Einleitung
Der Ansatz des PK ,,Wissenschaft der Demokratie am OSI an ausgewählten Fällen (werkbiographisch-institionelle Methode)" war es, die persönliche und die politische/politologische Biographie einzelner Persönlichkeiten des OSI sowie deren Werk, bzw. explizit ihre demokratietheoretische Position zu beleuchten. Ferner sollten in einem weitergehenden interpretatorischen Schritt Zusammenhänge hergestellt werden zwischen der Biographie, dem Werk und der politologischen, speziell der demokratietheoretischen Positionierung des/der Jeweiligen. Die Intention war ,,Werk und Person in ihrer Differenz und unlösbaren Verkettung einsichtig (zu) machen" (Narr, W.-D.: Notate anläßlich des Projektkurses...).
Hinsichtlich einer solchen Fragestellung lassen sich bei Fritz Vilmar durchaus Aspekte finden. Der Versuch, Zusammenhänge herzustellen zwischen Vilmars Sozialisation, seinem politischen/ politologischen Werdegang und seinen inhaltlichen Positionen stellte sich jedoch als nur sehr anfänglich und vage umsetzbar heraus - aus zwei Gründen:
Einerseits birgt eine biographische Interpretation von politikwissenschaftlichen Positionen die Gefahr, in der Argumentation zu stark zu psychologisieren - gleichsam Zusammenhänge und Erklärungsmuster herzustellen, die in zu großem Maße konstruiert, respektive zu wenig fundiert sind. Ferner kann die Analyse des Entstehens politikwissenschaftlicher Positionen anhand der Biographie leicht zu einer reduktionistischen Herangehensweise werden. Auch wenn es in erster Linie um die politologische Biographie bzw. die Werkbiographie geht, so birgt die Rückführung zumeist komplexer politologischer Ansätze auf einen individuellen Werdegang doch die Gefahr einer unzulässigen Verkürzung,d.h. einer Reduktion der Interpretation inhaltlich-politologischer Aspekte.
Die `werkbiographisch-institutionelle Methode′ aus den angeführten Gründen ein wenig scheuend, liegt der vorliegenden Arbeit eine etwas anders gelagerte Herangehensweise zugrunde. Mein subjektives Interesse an der Beschäftigung mit Fritz Vilmar war vor allem inhaltlicher Natur und speziell auf den Komplex Demokratietheorie bezogen. Der Ausgangspunkt für diese Arbeit ist also ein inhaltlicher, ist Interesse an der Demokratietheorie Vilmars.
[...]
Inhalt
I. Einleitende Erläuterungen
II. Intensivinterview I vom 1.7.1997
III. Intensivinterview II vom 22.10.1997
IV. Essay:
Die Demokratietheorie Fritz Vilmars - Gesellschaftsbegriff, Demokratiebegriff, Demokratisierungskonzept:
Reflektion und interpretierende Erörterung seines ganzheitlichen, prozeßhaften,
historisch-soziologischen Verständnisses von Gesellschaft und Demokratie
sowie des daraus folgenden gesamtgesellschaftlichen, reformerischen Demokartisierungsansatzes unter besonderer Berücksichtigung der sozialethischen Dimension von Gesellschaft, Politik und Demokratie und ihrer Implikationen.
1. Einleitung
2. Vilmars ganzheitlicher, prozessualer, historisch-soziologischer Gesellschaftsbegriff
2.1. Gesellschaft als prozeßhaft-geschichtlich Gewordenes
2.2. Entwicklung eines ganzheitlichen, prozessualen Gesellschaftsbegriffs unter besonderer Berücksichtigung der sozialethischen Dimension von Gesellschaft und ihrer Implikationen.
2.2.1. Der Begriff der Sozialethik
2.2.2. Ein ganzheitlicher Gesellschaftsbegriff und die Bedeutung von Sozialethik innerhalb desselben
2.2.3. Implikationen und Konsequenzen der Anerkennung der sozialethischen Dimension von Gesellschaft als politisch-gesellschaftlicher Faktor
2.2.3.1. Die Notwendigkeit eines alle gesellschaftlichen Ebenen umfassenden und vom Individuum ausgehenden Politikbegriffs und die Relevanz von sozialer Ethik hierfür
2.2.3.2. Die Prozeßhaftigkeit von Gesellschaft und ihre kausale Verknüpfung mit Sozialethik als gesellschaftlicher Dimension
2.3. Resumee des ganzheitlichen, prozeßhaften, geschichtssoziologischen Verständnisses von Gesellschaft und der Bedeutung von Sozialethik hierfür
3. Vilmars Demokratiebegriff - die aus einem ganzheitlichen, prozessualen, historisch-soziologischen Gesellschaftsbegriff folgende Herangehensweise an Demokratietheorie
3.1. Der Begriff der Herrschaftsgesellschaft und sein historisch-soziologischer Kontext
3.2. Erörterung der geschichtssoziologischen, prozeßhaften, politisch-ethischen
wie normativen Betrachtungsweise von Demokratie
3.2.1. Demokratie als historischer, gesamtgesellschaftlicher, politischer und ethischer Prozess der Emanzipation
3.2.2. Die normative Position innerhalb eines prozeßhaften, geschichtlichen und soziologischen Verständnisses von Demokratie
3.2.3. Zusammenfassung der wichtigsten definitorischen Aspekte von Vilmars Demokratiebegriff
3.3. Reflektion anderer demokratietheoretischer Positionen anhand des historisch-soziologischen, normativen Verständnisses von Demokratie
3.3.1. Ontologische Positionen
3.3.2. Transzendentalphilosophische Ansätze
3.3.3. Abstrakt-normative Positionen
4. Reflektion und Erörterung von Vilmars ganzheitlichem, prozeßhaft-reformerischem Demokratisierungskonzepts unter besonderer Berücksichtigung der sozialethischen Dimension und ihrer Implikationen
4.1. Die sozialethische Dimension von Demokratisierung
4.1.1. Demokratisierung als sozialethischer Prozeß unter besonderer Berücksichtigung von Solidarität als antiherrschaftlicher ethischer Basis von Demokratie
4.1.2. Die Bedeutung der sozialethischen Dimension von Demokratie innerhalb eines ganzheitlichen Demokratisierungsansatzes und daraus resultierende konzeptionelle Konsequenzen
4.2. Demokratisierung als struktureller Herrschaftsabbau
4.2.1. Demokratisierung politisch-institutioneller Strukturen
4.2.2. Demokratisierung der Ökonomie
Exkurs: Demokratie und Sozialismus als synonyme Begriffe
4.3. Demokratisierung als alle gesellschaftliche Lebensbereiche umfassender politischer und ethischer Prozeß - politisch-theoretische Erörterung und Schlußfolgerungen
4.3.1. Die Notwendigkeit eines ganzheitlichen, d.h. gesamtgesellschaftlichen Ansatzes der Demokratisierung
4.3.2. Die Notwendigkeit eines prozeßhaft-reformerischen Ansatzes der Demokratisierung
5. Kritik revolutionärer Positionen
5.1. Generelle Kritik der reduktionistische und statische Gesellschafts- und Politikbegriff revolutionärer Positionen sowie die damit einhergehende Verkennung der sozialethischen Dimension von Politik und Gesellschaft
5.2. Staatskommunistische Positionen die vollkommene Verkennung der sozialethischen Dimension von Gesellschaft, ihrer Komplexität und Prozeßhaftigkeit sowie die daraus resultierende normative Pervertierung von Sozialismus und Demokratie
5.3. Kritik subversiver Positionen Verfehlungen der subversiven Theorie im Verständnis von Gesellschaft und in der politischen Strategie mit besonderer Bezugnahme auf die sozialethische Dimension von Gesellschaft und Politik bzw. ihrer Mißachtung in subversiven Ansätzen die Perspektivlosigkeit von Subversion
6. Abschließende Bemerkungen
6.1. Politisches Fazit: Sozialethischer Wandel und struktureller Herrschaftsabbau - Demokratietheorie als konstruktive Philosophie und konzeptionelle Reformtheorie der Demokratisierung
6.2. Anriß einer kritischen Auseinandersetzung mit Reformtheorie die Notwendigkeit der großen Perspektive
6.3. Schluß die Triftigkeit von Fritz Vilmars Demokratie- und Reformtheorie
V. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Der Ansatz des PK „Wissenschaft der Demokratie am OSI an ausgewählten Fällen (werkbiographisch-institionelle Methode)“ war es, die persönliche und die politische/politologische Biographie einzelner Persönlichkeiten des OSI sowie deren Werk, bzw. explizit ihre demokratietheoretische Position zu beleuchten. Ferner sollten in einem weitergehenden interpretatorischen Schritt Zusammenhänge hergestellt werden zwischen der Biographie, dem Werk und der politologischen, speziell der demokratietheoretischen Positionierung des/der Jeweiligen. Die Intention war „Werk und Person in ihrer Differenz und unlösbaren Verkettung einsichtig (zu) machen“ (Narr, W.-D.: Notate anläßlich des Projektkurses...).
Hinsichtlich einer solchen Fragestellung lassen sich bei Fritz Vilmar durchaus Aspekte finden. Der Versuch, Zusammenhänge herzustellen zwischen Vilmars Sozialisation, seinem politischen/ politologischen Werdegang und seinen inhaltlichen Positionen stellte sich jedoch als nur sehr anfänglich und vage umsetzbar heraus - aus zwei Gründen:
Einerseits birgt eine biographische Interpretation von politikwissenschaftlichen Positionen die Gefahr, in der Argumentation zu stark zu psychologisieren - gleichsam Zusammenhänge und Erklärungsmuster herzustellen, die in zu großem Maße konstruiert, respektive zu wenig fundiert sind. Ferner kann die Analyse des Entstehens politikwissenschaftlicher Positionen anhand der Biographie leicht zu einer reduktionistischen Herangehensweise werden. Auch wenn es in erster Linie um die politologische Biographie bzw. die Werkbiographie geht, so birgt die Rückführung zumeist komplexer politologischer Ansätze auf einen individuellen Werdegang doch die Gefahr einer unzulässigen Verkürzung,d.h. einer Reduktion der Interpretation inhaltlich-politologischer Aspekte.
Die ‘werkbiographisch-institutionelle Methode’ aus den angeführten Gründen ein wenig scheuend, liegt der vorliegenden Arbeit eine etwas anders gelagerte Herangehensweise zugrunde. Mein subjektives Interesse an der Beschäftigung mit Fritz Vilmar war vor allem inhaltlicher Natur und speziell auf den Komplex Demokratietheorie bezogen. Der Ausgangspunkt für diese Arbeit ist also ein inhaltlicher, ist Interesse an der Demokratietheorie Vilmars.
