Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um die Geschichtsdidaktikerin und langjährige Gymnasiallehrerin Christiane Bertram haben die Effekte von „Oral History“ in der Schule untersucht. Die 2017 veröffentlichte empirische Studie kommt zu einem zweischneidigen Ergebnis: Zeitzeugen sind ein wichtiger Baustein für das Lernen von Geschichte. Das Bewahren einer kritischen Distanz fällt vielen Schülerinnen und Schülern allerdings schwer.
Die Studie zeigt, dass Schülerinnen und Schüler durch den Einsatz der Zeitzeugen-Methode besonders motiviert werden können und das Gelernte in der Regel nachhaltig besser im Gedächtnis behalten. Andererseits kommt die Studie aber auch zu dem Ergebnis, dass Schüler häufig damit überfordert sind, das Gehörte mit einem gewissen Abstand kritisch zu reflektieren und sinnvoll in einen historischen Gesamtzusammenhang einzuordnen. Dieser Befund trifft besonders zu, wenn Zeitzeugen als reale Menschen im Klassenraum stehen. Die Frage ist: Überwiegt die Chance oder das Risiko für das historische Lernen? Im Nachfolgenden Essay von Fabian Leonhard werden die Vor- und Nacheile von Zeitzeugeninterviews im Geschichtsunterricht gegeneinander abgewogen. Eine spannende Diskussion an deren Ende eine klare Handlungsempfehlung für Lehrkräfte steht.
Zeitzeugen im Geschichtsunterricht - Chance oder Risiko für historisches Lernen?
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um die Geschichtsdidaktikerin und langjährige Gymnasiallehrerin Christiane Bertram an der Universität Tübingen haben die Effekte von „Oral History“ in der Schule untersucht. Die 2017 veröffentlichte empirische Studie [1] kommt zu einem zweischneidigen Ergebnis:Zeitzeugen sind ein wichtiger Baustein für das Lernen von Geschichte. Das Bewahren einer kritischen Distanz fällt vielen Schülerinnen und Schülern allerdings schwer.
Die Studie zeigt, dassSchülerinnen und Schüler durch den Einsatz der Zeitzeugen-Methode besonders motiviert werden können und das Gelernte in der Regel nachhaltig besser im Gedächtnis behalten.Andererseits kommt die Studie aber auch zu dem Ergebnis, dass Schüler häufig damit überfordert sind, das Gehörte mit einem gewissen Abstand kritisch zu reflektieren und sinnvoll in einen historischen Gesamtzusammenhang einzuordnen. Dieser Befund trifft besonders zu, wenn Zeitzeugenals reale Menschen im Klassenraum stehen.Eine Vergleichsgruppe von Schülern,die mit Zeitzeugeninterviews im Videoformat bzw. als Text gearbeitet hatte, fiel der kritische Umgang deutlich leichter. Trotzdem ist auch das Verwenden von Zeitzeugeninterviews als Video,keineswegs unproblematisch. Die Frage ist: Überwiegt hier die Chance oder das Risiko für das historische Lernen?
Seit den 1980er Jahren gehört die Auseinandersetzung mit Zeitzeugen zum Standardrepertoire eines guten, fortschrittlichen Geschichtsunterrichts. Gerade in den letzten Jahren kann aber von einem regelrechten Boom der Zeitzeugen gesprochen werden.Auffällig ist dabei, dass Lehrkräfte diese Unterrichtsmethode in erster Linie für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte sowie die Verbrechen der NS-Zeit nutzen. Es geht also vor allem um die schwierigen, emotional aufgeladenen Themen wie Verfolgung, Denunziation, Krieg und Massenvernichtung. Zeitzeugen zeigen die Geschichte aus einer sehr persönlichen, menschlichen Perspektive, welche im alltäglichen Geschichtsunterricht häufig viel zu kurz kommt. Allzu oft bleibt der Geschichtsunterricht in der Schule eine systematische Abarbeitung der Ereignisgeschichte. Zeitzeugen lassen die Geschichte hingegen weniger abstrakt und fern wirken, sie machen sie regelrecht lebendig, indem sie ihr ein Gesicht und eine Stimme geben.Das schafft Vertrauen und macht den historischen Stoff für die Schülerinnen und Schüler interessant.Zu Recht ist Multiperspektivität eines der wichtigsten didaktischen Prinzipien, um historisches Lernen zu ermöglichen. Durch das Einnehmen der Opferperspektive können sich die Schülerinnen und Schüler besser in die Menschen hineindenken und eine Vorstellung vom Handeln und Leiden der Akteure entwickeln. Die positiven Effekte von Zeitzeugen für den Geschichtsunterricht sind also vielfältig und wissenschaftlich belegbar. Und dennoch bleiben erhebliche Zweifel.
