Die vorliegende Arbeit befasst sich mit Märchentheorien aus der Literaturwissenschaft, der Psychologie und der Volkskunde und deren didaktische Konsequenzen für den Deutschunterricht der Grundschule. Für jede Forschungsrichtung wurden zwei belangvolle Wissenschaftler gewählt, deren Arbeiten die Ergebnisse der jeweiligen Forschung repräsentieren sollen. Der zweite Hauptteil der Arbeit beschäftigt sich mit der Anwendbarkeit dieser Märchentheorien im Unterricht. Als Märchenbeispiele dienen die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Vor allem auf das Märchen Aschenputtel wird näher eingegangen. Dieses dient als Exempel für die praktische Anwendbarkeit der Märchentheorien.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Gebrüder Grimm und ihre Kinder- und Hausmärchen
1.1. Geschichte der Kinder und Hausmärchen
1.2. Kritik an den Kinder- und Hausmärchen
2. Analyse und Interpretationsmodelle der Märchentheorien
2.1. Literaturwissenschaftliche Theorien
2.1.1. Stilanalyse der Märchen nach Max Lüthi
2.1.1.1. Beschreibung der Stilanalyse Lüthis
2.1.1.2. Kritische Bewertung der Stilanalyse Lüthis
2.1.2. Strukturalistische Märchenanalyse nach Vladimir Propp
2.1.2.1. Beschreibung der Strukturanalyse Propps
2.1.2.2. Kritische Bewertung der Strukturanalyse Propps
2.2. Psychologische Theorien
2.2.1. Tiefenpsychologische Märchenanalyse nach Carl Gustav Jung
2.2.1.1. Beschreibung der tiefenpsychologischen Analyse Jungs
2.2.1.2. Kritische Bewertung der tiefenpsychologischen Analyse Jungs
2.2.2. Entwicklungspsychologische Analyse nach Bruno Bettelheim
2.2.2.1. Beschreibung der entwicklungspsychologischen Analyse Bettelheims
2.2.2.2. Kritische Bewertung der entwicklungspsychologischen Analyse Bettelheims
2.3. Volkskundliche Theorien
2.3.1. Ursprungs- und Erweiterungstheorie der Märchen nach Antti Aarne
2.3.1.1. Beschreibung der Ursprungs- und Erweiterungstheorie Aarnes
2.3.1.2. Kritische Bewertung der Ursprungs- und Erweiterungstheorie Aarnes
2.3.2. Analyse und Interpretation von Märcheninhalten nach Lutz Röhrich
2.3.2.1. Beschreibung der Märcheninhaltsanalyse Röhrichs
2.3.2.2. Kritische Bewertung der Märcheninhaltsanalyse Röhrichs
2.4. Aktueller Ausblick zu den Märchentheorien
3. Analyse und Interpretation des Märchens Aschenputtel
3.1. Literaturwissenschaftliche Analyse und Interpretation
3.2. Psychologische Analyse und Interpretation
3.3. Volkskundliche Analyse und Interpretation
4. Didaktische Konsequenzen aus den Märchentheorien
4.1. Rahmenplan Deutsch Grundschule
4.1.1. Bereich „Lesen und Schreiben im Anfangsunterricht“
4.1.2. Bereich „Sprechen und Zuhören, Erzählen und Gespräche führen“
4.1.3. Bereich „Lesen“
4.1.4. Bereich „Texte schreiben“
4.1.5. Bereich „Richtig schreiben“
4.1.6. Bereich „Sprache untersuchen“
4.1.7. Fächerübergreifendes Lernen
4.1.8. Kritik am Rahmenplan Deutsch Grundschule
4.2. Konsequenzen aus der Literaturwissenschaftlichen Theorie
4.3. Konsequenzen aus der Psychologischen Theorie
4.4. Konsequenzen aus der Volkskundlichen Theorie
4.5. Fazit aus den Konsequenzen der unterschiedlichen Theorien
Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
Anhang
Einleitung
Mancher will dem Kinde keine Märchen geben,
weil die Märchen »lügen«,
weil sie mit der »Wirklichkeit nicht zusammengehen«.
Aber ist nicht die nackte nützliche Wirklichkeit,
der Sinn für den lebendigen Menschen Lüge und Schein?
Was ist wahrer:
diese so vorgestellte Wirklichkeit oder das Wunder?
Die Naturwissenschaft könnte alle sinnlich erfassbaren Zusammenhänge kennen,
und doch würde ihr erst dann das volle Gewicht der Tatsache bewusst werden,
dass alles Sinnliche wie ein Zauber aus einem Unsinnlichen heraus blüht.
Christian Morgenstern, Stufen
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit Märchentheorien aus der Literaturwissenschaft, der Psychologie und der Volkskunde und deren didaktische Konsequenzen für den Deutschunterricht der Grundschule. Für jede Forschungsrichtung wurden zwei belangvolle Wissenschaftler gewählt, deren Arbeiten die Ergebnisse der jeweiligen Forschung repräsentieren sollen. Der zweite Hauptteil der Arbeit beschäftigt sich mit der Anwendbarkeit dieser Märchentheorien im Unterricht. Als Märchenbeispiele dienen die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Vor allem auf das Märchen Aschenputtel wird näher eingegangen. Dieses dient als Exempel für die praktische Anwendbarkeit der Märchentheorien.
Es wurden die drei Forschungsrichtungen Literaturwissenschaft, Psychologie und Volkskunde ausgesucht, da sie auffällige inhaltliche Gegensätze aufweisen und die Bedeutung ihrer Ergebnisse in der Märchenforschung sehr weit reichend sind. Da in dieser Arbeit die Ergebnisse der wichtigsten Repräsentanten der jeweiligen Forschungsrichtung vorgestellt werden, deren Resultate noch heute gültig sind beziehungsweise anerkannt werden, muss auch auf Publikationen älteren Datums zurückgegriffen werden. Es existiert zudem eine umfangreiche Sekundärliteratur, die ebenfalls in die Arbeit mit eingeflossen ist. Diese ist gleichermaßen nicht in jedem Fall aktuellen Datums, denn nicht in jedem Gebiet der Märchenforschung liegen Ergebnisse aus den letzten Jahren vor. Dies mindert jedoch nicht die Aktualität des behandelten Themas, da die Forschungsergebnisse im zweiten Hauptteil der Arbeit mit dem heutigen Deutschunterricht in der Grundschule in Bezug gebracht werden.
