Kollegiale Beratung. Ausarbeitung einer Fallberatung im Rahmen des schulischen Praxissemesters im Lehramtsstudium


Hausarbeit, 2017

27 Seiten, Note: 1,3

Anna Baer (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Motivation
1.2 Fragestellung und Erkenntnisinteresse

2. Methode der Kollegialen Beratung
2.1 Ablauf
2.2 situative Rahmenbedingungen

3. Falldarstellung und Beratung
3.1 Situationsbeschreibung
3.2 Ergebnisse der Beratung

4. Literaturrecherche – theoretischer Rahmen
4.1 Antinomien im Lehrerhandeln

5. Analyse: Theorie-Praxis-Bezug

6. Zusammenfassung und Fazit
6.1 Reflexion der Beratung
6.2 Schlussfolgerungen und Konsequenzen

7. Literaturverzeichnis

8. Anhang
8.1 Ablaufplan der Peer Beratung
8.2 Protokoll der Peer Beratung

1. Einleitung

„Professionalität ist kein Zustand, den die Lehrkraft mit wachsender Berufserfahrung fast automatisch erreicht, sondern ein Prozess gemeinsam reflektierender Praktikerinnen.“ (Sieland & Tarnowski, 2008, S. 116)

Während des vergangenen Praxissemesters stellte sich die Verfasserin dieser Hausarbeit oft die Frage, warum bestimmte Dinge nicht sofort so funktionierten, wie es in den vorangegangenen Planungen intendiert war. Nach dem Absolvieren des Bachelorstudiums und zahlreichen Vorlesungen sollte genug Rüstzeug für Situationen vorhanden sein, die der Schulalltag mit sich bringt. Da aber oft (schnell) Entscheidungen getroffen werden mussten, in denen sich die Verfasserin dieser Hausarbeit nicht sicher war, ob sie richtig gehandelt hat, kamen Zweifel auf, ob der eingeschlagene Berufsweg der richtige sei. In einem Forschungstagebuch[1] wurden Situationen und Erfahrungen festgehalten, die im Laufe des Praxissemesters erlebt wurden. Dadurch wurde eine Grundlage für die Peer-Beratung geschaffen, die einen Fall aus dem Forschungstagebuch der Verfasserin thematisiert[2]. Die Schlüsselfrage, die fokussiert wurde und in dieser Hausarbeit theoretisch aufgearbeitet wird, befasst sich mit diesen erwähnten schwierigen Entscheidungen und lautete: „ Ist der Lehrerberuf der richtige für mich, wenn ich vor der Klasse innerhalb der Stunde ständig vor vielen Entscheidungen und Situationen stehe, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob ich richtig gehandelt habe? “.

Das vorangegangene Zitat gibt einen Ausblick auf einen Themenbereich, der sich in der Beratung herausgebildet hat – Professionalität. Zwar steht man nach dem Absolvieren des Praxissemesters noch nicht am Ende der Lehrerausbildung, trotzdem ist es enttäuschend, wenn man auf viele Situationen zurückblickt, in denen man sich unsicher war, wie man handeln sollte und auch im Nachhinein noch nicht ganz weiß, ob man richtig gehandelt hat. In bildungswissenschaftlichen Veröffentlichungen werden in diesem Zusammenhang Widersprüchlichkeiten im Lehrerhandeln aufgezeigt, die für diese Hausarbeit als theoretische Grundlage fungieren sollen und den eingebrachten Fall theoretisch aufarbeiten soll. Der Fall[3] zeichnet sich durch zu treffende Entscheidungen vor einer Klasse aus, die für die Verfasserin dieser Hausarbeit eine Herausforderung darstellte, da in dieser einige schwierigere und verhaltensauffällige Lernende waren. An dieser Stelle zeichnen sich Bezugspunkte zu bildungswissenschaftlichen Überlegungen in der Literatur ab. Auch hier ist das Thema relevant, denn in vielen Veröffentlichungen findet man Aussagen über den anspruchsvollen und belastenden Berufsalltag von Pädagogen[4], der zusehends schwieriger zu werden scheint (vgl. Mutzeck, 2008, S. 48). Denn „Probleme mit ‚schwierigen‘ oder ‚verhaltensauffälligen‘ Schülern stellen bei vielen Kolleginnen und Kollegen die weitaus größte Belastung des Berufsalltags dar“ (Sennlaub, 2008, S. 151). Damit ist nicht nur die bildungswissenschaftliche, sondern auch die Relevanz für das Berufsfeld Schule aufgezeigt. Hier soll nochmals auf das anfänglich gegebene Zitat verwiesen werden, das reflektierende Praktiker betont. Im Schulalltag sind Dialoge zwischen Lehrkräften und damit Austausch und Kooperation jedoch die Ausnahme (vgl. Connemann & Gieselbrecht, 2008, S. 86). Die Peer-Beratung wirkt diesem Zustand entgegen, indem sie Kollegen und Kolleginnen in Austausch bringt und gemeinsam Probleme des Schulalltags bearbeiten und bewältigen lässt. Nachdem die Motivation dieser Arbeit und die Fragestellung mit dem Erkenntnisinteresse vorgestellt wurde, wird im zweiten Kapitel diese Methode der Peer-Beratung vorgestellt. Die konkrete Beratung des hier fokussierten Falles folgt im dritten Kapitel. Im vierten Kapitel wird die Theorie vorgestellt, die im fünften Kapitel zur Analyse des Falls herangezogen wird. Am Ende des sechsten Kapitels steht eine Zusammenfassung, in der die Beratung reflektiert und Schlussfolgerungen und Konsequenzen der Arbeit gegeben werden.

1.1 Motivation

Die hier vorgestellte Peer-Beratung wurde nach Beendigung des Praxissemesters durchgeführt, da drei Kommilitoninnen der Verfasserin für das kommende Semester den Besuch des Seminars Peer-Beratung in Betracht gezogen haben. Um ihnen einen kleinen Einblick in das Verfahren zu geben, wurde an einem Nachmittag eine Sitzung simuliert. Die Verfasserin konnte in diese Sitzung einen Fall aus ihrem Forschungstagebuch einbringen, der sie auch nach dem Praxissemester noch beschäftigte. Dieser soll in der vorliegenden Hausarbeit aufgearbeitet werden und mit theoretischen Bezugspunkten untermauert werden.

1.2 Fragestellung und Erkenntnisinteresse

Dadurch soll sich einerseits mit der in der Einleitung erwähnten Fragestellung weiter auseinandergesetzt werden – in der Hoffnung, diese schlussendlich beantworten zu können. Andererseits wird mit der Hausarbeit die Reflexion der Methode „Peer-Beratung“ intendiert und mögliche Schwierigkeiten und Grenzen herausgearbeitet.