Denn die Stärke der Zeitzeugenberichte ist gleichzeitig Ursache für ihre Schwäche.Zeitzeugenberichte, egal ob live oder im Videointerview, sindfür den Zuhörer immer emotional packend sind. Selbst wenn sich Zeitzeugen besonders darum bemühen, möglichst nüchtern und sachlich zu berichten, lässt sich diese starke Emotionalität nicht verhindern.Gerade sie macht die Faszination für Zeitzeugen maßgeblich aus und erklärt mitunter auchderen gegenwärtigen Boom. Durch die vielzitierte „Aura der Authentizität“ fällt es den Schülerinnen und Schülernmeist schwer eine kritische Distanz zu bewahren. Gerade diese Distanz ist aber für ein erfolgreiches historisches Lernen unbedingt notwendig. Das historische Lernen in der Schule soll die Fähigkeit zum eigenständigen und reflektierten historischen Denken ausbilden. Es geht nicht darum, emotional tief berührt zu sein und mit den Opfern regelrecht mitzuleiden, sondern aus einer kritischen Distanz so objektiv wie möglich ein Geschichtsbild zu entwickeln, das der historischen Wirklichkeit möglichst nahe kommt. Die Gefahr, dass das vielen Schülerinnen und Schülern nicht gelingt, ist groß.Denn eines ist völlig unstrittig: Zeitzeugeninterviews sind hochsubjektiv.Zeitzeugen erinnern sich oft falsch an bestimmte Daten, Orte oder Ereignisabfolgen. Zudem ist die Erinnerung des Menschen immer lückenhaft und emotional gefärbt, weil er schon während des Ereignisses, an das er sich im Nachhinein erinnert, nur Ausschnitte wahrgenommen hat und seitdem vieles vergessen, verdrängt oder abgeändert hat. Meist ohne dies selbst bewusst zu bemerken. Die Neigung des Menschen, alles in Geschichten zwängen zu wollen, ist oft übermächtig. Bei der Erzählung der eigenen, erlebten Geschichte besteht immer die Gefahr, dass bestimmte Dinge, die nicht so gut zur Gesamterzählung passen, weggelassen und andere Details wiederum unnötig hervorgehoben werden.Natürlich ist das Prinzip Narrativität, also das Erzählen einer Geschichte, im Geschichtsunterricht wie auch in nahezu jedem Bereich unserer Alltagspraxis nicht wegzudenken. Das Erzählen von Geschichten ist sogar äußerst sinnvoll. So werden historische Ereignisse und Prozesse mithilfe von Erzählungen für die Schülerinnen und Schüler oft deutlich greifbarer, sodass sie diese besser verstehen und das Gelernte auch länger im Gedächtnis behalten können. Allerdings hat diese didaktische Methode auch entscheidende Nachteile. So wird durch Erzählungen häufig ein Sinn in die Geschichte künstlich hineinkonstruiert. Das Problem ist, dass dieser Sinn von den Zeitzeugen erst im Nachhinein, oft Jahrzehnte später hineinkonstruiert wird. Dadurch erfolgt durch die Zeitzeugen häufig bereits eine zweifelhafte Interpretation und Wertung der Ereignisse. Die Interpretation sollte aber allein durch die Schülerinnen und Schüler erfolgen.
Die beschriebene Problematik wird beim Thema des Holocaust, besonders deutlich. Zeitzeugen, die den Holocaust überlebt haben und das erlebte Leid in seiner unvorstellbaren Grausamkeit schildern, können sich ihrer Autorität und emotionaler Wirkung sicher sein. Das Gesagte hier auch nur ansatzweise in Frage zu stellen fühlt sich für viele Schülerinnen und Schüler oft schlichtweg falsch an. Besonders problematisch sind Zeitzeugen, die anders als gewohnt eine deutlich positivere Geschichte des Holocaust erzählen. Dabei spielt es nicht einmal eine große Rolle, ob die Erinnerung der historischen Wirklichkeit entspricht oder nachträglich beschönigt wird. So gibt es beispielsweise Zeitzeugenberichte von Holocaust-Überlebenden, die erzählen, dass sie im Lager bevorzugt behandelt wurden und schlussendlich überlebten, weil sie Geige spielen konnten und in das Lagerorchester berufen wurden. Im schlimmsten Fall kann bei den Schülerinnen und Schülern so der Eindruck entstehen, dass es „ja gar nicht so schlimm war“. Das Risiko, dass Schüler mit einem solchen verzerrten Geschichtsbild nach Hause gehen, muss von Lehrerinnen und Lehrern um jeden Preis ausgeschlossen werden.
