Textanalyse von Wang Mengs Kurzgeschichte "Ye de yan" ("Das Auge der Nacht") und Kritik der deutschen Übersetzungen


Thèse de Master, 2006

87 Pages, Note: 1,3


Extrait


INHALT

0. Einleitung

1. Inhalt und Form des Werkes „ Ye de yan
1.1. Entstehung und Wirkung der Kurzgeschichte
1.2. Thematik der Kurzgeschichte
1.3. Der „Stream of consciousness“ aus chinesischer Perspektive und die Intention des Autors Wang Meng
1.4. Zur Erzählsituation in modernistischen Werken

2. Erzähltechnische Perspektive in dem Werk „ Ye de yan
2.1. Erzählergeprägte Figurenrede zur Gestaltung des Innenlebens
2.2. Interferenz zwischen Erzählerstimme und Figurenstimme
2.2.1. Zu den Redeformen
2.2.2. Die Modellierung der gedanklichen Reflexionen der Figur
2.3. Die Simulation von unmittelbaren Reflexen der Figurenseele
2.4. Weitere Elemente des Entwurfs der Perspektivfigur
2.4.1. Außensicht – Innensicht
2.4.2. Das Blickfeld
2.4.3. Die Situierung der Figur

3. Zur Methodik der Übersetzungskritik
3.1. Zum Begriff „Übersetzen“
3.2. Aufgaben der Übersetzungskritik
3.3. Entscheidungsfindung des Übersetzers
3.4. Zu sinologischen Übersetzungskritiken

4. Bedingtheiten der Translationshandlung
4.1. Das funktionelle Verhältnis von Ausgangs- und Zieltext
4.2. Situationsfaktoren der Übersetzungen
4.2.1. Inhalt und sozio-kulturelle Faktoren
4.2.2. Medium und Textumfeld
4.3. Methodische Hinweise der Übersetzer

5. Die Übersetzungen von Wang Mengs Werk „ Ye de yan “ („Das Auge der Nacht“)
5.1. Die Stellung des Gedankenberichts
5.2. Erlebte Rede bei Herrmann
5.3. Elemente des Stream-of-consciousness
5.3.1. Modifikation aneinandergereihter Wahrnehmungsnotate
5.3.2. Lautmalerei als Mittel des Stream-of-consciousness
5.4. Weitere perspektivische Strukturen
5.4.1. Außensicht und Innensicht
5.4.2. Das Blickfeld der Figur
5.4.3. Situierung der Figur

6. Beurteilung anhand eines Zieltextprofils
6.1. Implikationen des Ausgangstextes
6.2. Vermutungen über die Strategien der Übersetzerin
6.3. Psychologisierender Stil und Übersetzung

7. Schlussbetrachtungen

ANHANG I: „Abbildungen zur Illustration der Kurzgeschichte ‚Ye de yan’ (‚Das Auge der Nacht’) in der Ausgabe der Guangming Ribao (Tageszeitung ‚Das Licht’) vom 21. Oktober 1979“

ANHANG II: „Abbildung auf dem Bucheinschlag der 1987 beim Unionsverlag erschienenen Übersetzung ‚Das Auge der Nacht’“

LITERATURVERZEICHNIS

0. Einleitung

1987, 1988, 1989 und 1990 erschienen insgesamt fünf Übersetzungen einer Ende der 70er Jahre (1979) in China verfassten Kurzgeschichte. Es handelt sich um eines der ersten Werke, das angesichts der politischen Öffnung nach der Kulturrevolution mit neuen Formen experimentiert: „ Ye de yan “ (Das Auge der Nacht) von Wang Meng. Gerade zu dieser Zeit wird in der Presse vielfach die Qualität chinesischer zeitgenössischer Literatur im Hinblick auf die Rezeption durch deutsche Leser bemängelt.[1]

Sollte der durch die deutsche Presse vermittelte Eindruck, Autoren der Volksrepublik China würden keine guten Kurzgeschichten schreiben, möglicherweise mit Schwierigkeiten bei dem chinesisch-deutschen Sprach- und Kulturtransfer in all seinen Facetten zusammenhängen? Denn insbesondere die erwähnte Kurzgeschichte, die in der kurzen Phase der politischen Öffnung zwischen Kulturrevolution und Etablierung der neuen Führungsschicht unter Deng Xiaoping entstand, integriert doch alle möglichen literarischen Erzähltechniken, die auch in modernsten Werken wie „Ulysses“ angewendet wurden, und dass sich chinesische Schriftsteller von ausländischen Techniken inspirieren lassen, ist doch in qualitativer Hinsicht eine kreative Bereicherung.

Um die Situation besser einschätzen zu können, soll in dieser Arbeit die Kurzgeschichte sowie der Transfer und die Übersetzungen genauer durchleuchtet werden. Genauer soll die Frage untersucht werden, ob bestimmte im Original angewendete, die Gesamtheit des literarischen Textes betreffende Erzähltechniken, wie die Vernehmbarkeit eines Erzählers, die Art, das Bewusstsein der Erzählfigur wiederzugeben beziehungsweise dieses mit dem Erzählfluss verschmelzen zu lassen und beispielsweise Techniken, um eine bestimmte Verlangsamung des fiktiven Zeitablaufs zu simulieren, im Zieltext konsequent und ganzheitlich beachtet wurden. Gerade das Herausgreifen begrenzter Textstellen bei Übersetzung und Übersetzungskritik hat in der Vergangenheit schon zu widersprüchlichen Darstellungen geführt und auch im Zusammenhang mit sprachlichen und erzähltechnischen Phänomenen, die nur innerhalb größerer Abschnitte bestimmbar sind, an Überzeugungskraft eingebüßt[2]. Möglicherweise findet sich in der unsystematischen Übertragung erzähltechnischer Elemente neben vielen anderen ein Grund für das getrübte Lesevergnügen bei der Rezeption moderner chinesischer Literatur in deutscher Übersetzung.[3]

Damit soll der Anlass gegeben sein, eine beispielhafte Studie zur Übertragung erzähltechnischer Elemente in der chinesisch-deutschen Literaturübersetzung durchzuführen. Durch Untersuchung der Möglichkeiten in der chinesisch-deutschen Literaturübersetzung, Textstellen zu übertragen, soll es auch lernenden Übersetzern[4] ermöglicht werden, unter Berücksichtigung der Beobachtungen in dieser Studie bei zukünftigen, möglicherweise ähnlichen, Problemstellungen leichter Entscheidungen treffen zu können.

In Kapitel 1 und 2 sollen die Umstände und Merkmale der Kurzgeschichte erläutert werden. Nach der Klärung des Begriffs „ Stream-of-Consciousness “ soll gezeigt werden, dass sich die Merkmale dieser literarischen Ausdrucksform auch in der chinesischen Kurzgeschichte finden.

Um zu vermeiden, eine vom eigenen Übersetzungsideal abweichende Formulierung in den gegebenen Übersetzungen vorschnell als Übersetzungs-„Fehler“ zu klassifizieren, werde ich in Kapitel 3 die neuesten Methoden der Übersetzungswissenschaft diskutieren und auf Probleme von bisherigen Übersetzungskritiken eingehen. Es wird sich herausstellen, dass bei einer Übersetzungskritik im Sinne von objektiver Bewertung (z.B. Reiß 1982:11-14) die Hauptsache nicht so sehr darin liegt, zu einem abschließenden Urteil zu kommen, sondern vielmehr auf der objektiven Durchleuchtung der außersprachlichen Textfaktoren, deren Gegenüberstellung und der konkreten sprachlichen Realisierungen im Text. In den Worten von Gerzymisch-Arbogast ausgedrückt: Es geht darum, „die Nachvollziehbarkeit der übersetzerischen Entscheidungen für einen Dritten“ (Gerzymisch-Arbogast 1994:14) zu ermöglichen. Mit der Erläuterung der übersetzungsrelevanten Textanalyse von Nord ist dann der Anstoß für den Beginn der Übersetzungskritik gegeben.

Es sollen in Kapitel 4 die Kommunikationsbedingungen oder auch „textexternen Faktoren“ (Nord 1995:44-89) der Übersetzungen, wie Medium, Zeit, Ort und Zielrezipient kurz beleuchtet werden und mit den textexternen Faktoren der originalen Kurzgeschichte in Beziehung gesetzt werden. Dabei soll hervorgehen, unter Erhaltung insbesondere welcher Textkomponenten der Transfer zu vollziehen ist und wie ein Übersetzungsziel aussehen könnte. Vor dem Hintergrund der Übersetzung von Herrmann ergibt sich in Kapitel 4.2.2. gerade die besondere Erzähltechnik von Wang Mengs Werk als zu erhaltender Faktor des Translationsvorgangs.

In der anschließenden Studie in Kapitel 5 sollen konkrete Textstellen des Originals mit insbesondere der Übersetzung von Herrmann kontrastiert werden. Es soll bezüglich erzähltechnischer Elemente untersucht werden, welche Besonderheiten die Übersetzerin im Original gesehen haben und durch was diese Sichtweise motiviert gewesen sein könnte und welche Alternative sich ergibt, legt man die Priorität eines anderen übersetzungsrelevanten Faktors zugrunde. Die mit (a) bezeichneten Textabschnitte der Kurzgeschichte in deutscher Version ohne weitere Quellenangabe beinhalten dabei jeweils die möglichst wörtliche Übersetzung von mir selbst.

