Stadtplanung als Seuchenprävention im viktorianischen London


Dossier / Travail de Séminaire, 2014

27 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhalt

1. Einleitung

2. Forschungsstand

3. Hygiene im viktorianischen London
3.1 Industrialisierung, Verstädterung, Krankheit
3.2 Wohnungsnot und Elendsquartiere
3.3 Die sanitäre Situation
3.4 Seuchen

4. Hygiene und Seuchenprävention in der Stadtplanung
4.1 Von der Choleraphobie zur Kanalisation
4.2 Soziale Kontrolle durch öffentliche Hygieneanstalten
4.3 Wohnungsbau für ein sittliches Leben

5. Zusammenfassung

6. Abbildungen

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Seuchen sind so alt, wie die Menschheit. Sie sind Teil des Lebens und beein- flussen von jeher menschliches Tun und Handeln. Schutzmechanismen als Re- aktionen auf auftretende Epidemien fallen in menschlichen Populationen ähn- lich aus und basieren auf einem gemeinsamen Antrieb - Angst. Angst, als Grundgefühl der Bedrohung von Leib und Leben, resultiert in spezi- fischen Handlungen. Die Furcht vor Vernichtung des eigenen Körpers - sei es als direkte oder indirekte Folge von Ansteckung - ist handlungsleitend. Evolu- tionsbiologisch begründbar, bemüht sie Anstrengungen zur Aufrechterhaltung der körperlichen Unversehrtheit.

Urbane Zentren, als Konzentrationspunkte von Mensch und Raum, sind aufgrund ihrer Lebensbedingungen bevorzugte Brutstätte pathogener Keime und scheinen umso stärkere Krankheitsausbrüche zu provozieren, je geringer Hygiene, Prophylaxe und Abwehr innerhalb der Möglichkeiten einer städtischen Gesellschaft ausgebildet werden können.

Im Rahmen der Soziologie der Stadtplanung überträgt die vorliegende Hausarbeit den Grundgedanken individueller und überindividueller, auf Existenzangst basierender, Seuchenprävention auf spezifische, stadtplanerische Prozesse und analysiert diese anhand der Fragestellung, inwieweit Krankheit und Tod sich ursächlich auf ihr Entstehen ausgewirkt haben.

Stellvertretend für andere Zentren der Industrialisierung, wird am Beispiel des viktorianischen1 Londons die Interaktion von Krankheit und Gesellschaft dar- gestellt. Ziel ist es, den Einfluss potentiell tödlicher Infektionen auf ausgewähl- te Großbauprojekte herauszukristallisieren. Dabei geht es ausdrücklich nicht um die Frage, wie Stadtassanierung2 sich letztlich auf die Sterblichkeitsmuster Londons auswirkte, sondern darum, ob Krankheit, oder vielmehr die Angst davor, eine gezielte stadtplanerische Krisenintervention bedingt haben. Um diese Frage eindeutig klären zu können, gilt es darüber hinaus, Gedankenwel- ten und Wertekonstrukte des viktorianischen Bürgertums darzustellen, sozio- ökonomische und politische Einflüsse zu beleuchten und sich mit den Medizi- naltheorien des 19. Jahrhunderts vertraut zu machen.

Der eigentlichen Untersuchung ist ein Kapitel über die hygienischen Zustände im London des 19. Jahrhunderts vorangestellt. Darauf folgt die Analyse anhand der exemplarisch ausgewählten, stadtplanerischen Teilbereiche Kanalisation, öffentliche Hygieneanstalten und Wohnungsbau. Auf die Untersuchung weite- rer Assanierungsmaßnahmen muss aufgrund des begrenzten Rahmens einer Seminararbeit verzichtet werden; die verwendeten Beispiele sind jedoch, nach Ansicht der Verfasserin, mit Blick auf die Fragestellung aussagekräftig.

Alles in allem verfolgt die Arbeit den doppelten Zweck der historischen Dokumentation sowie einer soziologischen Interpretation stadtplanerischer Aktivitäten in der Geburtsstunde der ersten europäischen Metropole.

