Inwiefern können heute noch immer drei Wohlfahrtsregimetypen unterschieden werden?

Ein Vergleich des Vereinigten Königreichs, Deutschlands und Schwedens


Dossier / Travail, 2017

30 Pages, Note: 1,7


Extrait


Gliederung

1. Einleitung

2. Literaturreview

3. Theorie

4. Forschungsdesign

5. Deutscher, britischer und schwedischer Wohlfahrtsstaat im Vergleich

6. Fazit

7. Quellen- und Literaturverzeichnis
7.1. Quellenverzeichnis
7.2. Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Am 27.08.2017 diskutierten bei „Anne Will“ u.a. Sahra Wagenknecht, Olaf Scholz und Armin Laschet mit der Moderatorin über das Thema soziale Gerechtigkeit (ARD Mediathek 2017). Dabei wurde deutlich, wie unterschiedlich ein und dieselbe Realität betrachtet werden kann. Einerseits ist die Arbeitslosenquote mit 5,6% seit der Wiedervereinigung 1990 noch nie so niedrig gewesen, und Laschet und Scholz betonten, dass es noch nie so viele sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in Deutschland gegeben habe wie jetzt. Auf der anderen Seite wurde aber auch klargestellt, dass die ärmeren 40% der Menschen in Deutschland ein sinkendes, die reicheren 60% dagegen steigende Realeinkommen im Vergleich zu 1995 hatten; die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich trotz des Wohlstandes also weiter. Probleme bereiten außerdem unter anderem rasant steigende Mietpreise, niedrige Renten in der Zukunft und das von einer Betroffenen „würdelos“ genannte Hartz IV.

Während an den Zahlen und Fakten niemand zweifelte, waren die Politiker dennoch unterschiedlicher Ansicht, warum es zu diesem Phänomen der unterschiedlichen Entwicklung der Realeinkommen gekommen war. Sahra Wagenknecht machte die Politik der letzten Jahre in Deutschland seit der Agenda 2010 und damit einhergehende Gesetze dafür verantwortlich, und würde diese am liebsten rückgängig machen. Laschet verwies auf die Massenarbeitslosigkeit Ende der 1990er Jahre vor Beginn der Agenda und darauf, dass in den letzten vier Jahren großer Koalition viele soziale Leistungen beschlossen wurden (ARD Mediathek 2017). In diesen letzten vier Jahren ist auch die Einführung des Mindestlohnes bemerkenswert. Olaf Scholz hingegen meinte, dass man auf der Suche nach Ursachen nicht einzelne Parteien in den Blick nehmen, sondern „sich die Welt anschauen muss“. In allen westlichen Industriestaaten, nicht nur in Deutschland, hätten Technologisierung und Globalisierung seit Ende der 1980er Jahren unweigerlich zu Veränderungen geführt, wozu auch weniger Wachstum und immer weiter steigende Massenarbeitslosigkeit gehörten. In Deutschland seither getroffene politische Maßnahmen in der Sozialpolitik wären demnach nur notwendige Reaktionen gewesen (ARD Mediathek 2017).

Damit stieß Scholz ins dasselbe Horn wie die Vertreter der Internationalen Hypothese. Diese neuere Theorie der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung macht die Globalisierung und ihrem Zuge den international zunehmenden Wettbewerb verantwortlich für eine Abwärtsspirale bei den Sozialabgaben. In der Praxis wurden aber dennoch auch Maßnahmen zum Ausbau des Sozialstaates beobachtet (Blum/Schubert 2009: 41).

Der Wohlfahrtsstaat und damit im Zusammenhang die Sozialpolitik können im engen und im weiten Sinne verstanden werden: Während das weite Verständnis alle Politik beinhaltet, die nicht- militärisch ist (so in Skandinavien), geht es bei der Sozialpolitik im engeren Sinn „[…] um die

Bewältigung von Standardrisiken der modernen Gesellschaft, v.a. Krankheit, Alter, Unfall und

Arbeitslosigkeit.“ (Schmid 2008: 712) Aber auch andere Bereiche wie Bildung, Armut und Pflege können heutzutage dazu gezählt werden (ebd.).