Die vorliegende Arbeit hat eine zentrale Leitfrage: Welche didaktischen Konsequenzen kann oder sollte man aus den Märchentheorien ziehen und wie integriert man sie in den Deutschunterricht der Primarstufe? Um sich der Antwort zu nähern, wird einleitend im ersten Kapitel die Entstehungsgeschichte der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm vorgestellt. Die Gebrüder Grimm sind die Begründer der modernen Märchenforschung und aus diesem Grund nicht aus ihr wegzudenken. Dieses erste Kapitel hat eine grundlegende und erklärende Funktion für die folgenden Inhalte der Arbeit. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den drei ausgewählten Märchentheorien und ihren verschiedenen Analyse- und Interpretationsmodellen. Innerhalb der Theorien werden jeweils zwei unterschiedliche Forschungsansätze und ihre bedeutendsten Vertreter vorgestellt. Dabei werden die kritischen Kommentare anderer Wissenschaftler nicht außer Acht gelassen. Im dritten Kapitel wird das Märchen Aschenputtel beispielhaft für alle anderen Märchen der Gebrüder Grimm analysiert und interpretiert. Es wird nach den verschiedenen Prinzipien der Wissenschaftler, deren Werk im vorangegangenen Kapitel vorgestellt wurde, vorgegangen und untersucht ob ihre Methode auf das Märchen anwendbar ist. Es folgt die Antwort auf die Leitfrage der Arbeit im vierten und letzten Kapitel. Die didaktischen Schlüsse aus den Märchentheorien werden gezogen. Des Weiteren werden Methoden für eine praktische Umsetzung vorgezeigt. Das vierte Kapitel nimmt auf den Rahmenplan Deutsch Grundschule Bezug. Der Rahmenplan Deutsch Grundschule ist die aktuelle wissenschaftliche Grundlage für den Deutschunterricht in den Hamburger Primarstufen. Bestehende Streitpositionen fließen in die Darstellungen mit ein und beleuchten sie so von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus. Die Schlussbemerkung beinhaltet eine kurze Zusammenfassung und das aus der Arbeit zu ziehende Fazit.
Im Anschluss an die vorliegende Arbeit folgt ein Anhang, der unter anderem die Daten zu Leben und Werk und ein Bild mit den Unterschriften der Gebrüder Grimm enthält. Diese dienen dem Leser als Hintergrundinformation. Das Verzeichnis der Abkürzungen der Kinder- und Hausmärchen verleiht einen Überblick über das Werk der Brüder Grimm. Diese beiden Teile gehören vor allem zu Kapitel 1. Ein Verzeichnis der Abkürzungen Vladimir Propps gibt Einblicke in seine strukturelle Arbeit. Es empfiehlt sich zu Kapitel 2.1.2.1. einen parallelen Blick hierauf zu richten. Das Märchen Aschenputtel (KHM 21) 2. Auflage soll dem Leser die Möglichkeit geben, bei Bedarf den Text nachzulesen, auf den sich vor allem das 3. Kapitel bezieht.
Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Der begrenzte Rahmen einer Examensarbeit verhindert das Eingehen auf jeden einzelnen Aspekt der Märchenforschung und ihrer didaktischen Umsetzung in der Intensität, die dieses Thema eigentlich verlangt. Sie wird unter Verwendung der Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung angefertigt.
1. Gebrüder Grimm und ihre Kinder- und Hausmärchen
Wenn man in Deutschland und vielen anderen Ländern an Märchen denkt, dann kommen den meisten Menschen als erstes die Kinder- und Hausmärchen (im folgenden des öfteren mit „KHM“ abgekürzt) der Brüder Jacob (1785 - 1863) und Wilhelm (1786 – 1859) Grimm in den Kopf, die in ihrer ersten Auflage in zwei Bänden 1812 und 1815 erschienen (Rölleke 1985, 7). Lange wurde angenommen, dass diese die ersten von den Geschwistern Grimm gesammelten Märchen waren. Wie sich später herausstellen sollte, war dies eine falsche Annahme. Im Folgenden wird kurz die Geschichte der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm wiedergegeben.
1.1. Geschichte der Kinder und Hausmärchen
Ursprünglich ist der Begriff Märchen eine Diminutivbildung zum Substantiv „maere“ oder „maer“, was im eigentlichen Sinne „Nachricht, Kunde, Erzählung“ bedeutet (Kluge 2002, 598). Die Brüder Grimm wurden in den Jahren 1802 und 1803 zu Wertschätzung und historisch-wissenschaftlicher Betrachtung dieser Volkspoesie angeregt. Sie begeisterten sich für die romantische Rezeption des Mittelalters, wie sie ihnen erstmals in den Minnesangbearbeitungen Ludwig Tiecks von 1803 begegnete (Rölleke 1985, 28ff). Die Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts beeindruckte laut Nissen (1984, 30) vor allem Jacob Grimm. Ausschlaggebend für den Beginn ihrer Sammeltätigkeiten war die Bekanntschaft mit dem Rechtshistoriker Carl von Savigny und dessen Schwager, dem Dichter Clemens Brentano. Brentano veröffentlichte im Herbst 1805 gemeinsam mit seinem Freund Achim von Arnim den ersten Band der Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“. Geplant war ein zweiter Band, in dem neben den volkstümlichen Liedern auch Märchen Platz haben sollten. Brentano beauftragte die Brüder Grimm, sowohl aus älterer Literatur als auch aus mündlich verbreiteten Texten Volkslieder und -märchen für sein Werk zu sammeln. Im Jahr 1806 fingen die Brüder Grimm an, mit an der Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ von von Arnim und Brentano zu arbeiten. So gewannen sie erste Einblicke in die Praxis des Sammelns und Publizierens (Rölleke 1985, 29). Am 17. Oktober 1810 sandten die Geschwister Grimm eine Abschrift von 54 gesammelten Texte an Brentano, die dieser jedoch weder veröffentlichte noch zurückschickte. Das Manuskript wurde 1920 in dem elsässischen Kloster Ölenberg wiedergefunden. Aus diesem Grund nannte man es „Ölenberger Handschriften“. Die Märchen dieser Sammlung erscheinen sprachlich spröde, sie sind jedoch im Vergleich zu den späteren Märchenfassungen enger an die Form mündlicher Erzählungen angelegt und haben weniger Stilisierungen erfahren. Die Brüder Grimm ließen sich durch Brentano nicht entmutigen und nahmen zwei Märchenaufzeichnungen mit den Titeln „Von dem Fischer und syner Frau“ (KHM 19) und „Von dem Machandelboom“ (KHM 47) die der Maler Philipp Otto Runge Brentano für seinen zweiten Band gesandt hatte zum Vorbild und als Inspiration für ihre weiteren Niederschriften. Diese beiden Texte besaßen Qualitäten, die die Geschwister Grimm besonders ansprachen. Zum einen war es die durch den Dialekt der Geschichten deutlich werdende mündliche Tradition. Zum anderen war es die Verwandtschaft mit Tierfabeln, die die beiden an den Texten beeindruckte. Die Brüder Grimm machten sich auf die Suche nach Geschichten aus dem Volk, die bestimmte Kriterien erfüllen sollten. Versionen die ethische Fragwürdigkeiten, Obszönitäten oder auffällige Unstimmigkeiten enthielten, sollten von vornherein ausgeschlossen werden. Um sicherzugehen, dass die erzählten Märchen nicht aus dem Stegreif erfunden wurden, nahmen sich die Geschwister Grimm vor, ihre Erzähler ein und dieselbe Geschichte mehrmals hintereinander vortragen zu lassen. 