2. Methode der Kollegialen Beratung

Gegenseitige Beratung, die strukturiert und selbstgesteuert abläuft, stammt aus der Arbeit mit Lehrern und Referendaren. In Deutschland fing man Anfang der siebziger Jahre damit an, Praxisschwierigkeiten im Umgang mit Lernenden innerhalb einer Gruppe zu behandeln und sich gegenseitig zu beratschlagen. Anfänglich war noch ein Psychologe anwesend, in den achtziger Jahren fing man an, den Beratungsgruppen eine Beratungsstruktur zu geben, mit der sie die Beratung alleine durchführen konnten (vgl. Tietze, 2007, S. 36).

Man ist der Ansicht, dass anregend Ideen auch von Laien oder Alltagsmenschen stammen können (vgl. Connemann & Gieselbrecht, 2008, S. 85). Dazu sind externe Experten nicht nötig. Somit können sich Lehrkräfte einer Schule untereinander qualifiziert beraten, ihre beruflichen Praxisprobleme innerhalb der Gruppe reflektieren und gemeinsam an Handlungsoptionen und Lösungen erarbeiten. Unterstützer und Berater können aber auch aus anderen Schulen kommen oder aus anderen Berufsgruppen stammen (vgl. Mutzeck & Schlee, 2008, S. 11). Die Tätigkeitsfelder sollten aber miteinander verwandt sein, damit man von Kollegialer Beratung sprechen kann.

Kollegiale Beratung gibt es heutzutage in verschiedenen Konzeptionen und Bezeichnungen in der deutschsprachigen als auch in der englischsprachigen Literatur. Diese unterschieden sich „in ihrer Grundorientierung, in der Anzahl und Funktion der einzelnen Phasen und in ihrer Komplexität“ (ebd., S. 37). Zu nennen wäre hier beispielsweise die KoBeSu (Kollegiale Beratung und Supervision), bei der Ratschläge oder Tipps zur Lösung der Situation nicht erlaubt sind (vgl. Schlee, 2008a, S. 39). Dort soll der Fallgeber durch gezielte Fragen und Methoden alleine auf eine Lösung kommen.

Die Peer Beratung stützt sich auf die Methode der Kollegialen Beratung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Struktur transparent und einfach ist. Die feste Struktur ist nötig, um alle nötigen Schritte für einen Problemlöseprozess zu durchlaufen (vgl. Tietze, 2007, S. 12) und damit das Gespräch innerhalb einer gewissen Zeit zu einem Ergebnis führt (vgl. ebd., S. 63). Durch unterschiedliche Methoden wird jedoch auch Abwechslung innerhalb der festen Strukturen ermöglicht. Die Gruppenmitglieder innerhalb der Beratungsrunde sind gleichberechtigt, es existieren keine Hierarchien und die Rollen werden immer wieder neu verteilt.

Durch die Peer Beratung soll eine Reflexion des beruflichen Handelns vorangetrieben werden. Reflexion sieht Tietze (2007) als „Schlüssel zum Lernen im Erwachsenenalter“ (S. 21). Durch diese wird eine Distanz zum Erlebten geschaffen, die Fallgeber werden von ihrem Handlungsdruck befreit und sie können die Situation nochmals durchdenken (vgl. Schlee, 2008a, S. 15). Situationen der Kollegialen Beratung beziehen sich auf berufliche Felder, müssen relevant für den Fallgeber und dürfen nicht zu komplex sein (vgl. Tietze, 2007, S. 18 f.). Berufliche Kompetenzen werden durch die Beratung trainiert und das Handlungsrepertoire in konkreten Situationen erweitert. Die Kollegiale Beratung führt zu einer Vielzahl an alternativen Handlungsmöglichkeiten, aus denen sich der Fallerzähler für sich geeignete auswählen kann (vgl. Tietze, 2007, S. 57). Durch die verschiedenen Blickwinkel der Reflexionspartner werden zusätzliche Zugänge ermöglicht und Handlungs- und Entscheidungsspielräume erweitert (vgl. Tietze, 2007, S. 22). Dadurch sollen Belastungen in der beruflichen Praxis vermindert werden, da Probleme und die damit einhergehende Last mit anderen geteilt werden können und gemeinsam Lösungen entwickelt werden (vgl. Connemann & Gieselbrecht, 2008, S. 85). Die Mitarbeit und Unterstützung anderer am Arbeitsplatz ist laut Schlee (2008a) essentiell, da keiner alle seine Probleme bei der Arbeit alleine lösen kann (vgl. S. 8). In diesem Zusammenhang wird der Ausbau einer Feedback- und Unterstützungskultur gefordert, um Lehrkräfte miteinander in Austausch zu bringen und die „Kultur [...] des Verbergens und des Schönens“ (Schlee, 2008b, S. 17) zu durchbrechen. Die Kollegiale Beratung soll Empathie und Vertrauen fördern und Konkurrenzsituationen, sowie eine misstrauische Haltung gegenüber Kollegen durch Vertrauen und Kooperationsbereitschaft ersetzen (vgl. ebd., S. 18). Dazu ist es wichtig, vor allem Beratungsphasen respektvoll und wertschätzend miteinander umzugehen und achtsam zuzuhören. Dafür sollte die Teilnahme freiwillig erfolgen (vgl. Tietze, 2007, S. 16).

Gerade bei Lehrenden in der Ausbildung stößt die Kollegiale Beratung nach Schlee (2008a) auf gute Resonanz, was durch diese Hausarbeit unterstützt wird. Im Folgenden wird der Ablauf der Kollegialen Beratung so dargestellt, wie sie im Seminar der Universität angewandt wurde (vgl. Anhang 8.1). Diese Vorgehensweise wird an Stellen mit Literatur unterstützt und Abweichungen von Ratgebern zu der Kollegialen Beratung deutlich gemacht. Darauf folgt eine kurze Darstellung zu den situativen Rahmenbedingungen der hier im Fokus stehenden Kollegialen Beratung.

2.1 Ablauf

Die Beratung umfasst sechs folgende Phasen: Casting, Falldarstellung, Klärung der Situation, Reflexion, Beratung und Feedback. Eine Beratung umfasst circa 45 Minuten (vgl. Tietze, 2007, S. 69).

Im Casting werden die Aufgaben der Teilnehmenden verteilt. Es gibt einen Fallgeber und einen Moderator. Der Rest der Teilnehmenden nimmt die Rolle der Reflexionspartner ein. [5] Fallgeber ist derjenige, der einen dringenden Fall vorzubringen hat. Fallgeber können aber auch im Vorfeld bestimmt werden, falls kein dringender Fall bearbeitet werden muss. Die Rolle des Moderators wird von Sitzung zu Sitzung nach einem bestimmten Muster weitergegeben. Der Moderator achtet im Verlauf der Sitzung darauf, dass die zugewiesenen Rollen auch eingehalten werden. Die Rollenverteilung ist wichtig, da durch diese die Aufgaben der Kollegialen Beratung verteilt werden und somit jeder weiß, in welcher Phase er welches Verhalten zeigen muss (vgl. Tietze, 2007, S. 64).