Deutschland ist ein Stellvertreter des konservativen Typs in Gøsta Esping-Andersens Typologie von Wohlfahrtsstaaten, die er 1990 erstellte und die drei Idealtypen beinhaltet: liberalen, konservativen und sozialdemokratischen Regimetyp (Esping-Andersen 1990). Die liberalen Typen zeichnen sich dadurch aus, Sozialleistungen nur bei Bedürftigkeit zu bieten und den Einzelnen1 am meisten seinem Erfolg auf dem Arbeitsmarkt zu überlassen. Sozialdemokratische Regime hingegen schütten Sozialleistungen an einen großen Bevölkerungsteil aus und sorgen für relative Gleichheit und weniger Marktabhängigkeit. In gewisser Weise dazwischen ist der konservative Typ angesiedelt. Von Sozialleistungen profitieren zwar verschiedene Bevölkerungsgruppen, aber auch in sehr unterschiedlichem Maße, um den jeweiligen Status einer Person zu erhalten (Ostheim/Schmidt 2007: 42-43; Siegel 2007).

In einer Zeit, in der die Globalisierung so weit vorangeschritten ist wie nie - Finanzkrise seit 2007, Migrationsströme, Klimawandel und der steigende Einfluss Chinas sind Ausdruck dessen2 - könnten die Staaten mit bisher konservativem und sozialdemokratischem Wohlfahrtsregime gezwungen sein, Sozialleistungen zu kürzen und sich Staaten anzugleichen, die dem liberalen Typ zugeordnet werden. Der Wohlfahrtsstaat stellt aber auch eine wichtige Legitimationsquelle in demokratischen Staaten dar (Taylor-Gooby/Martin 2010: 85), und das Wohlbefinden der Menschen ist in den nordischen Staaten, also solchen, die dem sozialdemokratischen Idealtypen am nächsten kommen, am größten (Ólafsson 2013: 364). Daher stellt sich die Frage, die meiner Arbeit zugrunde liegt:

Inwiefern können heute noch immer drei Wohlfahrtsregimetypen unterschieden werden?

Im folgenden Kapitel wird der Forschungsstand anhand ausgewählter Beiträge skizziert. Danach wird der theoretische Rahmen der Arbeit festgelegt. Wodurch unterscheiden sich die drei Idealtypen grundsätzlich? Die Typologie Esping-Andersen wird zur Klärung dieser wesentlichen Frage näher vorgestellt. Warum sollten die Unterschiede zwischen den Realtypen abnehmen, oder warum nicht? Die bereits angesprochene Internationale Hypothese wird herangezogen, um diese Frage zu beantworten, denn sie ist die Theorie, die eine Veränderung im Zeitverlauf prognostiziert, ohne etwa auf unterschiedliche Machtressourcen oder Regierungsparteien Rücksicht zu nehmen.

Im vierten Kapitel wird das Forschungsdesign vorgestellt. Mit dieser Arbeit wird eine vergleichende

Fallstudie vorgelegt. In den Blick genommen werden Schweden, Deutschland und das Vereinigte Königreich als Stellvertreter für sozialdemokratischen, konservativen und liberalen Typ eines Wohlfahrtsstaates. Eine weitergehende Begründung für die Fallauswahl erfolgt ebenfalls im vierten Kapitel. Des Weiteren werden die Vergleichskategorien vorgestellt und operationalisiert. Anschließend wird der Vergleich auf Grundlage der zuvor entwickelten Kategorien durchgeführt. Dabei ist sowohl die heutige Situation als auch die frühere wichtig, um eine Entwicklung erkennen zu können. Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und es wird geschlussfolgert, dass die drei Regimetypen nach wie vor in der Realität Entsprechung finden, auch wenn die Unterschiede nun weniger klar sind als früher, als Esping-Andersen die Typologie aufstellte.