2. Forschungsstand

Großbritannien ist als Gegenstand der wissenschaftlichen Literatur gut dokumentiert. Detaillierte, historisch, wie soziologisch ansprechende Abhandlungen über das viktorianische London stammen von Asa Briggs, Liza Picard und Anthony Wohl. Letzterer beleuchtet mit seinem Zweitwerk The Eternal Slum vor allem Sachverhalte der Londoner Wohnungsbaupolitik. Auch Steven Halliday bietet mit The Great Filth einen kulturwissenschaftlichen Gesamtüberblick über das Leben in der englischen Metropole und geht in The Great Stink speziell auf das Thema Abwasserentsorgung ein.

Unter allen Epidemien sind die Cholerazüge in Großbritannien am Besten auf- gearbeitet. Die Bücher von Durey, Pelling und Johnson beinhalten, neben einer rein historischen Analyse, auch Material, welches für soziologisch orientierte Forscher von Interesse ist. Aufschlussreich für die Korrelation von Typhus, Fleckfieber und sanitären Missständen ist Luckings Aufsatz. Der Dokumenta- tion aller in London auftretenden Seuchen hat sich Hardy verschrieben. Ihr Werk ist eine Fundgrube für ausgewertete Statistiken und beinhaltet Denkan- stöße zur McKeown´schen These über das Bevölkerungswachstum nach 1800. Toyka-Seid und Weisbrod beleuchten in ihren Aufsätzen das bürgerlich- moralische Gedankenhaus der viktorianischen Mittel- und Oberschicht und ziehen Verbindungen zur Philanthropie bzw. zur Entstehung des Gesund- heitssektors.

Letztlich bieten Mayhew, Chadwick und Snow, sowie En gels Lage der arbei tenden Klasse in England, einen zeitgenössischen Einblick, der eigene Interpretationen zulässt.

3. Hygiene im viktorianischen London

3.1 Industrialisierung, Verstädterung, Krankheit

Mitte des 18. Jahrhunderts wandelt sich die englische Gesellschaft von einer ländlich-agrarischen zur städtisch-gewerblichen. Bevölkerungswachstum, der Wegfall alter Wirtschaftszweige, eingeschränkter Produktivitätszuwachs, das Aufkommen von Lohnarbeit sowie Agrarkrisen, Missernten und Rezession führen in den folgenden Jahrzehnten als multifaktorielles Ganzes zur Ausbil- dung einer völlig neuen Form von Armut. Der Pauperismus ist die überindivi- duelle, strukturell bedingte, lang anhaltende Verelendung ganzer Bevölke- rungsschichten als Folge von Krisen vorindustriellen Stils gepaart mit Proble- men der Frühindustrialisierung. Er zieht gesellschaftliche Auflösungserschei- nungen, Hungerrevolten, Klassenkampf und - nicht zuletzt - auch Krankheiten nach sich.

1801 leben in Großbritannien 10.686.000 Menschen, gut 30% von ihnen in der Stadt. Fünfzig Jahre später sind es bereits 54% und 1901 zählt das Land 78% Städter bei einer Bevölkerungszahl, die sich in einhundert Jahren vervierfacht hat (vgl. Halliday 2007, S.18).

Die Urbanisierung bedingt häufig menschenunwürdige Lebensumstände. Ver- glichen mit ländlichen Regionen zeichnet sich bald eine großstädtische Über- sterblichkeit ab. Lässt sich ab 1780 noch ein Sinken der Sterblichkeitsrate in- nerhalb der englischen Bevölkerung feststellen, so dokumentiert das Registrar- General, unter Leitung des Epidemiologen William Farr, nach Analyse zeitge- nössischer Vitaldatensammlungen einen Umkehreffekt ab 1816. Im Jahr 1838 beträgt der Sterblichkeitsindex in England 22,4 je 1000 Einwohner und sinkt bis zum Ende des Jahrhunderts landesweit selten unter 20 (vgl. Halliday 2007, S. 20).