Bei der Falldarstellung stellt der Fallgeber spontan seinen Fall vor. Er geht dabei auf seine Sichtweise und sein Erleben ein und formuliert am Ende seine Schlüsselfrage. Tietze (2007) spricht dem Moderator bei der Falldarstellung die Aufgabe des Stellens von erkundenden Fragen zu. Diese sollen dazu dienen, die Fallerzähler anzuhalten, den äußeren Kontext des Falles, aber auch seine eigene Erlebenswelt zu schildern (vgl. S. 76). Im Seminar wurde diese Aufgabe des Moderators ausgelassen, da die Fallgeber zuvor, mithilfe des Thomann-Schemas[6], beide Aspekte bzw. Sichtweisen durchdacht haben. Die übrigen Teilnehmer hören bei der Darstellung nur aufmerksam zu und versuchen die Situation nachzuvollziehen. Am Ende wird eine Reflexionsmethode eingesetzt, damit die Reflexionspartner ihre spontanen Gedanken zum Fall ausdrücken können. Der Moderator schreibt in dieser Phase Stichworte mit und unterstützt den Fallgeber, wenn nötig bei der Formulierung der Schlüsselfrage. Die Schlüsselfrage „bezieht sich auf ein veränderbares Verhalten oder Erleben des Fallerzählers“ (Tietze, 2007, S. 88) und sollte im Einflussbereich des Fallgebers liegen.

In der dritten Phase (Klärung der Situation) dürfen die Reflexionspartner Nachfragen stellen, die zum Verständnis des Falles von Bedarf sind. Der Moderator notiert diese Ergänzungen.

Im Laufe der Reflexion können die Reflexionspartner nochmals auf ihre spontanen Gedanken aus der zweiten Phase eingehen. Sie können weitere Gefühle, Impulse und Vermutungen in den Raum stellen, dürfen aber noch keine Lösungen oder Vorschläge zur Lösung der Situation anbringen. Auch hier kann der Moderator Notizen machen. Der Fallgeber hört in dieser Phase nur zu, kann aber bei Bedarf am Ende Stellung zu den Assoziationen der Reflexionspartner nehmen.

In der fünften Phase (Beratung) geht es darum, Handlungsoptionen zu entwickeln. Die Methode[7], die für die Beratung benutzt wird, kann vom Fallgeber ausgesucht werden, alternative Methodenvorschläge können von den übrigen Teilnehmern jedoch auch angebracht werden. Wichtig ist, dass die Methode zu der Beantwortung der Schlüsselfrage passend ist (vgl. Tietze, 2007, S. 91). In dieser Phase ist es essentiell, dass die Teilnehmenden offen gegenüber anderer Ideen und Meinungen sind. Im Hinblick auf die Schlüsselfrage sollen nun möglichst viele und unterschiedliche Handlungsoptionen entwickelt werden. Hierbei ist es wichtig, dass diese nicht richtiger sind als andere Optionen. Die Erhöhung der Vielfalt an Perspektiven steht hier im Vordergrund. Der Moderator notiert alle Vorschläge und achtet darauf, dass sich der Fallgeber in dieser Phase wohlfühlt und sich durch die Optionen nicht angegriffen fühlt. Er selbst hört nur zu und kommentiert nicht. Falls er sich unwohl fühlt, soll er diese Befindlichkeit jedoch äußern. Innerhalb der Beratungsphase sollten sich nach Tietze (2007) die Reflexionspartner anschauen und untereinander über verschiedene Möglichkeiten diskutieren. So kann der Fallgeber dem Gespräch eher wie ein Unbeteiligter folgen und alle Handlungsoptionen als Angebote wahrnehmen (vgl. S. 100). Auch die Verwendung des Konjunktivs trägt dazu bei, dass der Fallgeber nicht das Gefühl hat, dass seine Handlungen falsch gewesen sein, sondern nur das Gefühl, weitere Handlungsoptionen, über seine Handlungen hinaus, zu erhalten (vgl. ebd., S. 102).

Das Feedback stellt den Schluss der Kollegialen Beratung dar. Der Moderator kann hierfür eine Methode vorschlagen. Der Fallgeber zieht mithilfe der Methode ein Fazit, welche Handlungsoptionen für ihn hilfreich waren und wie er jetzt weitermacht. Auch die Reflexionspartner können hier äußern, was sie für ihre eigene Praxis mitnehmen. Der Moderator kann der Gruppe abschließend ein Feedback zu der Beratung geben. Nach Tietze (2007) übernimmt diese Aufgabe der Prozessbeobachter (vgl. S. 107). Außerdem schlägt er ein Feedback für den Moderator vor (vgl. S. 106), das sehr hilfreich ist, wenn die Gruppe frisch angefangen hat zusammenzuarbeiten und sich in der Ausübung ihrer Rollen noch unsicher fühlt.

2.2 situative Rahmenbedingungen

Die hier fokussierte Sitzung einer Peer Beratung fand in einem Raum der Universitätsbibliothek statt. Teilgenommen haben vier Studentinnen, von denen eine die Methode der Peer Beratung mehrmals in einem Seminar durchgeführt hatte. Die drei restlichen kannten die Methode noch nicht und wollten im Hinblick auf die bald anstehende Erstellung des Stundenplanes herausfinden, ob die Methode ihnen zusagt und sie das Seminar zur Peer Beratung ebenfalls belegen möchten.

Das Casting wurde im speziellen Fall nicht durchgeführt, da schon vor der Zusammenkunft klar war, dass die Verfasserin dieser Hausarbeit einen Fall einbringt. Die drei Kommilitoninnen sollten so die Möglichkeit bekommen, die Rolle einzunehmen, die sie am häufigsten im Seminar der Peer Beratung einnehmen – die Reflexionspartner.

Der Ablauf der Kollegialen Beratung wurde kurz durchgesprochen und ihnen erklärt, welche Verhaltensweisen die Rolle der Reflexionspartner mit sich bringt. Als Grundlage dazu diente die Übersicht, mit der auch im Seminar der Peer Beratung gearbeitet wird (siehe Anhang 8.1). Analog zu dem Prozessanzeiger von Schlee (2008a, vgl. S. 76) wurden, um eine Übersicht über die Phasen zu geben und zu visualisieren, in welcher Phase man sich gerade befindet, alle sechs Phasen auf ein kleines Blatt geschrieben und durch einen Stein angezeigt, in welcher Phase man sich gerade befindet.

