Die Erzählung "Der Sandmann" von E.T.A. Hoffmann aus psychiatrischer Sicht


Essay, 2018

20 Pages


Excerpt


Zusammenfassung:

Der Verlauf der psychotischen Erkrankung des Studenten Nathanael in der Erzhlung von E.T.A.Hoffmann, der fr eine kataton verlaufende Schizophrenie (ICD 10,F 20.2) spricht, wird mit den modernen wissenschaftlichpsychiatrischen Beschreibungen der Schizophrenie verglichen. Dabei soll zum Ausdruck gebracht werden, mit welch bewunderungswerter Introspektion und Przision der Dichter der Romantik eine Geisteskrankheit beschrieb, die erst hundert Jahre spter durch Eugen Bleuler ihren Namen erhielt.

Im Weiteren wird die psychoanalytische Deutung Sigmund Freuds der Erzhlung in seiner Abhandlung Das Unheimliche zum Anlass genommen, auf den nunmehr hundert Jahre alten Streit hinzuweisen, ob es im Sinne wissenschaftlicher Psychiatrie berhaupt legitim ist, schizophrene Wahninhalte mit Hilfe mythologischer Metaphern analytisch zu deuten.

Die Erzhlung Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann, die Geschichte des Physikstudenten Nathanael, der dem Wahnsinn verfllt und sich durch den Sprung von einem Turm suicidiert, reprsentiert fr die Germanisten die Tendenz der Romantik zur Darstellung des Unheimlichen und Grauenhaften, mit der im Gegensatz zur rationalen Klarheit der Klassik auch die tieferen Seelenbereiche des Menschlichen ausgelotet wird. Mit den germanistischen Kommentierungen zu der Erzhlung kann man Bnde fllen. Mit der tanzenden Holzpuppe Olimpia in Hoffmanns Erzhlungen hat die Kurzgeschichte Musik - und Balettgeschichte geschrieben.

Sigmund Freud hat sich der Erzhlung Hoffmanns angenommen und sie in seiner Abhandlung ber Das Unheimliche als Beweis seiner Hypothese vom dipuskomplex dargestellt.

Seltsamerweise ist bisher noch kein Psychiater auf die Idee gekommen, in der von E.T.A.Hoffmann gebotenen Krankengeschichte des Studenten Nathanael eine frhe, in seiner Przision zu seiner Zeit noch nicht dagewesene Beschreibung des klassischen Verlaufes einer schizophrenen Erkrankung der katatonen Verlaufsform (ICD 120, F20,2) zu erkennen und dies mit einer Abhandlung zu wrdigen.

Hauptfigur der Geschichte ist der Physikstudent Nathanael , der pltzlich in eine angstvolle und hoffnungslose Stimmung verfllt, sich an alptraumartige Kindheitserlebnisse erinnert, und der nach Heimkunft aus dem Studienort durch seltsames Verhalten auffllt mit einer Neigung zu dsteren Gedanken und Vorahnungen. Dann kommt es zweimal zu Wahnsinnsattacken. Beim ersten Mal greift er seinen Physikprofessor ttlich an und wird in ein Irrenhaus verbracht. Nach langer Krankheit scheint er genesen, jedoch bricht der Wahnsinn zum zweiten Mal aus. Er greift seine Verlobte in lebensgefhrlicher Weise an und springt dann unter entfremdetem Lachen und Ausrufen von echolalischen Satzfetzen von einem Turm.

Etwa ein Jahrhundert nach der Niederschrift der Erzhlung hat die wissenschaftlich-empirische Psychopathologie durch Emil Kraepelin, Karl Jaspers, Eugen Bleuler, Kurt Schneider, Klaus Conrad u.a. eine spezifische Terminologie entwickelt, die uns fr die Beschreibung schizophrener Wahnsymptome die geeigneten Worte vermittelt.

Um so bewundernswerter ist die introspektive und sprachliche Fhigkeit des Dichters E.T.A.Hoffmann, das subjektive Wahnerleben seines tragischen Protagonisten einfhlbar zu schildern. Er beschreibt in lehrbuchhafter Przision die Symptomatik einer Geisteskrankheit, die es zu seiner Zeit natrlich schon gab, die aber erst etwa hundert Jahre spter durch Eugen Bleuler den Namen Schizophrenie erhielt.