Pauperismus erstreckt sich über alle Bereiche des täglichen Lebens. Inadäqua- tes Wohnen, mangelnde Hygiene, unzureichende Kleidung, auszehrende Er- werbsarbeit, Fehlernährung und psychosozialer Stress sind das Resultat und halten die Abwärtsspirale zugleich am Leben. Jeder Faktor für sich hat das Potential, die menschliche Immunabwehr zu schwächen und Infektionen im Körper zu begünstigen. In ihrer Summe sind sie der nötige Zündstoff, der aus einer endemischen Erkrankung einen epidemischen Flächenbrand erwachsen lässt.

Einmal erkrankt, stehen Fieberpatienten vor einem Scheideweg. Genesung wird erhofft; der frühe Tod ist wahrscheinlich. Wer überlebt, ohne die nötigen Kraftreserven zur vollständigen Gesundung aufzubringen, gilt als invalid. Samt seiner abhängigen Angehörigen rutscht er in das System des reformierten Ar- menrechts von 1834. Krankheit wird zu einer Etappe auf dem Weg ins Ar- beitshaus und die Einweisung kommt nicht selten für alle Familienmitglieder einem Todesurteil gleich.

3.2 Wohnungsnot und Elendsquartiere

Laut Zensus von 1801 zählen die Londoner Distrikte 959.000 Einwohner auf einer Fläche von 4 x 5 Meilen. 1851 beträgt die Bevölkerungszahl bereits 2,25 Mio. Einwohner, die besiedelte Fläche hat sich unter dem Bevölkerungsdruck verdoppelt. Schlussendlich sind es zum Ende des Jahrhunderts über 6,5 Mio. Menschen, die in Greater London leben (vgl. Wohl 2002, S.1; Halliday 2009, S.45).

Neben dem Geburtenzuwachs lässt Arbeitsmigration die Einwohnerzahlen rapide steigen. Die Suche nach Lebenserwerb lockt pro Dekade Hunderttausende in die Metropole. Zur Jahrhundertmitte sind weniger als die Hälfte der Bewohner der Arbeiterbezirke gebürtige Londoner. Gelegenheitsarbeiter und ungelernte Kräfte treten nicht nur in Konkurrenz um die Arbeitsmöglichkeiten, sondern auch um den knapper werdenden Wohnraum.

Die Zahl der Häuser im Stadtgebiet verdreifacht sich zwischen 1801 und 1851 (vgl. Wohl 2002, S.2) und deckt dennoch nicht den übergroßen Bedarf an Wohnraum. Unterkünfte, die auch mit Niedriglöhnen bezahlbar bleiben, sind schwer zu finden, etliche werden durch Großbauprojekte vernichtet3 ; die Ein- wohnerdichte in Arbeitsplatznähe erhöht sich massiv. Viele Londoner Arbei- terfamilien müssen - ungeachtet ihrer Personenzahl - in Einzimmerapparte- ment leben und nehmen zusätzlich Schlafgänger auf (Abb.1, S.17).

Früh im Jahrhundert etablieren sich erste Slums in Central London und den Bezirken südlich der Themse. Später ist es vor allem das East End, das Arbei- terfamilien anzieht oder jene auffängt, die der Umstrukturierung der City wei- chen. Menschlicher Einfallsreichtum und das Geschäft mit der Wohnungsnot lassen eine archetypische Slumarchitektur entstehen (Abb.2, S.17).

Licht- und luftleere Hinterhäuser (Back to Back Houses), improvisierte Hof- und Wegüberbauungen, Straßenzüge voll Kleinstreihenhäuser (Terraced Hou- ses), verwahrloste Mietskasernen (Tenant Blocks), Ruinen, die den Brand von 1666 überstanden haben und schäbige Bretterbaracken bieten, bar städtischer Infrastruktur, Lebensraum für die arbeitende Klasse. Wer auch hier nicht un- terkommt, der wird zum menschlichen Maulwurf und fristet sein Leben dort, wo kein Sonnenstrahl mehr hingelangt: in den modrigen Kellerräumen Lon- dons.

