Hypothesen zur Evolution des aufrechten Ganges bei Hominiden

Kritischer Vergleich aus einzelwissenschaftlicher und philosophischer Sicht


Diplomarbeit, 1992

33 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Historischer Abriss zur anthropogenetischen Theorienentwicklung

3. Die Hypothesen zur Evolution des aufrechten Ganges
3.1. Die Praxis- Hypothese
3.2. Die Tarsioiden- Hypothese
3.3. Die Protocatarrhinen- Hypothese
3.3.1. Die Catarrhinen- Hypothese
3.4. Die Pongiden- Hyothese
3.4.1. Die Brachiatoren- Hypothese
3.4.2. Die Präbrachiatoren- Hypothese
3.5. Die ethologisch- soziologischen Hypothesen
3.6. Die Migrations- Hypothese

4. Die theologischen Reflexionen

5. Strukturanalyse

6. Epilog

Literaturverzeichnis

Anhang: Taxonomische Übersicht der Homininae

Anmerkungen

Alle Erkenntnis und ein Ganzes derselben muß einer Regel gemäß sein.

Regellosigkeit ist zugleich Unvernunft.

Aber diese Regel ist entweder die der Manier (frei) oder die der Methode (Zwang).

Immanuel Kant, Logik - Ein Handbuch zu Vorlesungen nach Jäsche (1800)

1. Einleitung

Seit Beginn des Denkens des bewussten Menschen stand er selbst im Mittelpunkt dieses Lebensvorganges. Die Frage nach der Stellung seiner selbst in der Welt, nach seiner Herkunft, seinem Werden und Wachsen bestimmen seither das geistige und kulturelle Leben, zunehmend jetzt auch seine Zukunft. Im Zuge der Entwicklung der Wissenschaften, besonders der Naturwissenschaften und hierbei der seit dem vorigen Jahrhundert beigebrachten Erkenntnisse durch Fossilfunde konnte in Form verschiedener Theorien unter anderem auch die Evolution der Hominiden gedanklich nachvollzogen werden. Auch die in Charles Darwins 1859 erschienen Werk „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“ sowie in „The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex“ von 1871 geäußerte Vermutung der Herkunft des Menschen aus dem Tierreich wurde weitestgehend bewiesen. Bahnbrechende Erkenntnisse brachten die seinerzeit sich schnell entwickelnden Fachdisziplinen wie Paläontologie, Paläanthropologie, Vergleichende Anatomie, in neuerer Zeit kamen Ethologie und Serologie hinzu. Bei allen wissenschaftlichen Erfolgen wurden aber noch längst nicht alle Probleme der Menschwerdung gelöst, da gerade die Fossilfunde nicht lückenlos in allen Übergangsstadien vorliegen und auch die Ontogenese als Evolutionsmodell hierzu nur analoge Bilder liefert. Beim Vergleich des Menschen mit seinen tierischen Vorfahren, besonders der nicht- menschlichen Primaten, haben zwei Aspekte den Vorrang. Zum einen müssen die gemeinsamen Merkmale dargestellt werden, um den Verlauf der Evolution nachvollziehen zu können. Zum anderen kommt es auf die Unterschiede zu ihnen an, um die Sonderstellung des Menschen und die Spezifika seiner Stammesgeschichte herausstellen zu können. Die vorliegende Studie betrachtet diese Aspekte unter besonderer Berücksichtigung der Entstehung des aufrechten Ganges bei Hominiden im Spiegel der dazu formulierten Hypothesen, was Einschränkungen bei der Auswahl der Argumente einschließt.