Zu den psychiatrischen Kenntnissen und Motivationen des Autors :

Als Jurist gab Hoffmann psychiatrische Gutachten zur Bestimmung der freien Willensbestimmung in Auftrag. In Bamberg war er mit dem Nervenarzt und Leiter der Irrenanstalt Dr. Malcus befreundet und diskutierte mit ihm ber seelische Abartigkeiten. Er las psychiatrische Schriften seiner Zeit, z.B. die Schriften des berhmten franzsischen Psychiaters Philippe Pinel. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass er in seinem beruflichen oder privaten Leben die schizophrene Erkrankung eines jungen Mannes erlebt und mit erhhter Aufmerksamkeit beobachtet hat.

Hoffmann schreibt : Seltsamer und wunderlicher kann nichts erfunden werden, als dasjenige, was sich mit meinem armen Freunde, dem jungen Studenten Nathanael, zugetragen, und was ich dir, g nstiger Leser! zu erz hlen unternommen. (Reclam S.17, Zeile 32)

Recht hat er; die Symptomatik der Schizophrenie ist zu seltsam, um von Menschen erfunden zu werden.

Krankengeschichte des Studenten Nathaniel

Familienanamnese: ber Geisteskrankheiten unter Vorfahren gibt die Erzhlung keine Auskunft.

Der Vater wird als freundlich und gemtvoll geschildert.

Oft erz hlte er uns viele wunderbare Geschichten und geriet dar ber so in Eifer, dass ihm immer die Pfeife ausging, die ich (Nathaniel) , ihm brennend Papier hinhaltend, wieder anz nden musste, welches mir denn ein Hauptspass war. (Reclam Seite 4, Zeile 20)

Die Mutter wird als liebevoll beschrieben, wie sie den Sohn ber die harmlose Bedeutung des Sandmannes aufklrt. Nach dem Tod ihres Mannes nimmt sie noch zwei Waisenkinder aus der Verwandtschaft zu sich, Lothar und Clara, zu denen er ein herzliches Verhltnis entwickelt.

Praepsychotische Persnlichkeit:

Bis zum Beginn seines Studiums in der Stadt G. wies er offenbar keine Zeichen einer psychopathischen oder neurotischen Persnlichkeitsstrung auf.

Die kluge und lebenstchtige Clara liebte ihn und war von seiner pltzlichen Wesensnderung tief erschrocken. In seinem Brief, den er zu Beginn seiner Erkrankung schreibt, erzhlt er, dass eine Kinderfrau ihm den Sandmann ganz schrecklich geschildert habe als einen Unhold, der die Augen der Kinder herrausreisst um sie an seine eigenen Kinder zu verfttern.

Seit dieser Zeit habe er sich in seiner Fantasie immer mehr mit Spuk beschftigt.

Nichts war mir lieber, als schauerliche Geschichten von Kobolten, Hexen, D umlingen usw. zu h ren oder zu lesen. (Reclam, Seite 6, Zeile 10)

Im gleichen Brief beschreibt er den Alptraum seines Erlebnisses im 10. Lebensjahr, wie er des nachts den Vater mit

dem unsymphatischen Coppelius bei chemischen Versuchen am Ofen beobachtet und Coppelius ihm droht, seine Augen mit glhender Kohle zu verbrennen, was auf Frbitte des Vaters nicht geschieht.

Die Erzhlung legt nahe, diesen kindlichen Alptraum im Rahmen einer hoch fieberhaften Erkrankung, etwa als Fieberdelir zu sehen. Er erwacht daraus wie aus einem Todesschlaf, die Mutter hatte sich ber mich hingebeugt. Ist der Sandmann noch da? stammelte ich. Nein, mein liebes Kind, der ist lange, lange fort, der tut dir keinen Schaden! - So sprach die Mutter und k sste und herzte den wiedergewonnenen Liebling .- (Reclam Seite 19, Zeile 8)

Auch danach leidet er noch lange an hitzigem Fieber.

Die chemischen Versuche des Vaters und des Coppelius fhren spter zum Tod des Vaters durch eine Explosion.

Krankheitsbeginn:

In seinem Brief, den er aus der Universittsstadt an Lothar schreibt, datiert Nathanael den Beginn allen bels auf den 30. Oktober 12.00 Uhr mittags, als ein italienischer Brillenverkufer in sein Zimmer tritt, dem er eine ungewhnliche, bedrohliche Bedeutung beimisst. Er schreibt: Du ahnest, dass nur eigene, tief in mein Leben eingreifende Beziehungen diesem Vorfall Bedeutung geben k nnen, ja, dass wohl die Person jenes ungl ckseligen Kr mers gar feindlich auf mich wirken muss. (Reclam,Seite 3,Zeile33)

Klaus Conrad vergleicht solche ersten wahnhaften Situationsverkennungen bei der beginnenden Schizophrenie mit dem ersten Wetterleuchten als Zeichen des heraufziehenden Gewitters.