2. Literaturreview

Die Forschung zu Wohlfahrtsstaaten und -typen ist überaus umfangreich. Der Forschungsstand ist kaum zu überblicken, weshalb hier auch nur auf einige kontroverse Beiträge eingegangen wird:

Eine deutschsprachige Analyse zum Thema der Wohlfahrtsregimetypen haben Sven Jochem und Nico Siegel veröffentlicht. Darin konnten die Forscher neben den drei von Esping-Andersen bekannten Regimetypen auch einen Typ von „Nachzüglerstaaten“ ausmachen, dem Irland, Italien, Portugal, Spanien und Griechenland angehörten. Aufgrund der Berücksichtigung von zehn Indikatoren stellten sie auch zehn Jahre nach Esping-Andersen fest, dass es innerhalb der untersuchten Staaten (alle OECD-Staaten) durchaus abgrenzbare Cluster von Staaten je nach Wohlfahrtsregimetyp gibt (Jochem/Siegel 2000: 43-46).

Die niederländischen Forscher Wil Arts und John Gelissen bemängelten das Fehlen der Geschlechterdimension in Esping-Andersens Typologie und die falsche Zuordnung der Mittelmeeranrainerstaaten sowie Australiens und Neuseelands. Überhaupt gibt es ihrer Ansicht nach in der Realität „hardly ever pure types“, sondern Hybridtypen. Nichtsdestotrotz hielten sie die Typologie für sinnvoll für weitere Forschung (Arts/Gelissen 2002: 137).

Dass es überhaupt voneinander abgrenzbare Typen von Wohlfahrtsregimen gibt, bezweifelte Gregory Kasza und verwies auf das japanische System, das zu keinem Typ passe. Fünf Gründe sprachen aus seiner Sicht gegen die Verwendung eines Regime-Konzepts im Wohlfahrtsbereich:

(1) Jedes Gesetz gehe zurück auf Gesetze, die in früherer Zeit verfasst wurden. Insofern sei die heutige Sozialpolitik nur das Produkt aller bisherigen Regierungen. (2) Geschichtliche Gründe sprechen für eine inkonsistente Entwicklung der Sozialpolitik: Kriege, Krisen und Depressionen können die Sozialpolitik fundamental ändern; Regime-Typen seien nicht in der Lage, solche

Sprünge zu erklären. (3) Die Sozialpolitik sei heute so ausdifferenziert, dass für verschiedene

Bereiche der Sozialpolitik unterschiedliche politische Akteure bzw. Minister(ien) mit unterschiedlichen Zielen am Werk seien. Das mache es unwahrscheinlich, dass die Sozialpolitik in einem Staat nur einer einzigen Logik folge. (4) Zudem sei der Output der Politik vom vorausgegangenen Prozess abhängig; diese Prozesse können daher die Politikrichtung verändern.

(5) Zusätzlich erschwert sei die Typenbildung dadurch, dass Staaten von anderen Staaten abschauen und sich von der Politik dieser Staaten beeinflussen lassen (Kasza 2002).

Nicht länger überzeugt vom Typenmodell waren auch James Allen und Lyle Scruggs nach ihrer Untersuchung der Dekommodifizierung (der Abhängigkeit vom Markt) von 18 OECD-Staaten. Die Forscher analysierten und replizierten den Dekommodifizierungs-Index von Esping-Andersen. Dabei fanden sie „very limited empirical support for the ‘three worlds’ typology in the decommodification data“ und kamen zu dem Schluss, dass sich trotz einiger Unterschiede zwischen den Staaten insgesamt weder eine große Variation zwischen den Staaten noch Cluster finden ließen (Allan/Scruggs 2006: 55). Dieses Ergebnis widerspricht dem von Jochem und Siegel, allerdings lag der Fokus der Arbeit eben nicht auf dem „gesamten“ Wohlfahrtsstaat, sondern auf der Dekommodifizierung, und 2008 honorierten Allan und Scruggs den „strong empirical support offered for its three-regime clustering of welfare states in the Western democracies“ (Allan/Scruggs 2008: 642).

Wie für Allan und Scruggs gab Jahre zuvor für Clare Bambra der Dekommodifizierungs-Index Anlass zur Kritik. Theoretische, empirische und methodische Fehler seien dafür verantwortlich, dass einige Staaten zum „falschen“ Typ zugeordnet worden wären (Bambra 2002: 73). Auch Bambra kam zum Schluss, dass zumindest auf dem Gebiet der Dekommodifizierung keine Einteilung in Typen mehr angebracht sei. Sie betonte aber auch, dass zu Esping-Andersens Typologie mehr gehörte als nur das Maß an Dekommodifizierung (Bambra 2002: 80).