2. Historischer Abriss zur anthropogenetischen Theorienentwicklung

Bei der Fülle der bisher formulierten Hypothesen zur Anthropogenese macht sich zur besseren Auswertung eine Akzentuierung und Klassifikation erforderlich. Ein solcher Versuch wurde von Herbert Ullrich (1990) nach historischen Kriterien unternommen. Danach wird die Geschichte der Anthropogeneseforschung in fünf Etappen zu gliedern sein. Die erste wird in einer Zeitspanne von vor 500 000- 300 000 Jahren seit den Totenriten des Homo erectus angesetzt und beinhaltet die Reflexionen über die Stellung des Menschen in der Natur. Sie reicht bis 1856 und umfasst auch theoretische Arbeiten von z. B. Anaxogoras (Ἀναξαγόρας 500- 322 v. Chr.), Herodot (Ἡρόδοτος 480- 424 v. Chr.), Aristoteles (Ἀριστοτέλης 384- 322 v. Chr.), Apameia (Απάμεια της Συρίας, أفاميا oder آفاميا 135- 51 v. Chr.), Lukrez (Titus Lucretius Carus um 96- 55 v. Chr.), Carl v. Linné (1707- 1778) und Jaques Boucher de Perthes (1788- 1868). Diese Etappe ist auf jeden Fall zu differenzieren. Homo erectus lebte bestenfalls im Bewusstseinsstadium des Mythos und ist deshalb nicht mit den Leistungen Carl von Linnés vergleichbar. Die mythisch geprägte Epoche gilt für die Geisteswelt des antiken Europas seit Thales von Milet (Θαλῆς um 624 - um 547 v. Chr.) durch den Übergang vom Mythos zum Logos für beendet. Immerhin zeigt die Zusammenfassung der unterschiedlichen Charaktere deutlich die allgemeine Problematik im Umgang mit diesem Themenkreis auf. Die zweite Etappe beinhalte den Kampf um die Anerkennung der „Affenabstammung des Menschen“ und die Anerkennung des fossilen Menschen in der Zeit von 1856 bis um 1900. Mit dem Erscheinen des Werkes „Evidence as to man´s place in nature“ von Thomas Henry Huxley (1825 - 1895) im Jahre 1863 beginnt die Phase der eigentlichen menschlichen Abstammungslehre. Weitere Autoren zu diesem Thema sind Charles Lyell (1797- 1875), Carl Vogt (1817 - 1895) und Ernst Haeckel (1834- 1919). Von etwa 1900 bis 1924 erstreckte sich mit dem Trend der Einordnung der Fossilzeugen in Stammbäume und Hypothesen die dritte Etappe der Anthropogeneseforschung. Unter einer Vielzahl von Hypothesen zum Ursprung des Menschen versuchte Carl Wilhelm Franz von Branca (1844 - 1928) [auch Wilhelm Branco, Wilhelm von Branco] (1844- 1928) den Menschen 1898 auf Grund der Molarenstruktur vom miozänen Dryopithecus herzuleiten (Dryopithecus - Hypothese). Untermauert durch Neufunde in den Siwalik Hills von Indien und Pakistan wurden u. a. durch William King Gregory (1876 – 1970) 1916 in den USA die „klassischen“ Dryopithecinen- Hypothesen ausgearbeitet, in denen miozäne Pongiden als Ahnen der Menschen betrachtet werden, welche als gibbonartige „ancient member“ bzw. als Wurzel des Hominidenastes angenommen wurden. 1926 wurde die Ähnlichkeit der gemeinsamen Ausgangsform von Mensch und Menschenaffen mit dem Schimpansen, so W. K. Gregory, Gerhard Heilmann (1859 – 1946) [Heilman] und Hans Weinert (1887 - 1967), oder aber mit dem Gorilla, wie von Grafton Elliot Smith (1871 - 1937), angenommen. Nach Solà & Köhler (1993) ist Dryopithecus das Schwestertaxon aller anderen eurasischen Ponginae. Weiteres siehe bei Martin & Andrews (1993). Vergleichende Verhaltensstudien in Verbindung mit paläontologischen und vergleichend- anatomischen Befunden zur Fortbewegung veranlassten bereits Othenio Lothar Franz Anton Louis Abel (1875 - 1946) im Jahre 1912, für die Vorfahren des Menschen eine dem Gibbon am Boden ähnliche Gangart anzunehmen. Eine weitere Auffassung vertrat Henry Fairfield Osborn (1857 – 1935) um 1927/ 28, indem er eine Trennung von Pongiden und Hominiden bereits im Oligozän annahm. Erwähnt seien noch die um 1911 mehrmals auftauchenden Hypothesen, welche Parapithecus und vor allem den gleichaltrigen oligozänen Propliopithecus als Menschenahnen betrachten (Ullrich 1990). Die Entdeckung weiterer fossiler Hominidengruppen und die Entwicklung weiterer Proto- Hominoidea- Hypothesen in der Zeit von 1924 bis 1964/ 65 kennzeichnen die vierte Etappe der Theorienentwicklung. Das Neue an dieser Periode kam mit der Entdeckung des fossilen Schädels vom südafrikanischen Taung 1924 durch Raymond Arthur Dart (1893 – 1988)[i] und der dadurch entstandenen Australopithecinenforschung. In diese Zeit fällt