In Kapitel 6 soll weiter diskutiert werden, ob sich generelle Methoden beim Vorgehen der Übersetzerin abzeichnen. Es soll überprüft werden, ob diese konsequent in Bezug auf ihr Übersetzungsziel sind. Aber sie sollen auch an dem Übersetzungsziel gemessen werden, das sich aus der Untersuchung von mir als Übersetzungskritikerin ergab.

Die Methodik für die Gestaltung der Untersuchung habe ich Christiane Nord (1995) und Heidrun Gerzymisch-Arbogast (1994) entnommen, des weiteren half Werner Koller (1992) bei Klärung von Grundfragen zur Übersetzung und die Einwände von Mary Snell-Hornby (1994) brachten neue Aspekte zu Kollers Ausführungen. Als Richtlinie für die übersetzungsrelevanten Bereiche der Linguistik stütze ich mich auf die Grammatik für das moderne Chinesisch von Manfred und Shuxin Reichardt (1990) und die Einführung in die Thema-Rhema-Theorie von Luise Lutz (1981). Es gibt aber auch untrennbar mit der Übersetzung verbundene nicht-linguistische Disziplinen, die für die Übersetzungskritik relevant sind. Bei diesem Beispiel einer Literaturübersetzung handelt es sich insbesondere um sozio-kulturelle Hintergründe der Kurzgeschichte und literaturwissenschaftliche und erzähltechnische Grundlagen. Ich stütze mich diesbezüglich auf die Klassifikationen der Erzähltechnik von Jochen Vogt (1998), auf Rudolf Wagners Beschreibung der literarischen Entwicklung während der Reform- und Öffnungszeit in China (1983), auf einen Artikel von Leo Ou-fan Lee (1985), das China-Handbuch von Wolfgang Franke (1977), Kapitel aus der Beschreibung des chinesischen Literaturwissenschaftlers Zhang Xuejun (1996) und Texte des Autors Wang Meng selbst (1980).

1. Inhalt und Form des Werkes „Ye de yan“

In diesem ersten der sechs Abschnitte der Übersetzungskritik soll das Werk „ Ye de yan “ („Das Auge der Nacht“) des Autors Wang Meng, das gleichzeitig den Ausgangstext für die Übersetzungen darstellt, genauer untersucht werden. Dabei soll deutlich werden, in welcher Situation dieser Ausgangstext steht, d.h. es soll eine zeitgeschichtliche Einordnung erzielt werden, und es soll dargestellt werden, welche Intention der Autor Wang Meng mit dem Text verfolgt und welche Wirkung der Text nach seiner Veröffentlichung 1979 in China hatte. Aus diesen Faktoren, die sich aus der „kommunikativen Situation“, in die der Text eingebettet ist (Nord 1995:13), extrahieren lassen, soll insbesondere deutlich werden, dass die Erzähltechnik, die die gesamte Handlung aus dem Blickwinkel der Handlungsfigur darstellt, in diesem literarischen Werk eine zentrale Bedeutung einnimmt. Der so genannte Stream-of-consciousness, von dem sich Wang Meng inspirieren ließ, soll dabei genauer beschrieben werden.

Die Untersuchung des Ausgangstextes und seiner literarischen Intention ist innerhalb der Übersetzungskritik insofern von Bedeutung, als sich daraus der „Skopos“ der Translation (Nord 1995:27) ergibt, der Hinweise auf die zu bewahrenden und zu verändernden Elemente im Zieltext gibt (Nord 1995:24). Auf die übersetzungswissenschaftlichen Begriffe soll jedoch erst in Kapitel 3 und 4 eingegangen werden.

1.1. Entstehung und Wirkung der Kurzgeschichte

„Wang Meng war in der Romankunst vom Anfang bis zum Ende ein Forscher, ein Wegbereiter, der seit jeher nicht zufrieden mit und beschränkt war auf eine Ausdrucksform, und diesbezüglich in all seinen Werken eine führende Position einnimmt, jedoch vom Anfang bis zum Ende den Realismus dirigieren lässt. Alle Versuche, die Stream-of-consciousness -Technik anzuwenden, dienten dazu, die Kunst der Modernisten zu durchbrechen, und sie in die große Flut des Realismus zu führen, um die Ausdruckskraft des Realismus erheblich zu verstärken und bereichern.“[5] (Jin Han 1990:368-369)

So charakterisiert der chinesische Literaturwissenschaftler Jin Han Wang Mengs Romanschaffen aus der Sicht der neunziger Jahre. Die nachträgliche Klassifizierung von Wang Mengs Schaffen als „Bereicherung des Realismus“ ist aber auch im Kontext des sozialistischen Literaturschaffens in der Volksrepublik China zu sehen. Nicht ganz ohne politische Brisanz waren die Versuche des Schriftstellers im Jahre 1979 mit neuen literarischen Techniken zu experimentieren, noch dazu einer modernistischen Technik aus dem „kapitalistischen Westen“, hatte sich doch die Volksrepublik schon mit der Gründung der VR China unter der Führung von Mao den sozialistischen Realismus als Leitlinie gesetzt[6].

Nach der Kulturrevolution kam es in China zu einer Öffnung. Auf dem Dritten Plenum des 11. Zentralkomitees (ZK) der Kommunistischen Partei Chinas wurde im Dezember 1978 eine neue politische und ökonomische Linie eingeschlagen. „[D]ie Betonung lag nicht mehr auf der ‚Begeisterung’ und den ‚Massen’, sondern auf der ‚Gesetzmäßigkeit’ der Ökonomie“ (Wagner 1984:18). In dieser Zeit wandelte sich der Zeitgeist, es kam zu einer raschen Entwicklung, die auch die neuen Techniken in den Geschichten von Wang Meng erklären lässt:

„In einem geschichtlichen Zeitalter, das auf die sozialistische Modernisierung zuschreitet, einem Zeitalter der Aufklärung der Politik, des intensiven Ankurbelns der Wirtschaft, der Erhöhung des materiellen Lebensniveaus der Menschen treten auch die Forderungen nach Ästhetik in ein Zeitalter der Pluralisierung ein.“[7] (Zhang Xuejun 1996:186)

Wang Meng war bereits in den fünfziger Jahren durch seine Kurzgeschichten, wie z.B. „ Zuzhibu laile ge nianqingren “ („Der Neuling in der Organisationsabteilung“) aufgefallen, in denen er sich kritisch mit den Mängeln des Organisationsapparats der Partei auseinandersetzte (Wagner 1984:16). Wang Meng verbrachte daraufhin wahrscheinlich aus Gründen der politischen Verbannung zwanzig Jahre in der chinesischen Provinz Xinjiang, als Folge des Dritten Plenums des XI. ZK 1978 wurde er dann jedoch wieder rehabilitiert (Wagner 1984:18). Möglicherweise angeregt durch einen Schriftstellerkongress im September 1979, in dem die neue Linie der Literatur bestimmt werden sollte (Wagner 1984:353), schrieb er die Kurzgeschichte „ Ye de yan “ („Das Auge der Nacht“), die am 21. Oktober 1979 in der chinesischen Tageszeitung Guangming ribao veröffentlicht wurde. Der Text trägt neben der Nennung des Autors und des Titels der Geschichte die Bezeichnung „ xiaoshuo “ (Erzählung). Die Zeichen sind hineingedruckt in ein Bild, das eine im Hinblick auf das Jahr 1979 in China moderne Großstadt darstellen soll: man erkennt mehrstöckige, dicht stehende Häuser und viel Verkehr.[8] Bezeichnend sind dabei auch das mit auf der Zeitungsseite abgebildete, mit „ Dongfeng “ (Ostwind) betitelte Bild, das den politischen „Frühling“ andeutet[9], und ein kleinerer Artikel, in dem über das Schicksal der während der Kulturrevolution verbotenen Bücher diskutiert wird.

Neben dem Hinweis auf die Bedeutung seiner Kurzgeschichte als Beitrag zur Kritik der gesellschaftlichen Umstände (vgl. auch Kapitel 1.2.) gibt Wang Meng (1980:114) zu, sich bei der Formgestaltung von Techniken des modernen europäischen Romans inspiriert haben zu lassen, von der Form einer bürgerlichen Gesellschaft, der „Gattung der Metropolen“, dem Stream-of-consciousness (vgl. Kapitel 1.3. und 1.4.). Er wird diesbezüglich verschiedentlich als Pionier angesehen; er sei der erste und bekannteste chinesischer Schriftsteller[10], der nach der Kulturrevolution mit westlichen Einflüssen zu experimentieren begonnen habe.[11]

Bezüglich der unmittelbaren Wirkung kann man sagen, dass Werke wie „ Buli “ (Bolschewistischer Gruß), „ Ye de yan “ (Das Auge der Nacht), „ Fengzheng piaodai “ (Drachenschnur), „ Hudie “ (Schmetterling), „ Chun zhi sheng “ (Frühlingsstimmen) und „ Hai de meng “ (Traum der See) von Wang Meng durch ihre Vorreiterfunktion in künstlerisch-formaler Hinsicht wohl zunächst auch Verwirrung auslösten, wie ein Brief der Studenten des Literaturinstituts der Aomen-Universität (Wang Meng 1980:114) zeigt. Im China der 80er Jahre leiteten sie dann jedoch einen Trend ein und damit verbunden die Debatte über Modernismus in der Literatur.[12]

Zhang Xuejun schreibt rückblickend:

„[Wang Mengs] Experimente in künstlerischer Hinsicht und die damit bei den Kritikern hervorgerufene Debatte formten zu Beginn der 80er Jahre in den literarischen Kreisen eine allgemeine Schwärmerei und erschlossen einen fortschrittlichen Weg für die Entwicklung der modernistischen Romane der neuen Periode.“[13] (Zhang Xuejun 1996:190)

Um auf das anfängliche Zitat zurückzukommen soll hier angemerkt werden, dass die Diskussion um die Nachahmung und Akzeptanz der Technik als eigene „modernistische“ Schule oder als „Bereicherung des Realismus“ schließlich und letztendlich immer bestimmt wird durch die in China herrschende Ideologie.

