Einleitung
Fast zehn Jahre war die Krankheit AIDS 1 und der sie verursachende HI-Virus einer immer breiter werdenden Öffentlichkeit bekannt, ehe 1993 der erste Film aus Hollywood zu diesem Thema gedreht wurde. In den Jahren vor PHILADELPHIA gab es zahlreiche kleinere Independent-Produktionen2 und einige Fernsehfilme, die sich erzählerisch3 oder dokumentarisch4 mit der Krankheit, ihrem immer tödlichen Verlauf, den betroffenen Menschen und den gesellschaftlichen Vorurteilen und Ängsten auseinander setzten. PHILADELPHIA von Jonathan Demme war nun die erste Studiogroßproduktion (Columbia TriStar), die sich an dieses brisante Thema mit all seinen Implikationen (Sexualität, Familie, Tod, gesellschaftliche Stigmatisierung, Vorurteile) heranwagte. Es soll mir nicht um die Frage gehen, warum die großen Studios – sonst auf der Suche nach verfilmbaren Stoffen und gesellschaftlich relevanten Entwicklungen immer am Puls der Zeit – das Thema Aids erst so spät aufgegriffen haben, sondern vielmehr interessiere ich mich für die aufklärerischen Qualitäten von PHILADELPHIA und die im Film thematisierte >Schnittstelle< Aids/Homosexualität. Ob sich in einer Großproduktion zum Thema Aids überhaupt ein differenziertes, glaubwürdiges Bild der Krankheit und der von ihr Betroffenen realisieren lässt und ob ein aufklärerischer Ansatz nicht zwangsläufig an wirtschaftlichen Interessen und Zwängen des Mediums scheitern muss, stelle ich im weiteren Verlauf zur Diskussion.
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1 1981 veröffentlichte das United States Center for Disease Control erstmals einen Bericht über AIDS. Dass diese Krankheit durch das HI-Virus verursacht wird, ließ sich jedoch erst 1983/84 eindeutig belegen.
2 z.B. Gregg Araki′s The Living End (1992).
3 z.B. An Early Frost(1985), Roger Spottiswoode´s And the Band Played On (1992).
4 z.B. Peter Adair′s Absolutely Positive (1990, Kermit Cole′s Living Proof: HIV and the Pursuit of Happiness (1993).
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Aufbau und Herangehensweise
2 AIDS – die Krankheit und ihre Folgen
2.1 Aids – eine Statistik
2.2 Tabuthemen: Krankheit und (Homo-)Sexualität
2.3 Entstehung von Vorurteilen
3 Exkurs: Aids und Politik
4 Cultural Studies (CS)
4.1 Stuart Hall
4.2 Der ausgehandelte Raum
5 Encoding PHILADELPHIA
5.1 Was erzählt PHILADELPHIA?
5.2 Die Protagonisten
5.2.1 Miller
5.2.2 Beckett
6 Decoding PHILADELPHIA
6.1 Homophil, homophobe and not so homophobe
7 Was bleibt?
Literaturverzeichnis
Anhang
Sequenzprotokoll
Aidsstatistik
1 Einleitung
Fast zehn Jahre war die Krankheit AIDS[1] und der sie verursachende HI-Virus einer immer breiter werdenden Öffentlichkeit bekannt, ehe 1993 der erste Film aus Hollywood zu diesem Thema gedreht wurde. In den Jahren vor Philadelphia gab es zahlreiche kleinere Independent-Produktionen[2] und einige Fernsehfilme, die sich erzählerisch[3] oder dokumentarisch[4] mit der Krankheit, ihrem immer tödlichen Verlauf, den betroffenen Menschen und den gesellschaftlichen Vorurteilen und Ängsten auseinander setzten. Philadelphia von Jonathan Demme war nun die erste Studiogroßproduktion (Columbia TriStar), die sich an dieses brisante Thema mit all seinen Implikationen (Sexualität, Familie, Tod, gesellschaftliche Stigmatisierung, Vorurteile) heranwagte.