auch die 1934 von Sir Wilfrid Edward Le Gros Clark (1895 – 1971) begründete Proto- Hominoidea- Hypothese, welche von einem kleinen Affen ohne brachiatorische Fähigkeiten als Ursprungsform der Hominiden ausgeht. Ab dieser Zeit verloren die Dryopithecus - und Brachiatoren- Hypothesen immer mehr an Bedeutung, während zunehmend eine längere Eigenständigkeit der Hominiden sowie Proto- Hominiden als gemeinsame Ursprungsgruppe der Pongiden und Hominiden angenommen werden. In den fünziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden auch Präsapiens- und Neandertaler- Hypothesen diskutiert. Ab 1945/ 46 setzten R. A. Dart und Robert Broom (1866 - 1951) ihre Australopithecinenforschung in Südafrika fort, welche zur endgültigen Anerkennung der Australopithecinen als Hominiden und zugleich einer Vielzahl von Hypothesen zur Evolution innerhalb der Australopithecinen und ihrer phylogenetischen Position führte. Diese Hypothesen wurden ab 1958 mit der Entdeckung der ersten Australopithecinenreste in der Olduvai- Schlucht in Tansania, seit 1967 auch aus dem Omotal in Südäthiopien bzw. dem Turkanaseegebiet in Kenia zunehmend mit auf ostafrikanischem Material beruhenden Erkenntnissen bereichert. Eine große Bedeutung für die Hypothesenbildung haben auch neuere Funde von Proconsul, vor allem mit seiner grazilen Form P. africanus. Dieser miozäne Pongide aus Ostafrika wird als Modell der gemeinsamen Ursprungsgruppe des Menschen und der rezenten Pongiden herangezogen. In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurde versucht, die für den Evolutionsverlauf seit der vorletzten Jahrhundertwende angenommene Stufen- oder Phasenhypothese durch die Radiationshypothese zu ersetzen. Letztere besagt, dass sich s.g. Ur-, Alt- und Jetztmenschen aus einer gemeinsamen Wurzel heraus parallel entwickelt haben sollen. In der letzten noch andauernden Etappe der Theorienentwicklung zur Anthropogenese, die 1964/ 65 begann, gibt es nach Ullrich (1990) zwei wesentliche Aspekte zu vermerken. Zum einen lassen Neufunde und deren radiometrische Datierung die Menschheit und ihre Vorfahren immer älter, die Hominiden insgesamt jedoch immer jünger werden. Andererseits erweist sich der Menschwerdungsprozess zunehmend vielschichtiger und komplexer, welches künftig eine stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich macht[ii]. Weitere detaillierte Angaben zur Geschichte der Paläanthropologie geben Russell L. Ciochon & John G. Fleagle, Donald Carl Johanson & Edey (1989), Johanson & James Shreeve (1990) sowie Erik Trinkaus & Pat Shipman (1993). Die jüngste Etappe ist maßgeblich geprägt durch die konsequente Anwendung der phylogenetischen Verwandtschaftsanalyse, besonders unter Verwendung genetischer und serologischer Daten. Beispiele für die Suche nach der afrikanischen Urmutter des modernen Menschen präsentieren Ann Gibbons (1992a) und Alan R. Templeton (1991), Stephen Blair Hedges, Sudhir Kumar und Koichiro Tamura (1991). Das eine einseitige Verabsolutierung derartiger Studien aber große Gefahren in sich birgt, soll hier nur ein Beispiel belegen. Wendy J. Bailey, Jerry L. Slightom und Morris Goodman (1992) versuchten eine alte Theorie des „Flying Primate“ wiederzubeleben und publizierten im Wissenschaftsjournal Science Ergebnisse ihrer '- Globin- Gen- Analyse. Darin wurde eine nahe genetische Verwandtschaft zwischen den Fledertieren und Primaten überhöht dargestellt, und daraus folgernd ein hypothetischer „FP“ konstruiert. Hier liegt aber der Fehler schon im Konzept die Artenliste umfaßte: (Schimpansen, Mensch, Gorilla, Orang Utan, Gibbon, Rhesus, Kapuziner, Tarsius, Galago, Lemur), (Schläfer, Kaninchen), [FP[iii] ], (Flughund, Fledermaus) und (Ziege)[iv]. Das quantitative Verhältnis stellt sich dar in 10 Primaten : 2 Nagetieren : FP : 2 Insectovoren : 1 Wiederkäuer. Allein schon durch die Unterrepräsentanz der Nichtprimaten ist prinzipiell immer eine Primatennähe der Fledertiere (als Insectivoren) gegeben. Hinzu kommt der klassische Zirkelschluß durch die bereits bekannte phylogenetische Abstammung der Primaten von den Insectivoren. Der einzige Diskussionsansatz wäre die größere dargestellte Nähe der Nagetiere zu den Primaten, hinter der die Fledertiere zurück stehen, siehe auch Kommentare von Gibbons (1992).

