Patient und Gemeinschaft eine besonders große Rolle spielt) so überraschende Erfolge zu erzielen sind“ (Binswanger 1994a: 196).
In Anerkennung der herausragenden Bedeutung der Philosophie Bubers für die ärztliche Grundhaltung wurde Buber selbst 1962 von der Medizinischen Fakultät der Universität Münster ein Ehrendoktortitel der Medizin verliehen, im Diplom hieß es: „Die Fakultät würdigt damit den Menschen und Philosophen, der durch sein Wirken und Schaffen wesentlich zu einer Vertiefung, Verinnerlichung und geistigen Durchdringung des Arztseins beigetragen hat. Sie dankt ihm für die Erneuerung der dialogischen Unmittelbarkeit, die eine übliche Routine in der Begegnung des Arztes mit seinem Patienten negiert, indem sie ihn zu einer über das ausschließlich beobachtete Beurteilen hinausgehenden personalen Vergegenwärtigung seines Gegenübers zwingt. Wir sehen mit ihm die Krisis des modernen Menschen als die Krisis des Zwischenmenschlichen und bewundern dankbar die Fülle der dem Arzt helfenden Erkenntnis“ (Stiehm 2008/2009a: 5).
II.2 Ludwig Binswanger
Ludwig Binswanger (1881–1966) war ein Schweizer Psychiater und langjähriger Leiter der von seinem Vater und Großvater geerbten Klinik „Bellevue“ in Kreuzlingen am Bodensee. Unter anderem war er Ehrendoktor der philosophischen Fakultät der Universität Basel und Ehrenmitglied vieler wissenschaftlicher Vereinigungen. Dabei blieb Binswanger – ganz in der Tradition seiner Vorfahren – sein Leben lang in einem engen und persönlichen Kontakt mit seinen Patienten. Bereits als Kind war er mit dem Alltag der psychisch Kranken und der für die damalige Zeit vorbildlichen Einstellung seines Vaters als „Anstaltsleiter“ den Patienten gegenüber vertraut. Seine psychiatrische Ausbildung absolvierte Binswanger in Zürich bei Eugen Bleuler und Carl Gustav Jung, welche sich um die Integration der Psychoanalyse in die Psychiatrie bemühten, sowie in Jena bei seinem Onkel Otto Binswanger. Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters musste er mit knapp dreißig Jahren die Klinikleitung übernehmen.
In der von Binswanger geleiteten Klinik wurde eine individuelle, patientenorientierte Behandlungsweise praktiziert. Die Binswanger’sche Rezeption der Psychoanalyse war eher eine kritische. Letztendlich schloss sich Binswanger keiner wissenschaftlichen Schule an und verfolgte sowohl psychiatrisch-psychotherapeutisch als auch philosophisch seinen eigenen Weg. Die Psychopathologie verstand er als die Möglichkeit, die Welten der Kranken deskriptiv zu erfassen. „Die herausragende Leistung Binswangers besteht [. . .] in seiner Grundlegung der Psychopathologie, die dem Ansatz folgt, um den auch die gegenwärtigen methodologischen Probleme fast aller Humanwissenschaften kreisen, wenn es darum geht, den Menschen nicht als cartesianisch isoliertes, denkendes Wesen, sondern in seiner Verflochtenheit mit der Welt zu untersuchen,“ schreibt der Herausgeber seiner Werke Max Herzog (Herzog 1992: XXXVIII–XXXIX).