Es soll mir nicht um die Frage gehen, warum die großen Studios – sonst auf der Suche nach verfilmbaren Stoffen und gesellschaftlich relevanten Entwicklungen immer am Puls der Zeit – das Thema Aids erst so spät aufgegriffen haben, sondern vielmehr interessiere ich mich für die aufklärerischen Qualitäten von PHILADELPHIA und die im Film thematisierte >Schnittstelle< Aids/Homosexualität. Ob sich in einer Großproduktion zum Thema Aids überhaupt ein differenziertes, glaubwürdiges Bild der Krankheit und der von ihr Betroffenen realisieren lässt und ob ein aufklärerischer Ansatz nicht zwangsläufig an wirtschaftlichen Interessen und Zwängen des Mediums scheitern muss, stelle ich im weiteren Verlauf zur Diskussion.
1.1 Aufbau und Herangehensweise
Die Arbeit lässt sich grob in zwei inhaltliche Blöcke gliedern, wobei die im ersten Abschnitt angestellten Überlegungen als theoretischer Hintergrund für eine kritische Auseinandersetzung mit Philadelphia gedacht sind. In den ersten zwei Kapiteln werde ich einleitend die Krankheit AIDS und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen betrachten, um so den Ursprung der Angst vor AIDS verstehen und die gesellschaftliche Funktion von Krankheit, Sexualität und Vorurteilen besser beurteilen zu können. Ausgehend von eher allgemeinen Überlegungen zu Massenmedien und ihrer Funktionsweise möchte ich dann die Aneignung von Filmen/medialen Texten theoretisch betrachten, indem ich das encoding/decoding -Modell von STUART HALL als theoretische Folie in einem zweiten Block nutze, um es konkret auf den Film anzuwenden. Meine These ist, dass PHILADELPHIA eine ausgehandelte Lesweise (im Sinne HALLs) anbietet und sich mit dem homophoben, aber auch mit dem homophilen Publikum zu arrangieren versucht. In diesem Kontext müssen die Charaktere Beckett (Tom Hanks) und Miller (Denzel Washington) genauer untersucht werden. Vor allem der Figur Miller kommt hier eine besondere Bedeutung zu, da sie als Projektionsfläche für den >durchschnittlich homophoben< Zuschauer die meisten Identifikationsmöglichkeiten bietet. Da ich den Film als bekannt voraussetzen kann, verzichte ich auf eine Inhaltsangabe im Fließtext und verweise auf das Sequenzprotokoll im Anhang.
2 AIDS – die Krankheit und ihre Folgen
Philadelphia ist weniger ein Film über die Krankheit AIDS und ihren Verlauf, sondern vielmehr ein Versuch, sich dem Thema sozialpsychologisch zu nähern.[5] Zwar spielen der kranke und von Krankheit gezeichnete Körper eine entscheidende Rolle, doch ist dieser im Film nur selten zum Selbstzweck ausgestellt. Die gesundheitlichen Folgen für den Patienten sind immer eingebunden in den Plot, der sich um die offene und subtile Diskriminierung (homosexueller) Aidskranker in der Gesellschaft rankt und zu großen Teilen vor Gericht spielt. Es soll also im folgenden Abschnitt nicht um eine Betrachtung der Krankheit aus medizinischer Sicht gehen, sondern um die sozialen Folgen für die Betroffenen und die Art und Weise, wie Gesellschaft und Politik auf die Krankheit reagiert haben. Ein Film zu diesem Thema muss sich an der Realität[6] messen lassen und darf, wenn er denn einen gewissen Anspruch verfolgt, nicht nur eine sentimentale und rührselige Geschichte mit kämpferischen Anstrich erzählen. Vor diesem Hintergrund erscheint mir ein solcher Exkurs sinnvoll.
2.1 Aids – eine Statistik
Vorab möchte ich einige grundlegend Fakten einbringen: Die Verbreitung des HI-Virus muss weltweit sehr differenziert betrachtet werden. Vor allem in afrikanischen Ländern um und südlich des Äquators sind große Teile der Bevölkerung infiziert und/oder bereits erkrankt. Besonders gefährdet sind Frauen und ihre noch ungeborenen Kinder. Aus einer Statistik (siehe Anhang) geht hervor, dass im Jahre 2000 fast 9%[7] der Zentral- und Südafrikanischen Erwachsenen-Bevölkerung mit dem HI-Virus infiziert oder bereits an Aids erkrankt waren[8].