Die Hominisation muß im Kontext der gesamten Primatenevolution gesehen werden, d. h. als ein, wenn auch wesentlicher, so doch nur Bestandteil dieser. Daraus folgernd muß berücksichtigt werden, dass die Fortbewegungsart innerhalb dieser Gruppe mehmals wechselte. Die ursprünglichen, insektivoren Ausgangsformen waren quadrupede Bodenbewohner, worauf die tarsioidenähnlichen Vertreter arbicol quadrued lebten. Vorfahren der Primaten und diese selbst waren ebenfalls quadruped arbicol bei gelegentlichem Bodenaufenthalt.

Infolge des Zurückweichens des Waldlandbioms und der zunehmenden Versteppung des Lebensraumes wurde ein erneuter Wechsel zum Bodenleben erzwungen. Unter Berücksichtigung der Dollo´schen Regel (Louis Antoine Marie Joseph Dollo (1857 - 1931)) von der Irreversibilität der Evolution konnte eine terrestrische Quadrupedie wegen des hohen Adaptionsgrades an die arbicole Lebensweise nicht wieder in die quadrupede „zurückentwickelt“ werden. Die einzige Alternative war der Übergang zur Bipedie und daraus resultierend auch Orthogradie. Alle damit in Verbindung stehenden osteologischen Veränderungen im Achsen- und Extremitätenskelett sind als Ableitungen aufzufassen, auch wenn eine gleichzeitige Ausbildung dieser Merkmale anzunehmen ist. Jene hängt unmittelbar mit der Statik des Gesamtkörpers einerseits und mit den sich in ihrer Lage nicht verändernden Muskelansatzflächen zusammenhängen.