Esping-Andersen selbst nahm zum 25-jährigen Jubiläum seiner Typologie die Stratifikation in den skandinavischen Staaten unter die Lupe. Im Vergleich mit anderen Staaten seien die skandinavischen erfolgreicher dabei, für Chancengleichheit der Menschen zu sorgen. Gemessen hatte Esping-Andersen das anhand der sozialen Mobilität vor allem von Menschen, die aus der Unterschicht stammen (Esping-Andersen 2015: 132). In diesem Bereich grenzen sich die sozialdemokratischen Staaten also weiterhin deutlich von anderen ab. Nichtsdestotrotz sei es noch immer ein Vorteil, gleich in die Oberschicht hinein geboren zu sein (Esping-Andersen 1990: 132).

Selbstverständlich gibt es auch qualitative vergleichende Fallstudien zum Thema Wohlfahrtsstaaten. Peter Taylor-Gooby und Rose Martin verglichen Deutschland und das Vereinigte Königreich. Im Zuge der Globalisierung und des Wechsels zum Post-Industrialismus

würde die Politik mehr Eigenverantwortung fordern (Taylor-Gooby/Martin 2010: 85). Dazu hatte

bereits Gerhard Schröder in seiner Zeit als Bundeskanzler mehrfach aufgerufen (SPIEGEL ONLINE 2000; Schröder 2003). Gleichheit als normativer Anspruch bemesse sich daher nun mehr an der Gleichheit an Chancen, nicht am (Politik-) Ergebnis. Beim Vergleich zwischen Deutschland und UK zeigten sich der Untersuchung zufolge dennoch deutliche Unterschiede. In Deutschland würde vom Staat noch immer mehr Unterstützung erwartet als im Vereinigten Königreich, und die Wohlfahrtsregime unterschieden sich dementsprechend weiterhin (Taylor-Gooby/Martin 2010: 85, 101).

Unterschiede gibt es auch hinsichtlich der Reaktionen der Staaten auf kurzfristig aufgetauchte Probleme. Schweden, Deutschland und UK reagierten auf die Finanzkrise 2008 und 2009 höchst unterschiedlich und so, wie es nach Esping-Andersens Typologie zu erwarten war, ergab die Studie von Heejung Chung und Stefan Thewissen: Deutschland als konservativer Typ tat alles, um die männlichen Fachkräfte in den von ihnen dominierten Branchen in Arbeit zu halten, während es keinen Plan für weibliche Angestellte gab. Im Vereinigten Königreich setzte man dagegen vorrangig auf die Regulierungsfähigkeit des Marktes, während sich Schweden für Vollbeschäftigung starkmachte, bspw. durch Steuersenkungen, und gleichzeitig die Arbeitslosen weich fallen ließ (Chung/Thewissen 2011: 363, 366-367). Barbara Vis, Kees van Kersbergen und Tom Hylands dagegen beobachteten nach der Finanzkrise nicht unterschiedliche, sondern ähnliche Reaktionen auf ähnliche Probleme in den untersuchten Staaten UK, USA, Deutschland, Niederlande, Dänemark und Schweden. Der erwartete Rückbau des Sozialstaates sei, vor allem aufgrund der öffentlichen Unterstützung des Sozialstaats, trotz Krise zunächst ausgeblieben. Stattdessen gab es den Forschern zufolge sogar einen vorübergehenden Ausbau des Sozialstaates, der sich nun aber umzukehren scheint (Vis/van Kersbergen/ Hylands 2011: 338, 350).

Auf jeden Fall ist Esping-Andersens Typologie sehr einflussreich (Siegel 2007: 261). Anders ist wohl auch nicht zu erklären, warum sein Werk derart viel Kritik und Resonanz nach sich zog. Für die vorliegende Arbeit soll Esping-Andersen gefolgt und angenommen werden, es hätte die drei Regimetypen weitestgehend auch in der Realität zumindest einmal gegeben. Da sich die Forschung offensichtlich uneins darüber ist, ob und inwiefern reale Staaten den drei Wohlfahrtstypen zugeordnet werden können, wird in dieser Arbeit zur Klärung dieser Frage beigetragen.