1.2. Thematik der Kurzgeschichte

Die Kurzgeschichte beschreibt inhaltlich die Eindrücke und Gedanken der Erzählfigur Chen Gao auf dem Weg durch die für ihn aufgrund zwanzigjähriger Abwesenheit verändert wirkende Großstadt bei Nacht und seine Begegnung mit einem jungen Mann, der, so vermutet Chen Gao, der Sohn des politischen Funktionärs ist, von dem er die Lieferung von Autoteilen für den Organisationsapparat seiner Gemeinde als Kameradschaftsdienst erbitten soll.

Wie ein Leitmotiv zieht sich der Begriff „ yangtui “ (Hammelkeule) durch das Stück. Die „Hammelkeule“ wird in der Kurzgeschichte dabei als Sinnbild für den Wohlstand im Sinne einer Sicherung der elementaren Lebensbedürfnisse verwendet, wie durch einen Vergleich deutlich wird:

„Es stiegen zwei junge Leute in Arbeitskleidung ein. Sie waren gerade dabei, in erregter Gemütslage zu diskutieren: ‚…der springende Punkt ist die Demokratie, Demokratie, Demokratie…’. Seit einer Woche in der Großstadt, vernahm Chen Gao von überall Gerede über Demokratie. In der Großstadt aber über Demokratie zu reden war genauso üblich, wie in jenem abgelegenen Kreis über Hammelkeulen. Das ist wohl so, weil in der Großstadt die Fleischversorgung im Verhältnis hinreichend ist. Die Leute müssen sich um Hammelkeulen nicht den Kopf zerbrechen.“[14] (Wang Meng 1981:130)

Es sei ebenso üblich in der Stadt über Demokratie zu reden, wie auf dem Land über Hammelkeulen. Dabei dient die „Hammelkeule“ gleichzeitig als Bindeglied für die Darstellung der Verhältnisse auf dem Land und in der Stadt. Die „Hammelkeule“ verkörpert in diesem Sinne ein bestehendes Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land in China Ende der 70er Jahre.

Das Sinnbild „Hammelkeule“ wird im Folgenden verschiedentlich aufgegriffen: Eine Demokratie, die nicht dafür sorge, mehr fettere Hammelkeulen in die hinteren Winkel des Landes zu bringen, sei nur leeres Geschwätz, heißt es in der Kurzgeschichte (Wang Meng 1981:130). Der Roman vermittelt dadurch die Ansicht, dass Demokratie mit Wohlstand gleichgesetzt wird, dass Demokratie gerade die Aufgabe habe, für mehr Wohlstand zu sorgen. Es heißt weiter: Schriftsteller, die ihr Werk lediglich in den Dienst der Sicherung des Lebensunterhaltes stellten (eigentlich: die immer nur an Hammelkeulen dächten), hätten keine Aussicht auf Erfolg (Wang Meng 1981:131).

Höhepunkt bezüglich dieses Leitmotivs bildet die Begegnung von Chen Gao mit dem „jungen Burschen“: Der junge Bursche fordert von Chen Gao Tauschwaren für die Autoteile, worauf ihm Chen Gao Hammelkeulen anbietet, für ihn als Dorfbewohner spontan das einzige, was er anzubieten hat. Der junge Bursche jedoch bricht in verächtliches Gelächter und Mitleid aus (Wang Meng 1981:139). Er ist offensichtlich mit Lebensmitteln zur Genüge versorgt.

Diese Darstellung des „jungen Burschen“ als Sohn eines Funktionärs, für den sein Wohlstand in diesem Maße selbstverständlich ist und der überdies noch mehr fordert, lässt Rückschlüsse auf die Absicht des Autors zu. Wang Meng prangert mit der Kurzgeschichte die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse in China nach der Kulturrevolution an, in denen sich die sich neu etablierende Führungsschicht übermäßig Privilegien sichern wollte. Diese Idee findet sich bei Wagner (1983:19) bestätigt. Er schreibt, der Schriftsteller Wang Meng habe im Rahmen der Aufforderung der Literaten zur (konstruktiven) Kritik durch das 3. Plenum des XI. ZK die „Privilegiensucht rehabilitierter Kader“ (Wagner 1983:19) kritisiert.

Der Titel „ Ye de yan “ („Das Auge der Nacht“) deutet auf jemanden hin, der etwas sieht, das andere nicht sehen, denn in der Nacht ist vieles verborgen. Im übertragenen Sinne könnte damit darauf hingedeutet werden, dass ein bestehender Wohlstand der Kader dem chinesischen Bürger verborgen ist. Doch die Figur Chen Gao hat das prunkvoll eingerichtete Zimmer erblickt (Wang Meng 1981:137). Vor diesem Hintergrund lässt sich als Höhepunkt der Kurzgeschichte der Moment bestimmen, in dem Chen Gao zu der schockierenden Erkenntnis über die Zustände in der chinesischen Gesellschaft gelangt, beschrieben durch die Vision einer sich dämonenrot verfärbenden Glühbirne (Wang Meng 1981:140).

1.3. Der „Stream of consciousness“ aus chinesischer Perspektive und die Intention des Autors Wang Meng

Wie in Kapitel 1.1. erwähnt wurde, hatte Wang Meng bei der Schaffung der Kurzgeschichte die Absicht, eine ganz andere literarische Form auszuprobieren und gibt zu, sich diesbezüglich von ausländischen Stream-of-consciouness -Romanen inspiriert haben zu lassen (vgl. Wang Meng 1980:114).

Nach Vogt (1998:191) handelt es sich bei dem Begriff „ Stream of consciousness “ (zu Deutsch: Bewusstseinsstrom) eigentlich um eine Metapher auf ein literarisches Verfahren zur Darstellung des Bewusstseins der Erzählfigur(en). „ Stream of consciousness “ wurde die Idee genannt, das Bewusstsein der Figur im Roman so darzustellen, dass es scheine, die Worte im Text spiegelten die Gedanken genau so wider, wie sie ins Bewusstsein getreten seien. Dabei müsse es sich nicht um einen ausformulierten inneren Monolog handeln, sondern mitunter um „unausgesprochene, vielfältige, flüchtige, assoziativ angeordnete Bewusstseinsinhalte und -impulse“ (Vogt 1998:185). „ Stream-of-consciousness “ wird dabei oft gleichzeitig verwendet für die Gattung mit ihrer Technik zur Gedankenwiedergabe, aber auch als Bezeichnung für die Technik selbst. Es handelt sich dabei um die Definition eines Literaturwissenschaftlers aus Europa, es ist jedoch anzunehmen, dass einem chinesischen Rezipienten beim Betrachten eines Bewusstseinsromans andere Aspekte aufgefallen sind. Dies soll im Folgenden dargelegt werden.

Der chinesische Schriftsteller Wang Meng erklärt in einem Antwortschreiben auf die Fragen der Studenten des Literaturinstituts der Aomen-Universität seine Absichten bei der Schaffung der Form seiner Kurzgeschichte „ Ye de yan “. Er führt als ersten Punkt an, er habe über die sinnlichen Wahrnehmungen eines Menschen schreiben wollen, seine unmittelbaren Empfindungen und Eindrücke (Wang Meng 1980:114). Er grenzt sich jedoch von den „krankhaften, abnormalen, mysteriösen oder sogar einsamen Seelenzuständen“ (Wang Meng 1980:115) des westlichen Stream-of-consciousness ab und sucht stattdessen Bezugspunkte in der chinesischen Kultur. Er meint, Lu Xuns Prosagedichte[15] oder Li Shangyins[16] Gedichte könnten in diesem Sinne ebenfalls als „ Stream-of-consciousness “ verstanden werden. Hier ergibt sich schon ein wichtiger Unterschied zur westlichen Auffassung eines Bewusstseinsromans, den Zhang Xuejun rückblickend in folgende Worte fasst:

„Die Bewusstseinsromane von Wang Meng und anderen gleichen überhaupt nicht den westlichen Bewusstseinsromanen […], vereinzelt wird der subjektive Bewusstseinsstrom eines Menschen ausgedrückt, der dabei aber heftige Gefühle sozialistischer Realität hat. Die im Roman ausgedrückten Verwirrtheitsgefühle sind in einen rationalen Rahmen hineinmontiert, es gibt keine geistesgestörte Irrationalität, die willkürlich hervorquillt und auch keine Ausdehnung in tiefe menschliche Bewusstseinsbereiche. Die Bewusstseinsaktivität des Protagonisten befindet sich ganz unter rationaler Führung, sie ist wie eine Brechung des Lichtstrahls der Psyche im sozialistischen Realismus. In konkreten Werken ist der größte Teil versehen mit einer Rahmenhandlung, es gibt Erläuterungen, der logische Weg des ‚Bewusstseinsstroms’ ist deutlich zu erkennen und ähnelt nicht der Konfusion und Obskurität des westlichen Bewusstseinsstroms.“[17] (Zhang Xuejun 1996:195-196)

Eine Entwicklung, die in diesem Zusammenhang auch im Kontext der VR China als neu angesehen werden muss, sind die Experimente mit dem subjektiven Blickpunkt und der Konzentration auf die innere Wahrnehmung der Figur – der Darstellung ihrer Gedanken, Gefühle und Erinnerungen. Dies entspricht im weitesten Sinne folgender Idee des westlichen Stream-of-consciousness:

„Nicht zufällig wurzelt diese Form in der Zeit um 1900 [in Europa] mit ihrem lebhaften Interesse an der psychischen Dynamik und deren möglichst ‚authentischer’ Wiedergabe. Äußeres Geschehen ist nur als Stimulus […] innerer Prozesse wichtig.“ (Vogt 1998:188)

Dabei kann, so Vogt (1998:54), die Wahrnehmung der Figur „entweder als visueller Reflex (mit Tendenz zur Beschreibung) oder als intellektuell-affektive Reflexion (Bewusstseinswiedergabe) ausgeprägt sein“.