Die Falldarstellung wurde vorgetragen, lag aber auch in ausgedruckter Form vor, damit die Mitschrift des Moderators an dieser Stelle nicht nötig war. Die Schlüsselfrage wurde auf einem Plakat notiert. Ebenfalls nahm man hier Präzisierungen des Falls anhand von Rückfragen durch die Reflexionspartner vor[8]. Die Verfasserin dieser Hausarbeit hat die Rolle des Moderators übernommen, um die Reflexionspartner nicht zwei Rollen gleichzeitig einnehmen zu lassen. Diese kannte die Methode schon aus einigen Sitzungen der Universität und traute sich die gleichzeitige Ausübung zweier Rollen (Fallgeber und Moderator) zu.

Ergebnisse der Peer Beratung, die den vierten, fünften und sechsten Schritt umfassen (Reflexion, Beratung und Feedback) werden in 3.2 dargestellt und hier, aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit, nicht weiter thematisiert.

3. Falldarstellung und Beratung

Der im Folgenden vorgestellte Fall[9] stammt aus dem Forschungstagebuch der Verfasserin, das parallel zu dem Praxissemester geführt wurde. Nach jedem Praktikumstag wurden dort abends Eintragungen zu Geschehnissen und dem persönlichen Erleben getätigt und der Tag vergegenwärtigt. Damit wurde ein Beitrag zu „der Ausbildung von Reflexivität und Fähigkeit zur Distanznahme gegenüber eigener [...] Praxis“ (Klewin & Schüssler, 2011, S. 79) geschaffen. Das Führen eines Tagebuchs während einer Praxisphase in der Lehramtsausbildung kann Selbstreflexions- und Selbstevaluationsprozesse fördern (vgl. Gläser-Zikuda, 2007, S. 44). Allerdings ist das Schreiben für sich allein „keine Garantie für Erkenntnisgewinn oder für ergiebige Praxisforschung“ (Fischer & Bosse 2013, S. 873). Daher wird in dieser Arbeit ein Teil des Tagebuches als Fall fokussiert und mithilfe der Kollegialen Beratung aufgearbeitet.

3.1 Situationsbeschreibung

Für die Darstellung von Fällen wird in der Kollegialen Beratung oft das sogenannte „Thomann-Schema“ verwendet (vgl. Schulz von Thun, 2006, S. 34 ff.). Dieses besteht aus fünf Teilen, die bei der Fallbeschreibung helfen sollen: Titel des Falls, äußere Situation, konkrete Schlüsselsituation, Schlüsselfrage und innerliche Befindlichkeit der fallgebenden Person. Da im Forschungstagebuch, abgesehen vom Titel und der Schlüsselfrage, die im Hinblick auf die anstehende Beratung formuliert wurde, alle Aspekte thematisiert wurden, wird der Fall im Folgenden als Fließtext und ohne Schema dargestellt[10]:

Es handelt sich um eine achte Klasse der Gesamtschule – ein G-Kurs in Deutsch. Dieser Kurs ist sehr auffällig im Hinblick auf „Nichtstun“ und wird im Lehrerzimmer als die „Höhle des Löwen“ bezeichnet. In dem Kurs wurde zuvor schon hospitiert und eine Stunde gehalten – alles aber unter Aufsicht der Lehrkraft. Heute ist die Lehrkraft nicht da. Die neue Reihe zur Werbung habe ich in der letzten Stunde angefangen, es steht eine Hausaufgabe aus. Als ich beginne, die Hausaufgaben zu kontrollieren, fällt mir auf, dass sie von vielen nicht gemacht wurden. Nichts Neues in dieser Klasse. Nach der Hausaufgabenkontrolle entscheide ich mich, mich vor die Klasse zu stellen und zu fragen, weshalb sie diese nicht gemacht haben. „Frau Wiese! Das war viiiiiel zu viel!“, „Hausaufgaben sind scheiße und außerdem habe ich zu Hause Wichtigeres zu tun, aber das geht Sie nichts an!“ Ich bin mir unsicher, ob das die richtige Entscheidung war – vielleicht hätte ich doch nicht fragen sollen.

Ich versuche die Klasse zu motivieren, als ich ihnen sage, dass sie heute keine Hausaufgaben aufbekommen werden. War das richtig? Eigentlich hätte ich sie nicht „belohnen“ dürfen.

Nachdem ich in das Thema der Stunde eingeleitet habe (Werbeanzeigen analysieren), kommt wieder Murren aus der Klasse: „Das ist sooo langweilig! Wieso machen wir das?“. Da es sich bei den Werbeanzeigen dann aber um aktuelle handelt, die unter anderem Elyas M’Barek zeigen, den die Mädchen „hypergeil“ und die Jungs als „safe der beste Schauspieler“ finden, lassen sie sich auf die Aufgabe ein.

Die Lernenden sollen die Analyse eigentlich in Einzelarbeit machen, doch als die Frage kommt, ob sie auch mit einem Partner zusammenarbeiten können, bejahe ich nach längerem Überlegen, da ich froh bin, wenn sie überhaupt arbeiten. „Frau Wiese! Das ist viel zu schwer!“ Als ich mich den beiden Schülerinnen zuwende, um sie zu unterstützen, kommt es aus der anderen Richtung „Wir sind fertig! Uns ist langweilig!“. Der Gruppe, die fertig ist, gebe ich eine neue Werbeanzeige: „Hä? Wie unfair ist das denn? Jetzt werden wir noch bestraft?“. War das die falsche Entscheidung?

Nachdem wieder alle Kinder am Arbeiten sind, schaue ich auf mein Handy, um zu gucken, wie spät es ist. „Handy weg!“. An dieser Schule dürfen Lehrkräfte das Handy benutzen und ich mache dem Schüler klar, dass ich als Lehrkraft sehr wohl mein Handy benutzen darf.

Als wir beginnen wollen, die Aufgabe zu besprechen, haben wir leider nicht mehr genug Zeit, da die Stunde durch Diskussionen der Lernenden anders verlief, als geplant. Die Besprechung muss ich deshalb auf die nächste Stunde verschieben.

3.2 Ergebnisse der Beratung

Die Schlüsselfrage, zu der die Verfasserin der Hausarbeit im Anschluss an die Falldarstellung beraten werden wollte, lautete wie folgt: „ Ist der Lehrerberuf der richtige für mich, wenn ich vor der Klasse innerhalb der Stunde ständig vor vielen Entscheidungen und Situationen stehe, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob ich richtig gehandelt habe? “.