In Europa und Nordamerika hingegen sind 0,2% bzw. 0,6% der Erwachsenenbevölkerung infiziert; in Nord-Amerika sind 80%, in West-Europa 75%, in Australien gar 90% der infizierten Erwachsenen Männer, von denen ein großer Prozentsatz zum Kreis der homosexuellen Männer zu rechnen ist. Die Zahl der heterosexuellen Erkrankten und derer, die sich über den Blutweg (Transfusion, Spritzen, Infusion) infiziert haben, nimmt sich demgegenüber eher gering aus.
Diese Fakten müssen berücksichtigt werden, wenn man den Hass, die Angst und die sich daraus resultierenden Diskriminierungen, denen sich Homosexuelle und Aidskranke ausgesetzt sehen, annähernd nachvollziehen will. Das Bewusstsein einer allgegenwärtigen Gefahr für jeden sexuell aktiven Menschen an Aids zu erkranken setzte sich erst schleppend durch und wurde zudem durch solche Zahlen immer wieder konterkariert. Der Film Philadelphia verweist auf diese frühe Zeit in den 80ern, als Aids noch als „Schwulenseuche“ oder „Schwulenkrebs“ gebrandmarkt wurde.
2.2 Tabuthemen: Krankheit und (Homo-)Sexualität
Ansteckende Krankheiten mit tödlichem Verlauf lösen bei Betroffenen und deren Umfeld Angst aus, der nur mit Aufklärung und Information[9] entgegengetreten werden kann. Intuitiv reagieren Menschen auf die Gefahr einer ansteckenden Krankheit mit einer Abwehrhaltung, da die Angst vor einer Infektion stärker ist als das Mitgefühl für bereits Erkrankte. Die Bedrohung durch AIDS ist aber nicht vergleichbar mit der Bedrohung der Menschheit durch Seuchen vergangener Jahrhunderte, bei denen die Luft und andere Körpersekrete (z.B. Tröpfcheninfektion) den Erreger übertragen konnten. Doch AIDS ist eine Krankheit, „die wie keine andere zuvor eine permanente Präsenz in den Medien und in der sozial- und gesellschaftlichen Auseinandersetzung erreicht und zahlreiche kollektive Bedeutungszuschreibungen gehabt hat“.[10] Durch die technische und logistische Infrastruktur moderner Kommunikationsgesellschaften bestand eigentlich seit dem ersten Auftreten der Krankheit die Möglichkeit, flächendeckend (und zum ersten Mal in der Geschichte) Aufklärung und Information in die Haushalte zu bringen. Natürlich gab es in den USA und auch in der BRD umfangreiche Kampagnen, aber auch immer wieder Diskussionen und beredte Aussagen, die AIDS auf die gesellschaftlichen Randgruppen (Homosexuelle, Drogenszene) reduzierten. Die Betroffenen wurden zusätzlich marginalisiert und diskriminiert, als in konservativen Regierungskreisen laut über Maßnahmen nachgedacht wurde, wie dem >Problem< beizukommen sei. Da gehörten rechtliche Fragen, ob obligatorische Bluttests bestimmter Bevölkerungsgruppen (etwa um Lebensversicherungen abschließen zu können) zulässig sein sollten und ob man Infizierte verpflichten darf, ihre Sexualpartner behördlich registrieren zu lassen[11], noch zu den harmlosen Überlegungen. So wurde AIDS von einigen orthodoxen Gläubigen als Strafe Gottes gedeutet, während die Apokalyptiker noch weiter gingen und das Auftreten von AIDS kurz vor Vollendung des zweiten Millenniums als das nahende Ende der Menschheit interpretierten.[12] Mit solchen Zuschreibungen wurde die Krankheit fast schon mystisch aufgeladen und die Bekämpfung und Eindämmung des Erregers zu einer Mission biblischen Ausmaßes hochstilisiert.