3. Die Hypothesen zur Evolution des aufrechten Ganges

Diskussionsbeiträge zur Fazette des aufrechten Ganges beim Menschen treten, wenn auch schwerpunktmässig, doch regelmässig in der Geschichte der einschlägigen Literatur auf, wobei fast immer die Grenze zwischen Philosophischer und Biologischer Anthropologie kaum zu erkennen ist. Hierbei wird die enge Beziehung der beiden Fachdisziplinen deutlich, welche letztendlich durch den gemeinsamen „Arbeitsgegenstand“- den Menschen- charakterisiert ist.[v] Die Aufrichtung des Körpers in Verbindung mit dem aufrechten Gang bei Hominiden wird als entscheidender Prozess in der Hominisation gesehen, sodass die Wertung der unterschiedlichen Bewegungstypen bei Primaten für die Theorienentwicklung über die Herausbildung der Hominiden- Linie eine große Rolle spielt. Über den aufrechten Gang reflektierte bereits der antike Enzyklopädist Aristóteles, so z. B. in seinen Zoologischen Schriften, speziell in denen über die Bewegung sowie die Fortbewegung der Lebewesen. Danach habe der Mensch auf Grund des ihm allein eigenen aufrechten Ganges als höchstes Lebewesen zu gelten, nicht zuletzt da hierdurch das Oben des Menschen, der Kopf, als Geistesträger auf das Oben des Alls gerichtet ist. Auch macht er sich bereits zur Funktionsteilung von oberen und unteren Extremitäten Gedanken und leitet Schlussfolgerungen für Anzahl und morphologische Verhältnisse dieser ab (Kollesch 1985). Mit Immanuel Kant (1724 - 1804) tritt ein weiterer Philosoph in Erscheinung, welcher sich zu diesem Thema äußerte. In seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ betont er die Komplexität der Merkmale, durch die sich der Mensch, schon durch jedes für sich allein genommen, von allen anderen Naturwesen unterscheidet. Dies sind nach I. Kant seine technischen, pragmatischen und moralischen Anlagen. Die Frage nach der ursprünglichen Bestimmtheit des Menschen zum zwei- bzw. vierfüßigen Gang ist für Kant in diesem Werk ebenso wenig vordergründig wichtig wie die ursprünglichen Nahrungsgewohnheiten, ob er ein Fruchtfresser oder ein Raubtier gewesen ist. Jener Aspekt könne lediglich zur Beantwortung der Frage dienen, ob der Mensch von Natur aus ein geselliges oder einsiedlerisches und nachbarschaftsscheues Tier sei, wobei er zu letzterer Lösung neigt.[vi] Mit Charles Robert Darwin (1809 - 1882) und seiner auf Höherentwicklung durch natürliche Zuchtwahl (Auslese, Selektion) durch Kampf ums Dasein (in Anlehnung an Thomas Robert Malthus´ (1766 - 1834) Bevölkerungs- Hypothese) beruhenden Evolutionstheorie war eine neue Qualität erreicht. Die deutlichen Differenzen zwischen Mensch und anderen Primaten hält er für eine Auswirkung der verschiedenen Entwicklungen des Gehirns, wobei aber alle anderen wesentlichen Differenzen in Beziehungen mit der aufrechten Körperhaltung des Menschen stehen, wie z. B. der Bau seiner Hand und des Fußes sowie die Wirbelsäulenkrümmung und die Kopfhaltung (s. a. Gerhard Heberer (1901-1973) in 1959, 1974; Rainer Knußmann 1980; Hartmut Rothe 1991[vii] ; Kurt Tittel (1920 - 2016) in 1963). Ausgehend von der großen Zehe des Menschen im Fetalstadium schließt Ch. Darwin (1871) auf einen bei den Vorfahren ausgebildet gewesenen Greiffuß und schlussfolgert auf ein warmes baumreiches Biotop, in dem jene als Baumtiere lebten. Diese „Eigenschaften von der höchsten Wichtigkeit“ für die Differenzierung zwischen Mensch und Tier hebt auch E. Haeckel (1866)[viii] hervor, um gleichzeitig zu betonen, dass die Lokomotionsfähigkeit bei sehr vielen Tieren vollkommener und höher entwickelt ist als bei ersterem, aber eben der Mensch das einzige Tier sei, welches alle diese äußerst wichtigen Eigenschaften in einer Person vereint und sich gerade deshalb so hoch über seine nächsten Verwandten erhoben hat. Alle diese theoretischen Positionen betrachteten den aufrechten Gang als Aspekt an sich, nicht in seiner Entstehung, Genese oder seinen Ursachen. Diese Position der Betrachtungsweise entwickelte sich erst nach Vervollkommnung des Bildes vom frühen Menschen durch vollständigere Fossilfunde auch des Bewegungsapparates, vor allem von Olduvai, Omo, Leatoli und Afar seit etwa der Mitte des letzten Jahrhunderts und besonders unter Hinzuziehung anderer spezifischer Merkmalskomplexe des Menschen (DNA).

3.1. Die Praxis- Hypothese

beinhaltet Interpretationsvarianten, die rein deskriptiven Charakter tragen und o. g. auf fundierten Erkenntnissen beruhende Theorien lediglich zur Untermauerung anderer Themen heranziehen.[ix]