Das Protokoll der Beratung ist dem Anhang beigefügt (8.2). An dieser Stelle soll aus diesem prägnante Stellen der Ergebnisse der Beratung wiedergegeben werden. Deshalb werden ab hier nur die Reflexion, die Beratung und das Feedback fokussiert (Schritt 4, 5 und 6). Bei der Reflexion der Situation durch Ein-Wort-Karten spiegelte sich schon wider, dass das Gefühl der vielen Entscheidungen vor der Klasse nicht nur von der Verfasserin dieser Arbeit vor der Klasse erlebt wird (Stichwort: Normalität). Die Fallgeberin bekam rückgemeldet, dass Erfahrung und ein Handlungsrepertoire als Berufsanfänger oft mangelhaft sind. Diese Stichwörter aus der Reflexion wurden auch bei der darauf folgenden Beratung durch die Methode „Überraschungen erfinden“ aufgegriffen. Am wichtigsten im Hinblick auf die Schlüsselfrage erscheint der Fallgeberin die Aussage, dass es den anderen Reflexionspartnerinnen ebenfalls so vor der Klasse ergeht. Die vier Fragen, über die bei der Methode „Überraschungen erfinden“ von den Reflexionspartnerinnen nachgedacht werden sollen, ergaben sehr viele, vielschichtige und unterschiedliche Handlungsoptionen, die hier nicht alle erneut aufgegriffen werden können. Interessant ist hier, dass der gegebene Fall in einzelne kleine Teile zerlegt wurde und für jeden Teil eine Handlungsalternative überlegt oder darüber nachgedacht wurde, wie der Teil der Situation hätte anders verlaufen können. Die Aspekte, die die Fallgeberin in der Beratung als hilfreich empfunden hat, wurden im sechsten Schritt durch die Methode „mein Koffer der persönlichen Handlungsmöglichkeiten“ aufgegriffen. Die Schlüsselfrage der Fallgeberin konnte vor allem durch folgenden Stichworte als geklärt angesehen werden: „nicht nur ich habe das ‚Problem‘“ und „Berufsanfängerproblem: es gibt Hoffnung“. Durch die Beratung ist ihr klar geworden, dass sie im Referendariat ihr Handlungsrepertoire erweitern möchte, um verschiedene Möglichkeiten im Kopf zu haben, wenn von der Planung abgewichen werden muss. Teilweise ist es nötig, von seiner Planung abzuweichen. An diesen Stellen ist Spontanität gefordert, die am besten durch Erfahrung gemeistert werden kann. Aber nicht die Schlüsselfrage wurde durch die Beratung beantwortet. Die Fallgeberin erhielt weiterhin mögliche Handlungsalternativen im dargestellten Fall. So wurde ihr geraten, statt Mehrarbeit für die schnelleren Lernenden, den schwächeren Lernenden Formulierungshilfen zu geben, damit alle annähernd gleich schnell fertig sind. Schnelle Lernende hätten zuvor gelobt werden können, bevor sie eine weitere Aufgabe erhalten haben. Außerdem hätte man mehrere Werbeanzeigen zur Wahl stellen können, damit sich jeder Lernende die Anzeige aussuchen kann, die ihn am meisten interessiert und für ihn bedeutsam ist. Manche Aspekte lassen sich jedoch nicht ändern – das muss so hingenommen werden. Ein Beispiel dafür ist die Rolle des Praktikanten, die die Fallgeberin im dargestellten Fall innehatte. Vor allem der Spruch „Fake it ‘til you make it“ hat der Fallgeberin gedanklich weitergeholfen. Als Berufsanfängerin läuft nicht immer alles glatt – man fühlt sich vorne unsicher und kommt in Situationen, die nicht durchgeplant sind, schnell ins Rotieren. Oft wird dieses von außen aber gar nicht so wahrgenommen, wie es sich im Inneren anfühlt – als absolutes Chaos. Solange man nach außen immer noch eine geplante Lehrkraft „faken“ kann, die alles im Griff hat, scheinen die im Kopf ablaufenden Prozesse der Überlegungen und Entscheidungen nur halb so schlimm zu sein.

4. Literaturrecherche – theoretischer Rahmen

Nachdem der Fall und die Beratung dargelegt wurde, soll dieses mit Literatur vertieft werden. Nach vorangegangenen Recherchen wurde sich dafür entschieden, die Situation mithilfe theoretischer Überlegungen zu Antinomien im Lehrerhandeln zu beleuchten. Einerseits finden sich in dem hier fokussierten Fall viele Ansatzpunkte zu Widersprüchlichkeiten im Lehrerhandeln (siehe 5.), andererseits liefern Theorien zu diesem Thema weitere Antworten auf die Schlüsselfrage des Falles.

4.1 Antinomien im Lehrerhandeln

Einen „allgemeingültigen Konsens“ über die richtige pädagogische Vorgehensweise in verschiedenen Situationen gibt es nicht (Iwer-Stelljes & Luca, 2008, S. 430). Helsper (1995) spricht in diesem Zusammenhang von einem „Technologiedefizit pädagogischen Handelns“(S. 18). Zwar verfügen Lehrkräfte über Theorien – diese können aber nicht so einfach auf konkrete Situationen und individuelle Einzelfälle übertragen werden. Damit geht die Unsicherheit einher, ob die Absicht der Lehrkraft auch wirklich zum Erfolg und der intendierten Auswirkung führt (vgl. Helsper, 1996, S. 532).

Lehrkräfte sind in der Schule vielfältigen Erwartungen und Aufgaben ausgesetzt, die nicht immer mit einander zu vereinbaren sind. In vielen Situationen müssen sie Prioritäten setzen und sich für eine Handlungsweise entscheiden (vgl. Rothland & Terhart, 2007, S .19). In den meisten Fällen müssen Entscheidungen schnell getroffen werden. In diesem Fall kann man nicht lange „rational-kalkulierend[...]“ (Helsper, 2012, S. 32) abwägen, sondern muss intuitiv handeln.

Entscheidungen werden auch auf einer abstrakteren Ebene von Lehrkräften verlangt. Man spricht in diesem Kontext von Antinomien:

„Unter dem Begriff Antinomien können Spannungsverhältnisse gefasst werden, deren jeweilige gegensätzlichen Pole, für sich genommen, beide ihre Berechtigung haben, im Prinzip gleichwertig und jeweils anzustreben sind, aber aufgrund ihrer prinzipiellen Gegensätzlichkeit nicht beide gleichzeitig zur Anwendung kommen können und unter bestimmten Bedingungen unterschiedlich gewichtet werden (müssen).“ (Rothland & Terhart, 2007, S. 21)

Antinomien sind nach Iwer-Stelljes und Luca (2008) nicht aufhebbar. Man kann mit ihnen nur reflexiv umgehen (vgl. S. 431). Sie werden als konstitutiv für pädagogisches Handeln angesehen, weshalb es Lehrkräften nicht gelingen würde, sich den Antinomien zu entziehen. Man kann nach Helsper (2012) Antinomien durch Betrachtung von erlebten Einzelfällen erschließen und sich mit ihnen reflexiv auseinandersetzen (vgl. S. 32). Dieses ist beispielsweise durch Kollegiale Beratung und Supervision möglich (vgl. ebd.). Bevor der Fall auf mögliche antinomische Inhalte untersucht wird, soll im Folgenden ein kurzer Überblick über die in den Veröffentlichungen am meisten erwähnten fünf Antinomien gegeben werden.