Martin Buber und Ludwig Binswanger lernten sich über Hans Trüb (s. o.: 15–16) kennen und fanden viele Gemeinsamkeiten in ihren Gedanken. Das belegt vor allem der Briefwechsel zwischen den beiden 1933–1962. Aus den Briefen geht hervor, dass Binswanger und Buber regelmäßig die eigenen Schriften ausgetauscht haben. Dabei nimmt Binswanger überwiegend Stellung zu Bubers Werken über das dialogische Prinzip. Im Brief an Buber vom 7. Februar 1933 ist eine Art Selbstdefinition Binswangers zu finden, gleichzeitig bekennt er sich zur in Bubers „Zwiesprache“ vorherrschenden Denkrichtung: „Da ich schon früh zur Leitung eines 'großen Betriebs' berufen wurde, zugleich aber Arzt bin, und gern immer mehr Mensch werden möchte, ist der hier angezeigte Weg der Weg meiner totalen Existenz“ (Mendes-Flohr und Schäfer 2008: 179). In einem weiteren Brief vom 17. November 1936 gesteht Binswanger nach der Lektüre von Bubers „Die Frage an den Einzelnen“ seine philosophische Nähe zu Buber: „Ich vermag nicht nur überall mit Ihnen zu gehen, sondern sehe in Ihnen auch einen Bundesgenossen nicht nur gegen Kierkegaard, sondern auch gegen Heidegger, dem ich methodisch zwar aufs tiefste verpflichtet bin, dessen Daseinsauffassung (Dasein als je meines) [. . .] doch noch ganz auf der Linie Kierkegaards liegt“ (a. a. O.: 180).[15]
Das Erscheinen des Hauptwerkes von Binswanger „Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins“ (1942) war für Buber der „äußere Anstoß“, nach einer etwa zehnjährigen Kontaktunterbrechung, bedingt durch die Ausreise Bubers nach Palästina und die Kriegszeit, die persönliche Verbindung mit Binswanger nach dem zufälligen Lesen der Anzeige über das Buch wieder herzustellen, wie er im Brief an Binswanger vom 4. Juni 1946 schreibt (Mendes-Flohr und Schäfer 2008: 180).
In diesem Buch, wie auch in anderen Werken, reflektiert Binswanger die methodische Vorgehensweise der Psychiatrie und fordert ganz im Sinne Bubers, bei jedem Patienten seine besondere Weise des „In-der-Welt-Seins“ unabhängig von Diagnosen, zugrunde liegenden Theorien etc. zu verstehen. Ähnlich wie auch die Biographik von Viktor von Weizsäcker bemüht sich die Binswanger’sche „Daseinsanalyse“ als Grundlage der Psychiatrie und Psychotherapie um die Unvoreingenommenheit und „Ganzheit“ im Blick auf den Patienten. In seinem im Rahmen des 2. internationalen Kongresses für Psychotherapie im August 1954 gehaltenen Vortrag „Daseinsanalyse und Psychotherapie“ sagte Binswanger: „[. . .] der Daseinsanalytiker [. . .] wird [. . .] immer mit seinen Kranken auf derselben Ebene, der Ebene der Gemeinsamkeit des Daseins nämlich, stehen. Er wird den Kranken also nicht zu einem Objekt machen, gegenüber sich selbst als einem Subjekt, sondern wird in ihm den Daseinspartner sehen. Das Verbindende zwischen beiden Partnern wird er demnach nicht [. . .] als 'psychischen Kontakt' bezeichnen, sondern als Begegnung auf dem, wie Martin Buber sagt, 'Abgrunde des Daseins', welches wesensmäßig nicht nur als Selbst, sondern auch als Mitsein und als Miteinandersein oder Liebe 'in der Welt ist'“ (Binswanger 1994c: 261).
Einerseits stellt die „Daseinsanalyse“ oder „Existenzielle Analyse“ einen Versuch der Verbindung zwischen Psychoanalyse und Existenzphilosophie dar, andererseits orientiert sie sich an der Buber’schen Auffassung der Ich-Du-Begegnung als einer zwischenmenschlichen Realität. Es gibt eine deutliche Verbindung zwischen der Daseinsanalyse und der Dialogphilosophie, wobei Binswanger selbst in seinen Briefen an Buber mindestens zweimal die Bedeutung der Ideen Bubers für sein eigenes Werk unterstreicht. So schreibt er am 4. Juli 1946, er habe sich „in der phänomenologischen Analyse der Liebe weitgehend auf [. . .] 'Ich und Du' gestützt“ (Herzog und Braun 1993: XXVII). Im Vorwort zur 3. und 4. Auflage der „Grundformen. . .“, geschrieben im März 1962, würdigt Binswanger auch die Bedeutung anderer Philosophen wie Husserl, Heidegger und Löwith für sein zentrales Werk. Aber über die Schrift von Karl Löwith „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ schreibt er z. B., dass dort zwar „das Mitsein von Einem und Anderen schon sehr feinsinnig analysiert, das liebende Miteinandersein von Mir und Dir aber noch nicht gewürdigt wurde. Das letztere trat in den Mittelpunkt des Interesses durch die Schriften Martin Bubers [. . .]“ (Binswanger 1993: 3).