Karl Jaspers nennt das in seiner Allgemeinen

Psychopathologie (1913): Abnormes

Bedeutungsbewusstsein

Nathanael behandelt den ambulanten Hndler unangemessen

grob und sieht in ihm pltzlich einen Doppelgnger des unsympathischen Advokaten Coppelius, den er aus seiner Kindheit erinnert, und dem er die Schuld am Tode seines Vaters zuschreibt. Spter, im zweiten Brief korrigiert er dies, indem er klarstellt, dass Coppelius ein Deutscher war, whrend Coppola Italiener ist und einen piemontesischen Dialekt spricht.(Reclam,Seite16,Zeile18) Trotzdem bleiben Coppelius und Coppola fr ihn Unheil bringende Gestalten, die sein Leben auf das Tiefste verdstern und verhexen.

1. Bleuler beschreibt 1911 in seinem Buch Die Gruppe der

Schizophrenien im Kapitel:Die akzessorischen Erinnerungsstrungen,dass alte, oft bis in die fr he Kindheit zur ckgehende Erinnerungen wie frisch auftauchen oder auch sich aufdr ngen. Im letzteren Fall kann man geradezu von Zwangserinnern sprechen. (...) Sie k nnen im Sinne von Erinnerungsillusionen ver ndert werden, (...) wieder verschwinden, aber auch dauernd von der Psyche Besitz nehmen.

Bei Nathanael ist dies der Fall. Clara will ihm helfen, diese bse Erinnerung zu vertreiben, indem sie sagt: Ja, Nathanael , du hast Recht, Coppelius ist ein b ses, feindliches Prinzip(...), wie eine teuflische Macht, die sichtbar in dein Leben trat, aber nur dann, wenn du ihn nicht aus Sinn und Gedanken verbannst.

Das aber kann Nathanael nicht gelingen, denn er ist aufgrund der beginnenden Krankheit ganz von einer wahnhaften Stimmung erfasst, die er mit den Worten beschreibt : Etwas Entsetzliches ist in mein Leben getreten! - Dunkle Ahnungen eines gr sslichen mir drohenden Geschicks breiten sich wie schwarze Wolkenschatten ber mich aus, undurchdringlich jedem freundlichen Sonnenstrahl.- (Reclam,Seite 3, Zeile 15)

Klaus Conrad bezeichnet in seinem Buch Beginnende Schizophrenie das erste Hineintreten in die Wahnwelt als

Trema mit einem Gestimmtsein von Druck und Spannung, als Unruhe und Angst. Er vergleicht dies mit der Situation eines Schauspielers, der auf die Bhne tritt und seine Rolle spielen muss.

Danach kommt es zu der apophnen Phase.

Jaspers beschreibt diese als das unmittelbar sich aufzwingende Wissen von den Bedeutungen- eben in der Art eines Offenbarwerdens, einer Offenbarung- als das wesentliche Kennzeichen primren Wahnerlebens. In der Initialphase der Schizophrenie fhlt sich der Kranke wie hypnotisiert, von aussen gesteuert und beeinflusst und er erlebt die Umwelt verfremdet mit auf ihn bezogenen Bedeutungen.

In der Diagnostik der Schizophrenie spielt nach Kurt Schneider die Wahnwahrnehmung eine bedeutende Rolle. Kurt Schneider: Man spricht von Wahnwahrnehmungen, wenn wirklichen Wahrnehmungen ohne verstandesm ssig (rational) oder gef hlsm ssig (emotional) verst ndlichen Anlass eine abnorme Bedeutung, meist in der Richtung der Eigenbeziehung, beigelegt wird. Diese Bedeutung ist von besonderer Art: fast immer wichtig, eindringlich, gewissermassen pers nlich gemeint, wie ein Wink, eine Botschaft aus einer anderen Welt. Es ist, als spr che aus der Wahrnehmung eine h here Wirklichkeit. Da es sich nicht um eine Ver nderung des Wahrgenommenen, sondern um eine solche seiner Bedeutung handelt, geh ren Wahnwahrnehmungen(...) zu den St rungen des Denkens. Sie sind stets ein schizophrenes Symptom, wenn auch nicht ganz ohne Ausnahme ein Anzeichen dessen, was wir klinisch eine

Schizophrenie heissen ( )

Auch die Personenverkennung geh rt h ufig zu den Wahnwahrnehmungen, jedenfalls zum Wahn.( )

Wenn wir sagten, dass die Wahnwahrnehmung nicht aus einer Stimmung ableitbar sei, so widerspricht dem nicht, dass auch der Wahnwahrnehmung h ufig eine von jenem Prozess getragene Wahnstimmung vorausgeht, ein Erleben der Unheimlichkeit, seltener Erhebung.