1811 fasste Jacob Grimm in Absprache mit seinem Bruder Wilhelm Grimm seine Ideen in einem öffentlichen Aufruf zum Sammeln von Volksliteratur zusammen. Der Aufruf richtete sich vor allem an Laien, die das Rohmaterial für die Sammlung der Geschwister Grimm liefern sollten. Die Gewährsleute der ersten Stunde waren vor allem junge, gebildete Frauen aus gutbürgerlichem Hause (Knoop 1985, 19). Die Rohfassung des ersten Bandes der Kinder- und Hausmärchen bestand laut Rölleke (1985, 74) aus zwei Märchen aus Runges Niederschrift, sechzehn Märchen der Geschwister Hassenpflug, sechs Märchen aus dem Mund von Friedericke Mannel, zwei von der Marburger Märchenfrau, eines von den Geschwistern Ramus und sechzehn aus literarischen Quellen. Der Hauptlieferant für die Märchen des zweiten Bandes der Kinder- und Hausmärchen war die Familie Haxthausen. Durch diese Menschen erhielten Jacob und Wilhelm Grimm 33 Geschichten, die fast die Hälfte des gesamten Märchenbestandes des zweiten Bandes ausmachen. 1812 überredete von Arnim die Brüder Grimm zur Veröffentlichung ihres ersten Märchenbandes. Außerdem vermittelte er ihnen seinen Berliner Verleger (Rötzer 1982, 123). Im selben Jahr erschien der erste Band der Kinder- und Hausmärchen (Rölleke 1985, 7). Der zweite Band erschien 1815. Insgesamt wurden zu Lebzeiten der Geschwister Grimm sieben Auflagen der Kinder- und Hausmärchen veröffentlicht, wobei zu jeder neuen Auflage Märchen hinzukamen oder durch andere ersetzt wurden. Nach Erscheinen des zweiten Bandes zog sich Jacob Grimm von der Märchenarbeit zurück und überließ sie mehr und mehr seinem Bruder (Nissen 1984, 56). 1822 erschien ein separater Band mit Anmerkungen über die Herkunft und Verbreitung sowie wichtige Varianten der Kinder- und Hausmärchen (Rötzer 1982, 124). Hiermit begründeten die Brüder Grimm die volkskundliche Erforschung des Märchens (Schrader 1986, 56).
1.2. Kritik an den Kinder- und Hausmärchen
Das Erscheinen der zwei Bände löste zahlreiche Kritik aus. Die Rezipienten stießen sich vor allem an der Zwiespaltung des Buches (Rölleke 1985, 75). Durch die Anmerkungen der Geschwister Grimm war ihr Werk weder ein reines Kinderbuch, noch eindeutig wissenschaftliche Lektüre. Jacob Grimm war stets bestrebt, die Märchen so wenig wie möglich zu verändern um ihren wissenschaftlichen Charakter bewahren. Die Mehrheit der Leser forderte jedoch ein Vorlese- beziehungsweise ein Lesebuch für Kinder. Wilhelm Grimm gab schließlich nach und schloss sich den Forderungen der Rezipienten an. Er begann zugunsten einer kindgerechteren Sprache durch das Einbringen von zahlreichen volksläufigen Redensarten den Stil der Märchen zu verändern. Wilhelm Grimm hatte den Anspruch, den Märchen einen pädagogischen Wert zu verleihen und sie zu einer geeigneten Kinderliteratur umzuformen. Er strich also auch einige grausam erscheinende Märchen wie zum Beispiel „Wie die Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben“ ersatzlos aus dem Werk heraus. Zuvor hatte er einen Brief von von Arnim erhalten, in dem er Wilhelm Grimm mitteilte: „Schon habe ich eine Mutter darüber klagen hören, dass das Stück, wo ein Kind das andere schlachtet, darin sei, sie könnt’ es ihren Kindern nicht in die Hand geben“ (zitiert nach Richter 1986, 7).
Wilhelm Grimm nahm allerdings kaum Kritik auf, ohne sich zu rechtfertigen. So erklärte er, dass er selbst in seiner Jugend wiederholt von seiner Mutter mit grausamen Märchen konfrontiert wurde. Dies hätte ihm nicht geschadet „es hat mich gerade vorsichtig [...] beim Spielen gemacht“ (ebenda). An die, um ihre Kinder besorgten, Eltern appellierte er: „[...] fürchtest Du Dich vor Missverständnissen, Missbräuchen, so binde dem Kind die Augen zu und hüte seiner den ganzen Tag, dass es seine unschuldigen Blicke nicht auf alles werfe, was es ebenso verkehrt oder schädlich nachahmen würde, da doch im Gegenteil sein menschlicher Sinn es schon bewahren und keine Aefferei geschehen lassen wird.“ (ebenda, 8).
Aus diesen Worten kann geschlussfolgert werden, dass sich die Brüder Grimm nicht nur volkskundlich den Märchen näherten, sondern sie sie auch aus psychologischen Gesichtspunkten betrachteten.
2. Analyse und Interpretationsmodelle der Märchentheorien
Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm haben wie bereits beschrieben mit der systematischen Erforschung des Märchens begonnen (Pöge-Alder 1994, 26). Ihre Vorreden, Anmerkungen und Briefe stellten schon die entscheidenden Fragen nach der Wesensart, der Bedeutung und dem Ursprung der Märchen und legten so die Grundlage zu einer umfassenden Theorie (Lüthi 1990, 62). Die Brüder Grimm veränderten ihre gesammelten Märchen allerdings auch mit der Zeit. Von der ersten Ausgabe bis zur heute bekannten Endfassung lässt sich ein Prozess fortschreitender Stilisierung und Ausmalung, seit dem zweiten Band hauptsächlich durch Wilhelm Grimm bemerken (Tismar 1983, 59). Das erschwert die nachfolgenden Forschungen in erheblichem Maße. Seit der Romantik ist das Märchen Forschungsgegenstand verschiedenster Disziplinen, die sich der Analyse und Interpretation dieser Literatur widmen. Den Hauptanteil machen die Forschungsrichtungen der Literaturwissenschaft, der Psychologie und der Volkskunde aus. Ihre Ergebnisse ergänzen sich, sie widersprechen sich aber auch. Im Folgenden werden jeweils zwei bedeutende Vertreter jeder der drei Wissenschaften und ihre Positionen zur Märchenforschung vorgestellt.
