"Qu’est-ce qu’une phrase?". Die formale und strukturelle Betrachtung eines Satzes anhand von Satzdefinitionen und der Tesnièreschen Dependenzgrammatik


Hausarbeit (Hauptseminar), 2016

19 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Schwierigkeit von Satzdefinitionen
2.1 Der intuitive Satzbegriff
2.2 Die Selbstverständlichkeit der Satzvorstellung
2.3 Arten von Satzdefinitionen
2.3.1 Grammatikalität eines Satzes
2.3.2 Einwortsatz und Kurzsatz
2.3.3 Logik eines Satzes
2.3.4 Orthographie eines Satzes
2.3.5 Phonetik eines Satzes
2.3.6 Kombination von Kriterienarten

3 Die Tesnièresche Dependenzgrammatik
3.1 Die Entstehung derEléments de syntaxe structurale
3.2 Vorgeschichte zur Dependenzgrammatik
3.3 Grundzüge der Dependenzgrammatik
3.3.1 Die Hierarchie der Konnexionen
3.3.2 Satzwörter
3.3.3 Der einfache Verbalsatz

4 Schlussbetrachtung

5 Bibliographie

1 Einleitung

Niemandem, der sich nicht genauer mit sprachlichen Gebilden auseinandergesetzt hat, dürfte es schwerfallen, einen Satz von einem Nichtsatz zu unterscheiden. Eigentlich weiß jeder Mensch intuitiv, was ein Satz ist. Warum fällt es den Sprachwissenschaftlern dennoch so schwer, eine befriedigende und allgemeingültige Definition des Begriffes „Satz“ zu geben? Wieso besteht auch nach jahrelanger Forschung und vielfachem Bemühen um diese Thematik, noch die unumgängliche Notwendigkeit, sich mit der Frage „Qu’est-ce qu’une phrase?“, auseinanderzusetzen? Erstes Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es somit, die Schwierigkeiten von Satzdefinitionen herauszuarbeiten und dabei die verschiedenen Kriterienarten für Sätze zu analysieren. Es soll zugleich aufgezeigt werden, wieso es den Sprachwissenschaftlern unmöglich erscheint, eine allgemeingültige Satzdefinition zu finden.

Der zweite Schwerpunkt dieser Arbeit ist die grammatische Beschreibung von Sätzen anhand der Dependenz. Der französische Sprachwissenschaftler Lucien Tesnière gilt als Begründer dieser Theorie, bei der von der zentralen Stellung des Verbs im Satz ausgegangen wird. Zwar konnte sich die Tesnièresche Dependenzgrammatik kaum in den romanischen Sprachen durchsetzen, ist sie als Syntaxtheorie dennoch für diese Arbeit interessant. Denn auch Lucien Tesnière versucht sich durch sein Werk Eléments de syntaxe structurale an einer Satzdefinition, die jedoch nur einen kleinen Teil des sprachtheoretischen Grundgedankens darstellt. Mithilfe des Prinzips der Dependenz wird im zweiten Abschnitt dieser Arbeit deshalb die innere Organisation von Sätzen betrachtet.1

In der abschließenden Schlussbetrachtung werde ich die Ergebnisse meiner Arbeit noch einmal zusammenfassen und ein persönliches Fazit ziehen.

2 Die Schwierigkeit einer Satzdefinition

Unter dem Terminus Syntax versteht man ein Teilgebiet der Grammatik natürlicher Sprachen, welche sich unter anderem mit der satzbildenden Wortkombinatorik beschäftigt.2Es handelt sich - in anderen Worten - um die Lehre des Satzes. Diese Art der Definition findet sich im Allgemeinen auch in den meisten Grammatiken wieder. Doch so einfach wir den Begriff Syntax definieren können, so problematisch gestaltet sich die Definition des Satzes. Insbesondere in der neueren Sprachwissenschaft gibt es „keine unumstrittene Auffassung vom Satz als eindeutig abgrenzbare linguistische Größe“3. Dass diese Feststellung jedoch nicht ungewöhnlich ist, spiegelt sich in den weit über 200 Satzdefinitionen wieder, die heutzutage bereits existieren.4Schon im Jahr 1931 veröffentliche John Ries in seiner Arbeit „Was ist ein Satz?“ 141 Definitionen, die den Satz in all seinen Facetten beschreiben.5Bis heute hat sich diese Zahl, dank der fundierten Forschung in der Sprachwissenschaft, noch einmal vervielfacht.