Im Falle des Studenten Nathanael schildert E.T.A.Hoffmann in einprgsamer Art das Hineingleiten in die Wahnstimmung des Unheimlichen, ausgelst durch die Wahnwahrnehmung einer aufgezwungenen verfremdeten Bedeutung des Brillenhndlers Coppola und die wahnhafte Personenverwechslung mit dem Advokaten Coppelius, der eine Figur seiner Kindheitserinnerung war.

Kurt Schneider unterscheidet die Wahnwahrnehmung von dem Wahneinfall.

Unter einem Wahneinfall verstehen wir Einf lle, wie den der religi sen oder politischen Berufung, der besonderen F higkeit, der Verfolgung, des Geliebtwerdens.

Bei unserem Patienten Nathanael haben wir den Wahneinfall, den Tod des Vaters rchen zu mssen durch Verfolgung des Brillenhndlers Coppola (Reclam Seite 12, Zeile 15) und auch den Wahneinfall des Geliebtwerdens durch die Holzpuppe Olimpia, die er stundenlang durch das von Coppola gekaufte Fernglass anstarrt.(Reclam, Seite 29, Zeile 25).

Bei der Einladung im Hause des Professor Spalanzani wird er durch seinen ekstatischen Liebeswahn gegenber Olimpia fr die Gste verhaltensauffllig. Er musste vor Schmerz und Entz cken laut aufschreien. Olimpia! - Alle sahen sich nach ihm um, manche lachten und der Domorganist rief erstaunt:Nun, nun!(Reclam, Seite31, Zeile19) Auch beim Tanz bemerkt er halbleises, m hsam unterdr cktes Gel chter, was sich in diesem und jenem Winkel unter den jungen Leuten erhob. (Reclam,Seite32,Zeile14)

Fr die wahnhaften Erlebnisse und Eingebungen besteht fr den Erkrankten die sogenannte Wahngewissheit. Logische Argumente vermgen diese Gewissheit des Kranken nicht zu erschttern.

Clara schreibt an Nathanael : Gerade heraus will ich dir nur gestehen, dass, wie ich meine, alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon du sprichst, nur in deinem Innern vorging, die wahre wirkliche Aussenwelt aber daran wohl wenig teilhatte . - (Reclam, Seite 13, Zeile 23) Recht hat sie, aber bei Nathanael kommen diese Mahnungen nicht an.

Fr die Menschen der Umgebung zeigt Nathanael eine

schizophrene Wesens nderung . : Alle f hlten das, da Nathaniel gleich in den ersten Tagen in seinem ganzen Wesen durchaus ver ndert sich zeigte. Er versank in d stere Tr umereien, und trieb es bald so seltsam,wie man es niemals von ihm gewohnt gewesen. Alles, das ganze Leben war ihm ein Traum und Ahnung geworden; immer sprach er davon, wie jeder Mensch, sich frei w hnend, nur dunklen M chten zum grausamen Spiel diene...

Der verst ndigen Clara war diese mystische Schw rmerei im h chsten Grade zuwider, jedoch schien es vergebens, sich auf Widerlegung einzulassen. (Reclam, Seite 21, Zeile 23)

In der Erzhlung wird ausfhrlich ber Nathanaels Neigung berichtet, selbstverfasste Dichtungen vorzulesen, die Clara beunruhigen oder langweilen. Es heisst:

Sonst hatte er eine besondere St rke in anmutigen, lebendigen Erz hlungen, die er aufschrieb, und die Clara mit innigstem Vergn gen anh rte, jetzt waren seine Dichtungen d ster, unverst ndlich, gestaltlos(...)Nathanaels Dichtungen waren in der Tat sehr langweilig(...)Clara konnte ihren Unmut ber Nathanaels dunkle, d stere, langweilige Mystik nicht berwinden.(Reclam,Seite 22, Zeile35)

Hier stossen wir wiederum auf ein Charakteristikum des sprachlichen Ausdrucks Schizophrener.