2.1. Literaturwissenschaftliche Theorien
Der Literaturwissenschaftler interpretiert die Märchen als Grundform erzählender Dichtung. Dabei wird die Gattung auf formelle, strukturelle und stilistische Fragen hin untersucht. Als Grundlage der Erzählforschung gelten unter anderem die Arbeiten von Max Lüthi und Vladimir Propp. Ihre Erkenntnisse haben großen Einfluss auf die Märchenforschung genommen. Dabei vertreten beide unterschiedliche Zweige der Literaturwissenschaft und nehmen verschiedene Blickwinkel auf das Märchen ein.
Max Lüthi beschäftigte sich mit Inhalts- und Stilelementen der Volksmärchen und grenzte sie von benachbarten Gattungen wie der Sage, der Legende, dem Mythos, der Fabel und dem Schwank ab. Neben der Grimmschen Märchensammlung untersuchte er Märchen aus ganz Europa für seine Arbeit „Das europäische Volksmärchen“, die erstmals im Jahr 1947 und seitdem in vielen Sprachen und Auflagen erschienen ist. Mit diesem und anderen aufeinander aufbauenden Werken wie „Es war einmal“ (Erstauflage 1962), „Märchen“ (1962), und „So leben sie noch heute“ (1969) wurde Max Lüthi nicht nur unter Literaturforschern, sondern auch in anderen Sparten der Wissenschaft weltbekannt.
Vladimir Propp hingegen untersuchte die strukturellen Gesetzmäßigkeiten und den Aufbau der Märchen. Seine Hauptarbeit ist die „Morphologie des Märchens“. Das Buch erschien in Russland bereits im Jahr 1928, 1958 wurde es ins Englische übersetzt und erst im Jahr 1972 erschien „Morphologie des Märchens“ in Deutscher Sprache. Aus diesem Grund konnte es erst spät die deutsche Märchenforschung beeinflussen. In seinem zweiten Werk „Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens“, welches 1946 in Russland erschien, beschäftigt sich Vladimir Propp mit den Quellen der Zaubermärchen und untersucht deren Genese. Dieses Werk fließt jedoch eher in die Ergebnisse der volkskundlichen Märchenforschung ein.
2.1.1. Stilanalyse der Märchen nach Max Lüthi
Nach dem Schweizer Literaturwissenschaftler Lüthi (1909 – 1991) sind Märchen als Gattung anderen erzählenden Dichtungen überzuordnen. Er sieht Märchen als Kunstform, dessen Idealtypus sich durch den Vergleich einzelner Texte im hermeneutischen Verfahren herausarbeiten lässt (Lüthi, 1990).
2.1.1.1. Beschreibung der Stilanalyse Lüthis
Der Grundtyp des Märchens ist laut Lüthi vor allem durch einen speziellen Handlungsverlauf, Personal, Requisiten und einer besonderen Darstellungsart gekennzeichnet. Die Darstellungsart erläutert Lüthi (1974) genauer mit den prägenden Begriffen Eindimensionalität, Flächenhaftigkeit, abstrakter Stil, Isolation und Allverbundenheit sowie Sublimation und Welthaltigkeit.
Handlungsverlauf
Das allgemeinste Schema, das einem Märchen zugrunde liegt, ist eine Schwierigkeit, die es zu bewältigen gilt und die Bewältigung. Die Schwierigkeit kann in einem Kampf oder einer Aufgabe liegen. Die Bewältigung besteht darin, dass entweder im Kampf gesiegt oder die Aufgabe gelöst wird. In diesem Schema, hinter dem die allgemeine menschliche Erwartung und Erfüllung steht, ist der gute Ausgang eingeschlossen. Die Ausgangslage ist gekennzeichnet durch einen Mangel, eine Notlage, ein Bedürfnis oder andere Komplikationen. Der Handlungsverlauf ist meistens geprägt durch eine Zwei- oder Dreiteilung der Ereignisse. Viele Märchen sind zweiteilig. Das heißt, nach Bestehen der Aufgabe oder der Lösung der Aufgabe wird der Held[1] des Preises beraubt oder gerät in eine neue Notlage, die er selbst bewältigen oder aus der er gerettet werden muss. In dreiteiligen Märchen muss der Held statt zwei, drei Aufgaben erledigen. Inhaltlich kommen die wesentlichsten menschlichen Verhaltensweisen zur Darstellung: Kampf, Stellen und Lösen von Aufgaben, Intrige und Hilfe, Schädigung und Heilung, Mord und Gefangensetzung, Vergewaltigung und Erlösung, Befreiung und Rettung, sowie Werbung und Vermählung. Der Held kommt häufig mit einer den Alltag überschreitenden Welt in Berührung, mit Zauberkünsten und „jenseitigen“ Mächten. An Themen kommen die folgenden besonders häufig vor: Schein und Sein, Umkehrung der Situation in ihr Gegenteil, Sieg des Kleinen über das Große und Selbstschädigung. Charakteristisch für das Märchen sind außerdem Paradoxien und Ironien des Geschehens. Die Paradoxa sind dabei so selbstverständlich, dass sie kaum mehr als solche empfunden werden. Mit Ironie des Geschehens ist gemeint, dass die Dinge nicht schlimmer stehen, sondern besser als es scheint.
Personal
Hauptträger der Handlung ist der Held, welcher im Allgemeinen der menschlich-diesseitigen Welt angehört (Lüthi 1962, 104) und die Gegner des Hauptakteurs. Alle wichtigen Figuren sind auf den Helden bezogen als dessen Partner, Schädiger, Helfer oder als Kontrastfiguren wie erfolglose Brüder und Schwestern oder Kameraden, Neider und falsche Helden. Kontrastfiguren lassen den Helden in seiner Andersartigkeit aus der Reihe der Bedeutungslosen hervortreten. Autoritätsgestalten wie Könige, Prinzessinnen oder Eltern belegen die Hauptfigur häufig mit Aufgaben, um entweder ihre Tauglichkeit zu überprüfen oder ihre Vernichtung herbeizuführen. Gegner und Helfer gehören in den meisten Fällen der außermenschlichen Welt an. Die Personen haben keine Persönlichkeit und bleiben häufig unbenannt und werden nach ihrem Beruf bezeichnet oder sie besitzen einen Allerweltsnamen. Im Märchen herrscht ein Dualismus vor: die Figuren sind entweder gut oder böse, schön oder hässlich, klein oder groß, vornehm oder niedrig und so weiter, es werden also die wesentlichen Escheinungen der menschlichen Welt genannt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Requisiten
Die Requisiten unterteilen sich in Zauberdinge und Alltagsdinge. Meistens sind es allgemeine Repräsentanten der Dingwelt mit einer eindeutigen Gestalt. Das Hauptrequisit aber ist die Gabe, die von jenseitigen Wesen überreicht wird. Durch sie wird es dem Protagonisten ermöglicht, seine Aufgabe zu lösen oder im Kampf zu siegen.