Fritz Vilmars Demokratietheorie kann als beispielhaft für ein prozeßhaftes, geschichtssoziologisches Verständnis von Demokratie sowie für ein konstruktiv-reformerisches Demokratisierungskonzept verstanden werden. Beides soll in dieser Arbeit in seiner Komplexität und Triftigkeit, dennoch aber kritisch beleuchtet werden. Die normativen Prämissen Vilmars, die normative Position bzw. die Grundwerte, die sein demokratietheoretischer Ansatz impliziert, erscheinen recht deutlich; diese sollen durchaus auch reflektiert werden. Das Hauptinteresse gilt jedoch der Auseinandersetzung mit dem prozeßhaft-reformerischen Charakter seines Demokratisierungskonzepts respektive seinem geschichtssoziologischen Verständnis von Demokratie. Hierbei soll zunächst sein konkret-reformpolitischer Ansatz beleuchtet werden, um dann auf die Grundlagen, den theoretisch-philosophischen Hintergrund von Vilmars demokratietheoretischer Position zu kommen.
In dem Essay am Schluß der Arbeit soll dann Vilmars Demokratietheorie - sein geschichtssoziologischer Gesellschafts- und Demokratiebegriff sowie sein reformerisches Demokratisierungskonzept im Zusammenhang entwickelt und interpretiert werden. Somit stellt diese Arbeit den Versuch einer kritischen Würdigung seiner Demokratietheorie dar - der Reflektion, Erörterung und Interpretation.
Im ersten Interview geht es zunächst um eine kritische Diskussion seines reformerischen Ansatzes für demokratische Politik. Vilmars Position ist auf die Formel zu bringen: konkrete Reformpolitik mit sehr weitreichender Perspektive.
Vilmars normative, normativ-ethische Grundorientierung wie auch seine detaillierten Konzepte zur gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung intendieren ein Modell, eine Utopie von Gesellschaft, die radikaldemokratisch-sozialistisch, d.h. solidarisch, egalitär, libertär zu nennen ist. Die damit verbundene Vorstellung einer anzustrebenden und notwendigen Veränderung der Gesellschaft entspricht in ihrer Tragweite, in ihrer Dimension durchaus einer tiefgreifenden, grundlegend-strukturellen - wenn man so will - auch revolutionären Umwälzung. Jedoch ist Fritz Vilmar weder ein ‘Staatsfeind’ noch ein Revolutionär. Staatskommunistische, ‘orthodox-marxistische’ wie auch destruktive, subversive Ansätze hält er für gänzlich perspektivlos, realitätsfern und damit ebenso bekämpfenswert wie konservative Positionen. Dementgegen richtet sich Vilmars Orientierung sehr stark auf das Konkrete. Dieses impliziert einen Politikansatz, der - fernab von für Vilmar zumeist irrealen, unhistorischen und dogmatischen Revolutionsvorstellungen - durch und durch konstruktiv, prozeßhaft-reformerisch ist. ‘Wissenschaft als kooperative gesellschaftliche Pfadfinderarbeit’ - so bezeichnet er sein politikwissenschaftliches Wirken. Sein Interesse gilt - von den bestehenden Verhältnissen ausgehend - dem Ausloten der Möglichkeiten für emanzipatorische Politik. Wie läßt sich der Parlamentarismus demokratisch vitalisieren? Welches Reformpotential ist in der SPD und den Grünen vorhanden? Welche Perspektiven der Demokratisierung ergeben sich aus der Selbsthilfebewegung? - Um nur drei beispielhafte Fragestellungen zu nennen.
Vilmars Demokratisierungskonzept, das auf Herrschaftsabbau in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen setzt, stellt sich also dar als ein radikaldemokratisches, sozialistisches Gesellschaftsmodell, welches mit einem sehr konkreten, vom Bestehenden ausgehenden, prozeßhaft-reformerischen Politikansatz verbunden ist. Seine Position ist radikal in der Wertorientierung und reformerisch-konkret im praktischen Ansatz gleichermaßen: an den gegebenen realpolitischen Verhältnissen orientierter Reformismus mit sehr weitreichender Perspektive.
Eine solche konstruktiv-reformpolitische Position wäre möglicherweise zu kritisieren mit folgender Argumentation: Ein konstruktiv-pragmatischer Politikansatz führt bei grundsätzlichen Inhalten zu inakzeptablen substantiellen Zugeständnissen an die realpolitische Durchsetzbarkeit von Zielen; die inhaltlichen Prämissen werden dabei jedoch in starkem Maße kompromittiert.
Diese Kritik wäre zu erweitern: Reformpolitik setzt auf partielle Veränderung, die zu einer fortschreitenden Entwicklung führen soll. Hierzu wäre kritisch zu fragen: Sind nicht die emanzipatorischen Fortschritte von Reformpolitik gerade angesichts der Dimension notwendiger gesellschaftlicher Veränderung im Grunde marginal? Geht man davon aus, daß ein konstruktiv-reformpolitischer Ansatz die Gefahr der Absorption grundlegender Inhalte und politischer Ziele birgt, und daß ferner die Fortschritte gerade in puncto Demokratisierung respektive Herrschaftsabbau durch Reformen eher unbedeutend bleiben, gelangt man zur Fundamentalkritik eines konstruktiv-reformerischen Ansatzes, welche pauschalisiert zu formulieren wäre in der Annahme:
Die bestehende kapitalistische Herrschaftsgesellschaft ist aus sich selbst heraus nicht reformfähig. Das System muß zerstört werden, damit sich überhaupt eine Basis zur Veränderung ergibt.
Dieses wäre die Grundannahme von skeptischen Positionen bzw. auch von revolutionären respektive destruktiven Ansätzen. Diese implizieren freilich die Fundamentalkritik an konstruktiv-reformpolitischen Positionen. Demnach ist Reformpolitik einerseits perspektivlos, zudem steht sie in der Gefahr eher systemstabilisierend zu wirken.
Im ersten Interview geht es zunächst darum, anhand von refornkritischen Fragen Vilmars konstruktiv-reformerischen Demokratisierungsansatz zu reflektieren bzw. ein prozeßhaft-reformerisches Politikverständnis hiermit zu konfrontieren: Wie prägend ist eine kapitalistische Wirtschaftsordnung für Politik und Gesellschaft, auch für deren ethische Grunddisposition; und inwieweit stellt diese Prägung für eine Strategie gesamtgesellschaftlicher Demokratisierung eine Hypothek dar, die einen nachhaltigen Demokratisierungsprozeß unter Umständen verunmöglicht?
Ist es angesichts der Starrheit des gegenwärtigen bürokratisch-hierarchischen Parlamentarismus überhaupt möglich, diesen zu vitalisieren?
Wolf-Dieter Narr bringt eine skeptische Position gegenüber einem reformpolitischen Demokratisierungsansatz auf den Punkt: „Wolf-Dieter Narr insistierte dagegen auf der fundamentalen Demokratisierungskritik von links: Das ganze Konzept und die kleinen Partizipationsfortschritte in bestimmten Bereichen blieben doch irrelevant angesichts der Tatsache, daß noch nicht einmal das restriktive Grundmodell der parlamentarischen Demokratie funktioniere. Welchen Realitätsgehalt habe selbst die bescheidenste Schumpetersche Form der Demokratie als demokratische Elitenkonkurrenz, wenn diese (demokratisch auswechselbaren) politischen Eliten gegenüber der übermächtigen hohen Verwaltungsbürokratie, vor allem aber angesichts der Machtausübung der großen internationalen Konzerne und Kartelle kaum noch Substantielles zu entscheiden hätten?“(Vilmar, F.: Strategien der Demokratisierung: Bilanz ..., 1996. S.394/395).
Im Kern geht es also um die Frage: Hat ein reformerischer Ansatz zur politisch-gesellschaftlichen Veränderung in demokratisch-sozialistische Richtung eine Perspektive? Wie triftig ist eine auf Reformen setzende Strategie der Demokratisierung gegenüber skeptischen Ansätzen, die von der Perspektivlosigkeit von Reformpolitik ausgehen, welche Vorteile bietet ein Reformkonzept gegenüber subversiven Ansätzen?
Es soll in dem Interview nicht der Versuch unternommen werden, diese recht grundsätzlichen Fragen umfassend zu beantworten. Sie stellen vielmehr den Hintergrund, die Warte dar, von der aus Fritz Vilmars Politik- und Demokratisierungsansatz betrachtet und reflektiert werden soll. Wie antwortet ein reformsozialistisches Demokratisierungskonzept auf reformskeptische Einwände - bei ähnlich positionierten normativ-ethischen Prämissen, bei ähnlichen Grundwerten? Die Konfrontation eines konstruktiv-prozessual-reformerischen Politikansatzes bzw. Demokratisierungskonzepts mit seiner Fundamentalkritik erscheint als eine Herangehensweise, durch die eine solche Position einerseits kritisch beleuchtet, gleichzeitig aber in ihrer Triftigkeit dargestellt werden kann. Auf diese Weise soll der Versuch unternommen werden, beides zu vereinigen: Die Plausibilität eines prozeßhaft-reformerischen Ansatzes deutlich machen, ihn aber andererseits kritisch reflektieren und eventuelle Widersprüche aufzeigen.
Dieses ist im Rahmen eines Interviews selbstredend nur sehr anfänglich möglich. Es kann nur den Versuch darstellen, einen reformerischen Politik- und Demokratisierungsansatz anhand einer kritischen Warte in einigen seiner politischen Konkretionen zu reflektieren.
Anzumerken ist noch, daß die Fragen zur Biographie Fritz Vilmars selbstredend nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den inhaltlichen Fragen stehen. Wie erwähnt, habe ich mich in der vorliegenden Arbeit auf Vilmars Demokratietheorie selbst und nicht auf ihre biographischen Zusammenhänge konzentriert. Dennoch wird zu Beginn des Interviews Vilmars persönlicher, politisch-biographischer und werkbiographischer Hintergrund beleuchtet als ergänzender thematischer Bereich. Im Zentrum stehen jedoch die Fragen zu seinen reformpolitischen und demokratisierungstheoretischen Positionen.
Im zweiten Interview sollen, nach der kritischen Reflektion von Vilmars Demokratisierungsansatz bzw. konkret-politischen Positionen, die theoretisch-philosophischen Grundlagen seiner Demokratietheorie beleuchtet werden. Den Hintergrund hierfür stellt die Intention dar, zunächst die theoretisch-philosophische Basis von Vilmars Demokratietheorie zu erörtern, darüber hinaus jedoch eine Verknüpfung, einen Argumentationszusammenhang zwischen der konkret-politischen Ebene seiner Demokratietheorie, d.h. dem reformerischen Demokratisierungskonzept und seiner philosophischen Betrachtungsweise von Gesellschaft und Demokratie, dem geschichtssoziologischen Demokratiebegriff herzustellen. Letzteres wird erst in dem an die Interviews anschließenden Essay zu leisten sein. Hier geht es zunächst darum, zu den theoretisch-philosophischen Grundlagen von Vilmars demokratietheoretischer Position vorzudringen - als Basis für die Entwicklung seiner Demokratietheorie in ihrer Komplexität, Logik und ihren kausalen argumentatorischen Zusammenhängen.