In einem Aufsatz des Wiener Psychiaters Leo Navratil lesen wir:

Je deutlicher die Merkmale der (schizophrenen) Psychose hervortreten, einen um so mehr dichterischen Charakter nehmen die Sprach usserungen der Patienten an. Oft ist es so, dass mit grossem Pathos und in dichterischer Form grosse Banalit ten vorgetragen werden, manchmal finden sich darunter auch treffende, originelle Gedanken und sprachliche Formulierungen. Eine gewisse Dunkelheit und ein gewisser Tiefsinn - manchmal Scheintiefsinn - sind nicht selten. Jedenfalls wird der subjektive Bedeutungsgehalt des psychotischen Erlebens von der Umgebung des Betroffenen meist nicht geteilt . 1)

So geht es auch Clara, die Nathanael rt, das ganze dstere Zeug ins Feuer zu werfen.

Immer, wenn die schizophrene Erkrankung bei einem jungen, intelligenten Menschen auftritt, versuchen Familienangehrige und Freunde zunchst mit wachsender Verzweiflung, den berspannt und ungewhnlich wirkenden Gedankenusserungen und Verhaltensweisen durch rationale Argumente zu begegnen, oder sie als Stressfoge zu erklren, bis endlich die Entscheidung fllt, den jungen Menschen dazu zu bewegen, einen Nervenarzt aufzusuchen.

Zu der schizophrenen Symptomatik gehrt insbesondere das Phnomen der akustischen Halluzinationen, die als Hren von Stimmen imperativen Inhaltes, als Stimmen in Rede und Gegenrede oder als Gedankenlautwerden, d.h. Hren der eigenen Gedanken, und schliesslich auch als Akoasmen, d.h. Hren von nicht stimmhaften Geruschen, wie Drhnen, Poltern, Knallen auftreten.

Das Phnomen des Gedankenlautwerdens schildert E.T.A.Hoffmann in dem Satz: Indem er diese Worte leise sprach, war es, als halle ein tiefer Todesseufzer grauenvoll durch das Zimmer, Nathanaels Atem stockte vor innerer Angst.- Er hatte ja aber selbst so aufgeseufzt, das merkte er wohl. (Reclam,Seite 29, Zeile 14)

Bei dem Beginn des ersten akuten Wahnsinnsanfalles kommt es bei Nathanael auch zu akustischen Halluzination sowohl in Form von Akoasmen als auch zum Hren von Stimmen in Rede und Gegenrede. E.T.A. Hoffmann schildert die Szene wie die innere Erlebniswelt des Kranken, der die Stimmen fr Realitt hlt.

Schon auf der Treppe, auf dem Flur, vernahm er ein wunderliches Get se; es schien ihm aus Spalanzanis Studierzimmer herauszuschallen.- Ein Stampfen- ein Klirren- ein Stossen- Schlagen gegen die T r, dazwischen Fl che und Verw nschungen. Lass los- lass los - Infamer - Verruchter- Darum Leib und Leben gesetzt? -ha, ha, ha!- u.s.w. Es waren Spalanzanis und des gr sslichen Coppelius Stimmen, die so durcheinander schwirrten und tobten.(Reclam Seite 36, Zeile 36)

Die reale Anwesenheit des Coppelius, der Gestalt seiner Kindheitserinnerung, ist dabei garnicht mglich, und beim Betreten des Raumes sieht er jetzt den Italiener Coppola, der als Optiker ja tatschlich mit dem Physikprofessor Spalanzani zusammenarbeitet. . Das Stimmenhren leitet bei Nathaniel unmittelbar die erste akute Krise ein mit Erregungszustand, wahnhafter Situationsverkennung und ttlichem Angriff gegen den Professor Spalanzani., den er zu erwrgen droht.

Akutes Erkrankungsstadium - die katatone Krise

Klaus Conrad bezeichnet in Beginnende Schizophrenie das akute Stadium der katatonen Erregung als apokalyptische Phase. Er schreibt:

Wir haben es zu tun mit Menschen, teils in schwerster Angst, teils in rauschhaft erhobener Stimmung, die g nzlich unverst ndliche Handlungen begehen, die dennoch f r den Kranken einen bestimmten, wenn auch vielleicht symbolischen Sinn zu haben scheinen, den aber niemand verstehen kann. Treten die Kranken aus der katatonen Phase wieder heraus,...so gelingt es nur selten, von ihnen zu erfahren, was in der zur ckliegenden katatonen Phase eigntlich erlebt wurde. Fast immer sind es nur Bruchst cke...

Im weiteren versucht Conrad die katatonen Verhaltensweisen seiner Patienten im Kontext ihrer inneren Erlebniswelt verstehbar zu machen.

Bei Nathanael ist es so, dass er Spalanzani und Copppola bei der Zerstrung der Holzpuppe Olimpia zu sehen glaubt, weshalb er in hchster Erregung eingreift.