Doch worin zeigt sich diese Fülle an verschiedenen Satzdefinitionen und warum schafft es die Sprachwissenschaft nicht, eine allgemeingültige Satzdefinition für jede Sprache zu finden? Auf diese Fragestellung werde ich im Folgenden eingehen.

2.1 Der intuitive Satzbegriff

Vor dem Hintergrund des intuitiven Satzbegriffs sollen im Folgenden einige Annahmen hierzu vorgestellt werden.

Jeder Sprecher nahezu jeder Sprache besitzt eine generelle Satzvorstellung, die von Einzelsprache zu Einzelsprache Varianzen aufweist. Der Hauptgedanke dieser Satzvorstellung „[...] besteht in einer grundlegenden Sprecherintuition, die hier intuitiver Satzbegriff genannt wird“6. Bereits im frühen Kindesalter entwickelt jeder Mensch ein natürliches Bewusstsein für den Satz. Daraus folgt, dass der instinktive Satzbegriff eine elementare und übersprachliche Verhaltensform eines jeden Individuums darstellt. In diesem Sinne kann der Satz auch als Teil der langue, dem innersprachlichen System, verstanden werden. Trotz des universellen Verständnisses eines Satzes findet eine konkrete Realisierung nur in der jeweiligen Einzelsprache statt, die einem stetigen Wandel unterzogen ist. Dieser Wandel begründet sich durch phylogenetische und ontogenetische Faktoren, demnach durch die Realisierung des Satzes Einzelner oder ganzer Sprechergruppen.7 Dies hat zur Folge, dass verschiedene Übergangsformen entstehen, die das genaue Verständnis des intuitiven Satzes erschweren.8 Daraus ergeben sich beim Sprecher Unsicherheiten in der konkreten Satzbeurteilung. Dennoch können diese Unsicherheiten nicht so extrem ausarten, dass der natürliche Instinkt für den Satz verloren geht.9

Auch RIES hat in seiner Arbeit darauf hingewiesen, dass eine befriedigende Definition des Satzes noch nicht gefunden wurde, das Individuum aber trotzdem intuitiv weiß, was ein Satz ist:

Im Gegensatz zu der Tatsache, dass eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Definition des Satzes noch nicht gefunden ist, verbinden wir doch alle mit diesem Wort eine an den Rändern wohl verschwimmende, aber im ganzen doch ausreichend deutliche Vorstellung. […] In praxi weiß jeder - eine Reihe von Grenzfällen ausgenommen - was ein Satz ist […].10

Dieser Auffassung sind auch andere Autoren, die sich mit der Satzdefinition auseinandergesetzt haben.11

2.2 Selbstverständlichkeit der Satzvorstellung

Dass es seit Menschengedenken eine Selbstverständlichkeit vom Satz als sprachsystemische Größe gibt, ist ein Indiz für die Annahme der intuitiven Satzvorstellung.12 Denn lange bevor ein Kind mit einer wissenschaftlichen Satzvorstellung in Berührung kommt, hat es schon eine sehr deutliche Vorstellung vom „Satz“.13 Das folgende Beispiel soll eine potentielle Situation im Schulunterricht darstellen und als Veranschaulichung dienen:

Lehrerin: „Qu'est-ce que tu as fait le week-end dernier ?“ Schüler: „Football !“

Lehrerin: „Fais une phrase !“

Schüler: „Le week-end dernier j'ai joué au foot.“

Nachdem der Schüler von der Lehrerin aufgefordert wird, einen Satz zu bilden, kombiniert er in seiner Antwort mehrere Wörter. Der Schüler weiß also intuitiv, dass ein Satz nicht nur aus einem Wort besteht, sondern aus mehreren gebildet wird, beziehungsweise gebildet werden sollte.