Darstellungsart
Das Märchen ist leicht durchschaubar. Durch den weitgehenden Verzicht auf die Beschreibung von Umwelt und Charakteristik von Personen lebt es verstärkt von der Handlung, die häufig einsträngig und in leicht überblickbare Episoden gegliedert ist. Ist die Handlung nicht einsträngig, sondern komplexer, werden die einzelnen Episoden nicht so wie sie eigentlich zeitlich verlaufen, nämlich parallel, erzählt, sondern nacheinander dem gemeinsamen Ende entgegengeführt. Nach Lüthi hat die Darstellungsart aller Märchen bestimmte im Folgenden genannte Stilmerkmale:
Eindimensionalität
Unter Eindimensionalität versteht Lüthi das Nebeneinander von Diesseitigem und Jenseitigem. Beide Dimensionen werden im Märchen übergangslos genannt. Sie verschmelzen regelrecht ineinander. Die Menschen im Märchen verkehren wie selbstverständlich mit dem Jenseitigen als ob es ihres gleichen wäre. Sie empfinden weder Neugier noch Erkenntnisdurst.
Flächenhaftigkeit
In den Märchen gibt es keine Tiefengliederung. Es werden nur einfache Überbegriffe genannt. Den Gestalten des Märchens fehlt es an Charakter, Körperlichkeit und einer gefühlsmäßigen Innenwelt. Gefühle werden nicht genannt, sondern nur in Handlungen ausgedrückt. Außerdem fehlt Ihnen die Beziehung zu einer Vorwelt oder einer Nachwelt, zum Raum und zur Zeit. Das führt zu einer Wirklichkeitsferne.
Abstrakter Stil
Die Protagonisten heben sich innerhalb der ebenartigen Welt des Märchens durch präzise Handlungsweisen hervor. Gegenstände sind durch scharfe Konturen und klare Farben gekennzeichnet. Das Märchen kennt nur metallische und sehr kräftige Farben wie rot, schwarz und weiß. Alle Situationen und Konstellationen neigen zum Extremen oder sie sind eindeutig. Unter abstraktem Stil versteht Lüthi auch die regelmäßig wiederkehrenden Formeln und stereotypen Wiederholungen. Dazu gehören auch die bekannten und häufig vorkommenden Anfangs- und Schlusssätze. Die abstrakte Stilisierung gibt dem Märchen Bestimmtheit und hohe Formkraft.
Isolation
Die Stilmerkmale Isolation und Allverbundenheit bedingen einander. Die einzelnen Episoden des Märchens sind isoliert voneinander. Das erklärt, warum Märchenpersonen nicht aus Erfahrung lernen. Die handelnden Personen sind stets auf sich selbst gestellt, sie sind in gewissem Maße von ihrer Umwelt isoliert. Diese isolierte Stellung kann unter anderem auch dadurch ausgelöst werden, dass die Eltern des Helden sterben. Aufgrund der Isolation sind die Personen offen für Kontakte aller Art, zum Beispiel auch zu jenseitigen Helfern. Isolierte Diesseitige und isolierte Jenseitige können sich begegnen, verbinden und wieder voneinander trennen, aber es besteht in keinem Fall eine andauernde Beziehungsspannung zwischen ihnen. Nur die isolierende Abdichtung jeder Episode, jeder Gestalt und jedes einzelnen Verhaltens macht es möglich, dass Gleiches immer wieder mit gleichen Worten berichtet werden kann. Die spätere Szene ist dabei nicht die Kopie der früheren. Sie gleicht ihr nur deshalb, weil sie denselben Ursprung hat wie sie.
Allverbundenheit
Die Kontaktfreudigkeit und Beziehungsfähigkeit der Personen und ebenso die unsichtbare Lenkung hinter allen Geschehnissen durch eine höhere Macht bezeichnet Lüthi als Allverbundenheit.
Sublimation
Obwohl ständig von Brautwerbung, Hochzeit und Ehe im Märchen die Rede ist, fehlt jegliche Sexualität und Erotik, sie wurde sublimiert. Ohne tragischen Unterton erzählt das Märchen von Mord, Gewalttat, Erpressung, Verrat, Verleumdung und vom unglücklichen Tod vieler unbegnadeter Anwärter auf die Prinzessin. Diese Sublimation ist ein weiterer Stilzug den Lüthi aus den Märchen herausgearbeitet hat. Die Sublimation, Entleerung und Entwirklichung trifft auf alle Märchenmotive zu. Liebe und Hass, Hilfsbereitschaft und Grausamkeit, Opferbereitschaft und Mord, Diesseits- und Jenseitsmotive, alle Elemente des menschlichen Daseins kommen im Märchen vor, jedoch auf eine bestimmte Art und Weise entwirklicht. Diese wirklichkeitsferne Entleerung aller Motive bedeutet Verlust und Gewinn zugleich. Verloren gehen Konkretheit, Erlebnistiefe und Realität, gewonnen werden aber stattdessen Formbestimmtheit und Formhelligkeit.
Welthaltigkeit
In diesem Charakteristikum sieht Lüthi die universelle Bedeutung der Märchen für die heutige Zeit. Motive wie Geburt, Hochzeit, Trennung, Erfolg und Misserfolg wird es immer geben. Sie repräsentieren den Weltgehalt. Das Märchen ist also nicht nur imstande, jedes beliebige Element sublimierend in sich aufzunehmen, sondern vermag auch alle wesentlichen Elemente des menschlichen Seins widerzuspiegeln (Lüthi 1989, 5). Schon das einzelne Märchen enthält häufig die kleine private, wie die große öffentliche Welt. Das Jenseitige repräsentiert insofern die Welthaltigkeit, da die Auseinandersetzung mit einer ganz anderen Sphäre einer der wesentlichen Inhalte des menschlichen Seins ist.