Den katatonen Ausbruch beschreibt E.T.A.Hoffmann mit den Worten: - Da packte ihn der Wahnsinn mit gl henden Krallen und fuhr in sein Inneres hinein, Sinn und Gedanken

zerreissend. Hui - hui - hui! -Feuerkreis,- dreh dich-

lustig .- lustig-( )

Seine Worte gingen unter in entsetzlichem tierischen Gebr ll. So in gr sslicher Raserei tobend wurde er nach dem Tollhause gebracht. (Reclam, Seite 38, Zeile 5)

Die sprachlichen Stereotypien und echolalischen usserungen Schizophrener in der katatonen Erregungsphase gehren zur typischen Symptomatik, die in Folge der heutigen pharmakologischen Therapiemglichkeit allerdings seltener geworden sind.

Deshalb sei hier aus dem Lehrbuch der Psychiatrie von Binswanger aus dem Jahre 1911 zitiert:

Die Erregungsphase der Katatoniker kennzeichnet sich auf sprachlichem Gebiete gelegentlch auch durch die Produktion ganz unverst ndlicher, durch sinnlose Wort- und Silbengruppierungen ausgezeichneter Satzbildungen, in welchen Reime und Alliterationen vielfach verwandt werden .

Im Falle Nathanaels wissen wir, dass das Wort Feuerkreis ein Bruchstck eines Gedichtes ist, das er in der Frhphase der Erkrankung verfasst hatte, um es Clara vorzulesen. (Reclam, Seite 23, Zeile 23)

Die Konsolidierungsphase

Aufgrund der modernen Psychopharmakotherapie ist es mglich, die katatone Akutphase im Laufe von wenigen Tagen zu bessern und oft zu beheben. Dadurch ist es zur erheblichen Verkrzung der klinischen Aufenthalte akut schizophrener Patienten in psychiatrischen Krankenhusern gekommen. Klaus Conrad berichtet in Die beginnende Schizophrenie ber eine Kasuistik aus den Jahren 1941- 42, als es diese Therapie noch nicht gab. Er beschreibt Flle (Rainer) in denen die katatone Wahnsymptomatik schon nach einigen Wochen spontan abklang.

Er (Fall Rainer) glaubte noch lange, den Sinn seines Wut- und Tobsuchtsanfalles erkl ren zu k nnen, so als habe er doch Recht gehabt. Die Beeinflussungsgef hle blieben noch f r eine Zeit bestehen, dann erfolgte eine fast vollst ndige Korrektur.

Man k nnte sagen, der Wahn sei von ihm abgefallen.

Wie lange die Konsolidierungsphase bei Nathanael dauerte, wissen wir nicht .Es heisst in der Erzhlung nur, dass er nach langer Erkrankung zu Hause im Bett lag und wie aus schwerem, frchterlichem Traum erwachte, und Clara, Lothar und Sigmund an seinem Bett standen. Er bedankt sich, dass die Freunde trotz alledem zu ihm gehalten haben . Clara sagt: Endlich, endlich, o mein herzlieber Nathanael- nun bist du genesen von schwerer Krankheit - nun bist du wieder mein! - Jede Spur des Wahnsinns war verschwunden (Reclam, Seite 40,Zeile13)

Nach dieser scheinbaren Genesung heisst es von Nathanael, er , war milder und kindlicher geworden, als er je gewesen. (Reclam, Seite40, Zeile22)

Eine solche nderung des Charakters nach akutem schizophrenem Schub kennt man als postpsychotisches Residualsyndrom mit Verringerung des energetischen Potentials, was einer kindhaften Gemtsvernderung entsprechen kann.

In der heutigen Situation der psychopharmakologischen Therapiemglichkeit sehen wir leider oft, dass die Patienten wegen der erfreulichen Besserung und vermeintlichen Gesundung die vorbeugende Medikation absetzen, so dass die nchste katatone Akutphase dann nicht allzu lange auf sich warten lsst. Wegen der stets unberechenbaren Aggressions- und Suicidgefahr sollte diese jedoch verhindert werden.

In dem grundlegenden Lehrbuch von Berger: Psychiatrie und Psychotherapie1999 heisst es:

Katatone Zustandsbilder k nnen zu kritischen Situationen f r Patienten und ihre Umgebung f hren. In der katatonen Erregung, nicht selten unvorhergesehen und pl tzlich auftretend (Raptus) k nnen die Patienten toben und schreien, gegen W nde und T ren anrennen und sich dabei verletzen oder Anwesende angreifen . 1)

Im Falle des Nathanael fhrt die zweite katatone Krise, die anlsslich eines gemeinsamen Spazierganges mit Clara raptusartig mit hchster Erregung, und wieder mit echolalischen Ausrufen ausbricht, zu dem lebensgefhrlichen Angriff gegen seine Verlobte, und dann zum Suizid durch den Sprung vom Aussichtsturm.