Trotz aller Aufklärung über die möglichen Ansteckungswege mit dem Virus gehen „bei einer Krankheit mit einer äußerst geringen Infektiösität und klar definierten Schutzmöglichkeiten die individuellen und gesellschaftlichen Reaktionen häufig weit über das präventivmedizinisch Angezeigte hinaus“.[13] Es scheinen also noch andere Themenkomplexe Ressentiment und Ausgrenzung zu schüren: Neben dem metaphorisch-semantischen Überschuss von AIDS, den Susan Sontag in ihrem Essay thematisiert[14], werden im Kontext der Krankheit so existentielle und tabuisierte Themen wie Sexualität, Liebe und Tod transportiert und bewusst oder unbewusst mitgedacht. Die weitverbreitete Unfähigkeit zu einer differenzierten sprachlichen Auseinandersetzung erschweren einen maßvollen und die Rechte der Erkrankten schützenden Umgang mit AIDS ungemein und sind im höchsten Maße kontraproduktiv.[15]
Vor allem die Sexualität wird – wenn überhaupt – in Familie und Öffentlichkeit nur in codierten umgangssprachlichen Chiffren diskutiert. Obwohl oder gerade weil Sexualität ein existentielles Thema ist, können viele Menschen ihre Scham nicht ablegen. Entweder wird Sex in die unterschiedlichsten sprachlichen Gewänder gehüllt und auf einer zotigen und anzüglichen Ebene verhandelt, oder er wird in einem Kontext von Reproduktion und Arterhaltung versachlicht und von den Bigotten heilig gesprochen und >entweltlicht<. Selten wird Sex offen mit natürlichem Begehren, angeborenen Trieben oder einem lust- und zugleich schmerzvollen Verlangen in Verbindung gesetzt. Was der Einzelne wirklich empfinden mag, wird er nur selten seinem Gegenüber oder einer breiteren Öffentlichkeit[16] mitteilen.
Geschichtlich sieht Michel Foucault den Einfluss des viktorianisch geprägten Bürgertums im 19. Jahrhundert[17] als Nährboden für unseren schamhaften Umgang mit Sexualität. Während noch im frühen 17. Jahrhundert über Sexualität in einer relativ deutlich-derben Sprache gesprochen wurde, so breitete sich den folgenden Jahren Schweigen, Lustfeindlichkeit und ein Diktat der Nützlichkeit und Fruchtbarkeit über den Sex aus. Aller Geschlechtsverkehr, der nicht der Fortpflanzung dienlich war, bekam in dieser Zeit „den Status des Anormalen und [unterlag] dessen Sanktionen.“[18] So liest Foucault die Geschichte des Sexualität seit dem 17. Jahrhundert bis in unsere Zeit als Geschichte der Unterdrückung und der Repressionen.[19] Ausgehend von einer klösterlichen[20] >Beichtstuhl-Tradition< entwickelten sich Diskurse[21], in denen in entsprechend codierter Sprache über Sexualität gesprochen wurde und z.T. auch heute noch gesprochen wird. Ebenso hat sich das Schweigen in Bezug auf die Sexualität ausdifferenziert, haben sich Formen der Diskretion und der Unterdrückung herausgebildet, die es im frühen 17.Jahrhundert so noch nicht gab.[22] FOUCAULT spricht in diesem Zusammenhang von dem Druck des Unaussprechlichen: „Something that is close to us, yet unacceptable and which, therefore, needs to be kept at a safe distance“.[23]
Diese Diskrepanz zwischen persönlichem, vorgesellschaftlichem Empfinden und den über Jahrhunderte gewachsenen „pressures of the unspeakable“[24] versperrten den Zugang zum Thema. Da haben die seit den 1970ern einsetzende Aufklärungswelle (Kolle+Co.), die Erotisierung des Fernsehens seit den 80ern durch die privaten Sender und die endgültige >sexuelle Befreiung< durch das Internet in den 90ern meiner Meinung nach nicht wirklich Konstruktives geleistet. Zwar konnten durch die Medialisierung der Sexualität und die Aufhebung des >Bilderverbots< Muff und Prüderie abgebaut werden, aber die Verknüpfung von Sexualität und Medialität hat nur weitere Diskurse zum bereits bestehenden Diskurskanon hinzugefügt und gleichzeitig neue Probleme geschaffen. Vielmehr hat die öffentliche Bebilderung zu einer allgemeinen Verrohung der Sprache und des Umgangs[25] beigetragen und alles andere als sensibilisiert und Scham abgebaut. So war und ist die (Hetero-)Sexualität kein Thema, über das man im eigentlichen Sinne spricht. Wie muss es sich da erst mit der Homosexualität verhalten? Hat die Homosexualität – die oben angerissenen Probleme mitgedacht – überhaupt eine Chance, von einer breiten Öffentlichkeit als natürliches Bedürfnis gleichberechtigt und gleichwertig anerkannt zu werden?