Visuelle Reflexe der Figur Chen Gao werden in „ Ye de yan “ beispielsweise zu Beginn der Erzählung dargestellt, als Chen Gao an der Bushaltestelle wartet (Wang Meng 1981:129). Dadurch wird gleichzeitig die Szenerie der modernen Großstadt modelliert.

Intellektuell-affektive Reflexion findet sich zum Beispiel, als im Bus das Einsteigen zweier Männer in Arbeitskleidung, die sich über Demokratie unterhalten, Chen Gaos Gedanken über die Bedeutung der Demokratie für einen Schriftsteller vom Lande auslösen (Wang Meng 1981:130). Nach mehreren Abschnitten des inneren Erörterns wird die Rahmenhandlung des fahrenden Busses unvermittelt wieder aufgenommen (Wang Meng 1981:132). Gegenwärtige Wahrnehmung und die dadurch ausgelösten Gedankengänge beziehungsweise Erinnerungen und Wünsche greifen abschnittsweise ineinander.

Damit ist ein weiteres wichtiges Merkmal des Stream-of-consciouness angesprochen, nämlich die Assoziativität des Bewusstseins, die in Bewusstseinsromanen nachzubilden versucht wird (vgl. Vogt 1998:190), und von der sich auch Wang Meng, wie er (1980:115) angibt, inspirieren lassen hat. Er schreibt:

„Ich beabsichtigte, eine die Grenzen von Raum und Zeit durchbrechende psychologische Beschreibungsart anzuwenden, um in vollem Maße die […] 8000 Li und 30 Jahre zu vergegenwärtigen, um die Beziehungen und Kontraste zwischen den verschiedenen Dingen in diesen 8000 Li und 30 Jahren zu beschreiben.“[18] (Wang Meng 1980:105-106)

Mit der durch die Abkehr vom linearen Plot erreichten Unabhängigkeit von einer Chronologie und dem damit erzielten breiten Spektrum des erzählten Raums und der erzählten Zeit findet man bei Wang Meng eine Neuerung in der Literatur der Volksrepublik China wieder. Wie auch die subjektive Darstellung des Innenlebens des Helden in der Geschichte trat dieses Merkmal bereits mit der Entwicklung der modernen Literatur Ende des 19. Jahrhunderts in China auf[19], obwohl es jeweils in den Perioden davor in der traditionellen Literatur und der Literatur im Dienste des Sozialismus und Kommunismus gleichermaßen nicht zur Entfaltung kam (Schmidt-Glintzer 1999:484). Mit dieser assoziativen Abfolge der Themeninhalte und durch das parallele Anordnen von Erinnerung und gegenwärtigem Erleben kann Wang Meng implizit Vergleiche zwischen Stadt und Land im China der Reform- und Öffnungszeit darstellen.

Als nächstes geht Wang Meng bei der Erklärung seiner Absichten auf den Begriff des „Strömens“ innerhalb des Begriffs „Bewusstseinsstrom“ ein. Das Strömen des Bewusstseins, eigentlich eine Entdeckung des westlichen Psychologen William James, wird dabei von Wang Meng im chinesischen Kontext geschickt mit dem dialektischen Materialismus in Verbindung gebracht (Wang Meng 1980:115), womit er eine Legitimierung durch die Ideologie des eigenen Staates erreicht. Er schreibt:

„Was das ‚strömen’ [in dem Begriff ‚Bewusstseinsstrom’] betrifft, es ist noch unbedenklicher. Die Verfechter des dialektischen Materialismus denken schon seit jeher, dass die Welt (einschließlich die geistige Welt des Menschen) eine strömende ist, eine sich verändernde ist, und die durch inneren Differenzen, Widersprüche, Kämpfe, Wandlungen, Übergänge und Sprünge erfüllt ist. […]

Ich bin kein Theoretiker, aber ich hoffe, dass ich den ‚Bewusstseinsstrom’ in zwei Teile geteilt betrachten kann, dass ich die Weltsicht der dialektischen Materialisten benutzen kann, um ihn zu analysieren, Nützliches zu entwickeln und Unbrauchbares zu verwerfen, seine vernünftigen Dinge annehmen kann, und unser literarisches Schaffen bereichern, diversifizieren kann.“[20] (Wang Meng 1980:115)

Wang Meng äußert sich in seinem Schreiben an die Literaturstudenten stets bewusst, dass er die Form der modernistischen Erzählungen nicht vollständig übernehmen wollte. „[W]ie lange sollen wir noch die ‚ausländischen Fußbinden als Schlips’ benutzen?“[21] schreibt Wang Meng (1980:116), und meint damit, er wolle sich durch den ausländischen Formalismus nicht einengen lassen[22]. Übernahme oder Vorbildfunktion müssten genauestens erwogen werden, müssten an der Nützlichkeit für die Reform, für die Entwicklung und für das Schaffen gemessen werden (Wang Meng 1980:116).

Zhang Xuejun klassifiziert diese zögernde und abwartende Haltung gegenüber westlicher modernistischer Philosophie und Literatur dabei rückwirkend als typisch für diese Zeit der ersten Öffnung:

„Weil der ‚Bereich des Denkens’ lange Zeit ‚verschlossen’ war, nahmen die Menschen gegenüber westlicher modernistischer Philosophie und Literatur eine zögernde und abwartende Haltung ein, setzten eine ruhige mächtige Trägheit in den Denkweisen drauf, und ließen die Schriftsteller im Umgang mit der westlichen modernistischen Literatur eine vorsichtige Haltung einnehmen. Sie teilten die modernistischen Werke vorsichtig in die zwei Aspekte Inhalt und Form und verwarfen den wertlosen Rest. Sie vertraten die Auffassung, nur die Auslese anzunehmen, übernahmen also auf direktem Weg seine Form, und verachteten seinen Inhalt, um zu demonstrieren, dass sie selbst sich von der nihilistischen, dekadenten, verzweifelten Stimmung klar abgrenzen könnten, klar unterscheiden könnten zwischen Reinheit und Unreinheit. Deswegen benutzten die Experimente dieses Zeitabschnitts nur die neuartige künstlerische Form, und bezüglich der gedanklichen Vorstellungen behandelten sie immer noch leuchtende sozialistische Fragen. Das war gerade das Verurteilen des Überreste des Feudalismus und der Ruf nach Humanismus.“[23] (Zhang Xuejun 1996:194-195)

Auch wenn die Kurzgeschichte „ Ye de yan “ in ihrem Konzept durchaus als sehr innovativ im Kontext der VR China angesehen werden und man modernistische Techniken ausmachen kann, soll die Kurzgeschichte also letztendlich nicht als reiner Stream-of-consciousness klassifiziert werden. Eine detailliertere Untersuchung der erzähltechnischen Aspekte (vgl. Kapitel 2) hat schließlich auch Auswirkung auf die Form der deutschen Übersetzung.

1.4. Zur Erzählsituation in modernistischen Werken

Wie Zhang Xuejun (Kapitel 1.3.) bemerkt, befinden sich die Bewusstseinsvorgänge in den chinesischen Bewusstseinsromanen im Unterschied zu westlichen Bewusstseinsromanen alle unter rationaler Führung. Damit spielt er auf die verschiedenen Erzählsituationen an.