3.3 Die sanitäre Situation

Nicht nur auf Lebenserwerb und Wohnraum wirkt sich das Steigen der Ein- wohnerzahlen negativ aus. Unter dem Druck der Bevölkerungsexplosion bricht in nur wenigen Jahren das fragile Londoner Abwassersystem zusammen. Eine Reihe sich beeinflussender Faktoren zeichnet hierfür verantwortlich. Frischwasser stammt aus Brunnen, öffentlichen Pumpen oder Fließgewässern. Abwässer, Exkremente und Hausabfälle werden - wie seit Jahrhunderten üblich - in Sickergruben aufgefangen. In den 1840ern zählt London knapp 200.000 dieser hauseigenen Auffangbecken (vgl. Halliday 2009, S.40), die sich häufig im Kellergeschoß, oftmals auch in Gärten oder Hinterhöfen befinden. Ohne einheitliche Bauvorschriften weisen viele Gruben technische Mängel auf und drainieren flüssige Stoffe ungefiltert ins Grundwasser oder überschwemmen - aus Kostengründen ungeleert - Erdgeschosse und Straßen.

Nightsoilmen, gebührenpflichtige Grubenentleerer, entsorgen die Exkremente und verkaufen diese an Bauern im Umland oder an die Salpeterindustrie. Mit Ausweitung des Stadtgebietes und Zunahme der Einwohnerzahl wird der Abtransport jedoch schwieriger und teurer. Die Einfuhr von Guano, das ab 1847 der extensiven Landwirtschaft als preiswerter Dünger dient, bringt dem Exkrementehandel zudem beträchtliche Umsatzeinbußen.

1775 und 1778 werden Patente auf Wasserklosetts angemeldet. Die Erfindung erfreut sich vor allem beim Bürgertum wachsender Beliebtheit und wird auf der Weltausstellung 1851 einem breiten Publikum vorgestellt. Was für Hygiene und Geruchsempfinden in den eigenen vier Wänden von Vorteil ist, erweist sich aufgrund des eingeschränkten Fassungsvermögens von Sickergruben und verwitterter Abwasserkanäle für das Entsorgungssystem als Nachteil. Ange- sichts des rapide steigenden Pro-Kopf-Wasserverbrauchs4, wird als Lösungs- versuch 1815 die Einleitung von Hausabwässern in die Themse und ihre Zu- flüsse gestattet. Binnen weniger Jahre verkommt der Gezeitenfluss, in dem einst Lachse siedelten, zu einer fauligen, stinkenden Kloake (Abb.3, S.18). Ungeachtet dieser Tatsache entnehmen die neun Stadtwasserwerke, deren geo- graphisches Monopol heiß umkämpft ist, dem Fluss das Nutzwasser, um es gegen Aufpreis an den Endverbraucher zu leiten. Ohne geeignete Filteranlagen schließt sich nun jedoch ein fataler Kreislauf. Menschliche und tierische Fäka- lien, organische Abfälle aller Art, Zersetzungsprodukte von Kadavern und die vielen Chemikalien der verarbeitenden Industrie gelangen dorthin, wo sie her- kamen: in die Unterkünfte der Londoner Bevölkerung. Und von dort in den Verdauungstrakt.

3.4 Seuchen

Die Seuchen des 19. Jahrhunderts lassen sich ursächlich wie folgt einteilen. Luftübertragbar sind Keuchhusten, Masern, Scharlach, Diphtherie, Pocken, Influenza und Tuberkulose. Ihre Infektionsrate korrespondiert mit beengten, schlecht klimatisierten Wohnverhältnissen. Krankheiten, deren Ansteckung oral-fäkal verläuft, weisen hingegen einen Zusammenhang zu kontaminiertem Wasser und mangelnder Lebensmittelhygiene auf. Ruhr, Typhus und Cholera fallen in diese Kategorie. Krätze und Lausbefall, aber auch potentiell tödlichen Infektionen wie Fleckfieber, Rückfallfieber und Malaria liegt Ungeziefervor- kommen zugrunde.