2.3 Entstehung von Vorurteilen
„Ein Vorurteil ist ein vorgefasstes Urteil über Gruppen von Menschen (...), das positiv oder negativ gefühlsmäßig unterbaut ist, das nicht unbedingt mit der Wirklichkeit übereinstimmen muss, und an dem, ungeachtet aller Möglichkeiten der Korrektur, festgehalten wird“.[26]
Beginnend mit den Kreuzzügen, später dann während der Renaissance, konnten sich Intellektuelle verstärkt mit den Strukturen und Wirkungsweisen von Vorurteilen beschäftigen, weil sich durch den wachsenden interkulturellen Austausch zunehmend feststellen ließ, dass Menschen aus unterschiedlichen Kulturen nicht zwangsläufig die gleichen Werte und Maßstäbe entwickelt haben. In erster Linie waren es natürlich Fragen der Religion und deren unterschiedlicher Ausübung, die einander misstrauisch und feindlich stimmten. Die Christen hielten die Mohammedaner für Heiden, die Juden die Christen (und vice versa) und die monotheistischen Religionen und Lebensgemeinschaften beanspruchten jede für sich absolute Gültigkeit.[27] Der Streit um die rechte Religiosität führte auf direktem Weg zu Fragen der richtigen, gottgefälligen Lebensführung, der Funktion von Sexualität, Familie und Besitz. Sie waren Quell für weitere Ressentiments und Abgrenzungen, nicht nur zwischen den Kulturen, sondern auch innerhalb einer Glaubens- und Lebensgemeinschaft. Wann immer gesellschaftliche Krisen wie Seuchen, Kriege oder durch Naturkatastrophen hervorgerufene Hungersnöte die Menschen plagten, wurden als Auslöser die >Anderen<, die >Fremden< vermutet.[28] Fremd und anders waren all diejenigen, deren Lebens- und Glaubenspraxis auf den ersten Blick nicht mit den Gewohnheiten und Bräuchen der Majorität übereinstimmten. Alles, was von der herrschenden Meinung abwich, war an sich schon verdächtig. So ist das gesellschaftliche Problem der Vorurteile sehr häufig im Zusammenhang mit Minoritäten anzutreffen.
Vorurteile wurden natürlich auch politisch und ideologisch instrumentalisiert, um die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft aus den unterschiedlichsten Gründen gegen die >Anderen< zu mobilisieren. Seit der Erfindung der Telegrafie standen diesen Formen der Meinungs(miss)bildung und Propaganda Tür und Tor offen und wurden dementsprechend genutzt. Zu diesem Zweck wurden Gemeinschaften auch vorsätzlich zu Minoritäten gemacht, um sie zur Zielscheibe von Vorurteilen[29] und damit zu Sündenböcken machen zu können. Neben der Instrumentalisierung der Vorurteile zur Machterhaltung der Herrschenden erfüllt das >Schubladendenken< aber auch das Bedürfnis des Einzelnen nach Selbstbestätigung und Abgrenzung vom Anderen.[30] Auch wenn Vorurteile meist im gesellschaftlichen Zusammenhang entstehen und gesellschaftliche Funktionen erfüllen, können sie dem Individuum als Krücke für die eigene Identitätsfindung dienen. Stuart Hall betont die Bedeutung der Differenz und Abgrenzung für die Identität wenn er sagt, dass der Mensch sich in seinem Sosein nur erkennen kann, „wenn es einen Anderen gibt“.[31] In dieser Erkenntnis liegt nach Hall die Essenz für die Entstehung von Nationalismus und Rassismus. Vorurteile und Rassismus könnten als solche entlarvt und abgebaut werden, wenn der >Andere< als integraler Bestandteil der eigenen Identität erkannt und diese Beziehung als „dialogische“[32] verstanden werden könnte. Rassismus und Ausgrenzung sind nach Hall „eine Struktur (...) der Repräsentation, die den Anderen symbolisch zu vertreiben [und auszulöschen] sucht“[33]. Ein stereotypes Merkmal wird als repräsentativ für die Gesamtheit einer Gruppe von Menschen gesehen und ungeachtet aller anderen Merkmale und heterogenen, die vermeintliche Einheitlichkeit der Ausgegrenzten sprengenden Eigenschaften, absolut gesetzt. Diese mentalen Konzepte bilden Wirklichkeit nicht einfach ab, sie sind vielmehr eine soziokulturelle Konstruktion.[34]
[...]