Im zweiten Interview wird also zunächst Vilmars prozeßhafter, historisch-soziologischer Begriff von Demokratie bzw. auch von Gesellschaft erörtert. Welche Betrachtungsweise von Gesellschaft liegt Vilmars Demokratietheorie zugrunde? - Und: Welches Verständnis von Demokratie ergibt sich daraus? Es geht hierbei um den prozeßhaften, geschichssoziologischen Charakter von Gesellschaft und das daraus folgende definitorische Verständnis von Demokratie. Dieser Komplex soll wiederum anhand der Konfrontation des Gesellschafts- und Demokratiebegriffs Vilmars mit einer liberalen Position, sprich: einer gänzlich anderen, auch normativ anderen demokratietheoretischen Position reflektiert werden.
Ein maßgeblicher Schwerpunkt des zweiten Interviews liegt in Fragen nach der Sozialethik als notwendig immens wichtigem gesellschaftlich-politischen Bereich innerhalb eines prozeßhaften, soziologischen Demokratiebegriffs. In welcher Weise stellt die Ethik speziell für ein geschichtssoziologisches und prozessuales Demokratie- und Gesellschaftsverständnis eine maßgebliche Dimension von Politik generell dar? Inwiefern impliziert ein prozessuales Demokratieverständnis die Betonung von sozialer Ethik als bedeutender politisch-gesellschaftlicher Dimension?
Im Gegensatz zu einer Betrachtungsweise von Gesellschaft und Demokratie, die beides zuvorderst oder nahezu ausschließlich nach ihrer systemisch-strukturellen Ordnung definiert, scheint ein soziologisches und prozeßhaftes Verständnis von Demokratie und Gesellschaft die Anerkennung und Betonung von Sozialethik als bedeutender politischer Kategorie zu implizieren bzw. zu bedingen.
Die Rolle von Sozialethik innerhalb eines soziologischen, prozessualen Demokratie- und Gesellschaftsbegriffs zu verdeutlichen, ist ein vorrangiges Anliegen des zweiten Interviews. Hiermit verbunden wird der Gegensatz zu demokratischen respektive sozialistischen Positionen deutlich, die Gesellschaft und Demokratie nahezu ausschließlich institutionell-strukturell-systemisch definieren und betrachten bzw. in der Folge - salopp formuliert - Politik mehr als technisches Organisationsproblem, denn als gesellschaftlichen Prozeß verstehen.
Auf diesen Zusammenhang wird in dem Essay am Ende der Arbeit noch genauer einzugehen sein. Im zweiten Interview sollen - auf die Formel gebracht - zunächst die wichtigsten Aspekte von Vilmars Gesellschafts- und Demokratieverständnis verdeutlicht und erörtert werden. Hier geht es also um seinen geschichtlich-soziologischen Gesellschafts- und Demokratiebegriff, den historischen Kontext sowie die soziologische Betrachtungsweise von Gesellschaft und Demokratie und damit verbunden ihre Prozeßhaftigkeit und - schwerpunktmäßig - ihre sozialethische Dimension.
Die Fragen zum Komplex Ökologie stehen zwar in Zusammenhang mit Vilmars sich aus seinem geschichtssoziologischen Verständnis von Gesellschaft ergebenden prozessualen Politikbegriff und der Rolle von sozialer Ethik als wichtigem politischen Aspekt in demselben, die Fragen zur Ökologie erscheinen aber dennoch als Exkurs in ein separates Themenfeld.
Im Vordergrund stehen im zweiten Interview die theoretisch-philosophischen Grundlagen von Vilmars Demokratietheorie, sein historisch-soziologischer Gesellschafts- und Demokratiebegriff sowie die Bedeutung von Sozialethik hierin.
Die argumentatorische Entwicklung der beiden Interviews verläuft gewissermaßen induktiv. Zunächst geht es um Fragen zu konkret-politischen Positionen bzw. um die Auseinandersetzung mit Vilmars reformerischem Politik- und Demokratisierungsansatz anhand von zumeist reformskeptischen Fragestellungen. Im zweiten Interview wird dann der theoretisch-philosophische Hintergrund seiner Demokratietheorie beleuchtet.
In dem Essay am Schluß der Arbeit soll dann der Versuch unternommen werden, auf umgekehrtem Wege - vom Grundsätzlichen ausgehend: Vilmars philosophischer Betrachtungsweise von Gesellschaft und Demokratie, zum konkret Politischen: seinem Demokratisierungskonzept - die Demokratietheorie Fritz Vilmars noch einmal theoretisch zu entwickeln und zu erörtern.
Hier wird zunächst der seiner Demokratietheorie zugrunde liegende Gesellschaftsbegriff Vilmars reflektiert. Seine Betrachtungsweise von Gesellschaft als historisch Gewordenes sowie als prozeßhaftes offenes System, welches nicht allein von seiner strukturell-systemischen Ordnung her, sondern soziologisch, d.h. als Form menschlichen Zusammenlebens zu verstehen ist. Dabei spielt die Betrachtung und Erörterung der sozialethischen Dimension von Gesellschaft eine wesentliche Rolle.
Hieran anschließend soll Vilmars geschichtssoziologischer Begriff von Demokratie als historisch- gesellschaftlicher Prozeß der Emanzipation skizziert werden. Sein Verständnis von Demokratie ergibt sich hierbei folgerichtig aus dem Begriff von Gesellschaft.
Schließlich geht es um die Entwicklung und Diskussion von Vilmars Demokratisierungsansatz. Demokratisierung als gesamtgesellschaftlicher politischer und ethischer Prozeß: Vilmars konstruktiv-reformerisches Demokratisierungskonzept des alle gesellschaftlichen Lebensbereiche umfassenden, schrittweisen Herrschaftsabbaus, der Emanzipation und Solidarisierung. Hier soll der konstruktiv-reformerische Charakter seines Demokratisierungsansatzes sowie das ganzheitliche, sowohl auf die institutionell-strukturell-systemische Ebene wie auf die gesellschaftliche Basis bzw. die sozialethische Ebene bezogene und vom Menschen ausgehende, prozessuale Verständnis von Politik und Demokratisierung reflektiert werden.
In dem Essay geht es maßgeblich darum, Zusammenhänge aufzuzeigen, Argumentationen zu entwickeln: inwiefern ergibt sich ein konstruktiv-reformerischer Demokratisierungsansatz notwendig aus einem prozeßhaft-soziologischen Verständnis von Gesellschaft? In welcher Weise impliziert ein geschichtssoziologisches Verständnis von Demokratie die Negation subversiver bzw. revolutionärer Politikansätze?
Vilmars Demokratietheorie soll hier also in argumentatorischen Zusammenhang, in ihrer Komplexität, ihrer Logik, in ihrer Triftigkeit und Schlüssigkeit erörtert werden. Dieses jedoch nicht als bloße Charakterisierung, nicht rein deskriptiv, sondern unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung und der Rolle von Sozialethik in Vilmars Demokratietheorie bzw. anhand der Fragestellung: Welche Relevanz besitzt die sozialethische Dimension von Gesellschaft, Politik und Demokratie innerhalb eines prozessual-soziologischen Verständnisses von Demokratie sowie innerhalb eines konstruktiv-reformerischen Demokratisierungskonzepts? Welche Implikationen und Konsequenzen ergeben sich aus der Anerkennung von Ethik als wichtiger gesellschaftlicher und politischer Kategorie? Welcher Zusammenhang läßt sich herstellen zwischen der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung von Sozialethik und dem prozeßhaften Charakter von Gesellschaft sowie auch einem ganzheitlichen, vom Menschen ausgehenden Politikbegriff bzw. einem gesamtgesellschaftlich-reformerischen Demokratisierungsansatz? Inwiefern läßt sich möglicherweise ein prozeßhafter, historisch-soziologischer Gesellschafts- und Demokratiebegriff sowie auch ein alle gesellschaftlichen Lebensbereiche umfassendes, konstruktiv-reformerisches Konzept zur Demokratisierung aus der Anerkennung von Ethik als bedeutender politisch-gesellschaftlicher Kategorie begründen?
Als Hintergrund für die schwerpunktmäßige Reflektion des Komplexes Sozialethik innerhalb der Demokratietheorie Vilmars wäre als Hypothese zu formulieren:
Sozialethik erscheint als bedeutsame Dimension von Gesellschaft und Politik, aus deren Anerkennung als politisch-gesellschaftlicher Faktor sich weitreichende theoretische wie praktisch-politische Konsequenzen ergeben. Die Prozeßhaftigkeit von Gesellschaft und Demokratie sowie ein Politikansatz, der sich nicht ausschließlich auf die institutionell-strukturelle Ebene von Gesellschaft bezieht - auf diese auch, jedoch explizit vom Individuum als elementarer politischer Kategorie ausgeht und alle gesellschaftlichen Lebensbereiche umfaßt - stehen in kausalem Zusammenhang mit dem Einbezug von Sozialethik in die politische Theorie und Praxis.
Soziale Ethik stellt sich dar als eine gesellschaftliche Dimension bzw. als politischer Komplex, der in der politischen Theorie - besonders in sozialistischen Theorien zur Transformation der Gesellschaft - häufig unterbelichtet erscheint bzw. dessen Implikationen und Konsequenzen wenig Berücksichtigung finden. Die Erörterung der Frage, inwiefern die Mißachtung von Sozialethik als bedeutsamer politisch-gesellschaftlicher Kategorie möglicherweise einen wesentlichen problematischen Aspekt speziell bei revolutionären Positionen zur sozialistischen Transformation der Gesellschaft darstellt, erscheint lohnenswert. Dieses wird jedoch nur skizzenhaft zu leisten sein. Vordergründig soll die Rolle und Bedeutung von Sozialethik innerhalb der Demokratietheorie Fritz Vilmars reflektiert werden. Die Triftigkeit seines geschichtssoziologischen, prozeßhaften Demokratiebegriffs sowie seines konstruktiv-reformerischen Demokratisierungskonzepts scheint keineswegs ausschließlich, aber nicht unwesentlich in Zusammenhang mit der Anerkennung von Sozialethik als bedeutender politisch-gesellschaftlicher Dimension zu stehen. Aus diesen genannten Gründen wird in dem Essay der Komplex Sozialethik bei der Erörterung von Vilmars Demokratietheorie besondere Berücksichtigung finden, freilich ohne seinen demokratietheoretischen Ansatz als reine Moralphilosophie zu verstehen bzw. sie als solche zu interpretieren. Vielmehr geht es darum, die demokratietheoretische Position - den prozeßhaften, geschichtssoziologischen Gesellschafts- und Demokratiebegriff sowie das gesamtgesellschaftliche, reformerische Demokratisierungskonzept - theoretisch in ihrer Komplexität und Triftigkeit zu reflektieren, wobei die sozialethische Dimension von Gesellschaft, Politik und Demokratie und ihre Implikationen besonders betrachtet werden soll.