Bubers programmatischer Satz „Die Krankheiten der Seele sind Krankheiten der Beziehung“ (s. o.: 13) findet so eine fachliche Bestätigung und Ausarbeitung im Werk Binswangers. „Die Verabsolutierung einer einzelnen Idee, das Verrannt- und Verrücktsein [. . .]“, schreibt Eckart Wiesenhütter, „ist nach Binswanger nur möglich, wo sich das Dasein aus seiner eigentlichen Heimat des Über-sich-hinaus-Seins, aus Begegnung und Freundschaft, aus Communicatio und Communio, letztlich aus der 'Ewigkeit der Liebe' und dem Vertrauen zum Sein verbannt hat. Es bleibt nur der Umgang mit sich selbst, bis auch dieser im Hinstarren auf das einzige Problem leerläuft und Wahn und Nichts resultieren“ (Wiesenhütter 1979: 278).[16]
Eine detaillierte Ausarbeitung und Gegenüberstellung der dialogphilosophischen Schriften Bubers und der „Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins“ Binswangers würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen, so dass wir uns hier lediglich auf einen kurzen Exkurs über dieses Hauptwerk Binswangers beschränken müssen, um den wesentlichen Merkmalen seiner Rezeption Bubers näher zu kommen.[17]
Die Grundformen menschlichen Daseins sind nach Binswanger die Liebe, die Existenz und der Verkehr oder der Umgang mit den anderen oder mit sich selbst. In einem Brief schrieb Binswanger, dass sein Anliegen u. a. war, „zu zeigen, wie anders das Menschsein ist und in Erscheinung tritt, wenn man es von der Liebe her interpretiert, statt von der Existenz. Auch das Verstehen des Mitmenschen und die psychologische Erkenntnis überhaupt lassen sich ohne Einbeziehung der Liebe nicht 'verstehen'“ (Herzog und Braun 1993: XVII). Ursprünglich plante Binswanger, sein Hauptbuch „Psychologische Erkenntnis“ zu nennen. Zu den Voraussetzungen dieser Erkenntnis gehört seiner Meinung nach einerseits die Tatsache, dass sie voll nur vom „Wir“ aus zugänglich ist, andererseits ist diese Erkenntnis kein einseitiges Verhältnis, sondern „das Frage-Antwort-Spiel des Daseins mit sich selbst“ (a. a. O.: XXXVII). An diesen zwei Punkten findet sich eine deutliche Übereinstimmung mit Buber: Begegnung ist als Grundsatz, als „Grundwort“ des Lebens zu verstehen und das wahre Sein trägt dialogischen Charakter. Auch Binswangers Kritik der Psychologie und ihrer Methoden deckt sich nahezu mit der Buber’schen Kritik des „Psychologismus“ (s. o.: 12–13, 16). So stellt Binswanger der „geistlosen Menschenkennerei“ und der „rein objektivierend verfahrenden empirisch-wissenschaftlichen Psychologie“ die Liebe und die „echte psychologische Erkenntnis“ gegenüber. Diese Erkenntnis verliert aber „[. . .] um so mehr an Wahrheit und Tiefe, je objektivierender sie zu verfahren glaubt“ (Binswanger 1993: 526–527).
Binswanger spricht von der Methode der psychologischen Erkenntnis als „ Wagnis der Versöhnung von Liebe und Sorge “ (Binswanger 1993: 536). Die beiden Worte sind dabei ein existenzielles Paar wie die Buber’schen „Ich-Du“ und „Ich-Es“. Das letzte (die Sorge), ähnlich wie „Ich-Es“, ist ein unvermeidbarer und sogar wichtiger integraler Bestandteil des Lebens. Jedoch genügt „zur eigentlichen Wirkung der Psychotherapie dieses Vertragsverhältnis nicht [. . .], sondern dass sich aus den Vertragspartnern, dem Notleidenden und dem Helfenden, eine echte Ich-Du-Beziehung herausgestalten muß [. . .]“ (Binswanger 1993: 208).