Bezüglich der Erzählsituation lässt sich ein Werk grundsätzlich dahingehend unterscheiden, ob sich ein Erzähler überhaupt „vernehmen“ lässt, also ob man den Eindruck hat, jemand erzähle kommentierend und erläuternd die vorliegende Geschichte (nach Vogt (1998:58): „auktoriales Erzählen“), oder ob man eher den Eindruck hat, das Geschehen werde „präsentiert“, ohne dass sich ein Erzähler vernehmen lässt. Bei letzterem lässt sich weiter unterscheiden, ob das Geschehen „von außen“, also ähnlich der Darstellung nach Aufnahme durch ein Kameraobjektiv, präsentiert wird (nach Vogt (1998:44): „neutrales Erzählen“), oder ob das, was kommentarlos präsentiert wird, gerade die Innenwelt der Erzählfigur ist, ihre Gedanken, ihr „Bewusstsein“ (nach Vogt (1998:43): „personales Erzählen“). Diese letztere Darstellung ist Kennzeichen des modernen Romans und Prusek äußert sich dazu wie folgt:

„Das Bemühen, alle Geschehnisse so darzustellen, als erlebte sie der Leser selbst, führt dazu, dass […] Tendenzen erscheinen, die in der damals modernsten europäischen Literatur ebenfalls auftraten, nämlich das Erzählen, das ein Ausdruck des älteren Realismus war […], durch Präsentation zu ersetzen, d.h. durch eine Darstellung, die den unmittelbaren Eindruck des Geschehens auf eine Person wiedergibt. Diese Person übernimmt im Grunde die Aufgabe des Erzählers, was ihr eine gewisse Dynamik verleiht, denn die Schilderung des Geschehens wird durch die Beteiligung dieser Person beeinflusst, und die Eindrücke gehen durch das Prisma ihres Empfindens.“ (Prusek 1977:1080)

Die Entwicklung des personalen Erzählens, die „scheinbar erzählerlose epische Präsentation“ (Vogt 1998:43) und der Versuch, das Geschehen aus dem Blickwinkel der Handlungsfigur zu gestalten, tendiere thematisch stark zum Bewusstseinsstrom, der seinerseits das Interesse an psychischen Prozessen widerspiegele (Vogt 1998:55). Das Geschehen werde im modernen Roman von den Erzählfiguren selbst dargestellt beziehungsweise durch ihre Eindrü>Dabei befürwortet Vogt (1998:41-42) im Gegensatz zur landläufigen Praxis[24] eine Trennung von der Person des Autors und dem fiktiven Erzähler, denn, so fragt er, könne es sein, dass der Autor nicht vielmehr eine Art Stellvertreter vorschiebe (Vogt 1998:42) (also beim Verfassen selbst in eine andere Rolle schlüpft)? Dabei sollte klar sein, dass in jedem Werk autobiografische Anteile des Autors zu finden sind, denn ein Schriftsteller würde nicht über etwas schreiben, das gar nichts mit ihm zu tun hat. Die Frage ist nur, wo und inwieweit eine Übereinstimmung zwischen der Biografie des Autors und dem Schicksal der Erzählfiguren besteht.

Beispielsweise hat die Figur Chen Gao, wie in der Kurzgeschichte beschrieben wird, während der Verfolgung in der Kulturrevolution ein kleines „Andenken“[25] erhalten (Wang Meng 1981:133), wohingegen die Person des Autors Wang Meng während der Kulturrevolution angeblich unter dem Schutz der uigurischen Bauern und der einheimischen Kader leben konnte (Wang Meng 1990:319) und körperlich nicht zu Schaden kam. Es scheint vielmehr als werde die Figur gerade mit ihren Missgeschicken und Schwächen konstruiert. Es wird beispielsweise sehr ausführlich berichtet, wie Chen Gao in ein Erdloch fällt (Wang Meng 1981:134)). Dies kann dazu dienen, dass der Erzähler aus einer bestimmten Distanz eine einerseits bemitleidende, aber durchaus auch mokante Rolle gegenüber der Figur und ihren Erlebnissen einnehmen kann, wie sich im folgenden Kapitel 2 noch zeigen wird.

Dabei wird auch deutlich, dass sich in der Kurzgeschichte unmissverständlich Erzählereingriffe manifestieren – trotz Wang Mengs Bekenntnis, mit dem Stream-of-consciousness zu experimentieren, dessen Technik ja gerade einer personalen Erzählsituation (ohne Erzählereinmischungen) nah kommt. Diese Sichtweise wird durch westliche Sinologen bestätigt, die behaupten, bei Wang Meng spiegelten sich die konventionellen Erzählstrukturen des Realismus noch deutlich wider. Zumindest stellenweise versehe ein Erzähler die Geschichte mit Kommentaren und nehme den Standpunkt eines objektiven Dritten ein.[26]

In der Definition des chinesischen Stream-of-consciousness von He Xin wird eine „vermischte Technik“[27] zugelassen, die neben einer Beschreibung des inneren Bewusstseinsstroms einer Figur auch die „Beschreibung der objektiven Verhältnisse“[28] zulässt (He Xin 1980:164). Offensichtlich fand bei den Experimenten mit den modernistischen Techniken aus dem Westen nicht nur inhaltlich-thematisch eine Assimilierung statt, wie Zhang Xuejun (1996:195-196) ausführt (vgl. Kapitel 1.3.), sondern auch bei der Definition der „neuen“ Erzählsituation.

Doch auch bei den westlichen Studien zur Erzähltechnik wird festgestellt, dass

„[…] die Kategorie der Erzählsituation […] nicht zur Charakterisierung des gesamten Werks oder auch nur eines größeren Abschnitts, sondern lediglich zur Klassifizierung kleinerer Erzähleinheiten dienen kann.“ (Vogt 1998:52)

Es sei also normal, dass Elemente aus verschiedenen Erzählsituationen innerhalb eines epischen Textes variieren. An welchen Stellen die Situation durch die Eindrücke und Gedanken der Erzählfigur dargestellt wird, an welchen Stellen sich der Erzähler einmischt oder an welchen Stellen schließlich die Grenze zwischen Erzähler und Figur verwischt, soll in Kapitel 2 untersucht werden.

2. Erzähltechnische Perspektive in dem Werk „ Ye de yan “

Wie wir in Kapitel 1.3. bereits erfahren haben, ließ sich Wang Meng nach eigenen Aussagen von einer stark an einer personalen Erzählsituation grenzenden Erzähltechnik inspirieren, also nach Vogt (1998:50-53) von einer den Erzähler zurück treten lassende Erzählsituation, wobei die erschaffene Figur als personales Medium, als Perspektivfigur[29] des Erzählers dient. Weiter haben wir (in Kapitel 1.4.) angenommen, dass in Wang Mengs Kurzgeschichte höchstwahrscheinlich trotzdem ein Erzähler auszumachen ist und die Gedankenwiedergabe prinzipiell in einen Erzählrahmen eingebettet ist.

Dieses Kapitel soll das Ziel haben, klar heraus zu arbeiten, in welchen Textstellen eine Erzählerperspektive eingenommen wird und in welchen eine Figurenperspektive. Dies soll einerseits an der Art der Redewiedergabe verdeutlicht werden. Es sollen in Kapitel 2.1. die Textpassagen dargestellt werden, in denen der Erzähler die Redewiedergabe der Figur übernimmt, in Kapitel 2.2. die Textstellen, in denen sich bei der Redewiedergabe Erzähler- und Figurenstimme überlagern, und in Kapitel 2.3. die Textpassagen, die als längerer innerer Monolog der Figur aufgefasst werden können. Andererseits sollen die perspektivischen Strukturen anhand der Konzeption der handelnden Figur verdeutlicht werden (Kapitel 2.4.).

Das grobe Verständnis für die perspektivischen Strukturen ist in dieser Kurzgeschichte, dessen Besonderheit gerade das Experimentieren mit Erzähler- und Figurenperspektive ist, unerlässlich für die Übersetzung ins Deutsche. Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse der Untersuchung bilden für die Modellierung eines möglichen Zieltextprofils in deutscher Sprache als Maßstab für die Übersetzungskritik die Grundlage und schärfen die Aufmerksamkeit für die in den bereits vorhandenen Übersetzungen gewählte erzähltechnische Perspektive.

2.1. Erzählergeprägte Figurenrede zur Gestaltung des Innenlebens

In diesem Kapitel sollen zunächst Textstellen angeführt werden, in denen die Figurenrede vollständig durch den Erzähler wiedergegeben wird. Innerhalb der Redewiedergabe ist dabei eine Textstelle der Erzählerperspektive zuzuordnen, wenn es sich um so genannte Redeberichte beziehungsweise Gedankenberichte handelt. Die Wiedergabe des Bewusstseins wird dabei weitgehend in den Erzählakt integriert, und die Figur teilt ihre Gefühle nicht selbständig mit (Vogt 1998:145-146). Beim Gedankenbericht handelt es sich um eine Technik, die „das Bewusstsein, also die unausgesprochenen Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle von Handlungsfiguren“ (Vogt 1998:157) wiedergibt. Um Erzählerperspektive handelt es sich auch, wenn indirekte Rede verwendet wird, bei der nach Vogt (1998:150) ebenfalls die Erzählerstimme führend bleibe. Eine Textstelle ist hingegen der Figurenperspektive zuzuordnen, wenn sie in direkter Rede wiedergegeben ist, in der nach Vogt (1998:150) die Äußerung der sprechenden Figur „unverändert zitiert“[30] werde.

Zunächst einmal ist festzustellen, dass in der Kurzgeschichte sehr viele unausgesprochene Gefühle des Protagonisten berichtet werden.

这一直使陈杲觉得沉重。(Wang Meng 1981:131)

Dies veranlasste Chen Gao ununterbrochen, sich schwermütig zu fühlen.

这一点使陈杲兴奋,却又惶惑。(Wang Meng 1981:131-132)

Dieser Punkt regte Chen Gao auf, aber bestürzte ihn auch.

这句话给了陈杲一种受辱的感觉。(Wang Meng 1981:138)

Dieser Satz verursachte bei Chen Gao ein Gefühl des Schämens.

Es handelt sich dabei offensichtlich um einen Erzähler, der sich gegenüber seinem Protagonisten allwissend verhält und die Gefühle seiner Figur aus der Innensicht beschreiben kann.