Scharlach, Masern, Keuchhusten und Diphtherie treten im viktorianischen England endemisch auf; in variierenden Zyklen nehmen sie epidemische Ausmaße an. Die Sterblichkeitsrate liegt in London höher als im Landesdurchschnitt5 ; alle Gesellschaftsklassen sind betroffen, eine Häufung der Erkrankungen ist jedoch in ärmeren Stadtvierteln erkennbar. Unter den Todesopfern befinden sich überproportional viele Kinder6.

Eine Sonderstellung unter den Kinderkrankheiten nimmt die Rachitis ein, die durch Lichtmangel und Vitamin-D-arme Diät verursacht wird. Sie trifft vor allem Kinder in dicht bebauten Arbeitervierteln.

Pocken sind, dank Jenners Vakzinationsverfahren, im 19. Jahrhundert auf dem Rückzug. Im Vergleich zu anderen Teilen des Landes ist der Erreger in London jedoch noch lange persistierend und verursacht bis zur Jahrhundertwende zyk- lische Ausbrüche mit hohen Sterblichkeitsraten (vgl. Hardy 1993, S.111f). Typhus grassiert hauptsächlich in Londons Armenvierteln, ist aber ebenfalls klassenübergreifend. Ein bekanntes Todesopfer ist Victorias Prinzgemahl Al- bert. Seit Jahrzehnten endemisch, steigt die Rate der Neuinfektionen in den 1860ern an und erreicht ihren Höhepunkt in den frühen 1870er Jahren (vgl. Hardy 1993, S. 153).

Unter allen Fiebern weist das Fleckfieber am Deutlichsten auf hygienische Missstände hin und findet sich beinahe ausschließlich in den Elendsvierteln in Central London, dem East End und südlich der Themse. Slums, in denen es endemisch ist, werden Fever-nests genannt.

Letztlich ist es jedoch die Cholera, die das viktorianische Bewusstsein für Seuchen nachhaltig schärft. Im Oktober 1831 erreicht sie, von Asien kommend, nach einem ebenso tödlichen wie in der zeitgenössischen Presse gut dokumentierten Seuchenzug, die britischen Inseln und tötet binnen weniger Monate, offiziellen Angaben zufolge, 6536 Londoner. Drei weitere Epidemien folgen in den Jahren 1848/49, 1853/54 und 1866, in denen London insgesamt 30.471 Opfer zählt (vgl. Halliday 2009, S.124).

4. Hygiene und Seuchenprävention in der Stadtplanung

Stadtplanung auf Verwaltungsebene bleibt in London lange Zeit Spielball öko- nomischer, politischer und bürgerlicher Eigeninteressen. An ihr lässt sich der Selbstfindungsprozess einer Stadt ablesen, die sich auf dem steinigen Weg von der parochial verwalteten Zweckgemeinschaft zur zentralistisch regierten Weltmetropole befindet. Der Gedanke der Seuchenprävention spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Angst vor Ansteckung findet auf drei Ebenen statt: der individuellen (persönliches Überleben), kulturellen (Wahrung von Sitte und Anstand) und politischen (Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung). Alle drei spiegeln sich in den geschilderten Bauprojekten wider.

4.1 Von der Choleraphobie zur Kanalisation

Kein Name ist mit der sanitären Assanierung Londons so eng verbunden wie der Edwin Chadwicks. Als Chief Commissioner des Poor Law Board ist er 1834 an der Erarbeitung und Umsetzung des neuen Armenrechts beteiligt. In utilitaristischer Tradition seines Freundes Bentham stehend, lanciert er zur Leitfigur des sanitary movement.

Bemüht, den Zusammenhang zwischen Krankheit und fehlenden Sanitär- installationen in Londons Paupervierteln zu untersuchen, sendet Chadwick in den 1830ern seine Mitstreiter aus. In seinem Auftrag dokumentieren die Ärzte Southwood-Smith, Arnott und Kay mittels akribischer house to house visitings die Missstände in den Arbeitersiedlungen der Stadt. Kay fasst das Gesehene wie folgt zusammen und konstatiert, “[…] that the existence of such classes was consequently a most dangerous element to the health of cities.” (Dr. James Kay zitiert nach Weisbrod 1986, S. 185).