Da er auf dem Turm in der katatonen Erregung tobt, lacht und schreit, hat sich eine Menschenmenge auf dem Platz versammelt und unter ihnen ragte riesengross der Advokat Coppelius hervor. Nathanael (...) wurde den Coppelius gewahr und mit gellendem Schrei (...) sprang er ber das Gel nder. (Reclam Seite41,Zeile 6)

Nach Nathanaels Tod ist Coppelius verschwunden. Er existierte in diesem Moment nur in der Wahnwelt des Kranken.

Schizophrenie - was ist das?

Die Katatonie wurde von Kahlbaum schon um 1874 beschrieben. Emil Kraepelin, der Vater der systematischen, wissenschaftlichen Psychiatrie fand den Ausdruck Dementia praecox. Damit wollte er die Demenz der alten Menschen von der Geisteskrankheit der jungen Menschen abtrennen. Eugen Bleuler fand fr die von Kraepelin umrissene Erkrankung in seinem richtungsweisenden Buch Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien 1911 den Ausdruck Schizophrenie, mit dem er auf die Spaltung zwischen emotionalen und kognitiven Vorgngen im Seelenleben der Erkrankten hinweisen wollte. Darber hinaus stellt er fest, dass es bei der Schizophrenie eben nicht zur Demenz, d.h. Verlust der Intelligenz kommt, sondern zu einer krankhaften Strung in der Anwendung der Intelligenz. Bis heute finden wir bei Schizophreniekranken kein greifbares organisches Korrelat am Gehirn. Noch immer gilt die Feststellung Kurt Schneiders, der sagt, die Schizophrenie sei das Symptomenbild einer bisher noch unbekannten Hirnkrankheit .

Modellhaft kann man sich allenfalls vorstellen, dass es sich u m e i n e n D e f e k t i n d e r i n t e r n e u r o n a l e n Informationsverarbeitung durch fehlerhafte bertragung durch die Neurotransmitter an den Synapsen handelt. Der Erkrankte empfngt dadurch falsche Informationen aus der Umgebung und sendet falsche Gedanken und Emotionen zurck, so dass er sich,- wie man volkstmlich sagt,-

in einem falschen Film befindet. Diese These wird untersttzt durch die Tatsache, dass die modernen Psychopharmaka, die bei Schizophrenie wirken, an den Neurotransmittern ansetzen.

Hereditre Einflsse spielen sicher eine Rolle. Deshalb ist die Frage des Arztes bei Verdacht auf Schizophrenie unerlsslich: Gibt es Psychosen in Ihrer Familie?

Da mit den heutigen hirnorganischen Untersuchunsmethoden die Diagnose Schizophrenie nicht zu sichern ist, bleibt die Sicherung der Diagnose angewiesen auf die typischen psychischen Symptome und auf die diagnosenspezifische Verlaufsform der Krankheit.

Solange die zugrunde liegende hirnorganische Funktionsstrung nicht diagnostisch fassbar ist, wird die Schizophrenie immer wieder zu Versuchen fhren, diese Krankheit psychologisch zu verstehen.

Die Schizophrenieforschung ist damit seit hundert Jahren das Kampffeld zwischen Versuchen der naturwissenschaftlichen Erklrung und der geisteswissenschaftlichen Deutung der schizophrenen Phnomene.

In seiner Abhandlung Das Unheimliche (1919) greift Sigmund Freud die Erzhlung E.T.A.Hoffmanns auf und verwertet den Fall Nathaniel als Beweis fr den von ihm selbst hypothetisierten dipuskomplex.

Unter Annahme der Diagnose einer schizophrenen Psychose bei dem Patienten Nathanael fllt es dem psychiatrisch orientierten Leser dieser Abhandlung tatschlich schwer, den Gedankengngen Sigmund Freuds Folge zu leisten und sich von seiner Art der Beweisfhrung berzeugen zu lassen. Freud schreibt: Der Schluss der Erz hlung macht es ja klar, dass der Optiker Coppola wirklich der Advokat Coppelius und also auch der Sandmann ist.

Eine intellektuelle Unsicherheit kommt hier nicht mehr in Frage: wir wissen jetzt, dass uns nicht die Phantasiegebilde eines Wahnsinnigen vorgef hrt werden sollen.