3. Theorie

Bevor mit der Internationalen Hypothese die Theorie vorgestellt wird, aufgrund derer eine Angleichung der drei Regimetypen erwartet wird, werden die einzelnen Idealtypen wohlfahrtsstaatlicher Regime nach Esping-Andersen vorgestellt. Dadurch soll vermittelt werden, wodurch sich die Typen unterscheiden. Nach Esping-Andersen haben sich die drei Typen von Wohlfahrtsregimen - „Welten des Wohlfahrtskapitalismus“ - (Esping-Andersen 1990) aufgrund der vorherrschenden gesellschaftlichen Klassenkoalitionen entwickelt (Esping-Andersen 1990: 1). Insofern ist er selbst ein Vertreter der Machtressourcentheorie, welche annimmt, dass Politikinhalte durch die Machtverteilung einander entgegenstehender gesellschaftlicher Gruppen bzw. Klassen entscheidend bestimmt sind (Ostheim/Schmidt 2007: 40).

Der liberale Typ - von liberalen Ökonomen geprägt, die einen schlanken Staat bevorzugen - orientiert sich am Fürsorgeprinzip. Das bedeutet, dass es nach Bedürftigkeitsüberprüfungen ausschließlich Mindestleistungen zur Verhinderung von Armut für die Betroffenen gibt (Siegel 2007: 262-263). Von den Leistungen profitieren nur Menschen mit geringen oder ohne Einkommen, die gewöhnlich zur Arbeiterklasse gehören. Mit den geringen Leistungen einerseits und dem ebenfalls kleinen Kreis der Anspruchsberechtigten andererseits geht einher, dass der Empfang von Sozialleistungen als Makel angesehen wird. In liberalen Regimetypen fördert der Staat vor allem den Markt, indem er nur geringe Sozialleistungen selbst garantiert oder private Wohlfahrtssysteme unterstützt. Folglich ist der Dekommodifizierungseffekt nur äußerst schwach ausgeprägt, d.h. der Einzelne bleibt stark von seinem Erfolg auf dem Markt abhängig (Esping-Andersen 1990: 26-27). Zudem gibt es nur eine schwache Umverteilung der Einkommen (Arts/Gelissen 2002: 141). Die Folge ist ein Dualismus zwischen den beiden Klassen der Minderheit der Armen und der wohlhabenden Mehrheit derer, die sich auf dem Markt behaupten konnten. Die Existenz sozialer Schichten ist in Staaten liberalen Wohlfahrtstyps also besonders deutlich. Derartige Systeme sind besonders im englischsprachigen Raum verbreitet (Esping-Andersen 1990: 26-27).

Der konservative Typ dagegen ist vor allem auf dem europäischen Festland vertreten. Er wurde von Esping-Andersen auch als korporatistischer Typ bezeichnet (Esping-Andersen 1990: 27). In konservativen Regimen (nicht zu verwechseln mit: Staaten mit einer konservativen Regierungspartei) gibt es eine moderate Dekommodifizierung (Arts/Gelissen 2002: 141), da sich dort die Idee der Effizienz freier Märkte nie richtig durchsetzen konnte. Dementsprechend wird auch die Abhängigkeit der Menschen vom Markt nicht so hoch angesehen wie in liberalen Regimen. Die soziale Absicherung der Bürger stand daher auch nie zur Debatte. Allerdings ist die Höhe der gewährten Leistungen von Klasse und Status abhängig, da die Aufrechterhaltung der Unterschiede eben jener von vorherrschendem Interesse ist. Demzufolge ist der Grad der Umverteilung sehr gering. Der Staat ist viel mehr als der Markt Anbieter von sozialen Leistungen, während der Privatsektor im Sozialbereich verschwindend klein ist (Esping-Andersen 1990: 27).

Das bestimmende Gestaltungsprinzip der Sozialpolitik ist in Staaten dieses Typs die gesetzliche Sozialversicherung, die zunächst beruflich gegliedert war. Dieses Versicherungssystem ist in erster Linie beitragsfinanziert, d.h. die Höhe der bereitgestellten Leistungen während einer Phase von Arbeitslosigkeit, Krankheit etc. orientiert sich vor allem an den bereits geleisteten Beiträgen. Der Begriff „Korporatismus“ zielt ab auf die Einbindung von Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern in die Verwaltungsinstitutionen der Versicherungen, was sich auf den Aufbau der Wohlfahrtsstaaten in konservativen Regimen positiv auswirkte (Siegel 2007: 263-265).