Ausgehend vom Gesetz der Korrelation Darwin´s schließt Friedrich Engels (1820 - 1895) ím Jahre 1886, dass, wenn der aufrechte Gang bei den menschlichen Vorfahren erst Regel, dann zunehmend Notwendigkeit werden sollte, den Händen immer mehr andersartige Funktionen zufallen mussten. Die Ursache für diesen Funktionswechsel sieht er in einem Wechsel der Lebensweise, welche Händen und Füssen beim Klettern andersartige Beanspruchungen auferlegt. Dieses wiederum bietet die Möglichkeit zur Fortbewegung auf ebener Erde ohne Zuhilfenahme der Hände, bei gleichlaufender allmählicher Aufrichtung. Die dadurch gewonnene Freiheit und zunehmende Verfeinerung der Menschenhand sowie die mit ihr gleichziehende Ausbildung des Standfußes korrelierte rückwirkend auf weitere Organe und bot die Möglichkeit des Werkzeuggebrauches, der Werkzeugherstellung also praktischer Tätigkeit- der Arbeit. Somit spielt die praktische Arbeit bei Engels die Rolle der Triebfeder oder der Ursache überhaupt, welche letztendlich auch den aufrechten Gang unmittelbar mit hervorbrachte. Später weist Joachim Herrmann (1932–2010) (1988) auf die Bedeutung des zweibeinigen Ganges als logisch- historische Voraussetzung der Hominisation hin, ganz besonders unter dem Aspekt der Entstehung biologischer Bedingungen zum Übergang zur Arbeit. Diese haben ohne Zweifel aus evolutionsgenetischer Sicht einen ganz wesentlichen Anteil an der Ausbildung der menschlichen Hand (Herrmann 1982). Gegen die Unbefangenheit, mit der ein direkter phylogenetischer Zusammenhang zwischen der Evolution der Bipedie und der Fähigkeit bzw. Möglichkeit der Werkzeugbenutzung oder -herstellung gesehen wird, wendet sich Christian Vogel (1933 - 1993) (1978). Die These, dass erst die vollständige Bipedie die Hände von Lokomotionsaufgaben befreite und zur Werkzeugbenutzung freigestellt hat, hält er mit dem Vorhandensein der erforderlichen Befreiung der Hände bei den rezenten nicht- menschlichen Primaten für widerlegt und postuliert, dass die Werkzeugbenutzung und gekonnte Werkzeugherstellung keineswegs an die bipede Lokomotionsform gebunden ist. Sein Hauptargument liegt darin, dass der Werkzeuggebrauch und die Werkzeugherstellung beim Menschen und auch bei den nicht- menschlichen Primaten gerade nicht im Stehen bzw. Laufen von statten geht und somit kein überzeugendes Argument für einen diesbezüglichen Zusammenhang vorliegt. Auch Günther Peters (1982) vertritt die Engels konträre Auffassung, dass der Erwerb des aufrechten Ganges nichts mit der Befreiung und Vervollkommnung der Hand zum Arbeitsinstrument zu tun hat, welches letztendlich auch die Funde von Afar belegen (Johanson & Edey 1989, Johanson & Shreve 1990).

3.2. Die Tarsioiden- Hypothese

leitet den Hominiden- Stamm direkt und selbständig bereits von den Halbaffen her, wobei von einer Parallelentwicklung aller mit den übrigen Affen gemeinsamen Merkmalen ausgegangen wird. Sie wurde von Frederic Wood Jones (1879 – 1954) als entwickelt (Arboreal Man). Diese Hypothese wird auf Grund der theoriengeschichtlichen Verwandtschaft hier aufgeführt, auch wenn sie wie die folgende nicht vorrangig den aufrechten Gang als Gegenstand hat. Das gilt als unwahrscheinlich (Lothar Kämpfe 1980). Über Variationen zum Thema siehe Elisabeth Culotta (1992).

3.3. Die Protocatarrhinen- Hypothese

verfolgt die Hominisation bis zu den Vorfahren der rezenten altweltlichen Tieraffen, den Protocatarrhinen, zurück. Dagegen spricht aber u. a. der Besitz des Dryopithecus - Musters der unteren Molaren bei den Menschenaffen des Mitteltertiärs, welches bei den eozänen Tieraffen noch nicht ausgebildet ist und sich bei Menschenaffen und Menschen in weitgehender Identität unabhängig voneinander entwickeln hätte müssen (Kämpfe 1980). Hier angeschlossen ist auch eine ethologische Variante aus jüngerer Zeit, welche von Burkhard Stephan (1984) vorgestellt wurde und sich ausschließlich mit der Evolution von Orthogradie und Bipedie befasst.