2.1.1.2. Kritische Bewertung der Stilanalyse Lüthis
Kritiker werfen Lüthi vor, dass dieser die Märchen nur auf rein formal-ästhetische Merkmale hin untersucht und die Erzählgattung somit verabsolutiert. Ranke (1965, 199) bezeichnet die phänomenologische Betrachtungsweise nach Form, Wesen und Funktion nur als ein Vorspiel zur Märchenforschung. Durch die Analyse Lüthis würde nicht zur Synthese durchgestoßen. Außerdem ist er der Meinung, dass Lüthi auch Fragen nach den schöpferischen Impulsen in seine Untersuchungen aufnehmen sollte. Lüthi würde nicht weit genug auf die Angebote des Textes eingehen und häufig zu vage Deutungen machen oder Schwierigkeiten bei der Interpretation umgehen (Brackert 1980, 234). Röhrich (1956, 52) meint, dass Lüthi „von einer starren europäischen Modellform“ ausgehe und daher die Übergänge zur Sage und die Vorformen des Märchens übersehe. Geiger (2003, 34f.) kritisiert Lüthis Begriff der Flächenhaftigkeit. Er ist der Meinung, ein lebendig erzähltes Märchen würde viele Emotionen in sich vereinen. „Die Wirklichkeit des Märchens liegt ganz und gar nicht an der Oberfläche. Seine Welt ist nicht die Welt graphischer Ortschaften und ihrer Bewohner. Es ist die Innenwelt seelischer Bereiche; wenn man will, schon in sich selbst eine Welt von jenseitigem Charakter, doch völlig verwoben mit dem menschlichen Empfindungs- und Willensleben.“ Erichson (1986, 19) schließt daraus, dass Lüthis Strukturmerkmale eine „Korsett“ - Funktion haben, in der man sich nicht ganz wohl fühlt, darin aber Halt findet.
Dem entgegenzustellen ist, dass es Lüthi als Literaturwissenschaftler vor allem um die formale Literaturbetrachtung und nicht vordergründlich um die inhaltliche Interpretation der einzelnen Texte geht. Zwar mag die analytische, rein äußerliche Betrachtungsweise auf den ersten Blick etwas einseitig scheinen, sie hilft jedoch bei einer klaren Strukturanalyse der Gattung Märchen. Das, was Lüthi herausarbeitet, ist natürlich ein Idealtypus, dem nicht jedes Märchen in allen Stilzügen entspricht. Er selbst äußert sich dazu: „Der Typus kommt in Wirklichkeit nie rein vor“ (Lüthi 1974, 7). Aber nur mit Hilfe dieser Zuspitzung kann er das Märchen so präzise analysieren und darstellen.
2.1.2. Strukturalistische Märchenanalyse nach Vladimir Propp
Wie Lüthi, so geht auch der Russe Propp (1895 – 1970) bei seiner Märchenforschung beschreibend vor. Er untersucht jedoch nicht den Stil, sondern die Struktur des Zaubermärchens, die für ihn im Mittelpunkt der Literaturwissenschaft steht. Dabei sieht er seine Methode als einen Versuch an, die Forschung aus der unbefriedigenden Situation immer neuer Stoffsammlung und Motivforschung herauszuführen.
2.1.2.1. Beschreibung der Strukturanalyse Propps
Propp sieht in seiner Strukturanalyse die Voraussetzung für eine historische Erforschung der Märchen (Propp2, 22). Propp will das Urmärchen aller Märchen herausarbeiten und erkennt dabei, dass alle Märchen hinsichtlich ihrer Struktur nur einen einzigen Typ bilden. Er spricht von Transformationen bestimmter Grundelemente, die abgeschwächt, intensiviert oder durch andere ersetzt werden können. Alle Märchen stellen also nur Variationen eines bestimmten Grundtyps dar. Bei seiner Arbeit unterscheidet er zunächst konstante und variable Größen. Die konstanten Größen sind für die Struktur bestimmend, da sie das Gerüst des Märchens abgeben, welches mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden kann. In der folgenden Gegenüberstellung einiger auf den Kern zusammengefasster Märchen wird deutlich, dass die Namen und die Attribute der handelnden Personen wechseln, doch ihre Handlungen bleiben die gleichen und bewirken das gleiche:
Der Zar schickt Ivan nach der Zarin aus.
- Ivan macht sich auf den Weg.
Der Zar schickt Ivan nach dem Zaubergegenstand aus.
- Ivan macht sich auf den Weg.
Die Schwester schickt den Bruder nach dem Heilmittel aus.
- Der Bruder macht sich auf den Weg.
Die Stiefmutter schickt die Stieftochter fort um Feuer zu holen.
- Die Stieftochter macht sich auf den Weg.
Der Schmied schickt den Knecht fort die Kuh zu holen.
- Der Knecht macht sich auf den Weg und so weiter
Man kann die Beobachtung machen, dass die Personen im Märchen, so verschieden sie auch vom Äußeren her, ihrem Alter, Geschlecht, der Art ihrer Tätigkeit, ihrer Bezeichnung oder sonstiger statistischer Merkmale nach sein mögen, im Lauf der Handlung jedoch dasselbe tun. Sie schicken andere Personen fort und diese gehen auf die Suche. Dadurch kann man die Relation der konstanten, sowie der wechselnden Faktoren definieren, und zwar so, dass die handelnden Personen mit den konstanten Faktoren gleichzusetzen sind.
Diese konstanten Aktionen, die den unterschiedlichen Personen zugeschrieben werden, benennt Propp als Funktionen. Diese Funktionen müssen immer im Zusammenhang des Handlungsablaufs gesehen werden. Vermählt sich zum Beispiel Ivan mit der Zarentochter, so ist das etwas völlig anderes, als wenn ein Vater eine Witwe mit zwei Töchtern heiratet. Im ersten Fall bedeutet die Hochzeit das glückliche Ende des Märchens, das andere Mal entsteht daraus ein Konflikt. Diese Funktionen bilden nun die wesentlichen Elemente jedes Märchens. Propp hat 31 derselben aufgestellt und jede mit einem Satz, einer Definition und einem Symbol (Buchstabe oder Buchstabe und Ziffer (arabisch oder römisch)) bezeichnet (die vollständige Funktionstabelle Propps befindet sich im Anhang). Propp gibt zu jeder Funktion Erklärungen und Beispiele, bezieht sich dabei aber nur auf russische Märchen. Er ist jedoch überzeugt davon, dass seine Ergebnisse auch auf die nichtrussischen Märchen zutreffen. Jedes Märchen enthält nur eine Auswahl aus den 31 Funktionen. In jedem Fall kommen die Funktionen VIII (Schädigung oder Mangel) zur Einleitung in die eigentliche Märchenhandlung, XIX (Behebung des Mangels) der Märchenverlauf, und XXXI (Belohnung des Helden) als gutes Ende vor. Dazwischen liegen natürlich die märchentypischen Kämpfe und Prüfungen. Von dieser Struktur her - Mangel und Behebung - gelangt Propp zu seiner Märchendefinition. Er ist der Meinung, dass morphologisch gesehen jede Erzählung als Zaubermärchen bezeichnet werden kann, die sich aus einer Schädigung (A) oder einem Fehlelement (α) über entsprechende Zwischenfunktionen zur Hochzeit und Thronbesteigung (H) oder anderen Konfliktlösenden Funktionen entwickelt.