Wie wir noch sehen werden, haben die häufig auftretenden Gedankenberichte die Funktion, Abschnitte erlebter Rede, also Passagen, in denen sich die Figurenrede zunehmend verselbständigt, „einzurahmen“. Der Gedankenbericht kann bei Wang Meng aber noch eine andere Funktion einnehmen. Der Erzähler baut stellenweise eine Distanz zur Figur und ihren Gefühlen auf, um sie unterschwellig zu verspotten und zu ironisieren[31]. Vergleiche dazu folgende Beispiele:

没有理由拒绝这位老同志的委托,而懂得羊腿的重要性的陈杲也就不对带信找人的必要性发生怀疑。(Wang Meng 1981:135)

Es gab keinen Grund, den Auftrag dieses alten Genossen zurückzuweisen, und der die Wichtigkeit von Hammelkeulen verstehende Chen Gao regte auch keinen Zweifel an der Notwendigkeit mit einem Brief jemanden aufzusuchen.

只有床头柜上的一个装着半杯水的玻璃杯使陈杲觉得熟悉,亲切,[…] (Wang Meng 1981:137)

Einzig ein auf dem Schrank am Bettende stehendes, halb mit Wasser gefülltes Glas bewirkte, dass Chen Gao sich vertraut und warm fühlte.

Chen Gao hat sehr wohl große Zweifel an der Richtigkeit des Auftrags, wie abschnittsweises Räsonieren und die schließlich doch eingestandene Bemerkung verdeutlicht, nach Annahme des Auftrags habe er sich gefühlt, als hätte er eine Hose mit verschiedenfarbigen Hosenbeinen an[32]. Und weckt es schließlich nicht gerade das Mitleid des Lesers[33], dass Chen Gao sich ausgerechnet bei einem solch ordinären Gegenstand wie einem Glas Wasser geborgen fühlt inmitten einer zuvor ausführlich beschriebenen prunkvollen Zimmereinrichtung?

Ebenso häufig wie die Gedankenberichte sind auch Redeberichte auszumachen.

[…],陈杲向前迈了一步, 用这个大城市的最标准的口语发音和最礼貌的词句作了自我介绍,[…] (Wang Meng 1981:136)

[…], Chen Gao aber trat einen Schritt nach vorn und stellte sich unter Verwendung der deutlichsten Aussprache und den höflichsten Formulierungen dieser Großstadt vor.

他开始叙述自己的来意,说两句又等一等,希望小伙子把录音机的声音关小一些,等了几次发现没有关小的意思,便径自说下去。奇怪,[…] (1981:137-138)

Er begann, die Absicht seines Besuchs darzulegen, sprach zwei Sätze und wartete ein wenig, hoffte, der Bursche möge den Rekorder etwas leiser stellen. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, entdeckte er, dass keine Absicht bestand, den Rekorder leiser zu stellen, und redete dann ohne zu fragen weiter. Seltsam, […]

Der Erzähler rafft dabei die Darstellung des genauen ausformulierten Dialogs, um durch eingeschobene Kommentare Einblicke in die Motivation und die Absichten der Figur zu ermöglichen. Auch die dialogischen Passagen bei der Begegnung mit dem jungen Burschen, in denen der Erzähler dem Protagonisten mitunter auch direkt das Wort erteilt, werden sofort kommentiert.

“你年轻嘛,你爸爸可能没对你说过“ 陈杲也不再客气了,回敬了一句。(Wang Meng 1981:138)

"Du bist schließlich noch jung, dein Vater hat es möglicherweise dir gegenüber nicht erwähnt…" Chen Gao war auch nicht mehr höflich und revanchierte sich mit diesem Satz.

2.2. Interferenz zwischen Erzählerstimme und Figurenstimme

2.2.1. Zu den Redeformen

Innerhalb der Redewiedergabe kann man die direkte Rede von der indirekten Rede oder dem Redebericht dadurch unterscheiden, dass man die Referenz deiktischer Elemente untersucht (Wippermann 2001:34-42). Die Untersuchung von sprachlichen Einheiten, die räumliche, temporale und andere Beziehungen nicht absolut beschreiben, sondern auf einen gemeinsamen relativen Bezugspunkt für den Sprecher und den Hörer der an einem Kommunikationsakt beteiligten Personen verweisen, ist dabei nach Wippermann (2001:35) das wesentliche sprachübergreifend gültige Mittel zur Trennung von direkter und indirekter Rede. Es scheint jedoch vielmehr die Besonderheit der vorliegenden Kurzgeschichte zu sein, dass sich die Bezugs- oder Wahrnehmungsräume[34] von Erzähler und Erzählfigur überlagern, was zur Folge hat, dass sich die auf die Bezugspunkte referierenden Einheiten und damit die Perspektive von Erzähler oder Erzählfigur oft nicht mehr trennen lassen (vgl. dazu Kapitel 2.4.).

Innerhalb der Redewiedergabe äußert sich diese Erscheinung in dem unter der Bezeichnung „erlebte Rede“ (Vogt 1998:162-179) bekannten Phänomen. Der Erzähler tritt dabei nicht völlig zurück, sondern behält die Kontrolle über die grammatischen Randbedingungen, beispielsweise wird meist die Dritte Person zur Bezeichnung der sprechenden Figur verwendet (Vogt 1998:162-179). Die Redewiedergabe ist jedoch gefüllt mit der „Lebhaftigkeit der direkten Rede“ (Vogt 1998:163), grammatisch erkennbar an Interjektionen, rhetorischen Fragen und anderen syntaktischen Einheiten, die nach Wippermann (2001:42-47) charakteristische Elemente der direkten Rede sind. Die Abgrenzung von Erzählerbericht und Figurenrede gestaltet sich dabei oft sehr schwierig[35], mitunter kommt es zu einer Verschmelzung der Stimmen von Erzähler und Hauptfigur (vgl. Vogt 1998:173).

2.2.2. Die Modellierung der gedanklichen Reflexionen der Figur

Wie wir in Kapitel 1.3. bereits erfahren haben, zielen bestimmte erzähltechnische Konzeptionen gerade darauf ab, die innere Aktivität der Figur hervorzubringen[36]. So nehmen die Dichte der Rahmenhandlung und die Darstellung der äußeren Begebenheiten ab, bis hin zum bloßen Einsetzen als Impuls für kritisch-intellektuelle Reflexionen der Handlungsfigur, wie in dem Moment, als der Protagonist Chen Gao im Bus fährt (vgl. Kapitel 1.3.). Auch in Wang Mengs Kurzgeschichte konstituiert sich ao die Handlung insbesondere in der ersten Hälfte aus mehr oder weniger belanglosen Aktivitäten von Chen Gao: das Warten auf den Bus, die Fahrt, der Gang durchs Wohnviertel. Dadurch wird Raum geschaffen für die Modellierung der gedanklichen Reflexionen der Figur. Bei seinem Fußmarsch durch ein Wohnviertel, der ihn zur Wohnung des Funktionärs mit den Autoersatzteilen führen soll, äußern sich diese Reflexionen mitunter in ausdrucksvollen Passagen unter Einbettung von Stoßseufzern und Wunschsätzen:

不应该离开那一条明亮的大街,不应该离开那个拥拥搡搡的热闹而愉快的公共汽车, 大家一起在大路上前进,这是多么好啊,然而现在呢,他一个人来到这里。要不就呆在招待所,根本不要出来,那就更好,他可以和那些比他年龄小的朋友们整晚整晚地争辨,[…]。然而现在呢,他莫名奇妙地坐了好长时间的车,要按一个莫名其妙的地址去找一个莫名其妙的人办一件莫名其妙的事。(Wang Meng 1981:133)

Wenn er die helle Straße nicht hätte verlassen müssen, wenn er den mit stoßenden und drägenden Menschen angefüllten, aber gemütlichen Bus nicht hätte verlassen müssen, wenn alle zusammen auf der Straße vorwärts schritten, ach, wie schön das wäre! Aber jetzt, jetzt war er allein hierher gekommen. Andernfalls wäre er gerade im Gästehaus geblieben; eigentlich wollte er nicht ausgehen. Das wäre noch besser gewesen, er hätte mit seinen jüngeren Freunden den ganzen Abend diskutieren können, […]. Aber jetzt hatte er seltsamerweise eine ganze Weile im Bus gesessen, sollte entsprechend einer seltsamen Adresse einen seltsamen Menschen suchen, um eine seltsame Sache zu erledigen.

Dabei beziehen sich die deiktischen Zeit- und Raumadverbien „jetzt“ und „hierher“ auf die Position eines Sprechers, das Personalpronomen jedoch auf einen nur mittelbar am Kommunikationsakt beteiligten in der Dritten Person. Zeit- und Raumadverbien beziehen sich damit auf den Figurenstandpunkt, das Personalpronomen verweist jedoch auf die Erzählerperspektive. In dieser Textpassage fließen Merkmale von Figuren- sowie Erzählerstandpunkt zusammen, wie es für die erlebte Rede typisch ist, und die spezielle Redeform ist durch Verwendung von Deiktika im Text auch erkennbar.