Das Studium der Tr ume, der Phantasien und der Mythen hat uns gelehrt, dass die Angst um die Augen, die Angst zu erblinden, h ufig genug ein Ersatz f r die Kastrationsangst ist. Auch die Selbstblendung des mythischen Verbrechers dipus ist nur eine Erm ssigung f r die Strafe der Kastration. Viele andere der Z ge der Erz hlung erscheinen willk rlich und bedeutunslos, wenn man die Beziehung der Augenangst zur Kastrationsangst ablehnt, und werden sinnreich, sowie man f r den Sandmann den gef rchteten Vater einsetzt, von dem man die Kastration erwartet. Als Fussnote folgt: Das von der Verdr ngung am st rksten betroffene St ck des Komplexes, der Todeswunsch gegen den b sen Vater, findet seine Darstellung in dem Tod des guten Vaters, der dem Coppelius zur Last gelegt wird .

Seine These von den unterbewussten Verdrngungsmechanismen erffnet Sigmund Freud offenbar die Mglichkeit, Personen und Vorgnge solange zu verschieben, bis er den von ihm hypothetisierten dipuskomlex als bewiesen darstellen kann.

Beim Lesen der Hoffmanschen Erzhlung erfhrt man hingegen nichts darber, dass in der verborgenen Phantasie des Knaben Nathanael der Tod des Vaters von ihm gewnscht wird, weil er irgend eine Bestrafung von ihm frchtet. Im Gegensatz zu Freuds These sehe ich in der Erzhlung E.T.A.Hoffmanns durchaus die meisterliche Darstellung der

Phantasiegebilde eines Wahnsinnigen, dessen Wahnsinn von Eugen Bleuler hundert Jahre spter den Namen Schizophrenie erhielt.

Wenn man die Schizophrenie als Defekt der Informationsverarbeitung im Gehirn des Menschen versteht, bleiben verstehende Deutungen der schizophrenen Wahnsymptome eigentlich ein Spiel mit Worten. Klaus Conrad schreibt dazu: Es will uns scheinen, als h tten wir den Raum der Wissenschaft in seinem eigentlichen, kritisch - empirischen Sinn verlassen und den nicht minder lockenden des intuitiven K nstlers betreten.

Der Knstler E.T.A.Hoffmann war den kritisch-empirischen Wissenschaftlern in der Beschreibung psychiatrischer Krankheitszustnde offenbar hundert Jahre voraus, denn so przise wie er hat zu seiner Zeit noch kein Anderer die Wahnsymptomatik eines an Schizophrenie erkrankten jungen Menschen geschildert.

Literatur:

Berger. Mathias.: Psychiatrie und Psychotherapie, Urban u. Schwarzenberg,1998

Binswanger, O. u.a. Lehrbuch der Psychiatrie, Gustav Fischer Jena, 1911

Bleuler, Eugen: Die Gruppe der Schizophrenien, Leipzig, Wien, 1911

Conrad, Klaus: Die beginnende Schizophrenie, Thieme 1979 Freud Sigmund: Das Unheimliche (1919) S. Fischer, Studienausgabe Bd IV

Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann,1817, Reclam Nr. 230, 1991, 2003

Huber, Fritz, Psychiatrie, Lehrbuch, Schattauer,7.Auflage 2005

Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie, Berlin 1913,

6.Auflage 1953

Kahlbaum: Die Katatonie oder das Spannungsirresein, Berlin, Hirschwald,1874

Kraepelin, Emil: Einf hrung in die Psychiatrische Klinik, Barth, Leipzig, 1916

Kudszus,Winfried, Literatur und Schizophrenie, Niemeyer,Tbingen,1977

Pinel, Philippe: Abhandlung ber Geistesverirrung oder Manie, Wien,1801

Scharfetter,C.: Briefe von Gaupp und Kretschmer an Eugen Bleuler, 201 Fortschr. Neur. Psychiatr. 67, 1999, Seite 143 Schneider, Kurt: Klinische Psychopathologie, Thieme, 1959

1 202021

Excerpt out of 20 pages

Details

Title
Die Erzählung "Der Sandmann" von E.T.A. Hoffmann aus psychiatrischer Sicht
Author
Year
2018
Pages
20
Catalog Number
V418214
ISBN (eBook)
9783668671775
ISBN (Book)
9783668671782
File size
488 KB
Language
German
Keywords
erzählung, sandmann, hoffmann, sicht, Student verfällt dem Wahnsinn, Symptome einer Schizophrenie Eugen Bleuler
Quote paper
Rüdiger Tessmann (Author), 2018, Die Erzählung "Der Sandmann" von E.T.A. Hoffmann aus psychiatrischer Sicht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/418214

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