Da diese Definition aber auch auf andere, nicht märchenhafte Erzählungen zutrifft, spricht er später von Märchen, denen das 7-Personenschema zu Eigen ist. Diese sieben Personen sind: der Gegenspieler, der Schenker, der Helfer, die Zarentochter (beziehungsweise die gesuchte Gestalt) und ihr Vater, der Sender, der Held und der falsche Held. Diese Bezeichnungen treffen allerdings mehr auf die Rollen der Personen, als auf diese selbst zu. So können zum Beispiel Schenker und Helfer zusammenfallen, ebenso Schenker und Sender. Mit Sender ist derjenige gemeint, der den Helden aussendet, um irgendetwas zu holen oder eine Aufgabe zu erfüllen. Eine Person kann also demnach mehrere Handlungskreise in sich vereinigen und umgekehrt kann sich auch ein Handlungskreis auf mehrere Personen verteilen.
Mit den 31 Funktionen und 7 Handlungskreisen ist allerdings noch nicht alles erfasst, was laut Propp zur Struktur eines Märchens gehört. Zu benennen wären noch die Elemente, die zwar keinen Einfluss auf die Entwicklung des Geschehens haben, aber dennoch nicht vernachlässigt werden dürfen. Dies sind Hilfselemente zur Verbindung der einzelnen Funktionen, zum Beispiel die verschiedenen Möglichkeiten der Nachrichtenübermittlung oder die Motivierungen also Beweggründe und Absichten. Propp nennt sie Kopulas.
Die Funktionen und ihre Hilfselemente bilden nun Funktionsketten, welche Propp als Sequenzen bezeichnet. Jede neue Schädigung und jedes Fehlelement führt zu einer neuen Sequenz. Diese so genannten Sequenzen können hintereinander stehen und jeweils in sich abgeschlossen sein. Eine neue Sequenz kann aber auch als Episode in die vorhergehende eingeschoben werden.
2.1.2.2. Kritische Bewertung der Strukturanalyse Propps
Kritisiert wird Propps Anspruch, mit Hilfe seiner Methode und mit der Bestimmung der Funktionen klären zu können, was das Märchen an sich darstellt. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Propp bereits bei der Auswahl des Untersuchungsmaterials eine Vorentscheidung trifft was für ihn als Zaubermärchen gilt und was nicht. Ihm wird häufig vorgeworfen, dass sich seine Arbeit nur auf diejenigen russischen Zaubermärchen beziehen lässt, die in seine Untersuchung aufgenommen wurden. Bei einer etwas gröberen Einteilung der Funktionen hätte man eine höhere Generalisierbarkeit schaffen können. Grundsätzlich steht Propps Standpunkt, Märchen strukturalistisch zu untersuchen, demjenigen gegenüber, eine Einordnung über inhaltliche Aspekte zu vollziehen. Seine Aussage, dass die Struktur aller Märchen gleich sei und lediglich seine Inhalte voneinander abweichen ist nicht in jedem Fall vertretbar. Lüthi (1974, 115) ist der Meinung, dass umgekehrt eine und dieselbe Aussage in ganz verschieden gebauten Sätzen formuliert werden kann. In diesem Fall würde der Inhalt konstant bleiben, die Struktur aber wäre variabel. Er weist auch darauf hin, dass Propp in seiner späteren historischen Untersuchung über die Wurzeln des Zaubermärchens auffallend wenig Bezug auf seine morphologische Strukturanalyse nimmt (Lüthi 1974, 120). Poser (1980, 76) bemerkt, dass Propp keine Mindestanzahl an Funktionen nennt, die im typischen Märchen vorkommen. Laut Lévi-Strauss (1975 I, 146) würden sich einige Funktionen sogar ausschließen. Bausinger (1980, 52f.) wirft Strukturalisten wie Propp vor, dass ihre gekürzten Formeln zu allgemein seien und sich damit auch auf andere literarische Gebilde als dem Märchen problemlos übertragen ließen. Möchte man ein Märchen hinterfragen, so bringt einen Propps Analysemodell nicht viel weiter. Es stößt an seine Grenzen, wenn man den Rahmen des Märchens verlässt (Brackert 1980, 37). Lévi-Strauss (1975 II, 181f.) bemerkt, dass man vor der strukturalistischen Analyse Propps nicht zeigen konnte, was den Märchen gemein war. Nach seiner strukturalistischen Untersuchung kann man dafür aber nicht mehr zeigen, worin die einzelnen Märchen sich generell unterscheiden. Die Literaturwissenschaft ist damit zwar vom Konkreten zum Abstrakten gelangt, kann aber vom Abstrakten nicht mehr zum Konkreten zurückfinden.
In den sechziger und siebziger Jahren hat in Anlehnung an die Untersuchung von Propp eine intensive strukturalistische Märchenforschung eingesetzt (Schrader 1986, 77). Das ist ein erstes Anzeichen für die weit reichende Bedeutung von Propps Werk. Er beschreitet damit einen neuen Weg der Märchenforschung und liefert wichtige Grundlagen zu einer strukturalen Analyse der Gattung Märchen. Dabei ist er seiner Zeit weit voraus (Meletinskij 1972, 181). Während Versuche, Märchen nach Stoffen oder Motiven zu ordnen, oft unübersichtlich werden und zahlreiche Überschneidungen auftreten, ergibt die strukturalistische Methode Propps ein zuverlässiges Schema, mit dem auch größere Stoffmassen gegliedert werden können. Pop (1973, 397) ist davon überzeugt, dass die gründliche Strukturanalyse der Märchen einen entscheidenden Beitrag zur Definierung der spezifischen Merkmale leistet und im Allgemeinen den Forschungen dieser Art mehr Genauigkeit geben kann. Lévi-Strauss (1975, 185) ist sogar der Meinung, dass es ohne morphologische Untersuchungen keine wirklichen historischen Forschungen geben kann. Propps Arbeit war nachweislich anregend für viele andere bekannte Strukturalisten wie zum Beispiel Roland Barthes oder Umberto Eco.
2.2. Psychologische Theorien
Seit dem Beginn der Märchenforschung hat die psychologische Märchendeutung Beiträge zur Frage der Funktion von Märchen geliefert. Heutzutage ist sie die häufigste Perspektive neben der Literaturwissenschaftlichen und volkskundlichen Betrachtungsweise. Hauptgegenstand dieser Forschungsrichtung sind die Zusammenhänge zwischen der Volkspsyche und den Märchen. Vor allem zwei Richtungen der Psychologie haben sich mit dem Märchen als Untersuchungsgegenstand beschäftigt – die Entwicklungs- und die Tiefenpsychologie.