Insbesondere im 1. Kapitel der „Grundformen . . .“, in welchem Buber insgesamt elfmal zitiert bzw. erwähnt wird, „übersetzt“ Binswanger die Philosophie der Ich-Du-Begegnung in die Sprache des praktizierenden Psychiaters. „Das Miteinandersein von Mir und Dir“ (Titel des 1. Kapitels) wird hier differenziert. Dementsprechend heißen auch die zwei Subkapitel: „Das liebende Miteinandersein“ und „Das freundschaftliche Miteinandersein“. Der berühmte Satz Bubers aus „Ich und Du“: „Der Mensch wird am Du zum Ich“ (Buber 2002: 32) findet seine etwaige Entsprechung im Binswanger’schen „Erst aus der Wirheit entspringt [. . .] die Selbstheit“ (Binswanger 1993: 112). Binswanger führt einige Gedanken Bubers weiter und entwickelt z. B. neben der erwähnten „Wirheit“ auch den Begriff der „dualen Wirheit“, welche im Gegensatz zu einer „pluralen Wirheit“ kein Nebeneinander darstellt, sondern eine volle Gegenseitigkeit der Beziehung, eine sichere Einheit. Außerdem entwickelt Binswanger eine Lehre von den „Verfallsformen der Liebe“, indem er sich auf den Gedanken Bubers über die Unvermeidlichkeit und sogar Notwendigkeit des gleichzeitigen Existierens der „Ich-Es-“ und „Ich-Du-Beziehung“ (s. o.: 8) beruft. So ist „Verfall“ nach Binswanger nicht nur die stetige Verwandlung des Du in ein Objekt für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse (also in eine „Ich-Es-Beziehung“) sondern auch eine „mystische Vergottung“ des Du mit Verleugnung der sorgenerfüllten Existenz selbst im besten menschlichen Miteinandersein (eine eingeschränkt und einseitig verstandene „Ich-Du-Beziehung“) (Binswanger 1993: 145). Ähnlich verhält es sich auch mit der Einstellung des Psychotherapeuten dem Patienten gegenüber. Auch hier darf man keiner Einseitigkeit gegenüber dem Hilfesuchenden „verfallen“, was Binswanger in seinem 1934 vor Medizinstudenten in Amsterdam und Groningen gehaltenen Vortrag „Über Psychotherapie“ treffend auf den Punkt gebracht hat: „[. . .] als ärztlicher Psychotherapeut werde ich niemals 'nur' der Freund oder Liebende des Kranken sein können [. . .], werde [. . .] aber auch niemals nur im Dienst an der Sache aufzugehen vermögen. Ein guter Psychotherapeut wird immer der sein, der, um mich eines ausgezeichneten Ausdrucks von Martin Buber zu bedienen, die in jenem dialektischen Verhältnis waltende Kontrapunktik richtig zu sehen und kunstgemäß auszuüben vermag“ (Binswanger 1994b: 208). Ähnlich verhält es sich auch mit der gegenseitigen Ergänzung von „objektiver Wissenschaft“ und „echter“, also beziehungsorientierter psychologischer Erkenntnis im Einzelfall.[18]
Ebenfalls psychotherapeutisch relevant sind in den „Grundformen . . .“ die Gedanken Binswangers zur „Ich-Du-Begrenzung:“ „Indem ich die Begrenzung und 'Konsolidierung' Meiner- selbst durch Deine 'Gegenwart', d. h. durch Dein Gegenwärtigen und Gegenwähren (BUBER) als Geschenk annehme und anerkenne, werde Ich, statt liebend auszuschweifen, auf 'Mich- selbst' zurückgewiesen. Und je mehr ich dich liebe, desto 'lieber' erfahre ich jene Begrenzung, wachse Ich- selbst an Dir (und umgekehrt)“ (Binswanger 1993: 122).