Großen Einfluss auf die Ausgestaltung der Regime hatte die Kirche, wodurch sich deren Bestreben nach Schutz und Zusammenhalt der Familie auch in der Sozialgesetzgebung niederschlug. So sind nicht-arbeitende Ehefrauen einerseits von Sozialversicherungen ausgeschlossen, andererseits gibt es finanzielle Anreize für Ehepaare, eine Familie zu gründen. Tagespflege für die Kinder zählt aber nicht dazu; überhaupt sind Dienstleistungen für Familien nur schwach ausgeprägt. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip greift der Staat nur dann unterstützend ein, wenn die Möglichkeiten der Familie insgesamt ausgeschöpft sind und sie sich trotzdem nicht über Wasser halten kann (Esping- Andersen 1990: 27).

Die Gruppe der Staaten mit sozialdemokratischem Wohlfahrtsregime ist die kleinste der drei. Der Ausbau der Wohlfahrtssysteme dieser Staaten wurde besonders von der Sozialdemokratie vorangetrieben und ist in den skandinavischen Staaten beheimatet. In sozialdemokratischen Regimen ist die Dekommodifizierung am stärksten ausgeprägt, die Bürger sind also am wenigsten vom Markt abhängig. Klassengegensätze soll es möglichst nicht geben. Stattdessen ist „equality of the highest standards“ das Ziel (Esping-Andersen 1990: 27-28). Mehr als andere versuchen die skandinavischen Staaten, Gleichheit durch die Sozialpolitik zu fördern (Esping-Andersen 2015: 124). Daher hat der Staat dafür zu sorgen, dass die Sozialleistungen in einem hohen Umfang zur Verfügung gestellt werden und es auch den Arbeitern ermöglichen, einen Lebensstandard wie die Wohlhabenderen zu haben. Gleichzeitig ist der Kreis derer, die Anspruch auf soziale Leistungen haben, auch größer. Er reicht bis in die Mittelschichten. In diesem Zusammenhang spricht man von Universalismus (Esping-Andersen 1990: 27-28). Der große Kreis der „Betroffenen“ sorgt auch dafür, dass die Anerkennung von Sozialleistungsempfängern in sozialdemokratischen Regimen größer ist als in konservativen und liberalen Regimen (Larsen 2008). Die Sozialleistungen werden in erster Linie durch Steuermittel finanziert und weniger durch Beiträge (Siegel 2007: 265).

In sozialdemokratischen Regimen gibt es keinen Privatsektor für Sozialversicherungen, sondern alle gesellschaftlichen Schichten sind in einem staatlichen System versichert. Obgleich dessen Leistungen auch vom (vorherigen) Einkommen abhängen, wird in diesem System der Einfluss des Marktes zurückgedrängt. Dieses umfassende Wohlfahrtsregime basiert in erster Linie auf Solidarität. Im Gegensatz zu konservativen Regimen wird in sozialdemokratischen die Rolle und die Verpflichtung der Familie für ihre Angehörigen nicht so hoch angesehen. Eine Bedürftigkeit der gesamten Familie muss nicht vorliegen, um von Sozialleistungen zu profitieren. Stattdessen ist die Erziehung eine Staatsaufgabe, und in diesem Sinne werden Transferleistungen direkt an Kinder, aber auch an Alte und Hilflose bezahlt. Mit diesem System einher gehen nicht nur immense Kosten, sondern auch die Chance für Frauen, sich zur Arbeit anstatt das Hausfrauendasein zu entscheiden. Wegen der hohen Kosten ist diese Art Wohlfahrtsregime auf Vollbeschäftigung und eine möglichst geringe Zahl sozialer Konflikte angewiesen (Esping-Andersen 1990: 28). Zu diesem Zweck und aufgrund der großen Leistungen, die das System für seine Bürger erbringen muss, gibt es in sozialdemokratischen Regimen einen ausgebauten öffentlichen Sektor für soziale Dienstleistungen. In diesem Sektor sind insbesondere Frauen angestellt (Siegel 2007: 266).