Die Intention der Arbeit insgesamt ist es, die Demokratietheorie Vilmars als konstruktive, geschichtssoziologische Philosophie bzw. als konzeptionelle Reformtheorie zu reflektieren und anhand der Frage der Bedeutung des Komplexes Sozialethik zu interpretieren.
Noch zu bemerken ist: Die Arbeit im ganzen ist durchaus im Zusammenhang zu betrachten. Die einzelnen Teile, besonders aber das Essay am Schluß erscheinen jedoch durchaus eigenständig.
Ferner ist darauf hinzuweisen, daß manche Zusammenhänge und einige der aufgeworfenen Fragen in einer solchen Arbeit nur recht anfänglich zu behandeln sind. Manches bleibt vorläufig. In Anerkennung ihrer unvermeidbaren Lückenhaftigkeit ist der Gegenstand bzw. das Anliegen der Arbeit auf die Formel zu bringen:
Es ist der Versuch der Reflektion, Erörterung, Diskussion, d.h. der kritischen Würdigung der Demokratietheorie Fritz Vilmars mit einem Schwerpunkt auf der Bedeutung von Sozialethik und ihrer Implikationen als oft vergessener Dimension von Politik.
II. Intensivinterview mit Fritz Vilmar - Teil1
im Rahmen der Sitzung des PK „Wissenschaft und Demokratie am OSI
an ausgewählten Fällen (werkbiographisch-institutionelle Methode)“ vom 1.7.1997.
Leider gingen die ersten 3-4 min. des Interviews verloren, da das Diktiergerät aus
unbekanntem Grunde nicht mitlief.
Fritz Vilmar berichtete von seiner Kindheit und Jugendzeit.
Jahrgang 1929, wuchs er in der Nähe von Kassel bei Pflegeeltern auf - seine Eltern
waren 1937 beide kurz hintereinander verstorben.
Er beschreibt das Milieu als bürgerlich-deutschnational; der Nationalsozialismus wurde
begrüßt, ohne selbst sonderlich aktiv zu sein.
Fritz Vilmar selbst war nicht Soldat, da der Einberufungsbefehl kurz vor Kriegsende
zu spät kam.
Als zwei Initialzündungen für seine Politisierung beschreibt er den Zusammenbruch des
Naziregimes sowie das Aufkommen der Atombombe, wodurch er die Absurdität des Krieges in einer neuen Qualität begriff.
Hier läßt sich ein Zusammenhang herstellen: Das Erleben des Krieges als Kind bzw.
Jugendlicher - wenn auch nicht an der Front - sowie das Begreifen des generell
verbrecherischen Charakters von Krieg als wichtigste Aspekte der eigenen Politisierung
wurden zu Grundantrieben für die spätere Beschäftigung mit Friedensforschung.
Er studierte dann Theologie und Rechtswissenschaften, beides ohne die Studien anzuschließen.
Vilmar bezeichnet die Wahl dieser Studienfächer als Fehlgriffe.
Schließlich begann er am Institut von Horkheimer und Adorno in Frankfurt - welches gerade im Aufbau begriffen war - Soziologie zu studieren, womit er sein Metier gefunden hatte.
Zweimal begann er Doktorarbeiten, die er jedoch beide nie fertigstellte.
An dieser Stelle beginnt die Aufzeichnung des Interviews.
(Da ich leider von einigen KursteilnehmerInnen die Nachnamen nicht herausbekommen habe, sind diese im Folgenden - ganz herrschaftsunkritisch - nur bei den Professoren angegeben.)
Fritz Vilmar: Dies (die beiden unvollendeten Doktorarbeiten, S.G.) sind zwei Ruinen, die bei mir in Schubladen liegen. Ich hatte damals kein Geld mehr, die Promotionsschriften fertigzustellen, da meine Waisenrente, die ich bis dahin bekam, auslief, so daß ich arbeiten respektive Geld verdienen mußte.
Ich habe dann von 1959-70 freiberuflich in der Erwachsenenbildung gearbeitet - an der Volkshochschule, an evangelischen Akademien und vor allem bei der IG Metall. Dort bin ich - ein bißchen wie die Jungfrau zum Kind - zur Friedensforschung gekommen: Der damalige Leiter der Abteilung für Bildung Hans Matthöfer bat mich, eine Studie zu machen, über rüstungswirtschaftliche Interessen und Möglichkeiten, Rüstungswirtschaft und Friedenswirtschaft zu konvertieren.
Daraus wurde eine größere Studie, die als Arbeitsheft der IG Metall zu umfangreich war. Statt dessen erschien sie als Buch bei der europäischen Verlagsanstalt. Deren Verleger meinte, es sei eine sehr gute Arbeit, die aber kein Mensch lesen würde, dennoch wolle er sie mal veröffentlichen. Das wurde dann der einzige Bestseller, den ich je geschrieben habe - es gab sieben Auflagen von dem Buch. Ich wurde dadurch sozusagen zum Kriegsgewinnler des Vietnamkrieges.
Der Text war 1965 erschienen - ab 1966 wurden die Studenten rebellisch und begannen, aufmerksam zu werden, sich gleichsam zu interessieren für das Kriegs- und Rüstungswesen in den USA - aber nicht nur dort. Daher gehörte das Buch zwischen 1966 und 1970 zur Grundlektüre in der linken Studentenschaft. Es hieß übrigens „Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus“[1].
Theodor Ebert: Das hört man ja gern - daß das der Spätkapitalismus war. (lacht)
Fritz Vilmar: Ja, das habe ich später dann auch gesagt. Aber kein geringerer als Habermas hat diesen Begriff gebraucht - dadurch fühlte ich mich einigermaßen befugt, das auch zu tun. Allerdings hatte ich auch die Auffassung, daß der Kapitalismus nicht mehr lange würde bestehen können - solange können Leichen überleben.
Inzwischen verfestigte sich die Tätigkeit bei der IG Metall. Die letzten Jahre (vor 1970, S.G.) war ich dort dann auch festangestellt - vorher hatte ich nur Kettenarbeitsverträge bekommen, wegen derer die Gewerkschaft jeden anderen Arbeitgeber vor das Arbeitsgericht zerren würde; bei der IG Metall ist es natürlich etwas besonderes, da konnte man das sieben Jahre lang mit mir machen. Dennoch trennte ich mich dann drei Jahre später schon von der IG Metall, was damals recht tollkühn war, da man seinerzeit als Linker außer der IG Metall nicht sehr viele berufliche Alternativen hatte.
Der Konflikt, der zur Trennung von der IG Metall führte, bestand darin, daß der Vorstand unter dem Druck der mächtigen Betriebsräte damals nicht gestattete, das Konzept der Mitbestimmung am Arbeitsplatz ernsthaft zu diskutieren - es wurde mir als Angestelltem regelrecht verboten, darüber in den gewerkschaftlichen Monatsheften zu veröffentlichen. Ich habe dies dann trotzdem nicht unterlassen, was in der IG Metall zu wütenden Protesten führte. Ein Vorstandsmitglied bemerkte dazu in einer Vorstandssitzung, er sei zwar auch der Meinung, daß zu diesem Thema nicht veröffentlicht werden solle, wundere sich aber, warum ausgerechnet ich nun ein Verbot auferlegt bekommen hätte, da er bisher nie den Eindruck gehabt habe, daß sich irgend jemand in der Gewerkschaft darum scherte, was die Vorstände beschlössen, sondern vielmehr jeder das veröffentlichte, was er wollte. Das war schon ein recht brisanter Fall.
Ich hätte mich also in der IG Metall unterordnen müssen, zog es dann aber vor, das Angebot eines Forschungsauftrags in der Karl Backhaus-Stiftung anzunehmen, obwohl der auf nur zwei Jahre begrenzt war. Es war ein bißchen ein Sprung ins kalte Wasser, aber manchmal haben solche Sprünge ja auch einen guten Sinn. Das war 1970.
Ich stieg also aus der IG Metall aus und nahm diesen Honorarauftrag von der Carl Backhaus-Stiftung zum Thema ‘Demokratie in der Arbeitswelt’ an. Hierfür begann ich zunächst mit einer sehr breit angelegten Studie zum Phänomen der Demokratisierung generell. Wie sie wissen, war ja seit 1966 die antiautoritäre Bewegung bzw. die Demokratisierungsbewegung im Gange und schlug hohe Wellen. In dieser Zeit konnte man täglich von immer neuen Demokratisierungsentwürfen lesen - bei den städtischen Bühnen, in Kindergärten, in Gefängnissen, selbst bei der Bundeswehr gab es neue Ansätze, den mündigen Bürger zu kreieren.
Es bat mich dann eine Klasse aus einer Frankfurter Oberschule um Hilfe bei der Erstellung eines Mitbestimmungsgesetzes für Studenten. Daran habe ich mich beteiligt, und das Ergebnis ist dann in den ‘Blättern für deutsche und internationale Politik’ erschienen.
Dieses Projekt führte bei mir zu der Erkenntnis, daß unsere gewerkschaftlichen Mitbestimmungsforderungen nur als Teil einer großen Welle von Forderungen nach Abbau von Herrschaft - einseitiger Herrschaftsausübung und gegen autoritäre Machtanmaßung zu begreifen waren. Das führte letztendlich zu der Studie ‘Strategien der Demokratisierung’[2]. Diese zwei Bände konnte ich dann ende ‘72, anfang ‘73 vorlegen, worüber die Carl Backhaus-Stiftung nicht allzu glücklich war, da die etwas zur Humanisierung der Arbeitswelt in Auftrag gegeben und erwartet hatte. Ich konnte mich jedoch rechtfertigen mit dem Argument, man müsse das sehr sorgfältig fundieren - dies kennt man ja aus Diplomarbeiten - vor lauter Fundierung kommt man nicht zum Eigentlichen. Nichtsdestotrotz wurden die ‘Strategien’[3] neben einer Arbeit von Alemann[4] zu einer Art Grundbuch für diejenigen, die über den Tellerrand des Bestehenden hinaus, sprich: über den Rahmen der parlamentarischen Demokratie hinaus, Demokratie als ein gesellschaftliches Prinzip, und nicht nur als ein politisch-staatliches ansahen.
Sie haben ja den Sonderdruck ‘Bilanz nach einem Vierteljahrhundert’[5] bekommen, so daß ich hier jetzt nicht im einzelnen auf den Werdegang des ganzen Demokratisierungskomplexes eingehe, bzw. ich nehme an, wir kommen später darauf. Ein linker Zyniker meinte damals, als das Buch heraus kam, ich hätte einen Abgesang geschrieben ...