Auch in seiner Raummetaphorik ist Binswanger sprachlich an Buber orientiert und formuliert dementsprechend „das oberste Raumprinzip Wir“: „die Begegnung der Liebenden als Liebende räumlicht gerade den 'Raum' des liebenden Miteinanderseins, ist sie doch nur ein anderer Ausdruck für das liebende Einräumen, nämlich für die Erschliessung des Wir-Raumes, der Räumlichkeit des Einander, des Ich und Du. Diese Begegnung kann mitweltlich 'in' einem Blick, einem Gruß, einem Wort, einem Händedruck, einer Tat, einer Gesinnung, 'Phantasie' oder 'Idee' 'in Erscheinung treten', [. . .], 'erlebt' werden, alles Ausdrücke dafür, dass sich in und mit ihr eine neue 'Welt' öffnet oder erschließt, eben die 'Welt' des liebenden Wir“ (Binswanger 1993: 72).
Ähnlich wie Viktor von Weizsäcker maßgeblich zur anthropologischen Wende in der Medizin insgesamt beigetragen hat, leistete Ludwig Binswanger mit seinem Werk der anthropologischen Psychiatrie als einer der wichtigen Arbeits- und Denkrichtungen der modernen Psychiatrie einen kräftigen Vorschub.
II.3 Beziehungsökologische Psychotherapie von Jürg Willi
Jürg Willi wurde am 16. März 1934 in Zürich geboren. Nach dem Medizinstudium in Fribourg, Wien, Paris und Zürich absolvierte er die Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich (Burghölzli) bei Manfred Bleuler. Wie Willi selbst schreibt, wandte er sich bereits 1965 der Paar- und Familientherapie zu, „schon damals aus Interesse an personübergreifenden Prozessen“ (Willi 2007a: 13). Bis 1999 leitete Willi die Psychiatrische Poliklinik des Universitätsspitals Zürich und war Ordinarius für Ambulante Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Krankheiten; seit 1999 leitet er das Institut für ökologisch-systemische Therapie in Zürich.
Den „ökologisch-systemischen“ Ansatz in der Paartherapie entwickelte Jürg Willi ab Mitte der 1980er Jahre, dabei führte er den zentralen Begriff der „Koevolution“ ein; es handelt sich dabei um die „gegenseitige Beeinflussung der persönlichen Entwicklung von Partnern im Zusammenleben“, ganz im Sinne des Buber’schen „Das Ich wird am Du“ (Limacher 2007: 214). In der Tat schreibt Willi in mehreren seiner Bücher ausführlich über Buber und bekennt sich mit spürbarer Leidenschaft zu dessen Begegnungsphilosophie (Willi 2002: 53–55), (Willi 2007a: 53–55), (Willi 2007b: 127–131). Dabei gibt Willi an diesen Stellen die wesentlichen Inhalte der Buber’schen Dialogphilosophie wieder und betont die ausschlaggebende Bedeutung des „Ich und Du“ (s. o.: 8) als philosophische Grundlage der von ihm entwickelten Richtung der Paartherapie. Anschließend formuliert er die drei wesentlichen Themenbereiche seiner Rezeption Bubers. Diese werden von ihm in seiner therapeutischen Konzeption in seinem Gesamtwerk ins Praktische übersetzt und ausgearbeitet, worauf in diesem Kapitel noch eingegangen wird: Es geht um die Begriffspaare „Person und Eigenwesen“ bzw. „Person und Individuum“, um die „Selbstverwirklichung“ sowie um den Begriff und die Problematik des „Dazwischen“ (bzw. des „Zwischen“).