Jedoch ist das Zusammenfließen der Perspektiven wesentlich subtiler angedeutet, wenn keine Deiktika vorhanden sind oder aber durch die Deixis keine solch eindeutige Markierung erfolgt. Prinzipiell ist die Figur Chen Gao als Perspektivfigur des Erzählers zu verstehen. Wenn also eine erörternde Textstelle beginnt, so ist anzunehmen, dass diese im Kopf des Protagonisten, der Perspektivfigur, abläuft. Da personale Deiktika und andere erzählerische Bestandteile innerhalb des Reflektierens mitunter völlig wegfallen, kann die Textstelle auch als innerer Monolog aufgefasst werden, also nach Vogt (1981:179) als unausgesprochene Gedanken der Figur, die in Form von direkter Rede (ohne Redeeinleitung) mitgeteilt werden.[37] Dabei lassen sich die untersuchten Passagen in ruhige bedächtige Überlegungen oder kurze affektive Äußerungen einteilen.

来大城市一周, 陈杲到处听到人们在谈论民主, 在大城市谈论民主就和那个边远小镇谈论半腿把子一样普遍。这大概是因为大城市的肉食供应比较充足吧,人们不必为半腿操心。这真让人羡慕。陈杲微笑了。(Wang Meng 1981:130)

Seit einer Woche in der Großstadt, vernahm Chen Gao von überall Gerede über Demokratie. In der Großstadt über Demokratie zu reden aber war genau so üblich wie in jenem abgelegenen Kreis über Hammelkeulen. Das ist wohl so, weil in der Großstadt die Fleischversorgung im Verhältnis hinreichend ist. Die Leute müssen sich um Hammelkeulen nicht den Kopf zerbrechen. Das ist wirklich beneidenswert! Chen Gao schmunzelte.

Bei dieser Passage eines bedächtigen Monologs handelt es sich um einen längeren Abschnitt, in dem Chen Gao sich das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land verdeutlicht. Anzeichen für einen Erzählereingriff ist die Nennung des Figurennamens im ersten Satz. Es muss sich jedoch aufgrund inhaltlicher Kriterien um Überlegungen der Figur handeln. Dass die Aussage über die Fleischversorgung in der Großstadt lediglich eine Vermutung darstellt, deutet auf die Perspektive von Chen Gao hin, von dem wir erfahren haben, dass er „schon seit über zwanzig Jahren nicht mehr in diese Großstadt gekommen ist“[38] (Wang Meng 1981:129), und damit nicht über die aktuellen Zustände in der Stadt informiert ist. Zudem ist die schlussfolgernde Bewertung der Zustände in der Großstadt als „wirklich beneidenswert“ mit der Figur in ihrer Situation verknüpft, und zwar durch die Darstellung ihrer Außensicht. Es scheint, dass das Schmunzeln gerade die Reaktion auf diesen soeben von ihr erdachten unausgesprochenen Gedankengang sei.

Es ist dabei in der Kurzgeschichte auch keine Seltenheit, dass diese monologisierenden Passagen lediglich einen Satz umfassen, vgl.

陈杲和另一些人挤挤涌涌地上了车。很挤, 没有坐位, 但是令人愉快。(Wang Meng 1981:130)

Chen Gao und die anderen Leute stiegen dicht strömend in den Bus. Sehr eng, kein Sitzplatz, dennoch angenehm.

Ganz im Gegensatz dazu steht folgende kurze Äußerung affektiven Charakters.

这个会上的发言如果能有一半,不,五分之一,不,十分之一变为现实, 那就简直是不得了!这一点使陈杲兴奋,却又惶惑。 (Wang Meng 1981:131)

Wenn von diesen Reden auf der Tagung nur die Hälfte, nein, ein Fünftel, nein, ein Zehntel in die Praxis umgesetzt werden könnte, das wäre einfach außerordentlich! Dieser Punkt regte Chen Gao auf, aber bestürzte ihn auch.

Das Ausrufezeichen verleiht dem Satz expressiven Charakter. Es handelt sich um einen Ausrufesatz, und damit nach Wippermann (2001:45) um ein Kennzeichen der direkten Rede, die ihrerseits auf Figurenperspektive hinweist. Es ist jedoch keine Redeeinleitung vorhanden und auch keine Anführungszeichen[39], die die Passage abschließend als Äußerung der Figur markieren würden. Nur an der impliziten nachträglichen Zuweisung der Aussage ist erkennbar, dass die Aussage Chen Gao zuzuordnen ist und sich nicht etwa der Erzähler über die Zustände auf der Schriftstellertagung äußert, die zuvor berichtend dargelegt wurden. Derartige Passagen sind prinzipiell als Zuspitzung innerer Gedankengänge der Figur zu verstehen.

[...]


[1] Martin (1989) berichtet in Verbindung mit der Rezeption chinesischer Gegenwartsliteratur beispielsweise von „zurückhaltenden Warnungen, was die literarische Qualität der chinesischen [sic!] Werke betraf“ (Martin 1989) (Anm.: Ist es nicht eher die Qualität der deutschen Übersetzungen als der chinesischen Werke?). Murath (1990) schreibt der chinesischen Gegenwartsliteratur einen „Mangel an reflexiver Kraft“ (Murath 1990) zu und berichtet von Grenzen beim Engagement der deutschen Verlage aufgrund der „schwierigen Absetzbarkeit chinesischer [sic!] Bücher“ trotz der „beispiellosen literarischen Entwicklung [in China zwischen 1978 und 1989]“ und der „Anerkennung“ „jenseits der eigenen Grenzen“ (Murath 1990).

[2] Beispiele für Übersetzungskritiken, die sprachliche Phänomene lediglich in eingegrenzten Textstellen (einzelne Begriffe, einzelne Sätze) betrachten, nicht aber den sprachlichen oder auch außersprachlichen Kontext und dessen Wirkung auf die Textstelle, sind Su Fu/Xiaoqin Yang-Müller (1996:115-119); Lerch/Roth (1994:118-119); Begrich/Kuppe (1994:129). Desweiteren gehe ich auf diese Problematik in Kapitel 3.4. noch ein.

[3] Damit betone ich bei der Untersuchung chinesischer übersetzter Literatur einen anderen Schwerpunkt als Blank, die behauptet, den „Umstand [Wang Meng habe trotz Einstufung als chinesischem Vertreter des ‚stream of consciousness“ keinen Eingang in den Literaturkanon europäischer LiteraturkennerInnen gefunden] kann man schwerlich nur mangelhaften Übersetzungen anlasten“ (Blank 1997:61), und sich damit von einem kontrastiven übersetzungswissenschaftlichen Sprach- und Textvergleich distanziert und vielmehr der Frage der Übersetzbarkeit an sich und der interkulturellen Kompatibilität (im Sinne eines wechselseitigen Zusammenwirkens der Intention der Vorlage und des Erwartungshorizonts der Rezeption im jeweiligen soziokulturellen Kontext (Blank 1997:62)) zuwendet.

[4] An dieser Stelle soll angemerkt sein, dass der Begriff „Übersetzer“, sowie er in dieser Arbeit verwendet wird, stets die weiblichen Übersetzer mit einschließt und die weibliche Form „Übersetzerin“ lediglich verwendet wird, wenn sich die Übersetzung eindeutig einer weiblichen Verfasserin zuordnen lässt.

[5] „王蒙在小说艺术上始终是一个探索者,开拓者,从不限于也不满足于一种表现形式,是在他的全部作品中,占主导地位,气支配作用的始终是现实主义。 他对意识流等手法的一切尝试,都不过是为了达到从现代派五花八门的艺术魔术表演中走出来,将其引入现实主义的大潮,从而大大曾强和丰富了现实主义的表现力。” (Jin Han 1990:368-369)

[6] Vgl. Fokkema (1977:766), Herdan (1992:95-96)

[7] „在向社会主义现代化迈进历史时期,政治的清明,经济的振兴,人们物质生活水平的提高,也是人们的审美要求进入了多样化的选择时期。“ (Zhang Xuejun 1996:186)

[8] vgl. Abb. 1

[9] vgl. Abb. 2

[10] Wang Meng könne „als einer der ersten Schriftsteller angesehen werden, der es in den letzten drei Jahren gewagt habe, im literarischen Bereich künstlerische Techniken mit dem Neuen zu versehen“ (Wang Meng 1980:114); „Und Wang Meng, seit drei Jahren ein leuchtender Stern in der literarischen Milchstrasse, flackert mit seinem eigenen originellen Stil noch mehr im hellsten Glanz.“ Liu Mengxi (1980:121); „Bei der Geburt und der Entstehungsgeschichte der modernistischen Romane des neuen China hat Wang Meng unter großen Schwierigkeiten Pionierarbeit geleistet und bahnbrechende Wirkung erzielt.“ Jin Han (1990:366); „one of the most widely discussed writers in the post-Mao era“ (Tay 1984:7); „Das Auge der Nacht“ sei ein „bahnbrechendes“ Werk (Lee 1985:419)

[11] Dabei wird innerhalb der Entwicklung der modernen Literatur in China zum ersten Mal am Ende der Qing-Dynastie, insbesondere bedingt durch die westlichen Einflüsse zu dieser Zeit, eine neue Entwicklung vermerkt (vgl. Schmidt-Glintzer 1999:490) wie die Darstellung eines verwobenen Handlungszusammenhangs und die Hervorhebung der psychischen Seiten der Handelnden (vgl. Schmidt-Glintzer 1999:490) oder neue Erzählformen wie z.B. die Ich-Form (Schmidt-Glintzer 1999:491).