2.3 Arten von Satzdefinitionen

Dass jedes Individuum nahezu jeder Sprache eine intuitive Satzvorstellung besitzt kann durch das Kapitel 2.1 bereits angenommen werden. Allerdings kann das Verständnis, was jeweils unter einem formellen Satz verstanden wird, zusätzlich zur Sprache, auch von der theoretischen Auffassung abhängen. Ein Schüler beschreibt einen Satz natürlich anders, als ein Sprachwissenschaftler oder ein Psychologe. Auch diese Faktoren führen dazu, dass heutzutage über 200 Satzdefinitionen existieren.14 Um eine genaue Vorstellung der Vielseitigkeit von Satzdefinitionen zu bekommen, sollen im Folgenden verschiedene Arten veranschaulicht werden.

2.3.1 Grammatikalität eines Satzes

Die sogenannte menschliche Rede verbindet Lexeme und Morpheme zu Äußerungen (énoncé), die sich grammatikalisch in weitere kleine Einheiten zerlegen lassen. Die Aussage eines Sprechers setzt sich folglich aus Satz (phrase), Gliedsatz (proposition), Syntagma (phrase nominale bzw. phrase verbale), Wort (mot) und Laut (son) zusammen.15 Einen ersten Kontrast stellt hier jedoch bereits die - im Französischen vorhandene - terminologische Unterscheidung des Begriffes „Satz“ dar. Denn anders, als zum Beispiel im Deutschen, wird hier zwischen dem Satz als grammatischer (proposition) und als orthographischer (phrase) Einheit unterschieden.16 Eine proposition ist dabei als „minimale Form der Äußerung“17 zu betrachten und besteht aus (mindestens) einem Subjekt und einem konjugierten

Verb:Marie chante.18Man spricht folglich auch von einem einfachen Satz (phrase simple). Die erweiterte Form der proposition ist der komplexe Satz (phrase (complexe)), der aus einem Gebilde von Haupt- und Gliedsätzen sowie mehreren propositions besteht. Er kann demzufolge mehrere konjugierte Verben enthalten: Aujourd’hui, Pierre voudrait se bronzer en plein air, mais malheureusement, le soleil ne brille pas.19 Wichtig ist bei beiden Satzformen gleichermaßen, dass der Sinn und die Einheit des Satzes gewahrt wird, egal, aus wie vielen Satzgliedern er besteht. Er muss den grammatischen Kriterien der jeweiligen Einzelsprache (hier also des Französischen) gerecht werden. Dass sich der grammatische Satz in den indogermanischen Sprachen vom Prinzip her jedoch ähnelt, zeigt die deutsche Satzbeschreibung von Blümel: „Subjekt, Prädikat und ihre Beziehung machen den Satz aus.“20 Auch, wenn Sätze in ihrer jeweiligen Einzelsprache formverschieden sein können und es deshalb kein allgemeingültiges Kriterium für die grammatische Geformtheit eines Satzes gibt, können sie sich in einzelnen Sprachgruppen trotzdem ähneln.

2.3.2 Einwortsatz und Kurzsatz

Wie in dem Beispiel von Kapitel 2.2 dargestellt, lernen Schüler in Sätzen zu antworten, die aus mehreren Wörtern bestehen. Dies führt zu der Frage ob Einwortsätze oder Kurzsätze auch Sätze darstellen können, wenn der Satz normalerweise „rein syntaktisch aus mehreren Wörtern definiert (wird)“21. In der Sprachwissenschaft wird seit mehr als hundert Jahren versucht „das grammatische Konzept des 'ganzen' oder 'vollständigen' Satzes auszuschalten mit dem Hinweis, dass auch 'verkürzte Einheiten' als selbständige Redeeinheiten (und somit als 'Sätze') auftreten können“.22 Es wird dann meist von einem verkürzten Satz gesprochen, bei dem gezielt Satzteile ausgelassen werden. Allerdings können diese meist nur anhand der Ellipsentheorie verstanden werden: Julien mange des pommes, Marie des oranges. Durch das Weglassen des Prädikats kann der zweite Satzteil hier nur mithilfe des ersten rekonstruiert werden. Ähnlich verhält es sich bei Einwortsätzen. Betrachtet man diese Art von Satz als eine „syntaktisch

[...]