Sollte auf Zeitzeugen im Geschichtsunterricht also am besten ganz verzichtet werden? Die Antwort ist ein klares „Nein!“. Allerdingsist es wichtig, dass Lehrkräfte bestimmte Voraussetzungen bei der Umsetzung einer solchen Unterrichtseinheit beachten. So muss unbedingt versucht werden, die hohe Emotionalität die Zeitzeugeninterviews mit sich bringen zu begrenzen. Dies funktioniert am besten, indem Videoaufnahmen verwendet werden, in denen das Interview mit den Zeitzeugen aufgezeichnet wurde. Die Ergebnisse der empirischen Studie von Christiane Bertram sind da eindeutig. Das Einhalten einer kritischen Distanz fällt vielen Schülerinnen und Schülern so deutlich leichter. Auch die Vor- und Nacharbeit, also der Kontext in den das Zeitzeugeninterview eingebettet wird, ist entscheidend. Die Lehrkraft musssicherstellen, dass die Schülerinnen und Schüler ein solides Vorwissen über die Thematik haben, welche Gegenstand des Zeitzeugeninterviews sein wird. Außerdem sollte die Problematik von Zeitzeugen als historische Quelle offen angesprochen und diskutiert werden. Auf diese Weise können die Schülerinnen und Schüler das Gehörte sinnvoll in den Gesamtzusammenhang einordnen und ein reflektiertes Geschichtsbild entwickeln. Nur wenn die Lehrkraft eine freie Auseiandersetzung mit dem Zeitzeugeninterview ermöglicht, kann das historische Lernen erfolgreich sein. Starre Lernziele und Vorgaben sind hier fehl am Platz. Um die Subjektivität von Zeitzeugeninterviews zu verdeutlichen, ist es zudem empfehlenswert,mehrere unterschiedliche Zeitzeugen zu zeigen, die ein und dasselbe Ereignis verschieden erlebt und wahrgenommen haben.
Werden diese Ratschläge beachtet, können Zeitzeugen eine große Chance für historisches Lernen sein. Sie eröffnen nicht nur eine neue Perspektive, sondern erwecken die Geschichte regelrecht zum Leben und können so den Prozess des historischen Denkens initiieren.Doch da Zeitzeugeninterviews per se hochemotional sind und das erlebte Leid oft regelrecht mitfühlen lassen, bleibt ein Restrisiko immer bestehen, dass Schülerinnen und Schüler sich dem Bann ihrer Authenzität nicht entziehen können. Die vielleicht wichtigste Wirkung von Zeitzeugen bleibt aber in jedem Fall bestehen: Die tiefe Auseinandersetzung mit den dunkelsten Kapiteln unserer Geschichte und die daraus folgende feste Überzeugung für Demokratie und Menschenrechte. Nie wieder Unrechtsstaat! Nie wieder Krieg! Nie wieder Massenvernichtung!
Literaturverzeichnis
Bertram, Christiane: Zeitzeugen im Geschichtsunterricht. Chance oder Risiko für historisches Lernen? Eine randomisierte Interventionsstudie, Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag 2017.
Bergmann, Klaus: Multiperspektivität. In: Bergmann et al. (Hg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. 2. Auflage, Schwalbach/Ts., 2007. S. 65 – 77.
Jessen, Jürgen: Wie es war ... : Zeitzeugen des Holocaust in Schule und Öffentlichkeit. In: Jessen, Jürgen (Hg.): Geschichtswerkstatt Hessisch Lichtenau, Witzenhausen 1994.
Baricelli, Michelle: Narrativität. In: Lücke, Martin/Baricelli, Michele (Hg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1, Schwalbach/Ts. 20112, S. 89 – 97.
Rüsen, Jörn: Historisches Lernen. In: Bergmann et al. (Hg.): Handbuch Geschichtsdidaktik. Seelze-Velber, 1997. S. 261 – 265.
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[1] Bertram, Christiane:Zeitzeugen im Geschichtsunterricht. Chance oder Risiko für historisches Lernen? Eine randomisierte Interventionsstudie, Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag 2017.
- Quote paper
- Leo Winter (Author), 2018, Zeitzeugen im Geschichtsunterricht. Chance oder Risiko für historisches Lernen?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/415876