[1] 1981 veröffentlichte das United States Center for Disease Control erstmals einen Bericht über AIDS. Dass diese Krankheit durch das HI-Virus verursacht wird, ließ sich jedoch erst 1983/84 eindeutig belegen.
[2] z.B. Gregg Araki's The Living End (1992).
[3] z.B. An Early Frost( 1985), Roger Spottiswoode´s And the Band Played On (1992).
[4] z.B. Peter Adair's Absolutely Positive (1990, Kermit Cole's Living Proof: HIV and the Pursuit of Happiness (1993).
[5] Vgl. Donner, Wolf: Aids-Erforschung als Politthriller. In: F.A.Z. vom 3. 2. 1994, S.29.
[6] Ich werde weitestgehend versuchen, nicht vom heutigen Stand der Aufklärung auszugehen, sondern den status quo während der Produktion von Philadelphia 1993 zu berücksichtigen – sofern dies möglich ist.
[7] Quelle: UNAIDS Joint United Nations Programme on HIV/AIDS, "AIDS Epidemic Update December 2000" und "Report on the global HIV/AIDS epidemic June 2000". In: http://www.avert.org/worldstats.htm
[8] Sowohl die absoluten als auch die statistischen Zahlen müssen jedoch sehr kritisch gesehen werden, da AIDS in Afrika sehr schnell diagnostiziert wird, oft ohne einen HIV-Antikörpertest durchgeführt zu haben. Meist wird für eine AIDS-Diagnose die sogenannte Bangui - Definition angewandt: Es reicht aus, z.B. 10% Körpergewicht verloren zu haben, 1 Monate unter Durchfall (z.B. durch verseuchtes Trinkwasser) zu leiden, und zu husten ( z.B. wegen TBC, einer in Afrika häufigen Krankheit), um als HIV-Infizierter in die Statistik einzugehen (je mehr AIDS- Fälle diagnostiziert werden, um so mehr Geld beziehen Forscher, Virologen und Gremien von der WHO und der UNO). - Siehe dazu: Thomas C. Quinn: AIDS in Africa: An epidemiological paradigm. Science 21.11.1986, 955-63 In: Höner, Guido: Die Bangui-Definition. http://www.rethinkingaids.de/afrika/bangui.htm - 1
[9] Philadelphia bietet in einigen Szenen sehr explizite Informationen mit Aufklärungscharakter an, auf die ich in Kapitel 6 noch näher eingehen werde.
[10] Hornung, Rainer/Helminger, Andree/Hättich, Achim: Aids im Bewußtsein der Bevölkerung. Stigmatisierungstendenzen gegenüber Menchen mit HIV und AIDS. Bern 1994, S.19
[11] Vgl. Lexikonartikel AIDS. In: Microsoft Encarta 2000
[12] Vgl. Sontag, Susan: AIDS und seine Metaphern. München 1989, 65f.