Albrecht: Dieser ‘linke Zyniker’ taucht ja in dem Text[6] bereits auf, wer war denn das?
Fritz Vilmar: Das weiß ich nicht mehr. Diese Behauptung jedenfalls, ich hätte einen Nachruf geschrieben, war richtig und falsch. Die große Zeit des Demokratisierungsaufbruchs endete. Dennoch meine ich, es gab auch die 70er Jahre hindurch noch zahlreiche Versuche in diese Richtung. Auch in den 80er Jahren griffen Leute - während des Studentenaufstands am OSI - plötzlich wieder zu diesen Demokratisierungskonzepten und -modellen und auch nach der Theorie; wahrscheinlich ist das Buch einerseits zu spät andererseits wieder zu früh gekommen. O.k. -
Jürgen Seiffert, einer der großen Kämpfer gegen die Notstandsgesetze und heute langjähriger Vorstand der Humanistischen Union, ermunterte oder vielmehr überredete mich dann, das Buch als Grundlage für eine Promotion zu nehmen. Nach zwei gescheiterten Versuchen promovierte ich also doch noch mit jener Studie, die eigentlich gar keine Dissertation werden sollte. Damit begann für mich eine Art Glückssträhne.
1974 konnte ich das Promotionsverfahren dann abschließen und den Doktorhut erwerben, auch wenn es deswegen einen kleinen Skandal an der TU Hannover gab, weil noch nie vorher etwas schon Gedrucktes als Dissertation angenommen worden war - heute wäre es wahrscheinlich wieder unmöglich. Schon kurz darauf ereilte mich die Bitte, mich hier am OSI auf den Stuhl von Flechtheim zu bewerben. Gegen den Widerstand einiger, die schon bemerkt hatten, daß ich ein Scheiß-Liberaler und Sozialdemokrat war und den inzwischen am OSI üblichen Seminarmarxismus nicht mittrug, bekam ich dennoch die Stelle hier am OSI. Das war für mich eine neue Plattform, und ich habe ja dann von 1975 bis 1995, zwanzig Jahre lang hier Politik gelehrt.
Von dieser Zeit ist vieles und nichts zu sagen; vieles insofern, als ich mich dann noch mal aktiviert habe - mit einem der sozialdemokratischen Linken habe ich die ‘Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus’ erdacht und dann auch mitgegründet, um eine linke - eine reformsozialistische Theorie anstelle dieses, nach meiner Auffassung, völlig wirklichkeitsfremden Marxismus zu befördern.
Jener Marxismus - der zwischenzeitlich ja in Berlin und auch anderswo Gang und Gebe war - war eben nicht ein Marxismus, der mit Reformpolitik vermittelt wurde, wie es die österreichische marxistische Schule versuchte, sondern alles, was mit ‘Reform’ zu tun hatte, wurde im Grunde zum großen Feindbild stilisiert. Sozialdemokraten waren am OSI jahrelang weit mehr gehaßt als etwa Konservative, weil sie eben ‘die Revolution verrieten’.
Wir hatten dann irgendwann 200 bis 300 Mitglieder, so daß es doch vielleicht für einige Leute eine gewisse Orientierungshilfe darstellte, aber eigentlich war das wohl eher eine gutgemeinte, denn eine wirklich wirksame Vereinigung.
Auf theoretischer Ebene habe ich mich in erster Linie zu Wirtschaftsdemokratie und zu Arbeitshumanisierung geäußert, und in den 80er Jahren eine mehrjährige Studie gemacht zum Komplex Selbsthilfe, soziale Selbsthilfe, aus dem Grunde, daß es offenbar wurde, daß sich grundlegendere gesellschaftliche Veränderungen auf staatlichem Wege respektive über Wahlen auf längere Sicht nicht abzeichneten. Erstaunlicherweise gab es aber trotz Schmidt und trotz Kohl eine nicht unwesentliche Minderheit in der westdeutschen Gesellschaft, die Demokratisierung von der Basis her praktizierten, sich einmischen wollten. Ein Anfang waren Bürgerinitiativen, in den 70er Jahren entstanden dann die neuen sozialen Bewegungen. Der konkreteste, der solideste, der - wie man heute sagen würde - nachhaltigste Teil dieser neuen sozialen Bewegungen war das, was wir dann die Selbsthilfebewegung nannten.
Es war der Versuch von Leuten, ohne auf den Staat, auf die Gewerkschaften, auf die Kirche, auf die Parteien zu warten, selbst bestimmte gesellschaftliche Strukturen vor Ort zu schaffen. Es entstanden Frauenzentren, Jugendzentren, Dritte-Welt-Zentren, genossenschaftliche Unternehmungen, jede Menge Kulturzentren ...
Dieses war und ist es z.T. auch noch heute, eine der bedeutendsten - von der Politologie allerdings kaum wahrgenommenen - neuen Formen des politischen Engagements - nämlich die Eigeninitiative, sprich: Selbsthilfe, wenn der Weg über die Parteien und Gewerkschaften zu mühsam erscheint.
In den letzten Jahren beschäftigte ich mich gesondert mit sozusagen dem härtesten Kern dieser Selbsthilfebewegung, nämlich den kommunitären Gemeinschaften. Früher hätte man von Kommunen gesprochen, aber der Begriff ‘Kommune’ ist ein wenig in Mißkredit geraten oder zweifelhaft geworden, deswegen schlägt man heute am ehesten vor, von kommunitären Gemeinschaften zu sprechen. Es geht jedenfalls dabei um die Leute, die Selbsthilfe nicht nur in partiellen Aktivitäten betreiben, indem sie z.B. zwei Tage in der Woche an einem Abenteuerspielplatz mitbauen oder ein Frauenzentrum mitaufbauen, sondern, die die Idee der Selbsthilfe so praktizieren, daß sie mit Haut und Haaren in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten leben und arbeiten.
Die Konzentration auf einen Weg der gesellschaftlichen Erneuerung außerhalb von Staat, von Revolution, von Wahlerfolgen wurde mir in erster Linie durch die Kibbuz-Bewegung in Israel nahegelegt, der ich seit anfang/mitte der 70er Jahre nahestand und mit der ich mich in den 80er Jahren sehr intensiv beschäftigte. Ich habe dann auch 1986/87 in einem israelischen Kibbuz als Spätvoluntär gearbeitet - dort Kartoffeln geschält und Plastiktüten geklebt, um mal den Kibbuz-Alltag kennenzulernen. Einige von ihnen werden wissen, daß ich auch eine sehr, sehr schöne Sache herausgegeben habe - ich kann das so Sagen, weil es nicht von mir stammt. Kurz bevor wir in eines der schönsten Kibbuze in Israel, nämlich Hasorea, einsiedelten, hatte dort Walter B. Godenschweger - witzigerweise ein Ex-OSIaner - eine riesige Befragung gemacht, die ich dann mit ihm zusammen ausgewertet und herausgebracht habe.[7] Einige Leute behaupten, dies lese sich wie ein Kriminalroman, wenn man etwas erfahren wolle über den Weg, den Leute seit mitte der 30er Jahre gegangen sind, die in den Kibbuz einsiedelten und somit dem Holocaust entgingen; teilweise holten sie ihre Eltern noch nach, welche häufig anfangs sehr wütend waren, daß diese zumeist jungen Akademiker nun plötzlich Bauern werden wollten. Einige der Eltern dieser Kibbuz-Siedler, die Hitler ‘nicht so ernst nahmen’, sind ermordet worden, aber andere konnten auf diesem Wege nach Israel gerettet werden.
In jedem Fall ist für mich - nach meiner Erfahrung im Kibbuz und der Beschäftigung mit der Kibbuz-Bewegung -
dieses eines der eindrücklichsten und nachhaltig wirksamsten Experimente eines sozialistischen, kommunistischen, kommunitären Lebens - wie immer sie das nennen wollen.
Sie wissen ja, daß ich seit 1990 selbst so etwas probiere, und wir seit 1993 in der Nähe von Straußberg etwas ähnliches wie ein Kibbuz versuchen, aufzubauen. Dabei gibt es große Schwierigkeiten, trotzdem, daß es ganz tolle Leute sind, die sich dort engagieren - wirklich eine erstaunliche Auswahl an jungen, mittelalten und alten Menschen, insgesamt 30, 20 Erwachsene und 10 Kinder. Aber es ist eben nicht ganz einfach, so etwas aufzubauen, wenn man kein Geld hat. Wir haben zwar inzwischen ca. eine Million DM investiert, davon sind aber 600 000 DM geliehen, und das ist schon eine Art Schallgrenze.
Ich denke, vielmehr zu erzählen wäre jetzt nicht angebracht - sie hatten das Stichwort Friedensforschung bzw. Friedensarbeit genannt. -
(Ich hatte zu Beginn u.a. gefragt, inwieweit ein direkter Zusammenhang bestünde, zwischen der Erfahrung des Untergangs des Naziregimes sowie dem Aufkommen der Atombombe als den beiden wichtigsten Initialzündungen zur eigenen Politisierung und der späteren Beschäftigung mit Friedensforschung, und, inwieweit hierin ein roter Faden auszumachen sei, der sich von der Phase der Politisierung durch Fritz Vilmars politische und politologische Biographie zieht, S.G.)
Dazu habe ich mich gelegentlich noch mal geäußert. Es gab - wie erwähnt - den Schwerpunkt der Rüstungswirtschaftskritik. Als dann in den späten 60er Jahren die Friedensforschung en vogue war, bekam ich einen Schrecken, wie viel Psychologisierung und idealistische Ansätze in diesem Bereich auftauchten. Daraufhin habe ich ein Konzept zur kritischen Friedensforschung entworfen.[8]
Kritische Friedensforschung wurde ein Stichwort, was Senghaas dann aufgegriffen hat; dabei geht es um eine Friedensforschung, die basiert auf dem, was Krippendorff später sehr stark ausgeführt hat, nämlich Herrschaftskritik. D.h., Basis ist die Grundannahme, daß Krieg wesentlich daraus resultiert, daß die Staatsmacht als eine Macht von herrschenden Gruppen, Militär als exzellentes Mittel zur Herrschaftssicherung und vor allem Herrschaftsausdehnung nach innen und nach außen gebraucht - also, Militär als exzellentes Herrschaftsmittel. Meine Grundthese, die ich dann etwas exemplifiziert habe, war, daß eine Friedensforschung, die jene Herrschaftsinteressen nicht mit berücksichtigt, zu kurz greift. Dieses war also ein zweiter Schwerpunkt.
Es gab dann auch noch einen dritten - wobei ich mich allerdings zwischendurch immer wieder ausgeklinkt habe aus dem Bereich Friedensforschung, was unterschiedliche Gründe hatte. Ein Grund ist, daß ich ein wenig sprunghaft bin - wenn ich etwas eine Zeitlang betrieben habe und dann merke, daß da nicht mehr sehr viel Feuer drin ist, daß andere Sachen die Menschen interessieren, dann mache ich lieber erst einmal wieder etwas anderes - im Gegensatz zu Theo Ebert, der über Jahre hart an der Sache bleibt, was ich manchmal bewundere, manchmal bedaure ich es auch ein bißchen, daß Du nicht mal ganz etwas anderes machst... (lacht).