1 Da das gesamte Tesnièresche Werk ohne Frage zu komplex ist, sollen in dieser Arbeit nur die einfachen Verb-Sätze, bzw. die phrases simples thematisiert werden.

2 Partie de la grammaire traditionnelle qui étudie les relations entre les mots constituant une proposition ou une phrase, leurs combinaisons, et les règles qui président à ces relations, à ces combinaisons“ http://www.cnrt.fr/definition/syntaxe (letzter Zugriff: 07.02.2017).

3W. Pötters:Sprachwissenschaftlicher Grundkurs für Studienanfänger Französisch. Materialienzur Einführung in die französische Sprachwissenschaft. Tübingen 51983, S. 101.

4Vgl. M. Sokol:Französische Sprachwissenschaft: eine Einführung mit thematischem Reader.Tübingen 2001, S. 109.

5Vgl. C. Dürscheid:Syntax. Grundlagen und Theorien. Göttingen 62012, S. 55.

6 B. L. Müller: Der Satz: Definition und sprachtheoretischer Status. Tübingen 1985, S. 20.

7Vgl. B. L. Müller (1985), S. 21.

8 Eine jede natürliche Sprache (wie das Französische) weist interne Varietäten auf, die durch regionale, soziokulturelle und stilistische Unterschiede geprägt sind. Insbesondere Soziolekte können hier Einfluss auf die konkrete Satzbeurteilung nehmen. Vgl. H. Geckeler/W. Dietrich: Einführung in die französische Sprachwissenschaft. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Berlin 52012, S. 148.

9Vgl. B. L. Müller (1985), S. 21.

10J. Ries:Was ist ein Satz. Prag 1931, S. 21.

11Vgl. B. L. Müller (1985), S. 20f.

12 Karl Bühler schreibt hierzu: „Wären die Sätze uns nicht irgendwie gegeben und bestimmbar, so wären nicht die einfachen Hauptformen der Sätze in allen Sprachen entstanden [...].“ K. Bühler: „Kritische Musterung der neueren Theorien des Satzes“, in: Indogermanisches Jahrbuch 6, 1920, S. 19.

13 Vgl. B. L. Müller (1985), S. 22.

14Vgl. M. Sokol (2001), S. 109.

15Vgl H. Geckeler/W. Dietrich (52012), S. 99.

16Vgl. C. Dürscheid (62012), S. 55.

17 H. Geckeler/W. Dietrich (52012), S. 99.

18„Nous appelons proposition un membre de phrase ayant la fonction de sujet ou de complément lorsque ce membre contient un verbe conjugué ou, plus exactement, un prédicat.“ M. Grevisse:Lebon usage. Grammaire française. Paris 121986, S. 296.

19Vgl. Pierre Guiraud:Que sais-je? La syntaxe du français. Paris 61980, S. 75.

20R. Blümel:Einführung in die Syntax. Heidelberg 1914, S. 40.

21Dürscheid (62012), S. 56.

22 B. L. Müller (1985), S. 25.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
"Qu’est-ce qu’une phrase?". Die formale und strukturelle Betrachtung eines Satzes anhand von Satzdefinitionen und der Tesnièreschen Dependenzgrammatik
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
19
Katalognummer
V424491
ISBN (eBook)
9783668698567
ISBN (Buch)
9783668698574
Dateigröße
441 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
qu’est-ce, betrachtung, satzes, satzdefinitionen, tesnièreschen, dependenzgrammatik
Arbeit zitieren
Lara Marxen (Autor:in), 2016, "Qu’est-ce qu’une phrase?". Die formale und strukturelle Betrachtung eines Satzes anhand von Satzdefinitionen und der Tesnièreschen Dependenzgrammatik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/424491

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