[12] Tay (1984:19) stützt sich hierbei auf Statistiken: zwischen 1980 und 1983 sei die Zahl der kritischen Essays über Stream-of-consciousness und verschiedene Aspekte des westlichen Modernismus stetig angestiegen und sie könnten in allen bedeutenden Journalen gefunden werden. Zhang Xuejun schreibt, die formale Technik, wie auch Wang Meng sie anwendete, habe allmählich das realistische Schaffen durchdrungen und in den 80er Jahren ein reißende Welle modernistischer Literatur gebildet (Zhang Xuejun 1996:187).

[13] „他在艺术形式上的新探索和由此而引发的批评界的争论,形成了80年代初文坛上引人注目的热点,为新时期现代派小说的发展开拓了前进的道路。” (Zhang Xuejun 1996:190)

[14] 上来两个工人装束的青年, 两个人情绪激动地在谈论着:“关键在于民主,民主,民主”。来大城市一周,陈杲到处听到人们在谈论民主,在大城市谈论民主就和在那个边远的小镇谈论羊腿把子一样普遍。这大概是因为大城市的肉食供应充足吧,人们不必为羊腿操心。

[15] Lu Xun (1881-1936) gilt in China als Begründer der modernen chinesischen Literatur. Wang Meng schreibt, dass Lu Xuns Prosagedichte in der Sammlung „ Yecao “ („Wilde Gräser“) an vielen Stellen sinnliche Wahrnehmungen beschreiben und im Hinblick darauf auch als Bewusstseinsstrom-Aufsätze gelten könnten. (Wang Meng 1980:115).

[16] Dichter der Tang-Dynastie, der von ca. 813 bis 858 lebte. Er ist berühmt für seine Wutishi (wörtl.: „Gedichte ohne Thema“). Chen Bohai schreibt (1988:398) (aus dem Chinesischen übersetzt): „Weil [der Inhalt der Gedichte] so verschwommen ausgedrückt ist, gab es schon immer widersprüchliche und verwirrende Interpretationen, weit hergeholte Auslegungen und falsche Analogieschlüsse. Heute ist man der Meinung, die Gedichte […] sind die Essenz aller Empfindungen und Augenblickslaunen, die im Leben des Dichters gelegentlich ausgelöst wurden.“

[17] „王蒙等的意识流小说并不像西方意识流小说那样,切断内心世界同社会现实的联系,孤立的表现人的主观意识流动,而是有着强烈的社会现实感。小说中所表现出来的错乱感,是在理性的规范下剪切拼贴而成的,并非是精神错乱着非理性的任意涌动,还没有探向人的潜意识领域,主人公的一是流程都是在理性的导引下,都是社会现实的心理折光。在具体创作中,大都设置了一个情节框架,有着提示性叙述,意识流的逻辑行程清晰可辨,不象西方意识流那样扑朔迷离、晦涩费解。” (Zhang Xuejun 1996:195-196)

[18] 我试图用突破时空限制的心理描写,来充分展示前面说过的“八千里”和“三十年”,展示这八千里和三十年中的不同的事物之间的联系和对比。

[19] Vgl. Semanov (1985:154-155)

[20] „至于 “流动”,更不可怕。辩证唯物主义者从来认为世界 (包括人们的精神世界)是流动的、变化的,充满了内在的差异、茅盾、斗争、转化、过渡、飞跃的。[...] 我不是理论家,但我希望对于“意识流”能一分为二的看,能够用辩证唯物主义的世界观予以剖析和扬弃,吸收其合理的东西,是我们的文学创作更丰富、更多样。” (Wang Meng 1980:115)

[21] „[…] 我们何至于“把洋人的裹脚布当领带”用呢?” (Wang Meng 1980:116)

[22] Er bezieht sich dabei auf die Art und Weise, wie Mao Zedong bereits in seiner Rede „ Fandui dang bagu “ (zu Deutsch: „Gegen den schablonenhaften Parteistil“) den Begriff „ guojiao “ (zu Deutsch: Fußbinde) verwendet: „[...] lange Artikel, die aber völlig inhaltslos und genau wie die ‚Fußwickel eines faulen alten Weibes lang und stinkend’ sind.” (Grimm 1963:301).

[23] „由于思想意识流域长期的自我封闭,人们对西方现代派哲学和文学还处于犹疑观望的状态,再加上思维定势的惯性,是作家们在对待西方现代派文学的时候,采取了谨慎的态度。他们小心翼翼得把现代派作品分解为内容和形式两个方面,于是剔除糟粕,吸取精华的这一观点,就直接转化为取其形式、弃其内容。一示自己能与那虚无、颓废、绝望的情绪划清界限,泾渭分明。所以, 这一阶段的探索性小说只是借用了那新奇的艺术形式,而在思想观念上仍有着鲜明的社会性主题,那就是对封建主义残余的批判和对人道主义的呼唤。” (Zhang Xuejun 1996:194-195)

[24] Vgl. Kautz (1990:102), Gruner (1988:932), Li Tuo (1980:142), Schmidt-Glintzer (1999:492)

[25] 他走起路来都有一点跛,当然不注意倒也看不出,这是‘横扫一切’留下的小小的纪念。

[26] vgl. auch Tay 1984:12, OufanLee 1985:421

[27] “据研究,意识流小说的技巧有三种: 直接的内心独白,间接的内心独白,混杂描写法。”(He Xin 1980:164)

[28] “其特点是既描写客观环境,也描写人的内心意识流。”(He Xin 1980:164)

[29] Der Begriff der „Perspektivfigur“ ist von Vogt (1998:53) übernommen und wird im Folgenden zur Bezeichnung des Protagonisten gerade in solchen Situationen verwendet, wenn deutlich wird, dass der Erzähler dessen Perspektive einnimmt.

[30] Wippermann (2001:51-56) hat diesbezüglich widerlegt, dass es sich bei der Wiedergabe von direkter Rede der Erzählfiguren um wörtliche Zitate handelt.

[31] Diese Funktion entspricht in etwa dem bei Vogt unter „zweitens“ erwähnten thematischen Schwerpunkt bei der Verwendung von Gedankenbericht (Vogt 1998:159-160).

[32] „[…], 接受这个任务以后总觉得好像是穿上了一双不合脚的鞋, 或是穿上一条裤子结果发现两条裤腿的颜色不一样。“ (Wang Meng 1981:135)

[33] An dieser Stelle soll angemerkt sein, dass der Begriff „Leser“, sowie er in dieser Arbeit verwendet wird, stets die weiblichen Leser mit einschließt und keine weitere Unterscheidung zwischen weiblichen und männlichen Rezipienten mehr getroffen wird.

[34] Die Verwendung der Termini „Bezugsraum“ bzw. „Wahrnehmungsraum“ für den dem Kommunikationsakt zugrunde liegenden Raum mit seinen Bezugspunkten für Sprecher, Angesprochenen und nicht Angesprochenen, aber dennoch am Kommunikationsakt beteiligten, wurde von Ehlich (2000) übernommen.

[35] Es sei letztendlich oft unmöglich, bei gewissen Passagen die erlebte Rede vom Erzählerbericht klar abzugrenzen: Es könne sein, dass „weder grammatische Form, noch sprachlicher Stil, noch Inhalt sichere Indizien“ gäben, so Vogt 1998:165.

[36] Beispielsweise beobachtet Vogt (1998:190), es sei in der Literaturschreibung eine Strategie, das handelnde Ich „in Ruhesituationen zu versetzen“, damit es monologisieren könne.

[37] Bei Vogt (1998) finden wir, eingeordnet unter Punkt sechs der „hilfreichen Hinweise“ zum Erkennen der erlebten Rede: Ein Hinweis zum Erkennen der erlebten Rede sei gegeben wenn sich gewisse Partien „ nur als innerer Monolog der Figur verstehen lassen“ (Vogt 1998:165-166). So ungenau im Hinblick auf die konkrete Äußerung der grammatischen Form dieser Hinweis ist, er verdeutlicht doch auch, dass bei der Klassifizierung der Redewiedergabe mitunter die Grenzen zwischen erlebter Rede und innerem Monolog fließend sind, so dass sich der Leser auf sein inhaltliches Verständnis des Erzählwerks verlassen muss, wenn er die Aussage dem Erzähler oder der Figur zuordnen will.

[38] 陈杲已经有二十多年不到这个大城市来了。

[39] Wippermann (2001:58-59) bemerkt dazu, dass die Zeichensetzung zur Markierung der Redewiedergabe auch in modernen chinesischen Texten kein verlässliches Indiz zur Bestimmung des Redemodus darstellt.

Fin de l'extrait de 87 pages

Résumé des informations

Titre
Textanalyse von Wang Mengs Kurzgeschichte "Ye de yan" ("Das Auge der Nacht") und Kritik der deutschen Übersetzungen
Université
University of Frankfurt (Main)  (Institut für Orientalische und Ostasiatische Philologien)
Note
1,3
Auteur
Année
2006
Pages
87
N° de catalogue
V417241
ISBN (ebook)
9783668670907
ISBN (Livre)
9783668670914
Taille d'un fichier
1437 KB
Langue
allemand
Mots clés
Sinologie, Wang Meng, Übersetzungskritik, Stream-of-consciousness
Citation du texte
Valeria May (Auteur), 2006, Textanalyse von Wang Mengs Kurzgeschichte "Ye de yan" ("Das Auge der Nacht") und Kritik der deutschen Übersetzungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/417241

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Titre: Textanalyse von Wang Mengs Kurzgeschichte "Ye de yan" ("Das Auge der Nacht") und Kritik der deutschen Übersetzungen



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