Ich bin da also eher so eine Art Vorbotenmensch - oder Avantgarde, ohne damit irgendeine Art Wertung zu verbinden - d.h. ich glaube gelegentlich, das Gras wachsen zu hören, und stürze mich dann auf ein neues Thema. So war das z.B. bei dem Bereich Selbsthilfebewegung.
Der dritte Schwerpunkt im Bereich Friedensforschung war dann in Zusammenhang mit der Friedensbewegung die Beschäftigung mit der Theorie und Praxis der nicht-offensiven Verteidigung. Dieses entstand aus dem Eindruck, daß man von den Atomwaffen in der Blockonfrontation nicht wegkommen kann, indem man schlicht die sofortige Abschaffung der Atomwaffen oder auch generell aller Waffen fordert, sondern, daß es da gewisser Zwischenschritte bedarf. -Theo Ebert hat dann ja seinerzeit auch Konzepte gemacht, die jene Zwischenschritte, die Vermittlung mit einbezogen...
Eine Sache muß ich noch rasch einfügen, dann will ich aber auch wirklich schließen:
Es passierte nämlich etwas Lustiges. Der Mechtersheimer, der ja immer eine leichte Tendenz zu Stamokap und Ostmächten hatte - was übrigens auch einigen OSIanern so ging, die glaubten, man müsse sich irgendwo anlehnen, also die Vorstellung, da die Welt in zwei Machthälften geteilt ist, muß man sich, so man nicht dem Kapitalismus verfallen will, wenigstens mit dem Rücken an die Sowjetunion anlehnen, was ich immer für einen geradezu grausamen Irrtum gehalten habe - Mechtersheimer jedenfalls meinte, man solle über defensive Verteidigung nichts veröffentlichen - das könne man der Sowjetunion nicht zumuten. Deren strategische Grunddoktrin sei eine offensive Verteidigung, und daher könne man jetzt nicht einfach ein Konzept der defensiven Verteidigung in die Diskussion bringen. Das war nicht nur feige von ihm und offenbarte seine Abhängigkeit, sondern es war erstaunlicherweise auch der größte Unsinn, bzw. es zeigte seinen mangelnden politischen Instinkt, denn gerade Gorbatschow war dann derjenige, der ab 1986 mit dem Begriff der ‘hinlänglichen Verteidigung’ die sowjetische Doktrin einer offensiven Verteidigung - einer Heeres- bzw. Militärstruktur, die stark auf Offensive ausgerichtet ist - ad acta legte. Diese neue Verteidigungspolitik erklärt sich sicherlich einerseits daraus, daß Gorbatschow erkannt hatte, daß die Sowjetunion vor dem ökonomischen Bankrott stand, andererseits aber wohl auch aus der Einsicht, daß diese Lehre von der offensiven Verteidigung aus der Spirale des Wettrüstens nicht herausführen könnte.
Es waren also nicht etwa kluge Leute im Westen, sondern Gorbatschow selbst war derjenige, der - schneller als Herr Mechtersheimer denken konnte - diese Idee der defensiven Verteidigung aufgriff.
Dies also noch - weil sie danach gefragt hatten - zu den friedenswissenschaftlichen Aktivitäten.
Dazu gehört auch, daß ich seit mitte der 80er Jahre bei dem Arbeitskreis ‘Atomwaffenfreies Europa’, jetzt: ‘Arbeitskreis für Friedenspolitik’ etwas mitgewirkt habe ...
Ich will jetzt erst einmal Schluß machen - ich denke, sonst wird es zuviel - und ihnen Gelegenheit geben, einzuhaken.
Stefan: Ich wollte gern noch einmal auf einen Aspekt zurückkommen, den sie eben auch schon kurz gestreift haben, nämlich die Frage:
Wie haben sie in den verschiedenen Lebensabschnitten jeweils den zeitgeschichtlichen Hintergrund wahrgenommen? In erster Linie die Adenauer-Ära sowie dann speziell die APO-Zeit - wie haben sie beides empfunden und wie haben diese beiden Phasen sie sozusagen politisch geprägt und verändert?
Während der APO-Zeit waren Sie ja bei der IG Metall - wie haben sie da eventuell ihre eigene Rolle innerhalb dieser Bewegung verstanden?
Fritz Vilmar: Die Adenauer-Ära habe ich an der eigenen Haut zu spüren bekommen.
Ich war damals - 1951/52/53 - Mitglied im SDS, Sozialistischer deutscher Studentenbund, in Frankfurt, der dort seinerzeit fünfzehn Mitglieder hatte - das war eine große Gemeinde. Die Treffen fanden immer in einer winzigen Bude statt, deren Ofen meistens total verräuchert war, inmitten der Trümmer der Frankfurter Altstadt - Frankfurt war noch weitgehend zerstört. Wir haben dann mal eine Flugblatt-Aktion gemacht, als Adenauer in Frankfurt irgendeine tolle ... - Aufführung hätte ich fast gesagt - einen Auftritt hatte. Plötzlich stürmte der RCDS auf uns zu und entriß uns diese Flugblätter - Polizisten kamen hinterher und führten uns in eine Wanne ab ... - das war also tiefste Adenauer-Zeit.
Es war lange Jahre ein doch recht resignatives Gefühl in einer konservativen Republik zu leben. Ich habe in einem IG Metall-Heft mal den Satz geschrieben: ’Die Oppositionspartei sagt dazu Folgendes: ...’, worauf Hans Matthöfer mich fragte, ob ich denn der Auffassung sei, daß die SPD für alle Zeiten die Oppositionspartei sein werde. Ja - ich war dieser Auffassung. 1965 gab es keine Anzeichen dafür, daß es mal eine Wende geben könnte.
Die kam dann doch - ; meine Sichtweise bzw. meine Einschätzung sowie diese resignative Grundstimmung damals war wohl auch darin begründet, daß es mit einer undogmatisch, kritisch-marxistischen Auffassung von Soziologie, wie ich sie hatte, zu der Zeit einfach nicht denkbar war, daß man damit im akademischen Bereich irgendwo ankommen könnte, weswegen ich mich auch gar nicht mehr sonderlich um eine akademische Laufbahn bemühte. Der einzige Vorzeige-Marxist in der ganzen westdeutschen akademischen Landschaft, den es gab, war Wolfgang Abendrodt - ich wüßte nicht, wen man sonst noch nennen könnte.
Dann kam aber doch diese wirklich große Wende, was mich auch dazu veranlaßte, die Details bzw. die Nuancen parteipolitischer Veränderung genau zu untersuchen und sehr ernst zu nehmen. Ich war damals sehr in Opposition z.B. zu Wolf-Dieter Narr, der ein Buch schrieb über den ‘Weg zur Einheitspartei’[9], worin er die Meinung vertrat - die am OSI auch so eine Art Grundmeinung war - zwischen SPD und CDU sei eigentlich kein Unterschied mehr bzw. würde in Zukunft immer weniger Unterschied erkennbar sein.
Agnoli schrieb ein Buch - ‘Die Transformation der Demokratie’[10] - in dem er behauptete, im Parlamentarismus sei gar keine Veränderung mehr möglich. Gerade als es veröffentlicht wurde, kam der Regierungswechsel.
Natürlich hat diese sozial-liberale Wende keine konservativen Bäume ausgerissen, aber sie hat doch vieles in Gang gesetzt. Das hatte auch für das OSI Konsequenzen, insofern, daß die Mannschaft, die dann viele Jahre hier am OSI bestimmend war, ohne die neue Reformtendenz, die durch die sozial-liberale Regierung entstand, gar nicht hierher berufen worden wäre - es gab in vielen Bereichen einen neuen Wind.
Die ‘Strategien der Demokratisierung’[11] sind sozusagen eine Chronik, eine innere - eine theoretische Chronik der Früchte dieser Wende, welche sich natürlich nicht nur im parlamentarischen Bereich vollzog. Das Ganze ging ja aus von der amerikanischen Campus-Bewegung gegen Vietnam, es entwickelte sich die antiautoritäre Bewegung, und das wurde dann zu jenem großen Aufbruch ...
Stefan: Darf ich da kurz einhaken?
Fritz Vilmar: Ja bitte, immer.
Stefan: Ist es also zutreffend, daß die Adenauer-Ära und auch die persönliche Erfahrung des Repressiven in der Adenauer-Zeit eine Art Gegenreaktion mindestens mit-hervorgerufen hat, nämlich zu sagen, es muß Demokratisierung einsetzen? Und als dann die Apo kam ...
Fritz Vilmar: Nee, das kann man so nicht sagen.
In der Adenauer-Ära schien die Republik so betonfest und bewegte sich ausschließlich in so dürftigen konservativen Bahnen, daß man als Linker froh sein konnte, wenn man ein paar Nischen fand wie z.B. die IG Metall, wie z.B. die Jusos in der SPD. Von dieser Situation aus hat den Demokratisierungsschub, der dann kam, niemand vorausgesehen, die Soziologen nicht und die Politologen erst recht nicht.
Das ist ja bei vielen großen Dingen so, weder hat jemand jene Wende ende der 60er Jahre vorausgesehen noch die ganzen neuen sozialen Bewegungen, es hat niemand geahnt, daß es irgendwann doch eine Partei geben würde, die den Durchbruch durch das Zweieinviertel-Parteienkartell schafft. Ganz zu schweigen davon, daß niemand von den Wissenschaftlern die Wende von 1989 vorausgesehen hat - unser Kollege Gerd Joachim Glaessner hat noch - als die Wende schon freudig im Gang war - ein Buch über die beiden deutschen Staaten veröffentlicht.[12] Wie das so ist - wer schreibt, der bleibt. Wenn etwas schon geschrieben ist, dann muß es auch veröffentlicht werden, auch wenn es eigentlich schon Makulatur ist, wobei es natürlich immer interessant ist, Rechenschaft zu geben.
Zurück zur Apo - da war also wenig Vorausschau, sondern das ereignete sich, man reagierte darauf. So habe ich auch reagiert mit den ‘Strategien’[13] - ich habe es mal eine Minienzyklopädie der gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungskonzepte genannt, weil ich denke, das in dem zweiten Band tatsächlich alle wichtigen gesellschaftlichen Subsysteme, in denen es Demokratisierungsversuche gab, dokumentiert sind. Das Ganze war also eher eine Art Chronistenhandeln - in Frankfurt gibt es einen Stadtschreiber, entsprechend war ich sozusagen der Demokratieschreiber der Jahre 1970 bis 1972.