Welche Gefahren sehen die frühen Hygienereformer und warum erklären sie - angesichts verschiedenster hygienischer Mängel - gerade die Verbesserung der sanitären Infrastruktur zu ihrem Hauptziel? Um diese Frage beantworten zu können, müssen das Verhältnis von Mensch, Umwelt und Hygiene sowie die zeitgenössischen Vorstellungen von Infektionswegen und die Reaktionen auf das Auftreten der Cholera näher beleuchtet werden.

Der Luft als elementarer Substanz wird im 19. Jahrhundert große Bedeutung beigemessen. Nach landläufiger Meinung bindet sie alle Substanzen, ob harm- los oder schädlich, zu einem heterogenen Fluidum und gibt sie über Lungen, Haut und Nahrung an den menschlichen Organismus ab. Die steigende Wach- samkeit gegenüber der Atmosphäre spiegelt sich in den Medizintheorien ihrer Zeit wider.

Zwei Meinungen zur Übertragbarkeit von Krankheiten herrschen hier in der ersten Jahrhunderthälfte vor. Den Kontagionisten - Wegbereitern der moder- nen Epidemiologie - gelten (noch unidentifizierte) belebte Keime als infektiös, während Miasmatiker in Schmutz und Fäulnisgerüchen die Wurzel allen Übels sehen. Das nach klassischem Vorbild adaptierte Miasmenmodell setzt sich in der Bevölkerung durch und verdammt jegliche Form von filth. Chadwick schließlich erhebt die Miasmenlehre zum politischen Paradigma seiner Hygie- nerevolution. „ All smell is disease “, postuliert er und trifft dabei den Nerv einer Nation, die gerade von der ersten Cholerawelle überrollt wird.

[...]


1 Namengebend für die Epoche ist die Regierungszeit Queen Victorias von 1837-1901. Vor allem Angehörige der Mittel- und Oberschicht werden synonym als Victorians bezeichnet.

2 Zeitgenössischer Begriff, der die Verbesserung der Bebauung aus hygienischen, technischen sozialen oder verkehrsbedingten Gründen beschreibt (vgl. Münch 1993, S.26).

3 Der Bau der London Docks zerstört 1300 Arbeiterunterkünfte (vgl. Wohl 2002, S.3); 7000 Menschen sind von der Räumung des Agar Town Slums betroffen, weitere 18.000 müssen Eisenbahnlinien weichen (Hardy 1993, S.200).

4 1850 liegt der tägliche Wasserverbrauch bei 43,3 Millionen Gallonen, sechs Jahre später sind es bereits 80,8 Millionen (vgl. Halliday 2009, S.43).

5 Im Fall von Keuchhusten beträgt sie in den 1850ern sogar das Doppelte desselben (vgl. Hardy 1993, S.10).

6 Zwei Drittel aller an Keuchhusten Erkrankten sind Kinder unter 2 Jahren (vgl. Hardy 1993, S.9); Scharlach ist die Haupttodesursache von Kindern unter 5 Jahren, dicht gefolgt von Masern und Diphtherie (vgl. Hardy 1993, S. 28ff).

Fin de l'extrait de 27 pages

Résumé des informations

Titre
Stadtplanung als Seuchenprävention im viktorianischen London
Université
University of Hagen  (Historisches Institut)
Cours
Soziologie der Architektur und Stadtplanung
Note
1,3
Auteur
Année
2014
Pages
27
N° de catalogue
V421233
ISBN (ebook)
9783668751460
ISBN (Livre)
9783668751477
Taille d'un fichier
1076 KB
Langue
allemand
Annotations
Umfangreiche Bibliografie
Mots clés
London, Cholera, Typhus, Fleckfieber, Seuchen, viktorianisch, England
Citation du texte
Kate Seifert (Auteur), 2014, Stadtplanung als Seuchenprävention im viktorianischen London, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/421233

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