Die Antinomie zwischen Nähe und Distanz zielt einerseits auf professionelle Distanz zu den Schülern, da Lehrer Fachinhalte vermitteln, die Schüler nicht über den ganzen Schultag begleiten, sie die Lernenden benoten und selektieren müssen und in größeren schulischen Einheiten agieren (vgl. Helsper, 1996, S. 530). Andererseits wird die Gestaltung einer emotionalen Beziehung erforderlich, wenn Lehrkräfte Lernschwierigkeiten bei Lernenden feststellen und diese sich mit Unwissen und Nicht-Verstandenem vertrauensvoll an die Lehrkraft wenden. Dort ist es nötig, die gesamte Person des Schülers zu fokussieren und aus der Distanz zu treten (vgl. Helsper, 2000, S. 148). Auch im Hinblick auf den Erziehungsauftrag ist Nähe zu Lernenden wichtig, da Lehrkräfte in den kompletten biographischen Zusammenhang ihrer Lernenden eingebunden sind und einen deutlichen Teil zu ihrer (Bildungs-)Biographie beitragen (vgl. Helsper, 1995, S. 25). Wenn die Beziehung allerdings zu nah wird, kann es zu schwerwiegenden Enttäuschungen kommen. Beispielsweise wenn sich das der Lehrkraft anvertraute Nicht-Wissen in schlechten Noten niederschlägt, da die Lehrkraft sich wieder distanziert verhält und die Rolle des „Selektionsexperte[n]“ (Helsper, 1996, S. 531) einnimmt. Im distanzierten Extremfall sind die Schüler den Lehrkräften gleichgültig, im anderen Extremfall, kann man unzulässig in die Privatsphäre eingreifen, wenn man den Lernenden zu nah tritt (vgl. ebd., S. 540).

Die Antinomie von Person und Sache drückt aus, dass Lehrkräfte einerseits allgemeingültige und abstrakt gültige Inhalte vermitteln, andererseits diese alltagsnah an die spezifische Lebenswelt ihrer unterschiedlichen Lernenden anpassen sollen (vgl. Helsper, 2000, S. 148). Damit einher geht die Gefahr, das eine auf Kosten des anderen zu verfehlen. Auf der Seite der „Person“ erhält man eine Pluralität, die mit den offenen, diffuseren und pluralen Strukturen unserer heutigen Welt übereinstimmt (vgl. Helsper, 1996, S. 542). Die „Sache“ plädiert für Vereinheitlichungen, da der Lehrplan nicht alle Inhalte aufnehmen kann und allgemeingültiges Wissen als Ziel von Schule angesehen wird (vgl. Rothland & Terhart, 2007, S. 21).

Hierzu passt ebenfalls die Antinomie von Einheitlichkeit und Differenz. Diese beschreibt das Spannungsmoment zwischen homogenisierter Gleichbehandlung von Lernenden und der individualisierten Förderung, die die Spezifik des Einzelfalles fokussiert. Auf der einen Seite ist es die Verpflichtung von Lehrern, ihre Lernenden gleich zu behandeln und nach gleichen Maßstäben zu beurteilen. Mit dieser Gleichbehandlung kommt man der Selektionsfunktion von Schule nach. Auf der anderen Seite bedürfen manche Lernende einer verstärkten Zuwendung und Förderung (vgl. Rothland & Terhart, 2007, S. 22). Diese verstärkte Zuwendung zu Benachteiligten bedingt jedoch die Verknappung von Zuwendung zu anderen, was entgegen der Forderung nach Gleichbehandlung steht.

Als vierte Antinomie wird das Spannungsverhältnis zwischen Organisation und Interaktion angesehen. Die Schule als Organisation strukturiert Handlungsräume und besteht aus regelhaften Routinen und Ablaufmustern, die generalisieren und homogenisieren: Lehrpläne, Stundenpläne und Zeitregelungen (vgl. Helsper, 2000, S. 149 f.). Diese Routinisierung steht entgegen spontan stattfindenden, offenen und individuellen Interaktionen und dem geforderten offenen und kreativen Lehrerhandeln (vgl. Iwer-Stelljes & Luca, 2008, S. 431). Zwar kann das professionelle Handeln durch Routinen und Strukturen entlastet werden, jedoch läuft man Gefahr, dass sich die Organisation verselbstständigt und anstelle „routiniserter Entlastung“ zur „routinisierten Erstarrung“ tendiert (vgl. Helsper, 1996, S. 535).

„Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ ist ein bekanntes Zitat von Kant, welches im Zusammenhang mit der Antinomie von Autonomie und Heteronomie steht. In der Schule soll die Heteronomie von Lernenden durch soziale Zwänge in Autonomie gewandelt werden. Lernende sind gegenüber den dominanten Professionellen in einer abhängigen, heteronomen Position - die Beziehung ist asymmetrisch (vgl. Helsper, 2000, S. 146). In einem fremdbestimmten Prozess müssen Lehrkräfte die Lernenden zur Autonomie befähigen. Dabei kann man diese, durch die Betonung ihrer heteronomen Rolle, der „‚pädagogischen Führung‘ bedürftig [...] setzen“ (vgl. Helsper, 1995, S. 19). Auf diese Weise kann bereits entstandene Autonomie wieder verloren gehen. Autorität kann die Schüler aber auch überfordern, wenn man ihnen zu schnell zu viel Eigenverantwortlichkeit und damit Autonomie zuschreibt (vgl. Helsper, 2000, S. 151). Gerade bei 13- bis 14jährigen Lernenden sprechen Helsper und Hummrich (2014) von einer wichtigen Transformationsstelle. Hier distanzieren sich Schüler stärker von der Schule und fühlen sich mehr als Teil ihrer Peerkontexte. In diesem Alter ist es besonders wichtig, Lernenden eine verstärkte Partizipation am Unterricht zuzusprechen (vgl. S. 8). Je nach Altersstufe muss diese Antinomie neu ausbalanciert werden, denn die anfänglich starke Asymmetrie der Lehrer-Schüler-Beziehung kann sich mit fortschreitendem Alter der Lernenden in symmetrische Formen wandeln (vgl. ebd., S. 7).