Ich habe dann allerdings natürlich versucht, den ganzen Komplex Demokratisierung durchzureflektieren und zu untersuchen, wo sind die Schwierigkeiten - wo liegen die Haken und Ösen des Demokratisierungsprozesses. Vor allem aber habe ich gewarnt vor der Illusion, man könne alles in Gremien und in Gesetzen festlegen und regeln - vielleicht habe ich nicht genügend gewarnt, aber jedenfalls steht es drin.
Stefan: Könnten Sie noch ein paar Sätze sagen zu ihrem Verhältnis zum OSI - wie genau kamen sie ans OSI...
Fritz Vilmar:... ich sage ja, wie die Jungfrau zum Kind. Ich habe in meinem Leben das Glück gehabt, mich nie um irgend etwas kümmern zu müssen, sondern die Sachen kamen auf mich zu - also die wichtigen Sachen - um einiges habe ich mich sehr gekümmert, das ging dann meistens schief - aber mit den wichtigen Sachen in meinem Leben hatte ich meistens Glück. So kam auch plötzlich die für mich völlig überraschende Frage, ob ich mich hier bewerben wolle. Ich kam dann nach Berlin, was für mich existentiell ein großer Sprung nach vorn war. Wenn man irgendwann 45 Jahre alt ist und noch keinen rechten Boden unter den Füßen hat bzw. sich als freiberuflicher wissenschaftlicher Publizist durchschlägt - das ist kein Zuckerschlecken. Daher kann ich die Situation von jungen Wissenschaftlern gut nachvollziehen, die mit ähnlich prekären Perspektiven hier in die Arena eintreten.
Das OSI - zum OSI habe ich eine sehr zwiespältige Beziehung.
Das ungeheuer Positive war der durchaus freiheitlich-kritische Geist, der hier herrschte. Es gab zwar Lager, es gab Dogmatismen, es gab auch Unduldsamkeit - das alles habe ich auch recht stark zu spüren bekommen, weil ich in die verschiedenen Schubladen eben nicht reinpaßte - aber die Möglichkeiten, die es gab und auch die Atmosphäre fand ich doch recht positiv. Zudem war Berlin eine sehr lebendige Stadt - zwar einerseits eingekreist und was die Bürger- und Stadtpolitik betraf auch sehr beschränkt, im doppelten Wortsinn - aber akademisch-wissenschaftlich passierte eine Menge. Die Universitäten erlebten das Gegenteil von dem, was sie heute erleben, nämlich immense Förderung - große Geldsummen flossen herein, was natürlich Möglichkeiten eröffnete. Außerdem hat mir die Arbeit mit den Studenten von Anfang an großen Spaß gemacht. Ich hatte ja schon vorher mit Studenten gearbeitet - da war Berlin nicht die erste Station. 1970 habe ich die Gesamthochschule Kassel mitgegründet, dort im sozialwissenschaftlichen Bereich gearbeitet. Jedoch konnte ich mangels akademischem Titel dort nicht installiert werden, was ansonsten wohl passiert wäre. Hätte die IG Metall damals als Fürsprecher für mich fungiert, wäre ich vom damaligen Kultusminister auch ohne akademischen Titel außerplanmäßig berufen worden. In der IG Metall galt ich zu dieser Zeit jedoch als Nestbeschmutzer, weil ich die Mitbestimmung am Arbeitsplatz nicht nur in meinem Vertrag fixiert haben wollte, sondern darüber hinaus ein Büchlein veröffentlicht hatte, in dem ich die repressiven Methoden dieser ‘gröGaZ’, dieser ‘größten Gewerkschaft aller Zeiten’ thematisierte.[14]
Marion: Zwischendurch gefragt: Sind Sie verheiratet?
Fritz Vilmar: Ja, ich bin seit 1967 verheiratet. Zu der Zeit war allerdings schon längst ein Kind da. Als ich dann eine feste Anstellung hatte, konnte ich in meinem Privatleben auch endlich Ordnung schaffen. Diese Ordnung bestand allerdings nur eine Reihe von Jahren, nicht dauerhaft.
Aber zurück zum OSI. Dieser Ruf nach Berlin war also für mich persönlich schon ein Durchbruch - ich hatte eine ganz neue Basis für meine Tätigkeit. Ein für mein Empfinden außerordentlich negativer Aspekt des OSI war folgender:
Zu der Zeit beschäftigte sich ein Großteil des OSI ja noch mit Transformationstheorien - Theorien der Systemveränderung. Das war damals vorherrschend, das kann man durchaus so sagen. Vor allem die WE 2 und die WE 3 waren geprägt durch eine in jedem Fall sozialkritische, im Mittelbau aber auch ganz stark marxistisch-sozialkritische Theorie. Diese empfand ich schlichtweg als wirklichkeitsfremd. Es war ein Akademismus - zwar linker Machart, aber deshalb nicht weniger in der Luft hängend - der sehr wenig zu tun hatte mit den tatsächlichen Interessen der vielbeschworenen Arbeiterschaft, auch nicht mit den Bewegungen, die es in der Gesellschaft gab.
Ich schildere das so, um Ihnen deutlich zu machen, was es an Überinterpretationen und an falschen Interpretationen gab, in dieser hohen Zeit des Aufbruchs, der ja nicht nur ein deutscher, sondern ein gesamteuropäischer war. - Nach der amerikanischen Campus-Bewegung gab es ja nicht nur die deutsche Studentenbewegung, sondern zuerst gab es den französischen Mai als ein zentrales Ereignis.
Gewisse Bedeutung erlangte damals in Deutschland ein Buch von einem Stamokap-orientierten Juso namens Detlev Albers, der sich inzwischen wieder in gemäßigteren Bahnen bewegt und in den Schoß der Partei zurückgekehrt ist - es freut mich natürlich sehr, daß jemand, der im Unterschied zu der großen Mehrheit der Sozialdemokraten denken kann und seinen Marx mal gelesen hat, den Weg in die Institution gefunden hat. Damals aber veröffentlichte Detlev Albers ein Buch mit dem Titel ‘Massenstreiks in Westeuropa’[15], was sozusagen wie das Morgenrot der Revolution klang. Es wurde der Eindruck vermittelt, in Frankreich, Spanien u.s.w. gibt es überall große Streiks, nur Deutschland, das alte Anpasserland, hinkt noch hinterher, aber auch hier wird jetzt der große Umschwung eingeläutet, und es kommt in absehbarer Zeit zur großen, alles umstürzenden Revolution.
Ich habe dies in dem Vorwort zu den ‘Strategien der Demokratisierung’ als „Opas Revolutionsvorstellung“[16] bezeichnet und dementgegen die Auffassung vertreten, daß revolutionäre Veränderungen sich auf ganz anderem Wege vollziehen würden, nämlich in einem Prozeß gesamtgesellschaftlicher Demokratisierung. Damit war ich aber in Opposition zu der herrschenden Stimmung, daß die große Revolution nun nah sei. Diese Stimmung manifestierte sich in einem Dogmatismus, der mich seinerzeit sehr gestört hat.
Was mich heute stört, ist die Duckmäuserei - egal, wie die Situation ist, man bleibt beim business as usual. Ein besonders krasses Beispiel dafür ist der gegenwärtige Umstand, daß sich nur ganz wenige darüber aufregen, was seit 1989 die Westdeutschen mit den Ostdeutschen machen. Vor diesem Hintergrund bin ich recht froh, daß sich hier am OSI eine Gruppe von Studenten gefunden hat, die sich sehr hart und ausdauernd über mehrere Jahre mit dem Komplex Wiedervereinigung beschäftigt hat - es wurden Themen ausgearbeitet, die dann in die Arbeit ‘Kolonialisierung der DDR’[17] eingingen. Dieses Buch hatte überraschenderweise drei Auflagen, obwohl es in der akademischen Öffentlichkeit, aber auch sonst bis auf wenige rühmliche Ausnahmen totgeschwiegen wurde.
Stefan: Ich habe dann als nächstes eine Frage als Überleitung zu dem demokratietheoretischen Teil des Interviews.
Fritz Vilmar: Ja - da müssen wir langsam dringend zu kommen.
Stefan: Gab es für Sie so etwas wie ein Schlüsselerlebnis, bzw. gab es konkrete Einflüsse, die zu der Beschäftigung mit Demokratietheorie führten? Sie haben da ja schon einiges zu gesagt.
Fritz Vilmar: Ja , das waren rein praktische Gründe.
Stefan: Ist darüber hinaus ein inhaltlicher Einfluß oder Ausgangspunkt für Ihre demokratietheoretische Arbeit zu nennen?
Fritz Vilmar: Der Anlaß für die Beschäftigung mit Demokratietheorie war in der Tat rein praktisch - aber man fängt dann natürlich an, nachzudenken, macht sich schlau und liest unheimlich schwierig geschriebene Werke. (lacht)
Aber generell ist zu sagen: Ich bin immer jemand gewesen, der nur dann zur Theorie gegriffen hat, wenn irgendwo der Schuh drückte. Ich bin kein Mensch, der so etwas wie ein amor theorieae hat, sondern, wenn ich in einem bestimmten Kontext merke, daß Theorie fehlt, dann fange ich an, mich darum zu kümmern und stelle in der Beschäftigung damit unverhofft fest, daß vieles ‘nicht belichtet ist’, wie Bloch das nannte.
Es war also in keiner Weise so, daß mir eines Tages einfiel, die parlamentarische Demokratie ist unzureichend, man muß darüber hinausgehen - und als Konsequenz aus dieser Erkenntnis heraus begann, mir einen Demokratisierungsentwurf auszudenken. Es verlief andersherum: Die Wirklichkeit hat mich belehrt.
Seitdem ist das Thema für mich natürlich außerordentlich wichtig geblieben. Ich bin heute involviert in eine meines Erachtens sehr wichtige Gruppierung ‘Mehr Demokratie’ in München. - Übrigens sollten sie das vielleicht kennen, wenn sie hier demokratietheoretisch arbeiten. Für Interessierte habe ich eine kurze Informationsschrift über diese Gruppe - sie hat ihren Schwerpunkt bei Volksbegehren bzw. Volksentscheiden und versucht, diese sozusagen populärer zu machen und Initiativen zu entwickeln - also die Leute aufzufordern, die in den Ländern vorhandenen Möglichkeiten für Volksbegehren und Volksentscheide verstärkt zu nutzen.
Diese plebiszitären Elemente sind natürlich nicht die einzige Form von Demokratisierung, aber ich halte dies für eine sehr wichtige, obwohl dabei die Fußangeln nicht zu verkennen sind. - Hier wäre dann z.B. für die weitere Argumentation theoretische Arbeit gefragt, aber bei diesen Dingen ist mir z.B. hier am OSI jemand wie Otmar Jung haushoch überlegen, weil der in diesem Bereich seit Jahren Tiefenbohrung betreibt.
Theodor Ebert: Der hat darüber habilitiert ...