Eine andere Bezeichnung des von Willi entwickelten Therapieansatzes lautet „ökologische“ oder „beziehungsökologische“ Psychotherapie. Das Wort „ökologisch“ deutet einerseits auf eine aktive Einbeziehung der Umgebung, der Umwelt einer Person und impliziert andererseits die Ausrichtung auf den Schutz der Beziehung – eben auf ihre „Ökologie“ –, trotz unvermeidbarer Spannungen und Konflikte. Dabei unterscheidet sich nach Willi die therapeutische Anwendung der ökologischen Theorie von der systemischen Paar- und Familientherapie dadurch, dass sie die Entwicklung des Menschen als Beziehungswesen ins Zentrum stellt. „Die ökologische Psychotherapie arbeitet eine Dimension der Psychotherapie besonders heraus, die bisher wenig beachtet worden ist, nämlich die Beziehung der Person zu der von ihr geschaffenen Umwelt [. . .]. Ausgegangen wird von der Grundannahme, dass der Mensch sich nicht aus sich selbst, sondern in den Spannungsfeldern seiner Beziehungen entwickelt [. . .]“ (Willi 2005: 21). Auch für die „Erscheinungsweise“ einer Person ist nicht eine Persönlichkeitsstruktur, sondern die „Beziehungsstruktur“ der Person in ihrer Welt maßgeblich (Willi 2007a: 72).
Darauf begründet sich auch die von Willi dargestellte ökologische Sicht der Selbstverwirklichung, welche sich von einer individualistisch oder abgrenzend verstandenen Selbstverwirklichung abhebt (Willi 2007a) und auf der Buber’schen Auffassung des Unterschiedes zwischen einem „Individuum“ (bzw. „Eigenwesen“) und einer „Person“ beruht (s. o.: 12). Wenn man sich als Person, also als ein sich in Beziehungen befindendes Individuum verwirklicht, bedenkt man u. a. die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die anderen Menschen. Diese scheinbare Einschränkung der eigenen Freiheit führt jedoch dazu, dass man von Seiten der Mitmenschen auf unterschiedliche Art und Weise Hilfe zum eigenen Wachstum bekommt: „Aus der Perspektive übergreifender Prozesse können unausgegorene und unvollkommene Strebungen des Einzelnen durch die korrigierenden Interaktionen des Beziehungssystems zu einem nutzbringenden und ausgewogenen Ganzen beitragen. Das verhilft dem Einzelnen zu der Erfahrung, dass er trotz eigener Unausgeglichenheit mit anderen zusammen fruchtbar zu werden vermag“ (Willi 2007a: 61). Außerdem wird damit „Die Einsamkeit der Selbstverwirklichung [. . .] in deren Transzendierung aufgehoben“ (a. a. O.: 40). „Mit ökologischer Selbstverwirklichung ist eine Form von Selbstverwirklichung gemeint, die sich in menschlichen Beziehungssystemen, das heißt als Prozess der Koevolution in einer gemeinsamen (Um-) Welt ergibt“ (a. a. O.: 48).
[...]
[1] Die vorliegende Untersuchung folgt dem Duktus und der Methodik geisteswissenschaftlicher Forschung (s. auch S. 49–50). Zur „Übersetzung“ in die Gliederung empirischer Arbeiten in der Medizin kann man Kapitel I–III als Darstellung der Ausgangssituation und der Literaturlage im Sinne von Vorarbeiten verstehen, Kapitel IV als methodische Durchführung der Fragestellung, das fünfte Kapitel als Darstellung der Ergebnisse und das sechste als Diskussion.
[2] Diese Themenbereiche sind z. B. „Kulturkritik“, „Literatur und Theater“, „Kunst“, „Chinesische Philosophie und Literatur“, „Sprachphilosophie“, „Politische Philosophie und Sozialphilosophie“, „Philosophie und Religion“, „Das dialogische Prinzip“, „Judentum“, „Chassidismus“, „Christentum“, „Jugend, Erziehung und Bildung“ usw. Die Bände zu den genannten Themen erscheinen seit 2001, hrsg. von Paul Mendes-Flohr, Peter Schäfer und Bernd Witte im Gütersloher Verlagshaus.
[3] Michael Theunissen spricht in diesem Zusammenhang von dem „die Philosophie übersteigenden Ziel der Dialogik Bubers“: „Liegt doch das Ziel des philosophischen Gedankens für Buber selber nur auf dem Weg zu Gott“ (Theunissen 1977: 330).
[4] Zu diesem Thema sei auf die hervorragende Studie von Siegbert Wolf „. . .vom Gebot einer Gerechtigkeit getrieben und das Herz von ihm bewegt – Martin Buber und Deutschland nach der Shoah“ hingewiesen (Wolf 2013: 213–252).