Die Internationale Hypothese behauptet, dass die Sozialleistungen wegen der Globalisierung sinken m ü ssen (Blum/Schubert 2009: 41). Der Sozialstaat wird nun als Bürde angesehen (Seeleib-Kaiser 2001: 6). Der Nationalstaat, seine Parteien, Institutionen oder gesellschaftlichen Gruppen sind der Theorie zufolge im Gegensatz zu anderen Theorien nicht mehr die entscheidenden Faktoren bei der Gestaltung von Sozialpolitik. Stattdessen sind es die internationalen Konstellationen, welche die Staatstätigkeit vorrangig prägen. Dahinter steckt folgender Zusammenhang: Vor der Globalisierung waren die Märkte noch nicht noch nicht für Kapitalverkehr offen, d.h. es konnte viel weniger leicht als heute in anderen Staaten investiert werden. Die Nationalstaaten konnten daher noch alle Instrumente der Sozialpolitik einsetzen, um auf steigende oder fallende Inflation, Arbeitslosigkeit etc. zu reagieren. Sie waren wirtschaftspolitisch voll handlungsfähig und konnten bspw. Steuern selbst frei festlegen. Die Produktivität sollte aber nicht darunter leiden, da die (bspw. bei hohen Unternehmenssteuern oder Lohnnebenkosten) höheren Preise letztlich bei den Kunden landeten.

Mit steigender internationaler Verflechtung der Finanzmärkte schwand diese Handlungsfähigkeit, weil die Politik mehr vom Weltmarkt abhängig wurde (Ostheim 2007: 75-77). Der internationale Wettbewerb hat sich immer mehr verschärft und betrifft auch Branchen, die einst vom Staat geschützt wurden. Seitdem Kapital ungehindert Staatsgrenzen passieren kann, tobt ein Standortwettbewerb, der am besten mit niedrigen Steuern und Lohnnebenkosten zu führen ist (Scharpf 1999). Fritz Scharpf zufolge müsste ein ausgebauter Sozialstaat in einer globalisierten Welt zum wirtschaftlichen Scheitern verurteilt sein, weil es in dieser um die Attraktivität für Investoren und damit um den Erhalt von Wirtschaftsstandorten geht. Standorte mit günstigeren Bedingungen setzen sich gegenüber solchen mit ungünstigeren automatisch durch (vgl. Ostheim 2007: 77), und der Standort wird umso günstiger und besser, je niedriger die Produktionskosten und die Steuern sind. Die Produktion ist dabei günstiger, wenn die Löhne für die Arbeiter und die Lohnnebenkosten niedrig sind. Die Beschäftigung in ungeschützten Branchen kann nur gerettet

[...]


1 Wegen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit immer der männliche Begriff verwendet, es sind jedoch Frauen und Männer gleichermaßen gemeint.

2 Die Globalisierung als unabhängige Variable wird in Kapitel 3 operationalisiert und in Kapitel 4 auch dargestellt. Sie bedeutet die „‘relative Zunahme der Intensität und der Reichweite grenzüberschreitender Austausch- und Produktionsprozesse‘ vor allem der Wirtschaft, aber auch der Umwelt, Kommunikation und Kultur“ (Ostheim 2007: 75, eigene Hervorhebung).

Fin de l'extrait de 30 pages

Résumé des informations

Titre
Inwiefern können heute noch immer drei Wohlfahrtsregimetypen unterschieden werden?
Sous-titre
Ein Vergleich des Vereinigten Königreichs, Deutschlands und Schwedens
Université
Technical University of Chemnitz  (Politikwissenschaft)
Cours
Sozialpolitik
Note
1,7
Auteur
Année
2017
Pages
30
N° de catalogue
V414439
ISBN (ebook)
9783668660649
ISBN (Livre)
9783668660656
Taille d'un fichier
498 KB
Langue
allemand
Mots clés
Wohlfahrtsstaat, Sozialstaat, Sozialpolitik, Globalisierung, Deutschland, UK, Schweden
Citation du texte
Tom Barth (Auteur), 2017, Inwiefern können heute noch immer drei Wohlfahrtsregimetypen unterschieden werden?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/414439

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