Wie schon am Anfang dieses Kapitels angedeutet, sind Antinomien nicht aufhebbar, können nicht außer Kraft gesetzt und nur reflektiert gehandhabt werden. Dadurch kann eine reflexive Distanz zur eigenen Praxis entstehen und alternative Handlungsmöglichkeiten durchdacht werden. Hierbei ist es wichtig, eine möglichst große Bandbreite von Möglichkeiten in Betracht zu ziehen (vgl. Helsper, 2000, S. 164). Diese Vorgehensweise stimmt mit der der Kollegialen Beratung überein, weshalb diese als gute Möglichkeit erscheint, über die Antinomien im Lehrerhandeln zu reflektieren. Antinomien werden als „normaler‘ Bestandteil der besonders anspruchsvollen Profession“ angesehen (Helsper, 2000, S. 167). Lehrkräften bleibt in vielen Situationen die Entscheidungsautonomie überlassen – sie können sich für die eine oder andere Handlungsweise, sich ihrer Begründungspflichtigkeit und organisatorischen Rahmungen bewusst, entscheiden (vgl. Helsper, 2000, S. 167). In der Literatur wird zu einem balancierten Umgang mit den beiden extremen Polen der Antinomien geraten (vgl. Helsper, 2000, S. 142).

5. Analyse: Theorie-Praxis-Bezug

Nachdem im vorangegangenen Kapitel die Theorie zu den Antinomien vorgestellt wurde, sollen diese im Folgenden chronologisch auf den hier fokussierten Fall angewendet und ein Bezug hergestellt werden.

Im Hinblick auf die Nähe-Distanz-Autonomie lässt sich aussagen, dass die Verfasserin der Arbeit distanziert gehandelt hat, als sie die Kontrolle von Fachinhalten (Hausaufgaben) einforderte. Kurz danach ist sie aber zur emotionalen Ebene gewechselt, da sie an den Gründen interessiert ist, warum die Lernenden die Hausaufgaben nicht gemacht haben. Obwohl viele diese nicht hatten, wurden die Schüler nicht distanziert sanktioniert, sondern motiviert, da die Verfasserin ihnen gesagt hat, dass es in der fokussierten Stunde keine Hausaufgaben geben würde. Hinsichtlich des Extrempols der Nähe kann man einen Eingriff in die Privatsphäre herauslesen, denn ein Lernender äußert: „Hausaufgaben sind scheiße und außerdem habe ich zu Hause Wichtigeres zu tun, aber das geht Sie nichts an!“ Distanz wird aber wieder an der Stelle deutlich, als die Verfasserin dieser Arbeit in ihrem Forschungstagebuch die Äußerungen der Lernenden zu der Werbeanzeige („hypergeil“ und „safe der beste Schauspieler“), trotz Verwendung der indirekten Rede in Anführungsstrichen angibt. Damit macht sie deutlich, dass diese Wörter nicht in ihren Wortschatz gehören und hebt sich von den Lernenden ab.

Auch die Antinomie von Person und Sache findet in dem fokussierten Fall Anklang. Einerseits soll die Werbeanzeigenanalyse als abstrakt gültiger Gegenstand bzw. Methode vermittelt werden. Auf dieses allgemeingültige Wissen äußern die Lernenden jedoch: „Das ist sooo langweilig! Wieso machen wir das?“ Durch die Verwendung einer aktuellen Werbeanzeige, die einen unter den Lernenden bekannten Prominenten beinhaltet, wurde andererseits versucht, die Werbeanzeige alltagsnah an die Lebenswelt der Lernenden anzupassen. Zwar läuft man dadurch Gefahr die Vermittlung der Werbeanzeigenanalysse aus den Augen zu verlieren, da die Lernenden durch Elyas M'Barek zu sehr an ihre Lebenswelt erinnert und abgelenkt werden, dieses hielt sich in der Stunde aber in Grenzen.

Einheitlichkeit war durch die gleiche Werbeanzeige gegeben. Das Problem daran war, dass die Komplexität dieser für einige zu leicht, für andere aber zu schwer war. Deshalb musste differenziert werden, indem einige Schüler in Einzelbetreuung unterstützt wurden. Dadurch konnte aber anderen Lernenden weniger Aufmerksamkeit geschenkt werden. Darüber hinaus kann beobachtet werden, dass die Schüler selbst Einheitlichkeit einfordern. Als die Verfasserin den schnelleren noch eine weitere Werbeanzeige geben wollte „Hä? Wie unfair ist das denn? Jetzt werden wir noch bestraft?“.

Die Antinomie von Interaktion und Organisation kann man vor allem zum Stundenende hin betrachten, als die Stunde durch das stundenbegrenzende Klingeln der Organisation, ohne Erreichung des Stundenziels, unterbrochen wurde. Die individuelle Interaktion und die Diskussionen mit den Lernenden (beispielsweise über das Handy), haben zu viel Zeit in Anspruch genommen, weshalb von dem ursprünglichen Plan der Stunde abgewichen werden musste. Betrachtet man die Diskussion um das Handy näher, kann man hier auch eine Rollenzuschreibung der Organisation herauslesen. Die Verfasserin dieser Hausarbeit hatte im Praktikum die Rolle der Praktikantin inne. Hierdurch wurde sie von den Lernenden wahrscheinlich nicht als fertig ausgebildete Lehrkraft angesehen, die im Unterricht ihr Handy benutzen darf. Durch die Praktikantenrolle kommen ihr „begrenzende Möglichkeiten der Einflussnahme auf Klassenklima und Arbeitsorganisation“ zu (Iwer-Stelljes & Luca, 2008, S. 440).

Auch die Antinomie von Autonomie und Heteronomie lässt sich auf den fokussierten Fall anwenden. Die Heteronomie der Lernenden hat die Verfasserin unterstützt, da sie zu Lernenden an den Platz gegangen ist, die bei der Werbeanzeigenanalyse Hilfe benötigten. Dadurch können diese abhängig gegenüber dieser Unterstützung werden. Autonom entscheiden durften die Lernenden, ob sie die Aufgabe in Gruppen oder in Einzelarbeit lösen wollten. Trotzdem haben die Lernenden hier immer noch die abhängige Position inne, da sie auf die Bejahung durch die Lehrkraft warten müssen. Das asymmetrische Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler wird außerdem in der Handybenutzung deutlich, da dieses nur von der Lehrkraft im Unterricht benutzt werden darf.

Durch die im Vorangegangenen aufgezeigten Beispiele von Antinomien, die sich im Fall wiederfinden lassen, ist deutlich geworden, dass sich der Fall mit der hier ausgewählten Literatur gut vertiefen lässt. Vor allem kann dadurch gezeigt werden, welchen zahlreichen (antinomischen) Entscheidungen die Verfasserin dieser Arbeit ausgesetzt war, weshalb sich die Literaturrecherche als unterstützend und wertvoll herausgestellt hat. Durch die theoretische Ausarbeitung konnten weitere Antworten auf die Schlüsselfrage gefunden werden, die abschließend im Fazit auf den Punkt gebracht werden sollen. Außerdem soll kurz die Beratung reflektiert und Schlussfolgerungen und Konsequenzen gezogen werden.