Tiefenpsychologen sehen im Märchen ähnlich wie im Traum Ausdrucksformen des Unbewussten und interpretieren Märchen als innerseelisches Geschehen. Ausgehend von der reichen Symbolsprache der Märchen sehen sie in den Geschichten die vereinfachte Darstellung von den komplexen Vorgängen des menschlichen Geistes und der Seele des Menschen. Das Ziel der Tiefenpsychologen liegt darin, einzelne Märchenmotive zu interpretieren und keine komplette Entschlüsselung zu liefern. Als beispielhaften Vertreter der Tiefenpsychologie wurde hier Carl Gustav Jung gewählt. Jung und seine Anhänger betonen, dass die Gestalten und Ereignisse im Märchen archetypischen, psychologischen Phänomenen entsprechen und den Erzählgeschichten ein Sinngehalt für einen zielgerichteten Reifungs- und Selbstverwirklichungsprozess innewohnt. Jung hat sehr viele Werke verfasst unter denen „Bewusstes und Unbewusstes“ (1957), „Der Mensch und seine Symbole“ (1968) und „Die Archetypen und das kollektive Unbewusste“ (1976) am interessantesten für die Märchenforschung sind.
Aus den Wurzeln der Tiefenpsychologie hat sich seit den 1920er Jahren eine weitere Richtung der psychologischen Märchenforschung herauskristallisiert, die Entwicklungspsychologie. Das Interesse der Entwicklungspsychologen liegt in der seelischen Entwicklung des Kindes. Dabei wird einerseits die Wirkung der Märchen auf die Kinder direkt beobachtet, andererseits werden Märcheninhalte analysiert und in Beziehung zu den Vorstellungen und Phantasien der Kinder gesetzt. Bettelheim als Vertreter der Entwicklungspsychologie, weist in seinem Buch „Kinder brauchen Märchen“, welches 1975 in den USA und 1977 in Deutschland veröffentlicht wurde, eine direkte Affinität zwischen Kind und Märchen nach. Er zieht Parallelen zwischen affektiven und kognitiven Leistungen des Kindes einerseits und den Märchenelementen andererseits. Dabei bezieht er die unterschiedlichen Entwicklungsstufen des Kindes in seine Forschungen mit ein.
2.2.1. Tiefenpsychologische Märchenanalyse nach Carl Gustav Jung
Für den Schweizer Carl Gustav Jung (1875 – 1961) besteht die menschliche Psyche aus der Gesamtheit der bewussten und unbewussten Vorgänge (Jung 1968, 23). Er sieht im Unbewussten nicht nur verdrängte Triebe und Wünsche die das Bewusstsein nicht wahrhaben will, sondern einen für den Prozess der Selbstwerdung notwendigen Teil der menschlichen Persönlichkeit. Jung unterscheidet zwischen dem persönlichen und dem kollektiven Unbewussten. Er sieht im persönlichen Unbewussten verdrängtes und vergessenes Material, sozusagen Erwerbungen der individuellen Existenz, deren Wirkung und Herkunft in unserer persönlichen Vergangenheit nachweisbar sind. Es ist möglich, den Inhalt des persönlichen Unbewussten ins Bewusstsein zu führen, wodurch der Umfang der Persönlichkeit erweitert werden kann. Das kollektive Unbewusste ist von allgemeiner Beschaffenheit und überpersönlicher Natur, da es Inhalte und Verhaltensweisen umfasst, welche bei allen Menschen identisch sind.
2.2.1.1. Beschreibung der tiefenpsychologischen Analyse Jungs
Die Inhalte des kollektiven Unbewussten werden laut Jung in Träumen, Visionen und Phantasien als urtümliche Bilder zum Ausdruck gebracht. Für diese Bilder verwendet er den Begriff Archetypen. Es sind Urtypen menschlicher Verhaltensweisen, die das Grundmuster instinktiven Verhaltens darstellen. Die Summe der Archetypen bedeutet für Jung die Summe aller Möglichkeiten der menschlichen Psyche: ein ungeheures, unerschöpfliches Material an uraltem Wissen um die tiefsten Zusammenhänge zwischen Gott, Mensch und Kosmos (Jacobi 1959, 69). Aus den Archetypen erklärt sich für Jung die Entstehung und Bedeutung der Märchen, in denen diese Urbilder gehäuft dargestellt werden.
Eine archetypische Figur ist zum Beispiel der alte Weise, welcher den Vater der Seele, den Meister und Lehrer und das geistige Prinzip verkörpert. Diese häufig auch als Geist bezeichnete Figur, symbolisiert Wissen, Erkenntnis, Weisheit und Klugheit. Für ihn stehen Attribute wie Hilfsbereitschaft und Vernunft. Er tritt aber auch als Bösewicht auf. Im Märchen stellt dieser Typus meistens einen rat- oder hilfebringenden Zwerg oder ähnliches dar, der dem Helden aus allen möglichen Notsituationen heraus hilft oder ihn zu Überlegungen veranlasst (Jung.1976, 236).
Auch das Urbild der Mutter hat in den Märchen eine besonders lebendige und vielfältige Darstellung und Ausgestaltung erfahren. Dieselbe Frau die am Spinnrad sitzt und ins Schicksal der Menschen eingreift, bringt in anderen Märchen und zwar häufig in Vogelgestalt, als Schwan oder Gans oder Storch die Kinder auf die Erde. Die Urmutter webt nicht nur die Schicksalsfäden der Menschen ineinander, sie hält auch das Schicksal der Zeit, das Gute und das Böse in den Händen.
Die Tiergestalten stehen für die außermenschlichen Bereiche im Märchen, die sich in einem Jenseits des menschlichen Bewusstseins befinden (Jung 1957, 116).
Es geht Jung bei seiner Märcheninterpretation zum einen um die verschiedenen Symbole, die sich in den Archetypen niederschlagen. Zum anderen möchte er mehr Klarheit in die Situationen bringen, in denen sich der Held des Märchens bewährt und entwickelt. Der Weg des Helden symbolisiert, der Ansicht Jungs nach, den Weg des Bewussten zum eigenen Unterbewussten. Handlungselemente wie Suchwanderungen oder Kämpfe spiegeln Auseinandersetzungen zwischen den beiden psychischen Ebenen wider.
Das Thema aller Märchen ist nach Jung das Selbst beziehungsweise die eigene Seele. Nebenfiguren werden demnach als Persönlichkeitsbezüge des Helden gesehen. Böse Mächte spiegeln unheilvolle Kräfte und Tendenzen der eigenen Seele wider.
[...]
[1] Aus Gründen der Übersichtlichkeit und der guten Lesbarkeit dieser Arbeit wird im Folgenden darauf verzichtet, personenbezogene Aussagen in maskuliner und femininer Form jeweils nebeneinander zu stellen. Wenn also zum Beispiel vom Held die Rede ist, sind beide Geschlechter gleichermaßen gemeint.
- Arbeit zitieren
- Susanne Göpel (Autor:in), 2005, Didaktische Konsequenzen aus Märchentheorien für den Deutschunterricht der Grundschule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42248
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