[13] Hornung, Rainer, S.19
[14] Sontag meint u.a., dass von offizieller Seite im sprachlichen Umfeld von AIDS in kriegsähnlichen Bildern aufgerüstet und gekämpft wird. So wird der HI-Virus häufig als „Eindringling“ und Makrophagen als „Späher“ bezeichnet, „Truppenaufgebote“ werden nach der Infektion im Körper „mobilisiert“ usw. ( Sontag, S.19ff). Diese und andere Kriegsmetaphern beschleunigen die Stigmatisierung der Krankheit und letztendlich der Erkrankten, so Sontag. Fast schon zwangsläufig führt eine an Metaphern reiche Rhetorik in einer breiten >so sensibilisierten< Bevölkerung zu einer „Dämonisierung der Krankheit“(S.13) und zu Schuldzuweisungen an die Erkrankten. Sontag sieht die Tendenz in Gesellschaften, Krankheiten mit dem Bösen in Verbindung zu setzen und so den Betroffenen eine wie auch immer geartete Schuld anzuhängen. In einer früheren Arbeit (Krankheit als Metapher) hat sie diese Neigung an Krebs verdeutlicht. Aids sei mit seinem „Stigmatisierungvermögen“ nun in diese Position gerückt. (Vgl. Sontag S. 13f und 17f).
[15] Vgl. Hornung, S.19.
[16] Fake- und Talkshows mal ausgeschlossen.
[17] In diese Zeit fällt die Herrschaft Königin Viktorias über das englische Reich, das in den 60 Jahren Ihres Regiments eine enorme Ausdehnung erlebte und so auch geselleschaftlich-moralischen Einfluss auf Europa und dem Rest der Welt ausüben konnte.
[18] Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt am Main 1983, S.12.
[19] Vgl. ebd. S.13f.
[20] Vgl. Foucault, S. 31.
[21] Z.B. Sexualität und: ...Moral, ...Ökonomie, ...Psychoanalyse, ...Macht,...Perversion,..., etc.
[22] Vgl. Foucault, S. 40 – Foucault erzählt vom schallenden Gelächter, welches durch frühreife Sexualität von Kindern bei den Erwachsenen aller sozialen Klassen ausgelöst wurde. Er nennt als Beispiel Erasmus von Rotterdam, der im 16.Jahrundert seine Schüler noch in der Wahl einer Prostituierten unterwies.
[23] Grundmann/Sachs: Philadelphia Review. In: Cineaste Vol.20 summer 1993, S.52.
[24] Ebd. S.52.
[25] Als Beispiel für die angesprochene Verrohung können sowohl die alltäglichen Talkshows als auch die diversen Flirtshows („Dissmissed“) herangezogen werden.
[26] Karsten, Anitra: Vorurteil. Ergebnisse psychologischer und sozialpsychologischer Forschung. Darmstadt 1978, S.5.
[27] Vgl. ebd. S.1ff.
[28] Der Literaturwissenschaftler und Anthropologe Rene Girard hat sich in seinen Werken mit der Entstehung von Vorurteilen, stereotypen Zuschreibungen und der daraus resultierenden Gewalt beschäftigt. Er sieht kulturübergreifend die Tendenz, soziale und anders geartete Mißstände den sogenannten Sündenböcken zuzuschreiben, die meist in den gesellschaftlichen und religiösen Randgruppen gefunden wurden (die Juden, die Hexen, die Schwarzen, die Homosexuellen etc.). Beschrieben hat er dieses allzumenschliche Verhalten in: Der Sündenbock. Zürich 1988.
[29] Vgl. Karsten, Anitra: Das Vorurteil. Geschichte der Vorurteilsforschung (1953). In: Karsten (Hrsg.): Vorurteil. Darmstadt 1978, S.120.
[30] Vgl. Karsten, S.6.
[31] Hall, Stuart: Ethnizität: Identität und Differenz. In: Engelmann, Jan: Die kleinen Unterschiede. Frankfurt a.M. 1999, S.93.
[32] Ebd., S.93.
[33] Vgl. ebd. S.93.
[34] Vgl. Hepp, Andreas: Cultural Studies und Medienanalyse. Opladen 1999, S.277.
- Arbeit zitieren
- Alexander Thiele (Autor:in), 2004, Decoding PHILADELPHIA -Die Krankheit Aids und ihre Darstellung im Hollywood-Film, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42057
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