Fritz Vilmar: Ja, aber er hat darüber hinaus mehrere Bücher dazu veröffentlicht.[18]
Stefan: Dann zu Ihrem Demokratisierungskonzept und Ihren demokratietheoretischen Ansätzen.
Ich wollte dazu noch kurz vorwegschicken - ich habe die folgenden Fragen meist so formuliert, daß ich in Teilen einen Gegenstandpunkt zu dem Ihren oder Kritik an Ihren Ansätzen nenne, weil ich mir dachte, dies könnte recht fruchtbar für ein solches Gespräch sein.
Fritz Vilmar: Schön - ja, das ist gut. Ich bin immer am besten, wenn mich jemand reizt.
Stefan: Ich würde zunächst gerne eine sehr grundsätzliche Frage stellen, nämlich die, ob die ökonomischen Verhältnisse die Gesellschaft prägen oder umgekehrt.
Ihr Konzept der Demokratisierung stellt sich dar als eine multifrontale Strategie, die auf eine emanzipatorische Praxis in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen setzt. Dabei sehen Sie die Sozialisierung der Produktionsmittel als Teil - nicht aber als Bedingung für einen Prozeß in demokratisch-sozialistische Richtung.
Dieses scheint mir ein sehr grundsätzlicher Punkt zu sein - es geht dabei um die ja sehr alte, grundlegende Frage:
Ist es möglich, demokratischen Sozialismus, der, denke ich, notwendig auch ethisch zu verstehen ist, in ein kapitalistisches Wirtschaftssystem quasi von unten hineinwachsen zu lassen?
Dementgegen stünde die Argumentation, daß der Kapitalismus die Gesellschaft politisch, aber eben auch ethisch prägt, nämlich in Richtung Individualisierung und Entsolidarisierung. Dieses aber steht Ihrem Demokratisierungskonzept im Grunde diametral entgegen, so daß es fraglich ist, ob ein Konzept der gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung greift, wenn es denn richtig ist, daß ein kapitalistisches Wirtschaftssystem einen grundsätzlichen ethischen Impetus des ausufernden Individualismus und der mangelnden Solidarität produziert.
Auf die Formel gebracht lautet also die Grundfrage:
Kann gesamtgesellschaftliche Demokratisierung eine kapitalistische Wirtschaftsordnung samt ihrer ethischen und politischen Implikationen beseitigen - oder: Ist die Abschaffung dieser Wirtschaftsordnung die Vorbedingung für einen tiefgreifenden Prozeß in demokratische Richtung?
Noch einmal anders formuliert - konkret gefragt:
Wie problematisch sind für Sie die ökonomischen Verhältnisse, sprich: das kapitalistische Wirtschaftssystem - auch als politische Grundlage der Gesellschaft, von der aus Demokratisierungskonzepte ins Leere laufen könnten?
Fritz Vilmar: Ja - wie Sie ja selber schon bemerkt haben, ist dies nicht eine Frage, sondern es ist ein Strauß von Fragen daraus geworden.
Auf die lapidare Frage vom Anfang würde ich gerne zunächst ebenso lapidar antworten:
Wenn die Wirtschaft die Politik nicht nur begrenzt, sondern total beherrschen würde - wenn nicht in einer Demokratie die Politik doch die stärkere Macht wäre, dann hätte es gar keinen Zweck, Politologie zu studieren. Ich denke, es ist erwiesen, daß die Politik in den vergangenen 100 bis 200 Jahren im Kapitalismus eine Menge verändert hat - trotz schwerer Rückschläge, und obwohl es nicht sicher ist, ob - Stichwort Globalisierung - sich z.Zt. nicht ein totaler Rückschlag vollzieht.
Ich sehe in diesem gesamten Bereich keine eindeutigen Fortschritte, aber ich sehe partielle Fortschrittslinien, die zeigen, daß - wenn man Mehrheiten hat - Politik doch sehr anders aussehen kann, als wenn man diese Mehrheiten nicht hat. Von diesem Zusammenhang her bekommt eben auch die Aufklärung der berühmten Massen ihren zentralen Stellenwert. Das beste Beispiel ist dabei für mich der atmosphärische, aber nicht nur atmosphärische Umschwung, der sich derzeit in Europa vollzieht. Gestern hat noch jeder davon gesprochen, daß Europa nun endgültig im Konservativismus versinkt, und nachdem nun in England und Frankreich die Linken - ich will nicht sagen , die Sozialisten - die Wahlen gewonnen haben, titelt plötzlich die ‘Taz’ auf der ersten Seite: ‘Der einsame Kohl’. Kohl und der neue spanische Premierminister - dessen Namen ich jetzt nicht mehr weiß - das sind jetzt die beiden letzten konservativen Regierungschefs in Europa.
(Keiner der im Raum Anwesenden kennt den Namen des neuen konservativen spanischen Ministerpräsidenten, was Gelächter verursacht. S.G.)
Vielleicht ist das ja so eine Art Altersschwäche, daß man Namen nicht mehr behält.
Marion: Ich finde, Namen sind auch gar nicht so wichtig.
Fritz Vilmar: Das kommt darauf an. Es gibt Namen, dahinter steht so wenig Persönlichkeit, daß man sie hört und wieder vergißt, aber beispielsweise Adenauer oder von mir aus auch der im übrigen von mir nicht übermäßig geschätzte Willy Brandt - das sind Namen, die ich doch als beinahe Synonyme für Positionen bezeichnen möchte, die für eine ganz bestimmte inhaltliche Gestaltung von Politik stehen.
Aber um auf das Verhältnis von Politik und Ökonomie zurückzukommen, da würde meine These lauten:
Die Politik hat eine Chance - und zwar eine Chance, die sich durchaus auch schon häufig bewährt hat - gegenüber der Wirtschaft, sprich: dem Kapitalismus, die Stärkere zu sein, allerdings nicht ex definitionem. Wie sich das Verhältnis von Politik und Ökonomie gestaltet, hängt davon ab, inwieweit die Mehrheit der Wähler der Politik eine Basis verschafft - und zwar auf Dauer. Es gibt dabei eben nicht die Politik an und für sich, sondern es gibt konservative Politik, und es gibt Reformpolitik.
Wenn Sie in diesem Kontext das Beispiel Schweden betrachten, wo seit Jahrzehnten Sozialdemokraten vorwiegend das Sagen haben - dort existiert eine vollkommen andere politische Kultur als in Mitteleuropa. Zwar ist auch diese politische Kultur prekär - auch Schweden ist nicht davor gefeit, in Konservativismus und Resignation zurückzufallen, vielleicht auch nicht zuletzt deshalb, weil man dort den Sozialstaat übertrieben oder falsch geleitet hat - aber das Entscheidende scheint mir, daß dort bestimmte Dinge zunächst einmal selbstverständlicher sind als anderswo.
Es gibt also nicht die Politik an und für sich, sondern es gibt die Chance auf Mehrheiten für Reformpolitik. Und wenn das so ist, dann gibt es auch ganz konkret eine Chance, daß nicht die Einkommen der Reichen noch weniger besteuert werden und die der Ärmeren noch mehr, wie das hier in Deutschland jetzt ansteht, sondern umgekehrt.
Marion: Vielleicht verstehe ich es anders als sie es meinen - sie sagten ja gerade, daß es die Politik an sich nicht gibt. Ich würde da generell zustimmen, ich denke, daß alles, was sich im Kleinen abspielt - bei jedem einzelnen - zusammengenommen Politik ausmachen sollte. Aber dieses Verständnis von Politik ist z.Zt. sehr wenig vorhanden, sondern es wird eben auch Politik gemacht, damit die Geldwirtschaft weiterhin funktioniert und somit die Verhältnisse so bleiben wie sie sind. Dazu dient Politik so wie Sie heute vorwiegend definiert ist.
[...]
[1] Vilmar, Fritz: Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus. Eine sozio-ökonomische Analyse des Militarismus. Frankfurt a.M., 1965.
[2] Vilmar, Fritz: Strategien der Demokratisierung, Bd.1: Theorie der Praxis,Bd. 2: Modelle und Kämpfe der Praxis. Darmstadt/Neuwied, 1973.
[3] ebd.
[4] Alemann, Ulrich von: Partizipation, Demokratisierung, Mitbestimmung. Opladen,1975.
[5] Vilmar, Fritz: Strategien der Demokratisierung: Bilanz nach einem Vierteljahrhundert. in: Die Demokratie überdenken. Festschrift für Wilfried Röhrich. Hrsg: C. Schlüter-Knauer. Berlin, 1996. S. 373-395.
[6] vgl. ebd., S. 373.
[7] Vilmar, Fritz/Godenschweger, Walter B.: Die rettende Kraft der Utopie. Deutsche Juden gründen den Kibbuz Hasorea. Frankfurt a.M., 1990.
[8] Vilmar, Fritz: Systematischer Entwurf zur kritischen Friedensforschung. in: Kritische Friedensforschung. Hrsg.: D. Senghaas. Frankfurt a.M., 1971. S.362ff.
[9] Narr, Wolf-Dieter(Hrsg.): Auf dem Weg zum Einparteienstaat. Opladen, 1977.
[10] Agnoli, Johannes/Brückner, Peter: Transformation der Demokratie. Frankfurt a.M., 1967.
[11] Vilmar, F.: Strategien der Demokratisierung. a.a.O. (Anm.2).
[12] Glaessner, Gerd-Joachim: Die andere deutsche Republik. Gesellschaft und Politik in der DDR. Opladen,1989.
[13] Vilmar, F.: Strategien der Demokratisierung. a.a.O. (Anm. 2).
[14] Vilmar, Fritz: Mitbestimmung am Arbeitsplatz. Basisdemokratische Betriebspolitik. Neuwied/Berlin, 1971.
[15] Albers, Detlev/Goldschmidt, Werner/Oehlke, Paul: Klassenkämpfe in Westeuropa. Frankreich, Italien, Großbritannien. Reinbek b. Hamburg, 1971.
[16] Vilmar,F.: Strategien der Demokratisierung. a.a.O. (Anm.2), S.21
[17] Dümcke, Wolfgang/Vilmar, Fritz (Hrsg.): Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses. Münster,1995.
[18] Einige der angesprochenen Veröffentlichungen sind diese:
Jung, Otmar: Volksgesetzgebung. Die’Weimarer Erfahrungen’ aus dem Fall der Vermögensauseinandersetzungen zwischen Freistaaten und ehemaligen Fürsten. Hamburg, 1990. Jung, Otmar u.a.: Direkte Demokratie in Deutschland. Handreichungen zur Verfassungsdiskussion in Bund und Ländern. Mit Entwürfen zur Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene. Bonn, 1991. Jung, Otmar: Grundgesetz und Volksentscheid. Gründe und Reichweite der Entscheidungen des Parlamentarischen Rats gegen Formen direkter Demokratie. Opladen, 1994.
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