[5] Inwieweit auch Frankl selbst von Ideen Bubers tatsächlich beeinflusst wurde, ist nicht eindeutig geklärt; es ist bekannt, dass er aus anderen philosophischen Quellen schöpfte, vor dem Zweiten Weltkrieg aber auch aktiv mit Buber korrespondierte, wobei die gesamte Korrespondenz vernichtet wurde. 1955 kam es zu einer persönlichen Begegnung Frankls mit Buber in Israel.
[6] Umgekehrt nahmen und nehmen wohl insbesondere die späteren Gestalttherapeuten bis heute intensiven Bezug auf Buber, s. dazu z. B. „Der heilende Dialog in der Psychotherapie“ von Maurice Friedman (Friedman 1987: 13, 137–146).
[7] In der heutigen phänomenologisch-ökologischen Konzeption der seelischen Erkrankungen wird das psychische Kranksein als ein „zirkuläres Geschehen“ zwischen dem Gehirn als Teil des Organismus und der Umwelt gesehen, so kann die psychische Krankheit „[...] ebensowenig als rein individuelle Störung, also ohne ihren interpersonalen Aspekt betrachtet werden. Psychische Erkrankungen sind unabhängig von ihren Ursachen grundsätzlich immer [. . .] Beziehungsstörungen “ (Fuchs 2008: 266).
[8] Die zum Teil jedoch sehr unterschiedlichen Ansichten von Buber und Rogers wurden z. B. ausführlich in der Studie von Harald Beck „Buber und Rogers. Das Dialogische und das Gespräch“ (Beck 1991) analysiert.
[9] Auch die philosophische Anthropologie entstand trotz tiefer geschichtlicher Verwurzelung als eigenständige Richtung der Philosophie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und führte stärker als in der bisherigen philosophischen Tradition die Diskussion um den ganzen Menschen sowie seine Position und seinen Sinn in der Welt. In der Nachfolge von Max Scheler (1874–1928) und Helmuth Plessner (1892–1985) könnten hier „drei Linien in der Konkretisierung [...] unterschieden werden“: die von Karl Jaspers (1883–1969), geprägt von Søren Kierkegaard (1813–1855) („Existenzphilosophie“), die Schule von Martin Heidegger (1889–1976) als Nachfolge von u. a. Edmund Husserl (1859–1938) („Fundamentalontologie“) und „die Strömung des französischen Existentialismus, vorrangig geprägt durch Jean-Paul Sartre (1905–1980) [...]“ (Beck 1991: 17). Eine andere wesentliche Eigenschaft der neueren philosophischen Anthropologie war die „Entdeckung des anderen als Person und die Überwindung des ausschließlichen Subjekt-Objekt-Bezuges im philosophischen Denken [. . .]“ (a. a. O.: 15).
[10] Zu erwähnen wären in diesem Zusammenhang z. B. Franz Rosenzweig (1886–1929), Ferdinand Ebner (1882–1931), Hans Ehrenberg (1883–1958) und Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973).
[11] Unter „klassischer“ Umsetzung wird sowohl die historische als auch die gegenwärtige Auseinandersetzung mit den Leitthemen der Buber’schen Philosophie, nämlich Dialog, Begegnung und Beziehung, verstanden als auch ihre Rezeption und Übersetzung in die praktische Gestaltung des ärztlichen und psychotherapeutischen Wirkens.
[12] Die fortdauernde Rezeption der Buber’schen Dialogik geschieht außerdem besonders intensiv in der Gestalttherapie sowie wohl in der sogenannten relationalen Psychoanalyse, welche der klassischen Psychoanalyse Freuds das zentrale Konzept der Intersubjektivität entgegensetzt und somit den Vorstellungen Bubers über die notwendige Modifizierung der Freud’schen Psychoanalyse (s. o.: 12–13) entspricht.
[13] Joseph Wittig (1879–1949) war ein deutscher Theologe und Schriftsteller, seit 1911 außerordentlicher Professor für Alte Kirchengeschichte und Kirchliche Kunst an der Theologischen Fakultät der Universität Breslau. Wittig setzte sich für Reformen in der katholischen Kirche ein, was zu den Auseinandersetzungen mit seiner Amtskirche und 1926 zur Exkommunikation führte. Danach heiratete er und war überwiegend als Schriftsteller tätig.