3.3.1. Die Catarrhinen- Hypothese

beinhaltet nach Stephan (1984) fünf Etappen (dort: „Das neue Modell der Catarrhina- Evolution“), wobei von einer waldbewohnenden, sich in viele Arten aufspaltenden Stammgruppe ausgegangen wird. Diese Cercopithecidae gingen wiederholt zum Leben in der offenen Landschaft über. Dabei war die Entstehung neuer Arten nicht mit der Herausbildung der Orthogradie und Bipedie verbunden. Als Neuerung in einer sehr frühen Phase der Hundsaffen- Evolution „trat eine Art Erdmännchen- Stadium„ auf, welches ein fortwährendes und längeres Aufrichten des Körpers beim Sichern in der Nähe des Baues ermöglichte. Mit dem Leben in der offenen Landschaft war die weitere Evolution von Orthogradie und Bipedie verbunden. Während des mehrmaligen Zurückkehrens in den Waldbiotop entstanden Semibrachiatoren und Brachiatoren. Als Argumente für diese Hypothese führt Stephan (1984) mehrere Kriterien an. So entwickelten sich freie Hände, Bipedie und Orthogradie unabhängig voneinander und wiederholt in verschiedenen Wirbeltiergruppen, wobei verschiedene Kombinationen entstanden, unter ihnen der aufrechte Gang des Menschen. Dabei wurden die Hände der Primaten lange Zeit vor der Entwicklung der Bipedie befreit. Ein semierectes Zwischenstadium habe es nie gegeben. Der aufrechte Stand ist gegenüber dem quadrupeden sekundär und ging aus diesem hervor. Dabei war das Aufrichten des Körpers, evolutiv gesehen, nur kleinen und somit leichteren Primaten möglich. Es wird angenommen, dass es sich um Vertreter der Basisgruppe der Hominoidea handelte, die diese Entwicklungsphase durchliefen.

[...]


[i] In diesem Zusammenhang steht eine auf Aggressivität als Evolutionsfaktor bzw. -Beschleuniger bei Hominiden beruhende Hypothese (vgl. auch Ardrey 1989).

[ii] Hierzu gibt es einen interessanten Interpretationsversuch mit künstlerischen Mitteln von Annaud (1989), in Form des Filmes „Am Anfang war das Feuer“ (Gruskoff Film Organisation).

[iii] Dort ein hypothetischer Status.

[iv] Die Reihenfolge entspricht der entlang des Dendrogramms ausgerechneten. Die Klammern fassen verwandtschaftliche Gruppen zusammen.

[v] Insofern das Subjekt sich selbst zum Gegenstand macht wird es erst Subjekt. Im Prinzip ist alles menschliche Dasein Anthropologie!

[vi] Wohl Selbstreflektion.

[vii] Nach Rothe (1990) werden drei Formen der Zweifüßigkeit unterschieden. Erstens das schnelle Laufen auf zwei Beinen, bei dem die Massekräfte des Körpers zum Kurzstreckenlauf genutzt werden (z. B. Gibbons und Klammeraffen am Boden, Hundsaffen, Gorilla, Schimpanse). Zweitens das zweibeinige Gehen, bei dem im langsamen Tempo, also erschwerten Gleichgewichtsbedingungen meist nur wenige Schritte gemacht werden (z. B. Gorilla, Schimpanse, Mensch). Drittens das echte zweibeinige Stehen über längere, bei durchgestreckten knien ausschließlich auf den Hinterextremitäten (nur beim Menschen).

[viii] Haeckels „Prinzipien der generellen Morphologie der Organismen“ erschien 1866 in mehreren Bänden, konnten sich aber auf Grund seines Umfanges und anderer Gründe nicht breit durchsetzen. Hier wird die Zusammenfassung dieses Werkes von 1906 verwendet, welche wohl auch als letzter Schluss des Autors gelten kann. Eine populäre Darstellung daraus ist die Anthropogenie (1874).

[ix] Die Praxis- Hypothese in Engels Grundsatzwerk „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ sollte den theoretischen Mittler zwischen Darwins Evolutionstheorie und deren Anwendung in den Naturwissenschaften sowie die Übertragung dieser in die Geisteswissenschaften darstellen. Die Arbeit spielt in dieser Strömung eine bedeutende Rolle, da sie gemeinsam mit dem Begriff der revolutionären Tätigkeit oder praktischen Tätigkeit als Praxis schlechthin gebraucht wurde. Dadurch erschienen Revolutionen genau wie die bewußte Arbeit des Menschen als Lebensprinzip. Revolutionen wurden somit zum Bedürfnis und vor allem alleinigen Motor progressiver Evolution installiert. Zur Bewertung siehe auch Windelband (1981).

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Hypothesen zur Evolution des aufrechten Ganges bei Hominiden
Untertitel
Kritischer Vergleich aus einzelwissenschaftlicher und philosophischer Sicht
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Institut für Philosophie)
Note
2
Autor
Jahr
1992
Seiten
33
Katalognummer
V423525
ISBN (eBook)
9783668691438
ISBN (Buch)
9783668691445
Dateigröße
637 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hypothesenstruktur, Hominisation, Bipedie, Orthogradie
Arbeit zitieren
Dr. Hans-Volker Karl (Autor:in), 1992, Hypothesen zur Evolution des aufrechten Ganges bei Hominiden, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/423525

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