6. Zusammenfassung und Fazit

Wie die Analyse im fünften Kapitel gezeigt hat, war die Verfasserin der Hausarbeit in ihrem vorgestellten Fall in viele widersprüchliche Entscheidungen eingebunden, die sie daran zweifeln lassen haben, dass der Lehrerberuf das Richtige für sie ist. Die Literaturrecherche hat aber gezeigt, dass Lehrerhandeln immer Widersprüchlichkeiten aufweist – Antinomien, die man nur reflexiv handhaben kann. Rothland und Terhart (2007) meinen, die Professionalität des Lehrers liege darin „dass es ihnen gelingt, das Lehren und Lernen im Unterricht in der schulischen Praxis zu gestalten, obwohl sie so vielen Unsicherheiten, widersprüchlichen Anforderungen und Vorgaben ausgesetzt sind und obwohl kein Konsens und keine Eindeutigkeiten zu erwarten sind“ (S. 22). Hier ist ein Bezug zu dem Zitat am Anfang der Einleitung gegeben. Die Professionalität, die Rothland und Terhard aufgreifen, wird dort als ein Prozess angesehen. Das Wort Prozess macht deutlich, dass man auch im Laufe jahrelanger Berufserfahrung immer wieder etwas dazulernen kann. Gerade hier kann die Methode der Peer-Beratung greifen, da diese Pädagogen zusammenbringt und diese in der Entwicklung ihrer Professionalität unterstützt. Pädagogisches Handeln habe nach Sieland und Tarnowski (2008) nur „Experimentcharakter“ (S. 117) und müsse deshalb immer wieder reflektiert werden. Diese Reflexion wird durch die Peer-Beratung ermöglicht. Durch die hier fokussierte Peer-Beratung hat die Verfasserin Distanz zu ihrem erlebten Fall generieren können und festgestellt, dass die Situation, von außen betrachtet, nicht so schlimm war, wie sie sich vor der Klasse angefühlt hat. Außerdem konnte sie durch die Beratung feststellen, dass es auch anderen Mitstudierenden vor der Klasse so ergeht und hat weitere Handlungsalternativen vorgeschlagen bekommen, die im folgenden Kapitel fokussiert werden sollen. Des Weiteren konnte durch die sich daran anschließende Literaturrecherche in Erfahrung gebracht werden, dass auch jahrelang im Beruf tätige Lehrer Schwierigkeiten bei Entscheidungen haben, da Widersprüchlichkeiten zu der anspruchsvollen Profession des Lehrers dazu gehören. Deshalb kann die Schlüsselfrage („ Ist der Lehrerberuf der richtige für mich, wenn ich vor der Klasse innerhalb der Stunde ständig vor vielen Entscheidungen und Situationen stehe, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob ich richtig gehandelt habe? “) nach der Peer-Beratung und der Ausarbeitung wie folgt beantwortet werden: Entscheidungen gehören zum Lehrerberuf dazu – Antinomien sind konstitutiv. Solange man über das Vorhandensein der Antinomien Bescheid weiß, kann man diese reflektiert handhaben und der Situation entsprechen ausbalancieren. Der Lehrerberuf scheint der Verfasserin als richtige Berufswahl, da der Fall im Nachhinein, durch die Reflexion nicht mehr so schlimm empfunden wird. Welche Konsequenzen schlussendlich aus dieser Antwort der Schlüsselfrage gezogen werden, wird in 6.2 thematisiert.

[...]


[1] Auf dieses Format wird im Folgenden noch näher eingegangen (Kapitel 3).

[2] Einzelheiten zu der Beratung und ihrem Ablauf werden im Laufe des Hauptteiles gegeben (Kapitel 2).

[3] An dieser Stelle soll die kurze Zusammenfassung des Falls ausreichen, um Parallelen zur bildungswissenschaftlichen Literatur aufzuzeigen. Der Fall wird in 3.1 detaillierter beschrieben.

[4] In der vorliegenden Hausarbeit wurde aus Gründen der besseren Lesbarkeit im Folgenden überwiegend nur die maskuline Form (z.B. Pädagogen, Schüler, Lehrer) verwendet. Es sind selbstverständlich stets Personen männlichen und weiblichen Geschlechts gleichermaßen gemeint.

[5] Hier werden die Rollen so knapp wie möglich skizziert. Für eine detaillierte Darstellung der Rollen siehe Tietze (2007, S. 52 ff.). Tietze betitelt den Moderator lediglich als Sekretär und rät zu einer weiteren Rolle – die des Prozessbeobachters, der die Beratung von außen beobachtet, sich nicht einbringt und der Gruppe am Ende ein Feedback gibt (vgl. S. 58). Die Aufgabe des Feedbacks übernimmt im Ablauf nach dem Seminar der Moderator.

[6] Zur Erläuterung dieses Begriffs, siehe 3.1.

[7] Bei Tietze (2007) wird nur in der Beratungsphase eine Methode ausgewählt. Eine Methodensammlung für diese Phase ist auf den Seiten 115-214 zu finden. In der hier durchgeführten Beratung wird für die vierte, fünfte und sechste Phase eine Methode benötigt. Methodenvorschläge für diese Phase finden sich in BiSEd, o.J.

[8] Für weiterführende und detaillierte Informationen siehe das Protokoll im Anhang (8.2).

[9] Mit Fällen werden nach Tietze (2007): „allgemein Situationen, Probleme und Geschehnisse beschrieben, die für jemanden besonders und ungewöhnlich sind und die vom Alltag abweichen. Fälle ergeben sich zumeist dann, wenn Routinen unerklärlicherweise stecken bleiben oder wenn Begegnungen mit anderen Menschen unglücklich und unbefriedigend verlaufen“ (S. 30). Diese Definition trifft auch auf den hier fokussierten Fall zu.

[10] Für die Kollegiale Beratung und die vorliegende Ausarbeitung wurden noch ein paar Details zu dem originalen Forschungstagebucheintrag hinzugefügt, um der Darstellung der äußeren Situation und der innerlichen Befindlichkeit gerecht zu werden.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Kollegiale Beratung. Ausarbeitung einer Fallberatung im Rahmen des schulischen Praxissemesters im Lehramtsstudium
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
27
Katalognummer
V416183
ISBN (eBook)
9783668672451
ISBN (Buch)
9783668672468
Dateigröße
1041 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kollegiale, beratung, ausarbeitung, fallberatung, rahmen, praxissemesters, lehramtsstudium
Arbeit zitieren
Anna Baer (Autor:in), 2017, Kollegiale Beratung. Ausarbeitung einer Fallberatung im Rahmen des schulischen Praxissemesters im Lehramtsstudium, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/416183

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