[14] Besonders ausführlich und differenziert wurde das enge Verhältnis von Gedanken von Weizsäckers zur Dialogik Bubers insgesamt sowie am Beispiel der von Weizsäcker’schen „Gestaltkreislehre“ von Stefan Emondts in seinem Buch „Menschwerden in Beziehung“ ausgearbeitet und analysiert (Emondts 1993: 386–457).
[15] Neben Buber und wenigen anderen Philosophen stellte Heidegger eine der wichtigsten Inspirationsquellen für Binswanger dar, von Heidegger übernahm er u. a. auch den Begriff „Dasein“ und entwickelte ausgehend von der Heidegger’schen „Daseinsanalytik“ seine eigene therapeutische Grundeinstellung bzw. Methode, welche er „Daseinsanalyse“ nannte. Nach dem Verständnis von Binswanger, mit seinen Begriffen gesprochen, anerkannte Heidegger aber überwiegend die „Eigenwelt“ (intrapsychische Vorgänge) und die „Umwelt“ (nicht lebendige Umgebung) einer Person und unterschätzte die Bedeutung der „Mitwelt“ („Miteinandersein“). Bei der Binswanger’schen Kritik an Heidegger handelte es sich laut Eckart Wiesenhütter um ein „anthropologisch-psychologisches Mißverstehen der Daseinsanalytik“, welches aber das Werk Binswangers befruchtete. Die Heidegger’schen Begriffe wie „Dasein“, „Angst“, aber auch die „Mitwelt“ usw. seien in philosophischen Kategorien erfasst und nicht auf konkrete Menschen bezogen worden, wurden wohl jedoch aus verständlichen Gründen von Binswanger im Sinne der „Kategorien des Seienden“ statt „Kategorien des Seins“ psychologisch aufgefasst. Dies führte auch dazu, dass „[. . .] Binswanger die Aussagen Heideggers über die Sorge ergänzen zu müssen glaubte durch Ausführungen über die Liebe“ (Wiesenhütter 1979: 290–292). Dieser Meinung widerspricht jedoch die Aussage von Binswanger selbst: „Der Kern meiner Abweichung von Heidegger lag übrigens weniger darin, dass ich die Fundamentalontologie anthropologisch missverstand, als umgekehrt darin, dass ich die Liebe, [. . .], ontologisch zu verstehen suchte“ (Binswanger 1993: 5). So setzte sich Binswanger zum Ziel, den Heidegger’schen Universalentwurf durch die intersubjektiv-interaktionellen Aspekte (dialogisches statt monologisches Dasein) zu ergänzen und somit einen eigenen, von Heidegger differenten und mehr empirisch ausgerichteten Daseinsentwurf zu entwickeln.
[16] Vergl. die drei „Partner des Umgangs“ in der „Pathosophie“ von Viktor von Weizsäcker (s. o.: 22).
[17] Eine ausführliche Analyse der Binswanger’schen Phänomenologie der Beziehung und speziell der Liebe, allerdings ohne vergleichenden Bezug auf Buber, sowie eine weiterführende Darlegung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Anwendung der Daseinsanalyse wurde sehr fundiert von Michael Schmidt in seinem Buch „Ekstatische Transzendenz“ vorgenommen (Schmidt 2005).
[18] Interessant ist in diesem Zusammenhang z. B. die heutige Diskussion über die Grenzen und Möglichkeiten des sogenannten „Recovery-Ansatzes“ in der Psychiatrie, in welchem es nicht um die Störung, Defizite und sachliche Behandlung des Patienten geht, sondern um einen Respekt vor seiner subjektiven Selbst- und Weltwahrnehmung, Autonomie und Ressourcen, analog der „Ich-Du-Beziehung“ (Dammann 2014).
- Quote paper
- Vsevolod Silov (Author), 2017, Gedanken der integrativen Psychotherapie im religiös-philosophischen Werk Martin Bubers, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/414414
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