Von Hobbes bis Rawls. Sieben Kapitel aus der Problemgeschichte der Freiheit


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2017

36 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Thomas Hobbes (1588-1679). Das kontraktualistische Modell des absoluten Staates

II Locke´s Erkenntnistheorie und die Neufassung der Begriffe Freiheit, Gleichheit, Eigentum

III Der politische Gesellschaftsvertrag bei Jean Jacques Roussseau (Du Contrat Social ou Principes du droit politique)

IV Kants theoretischer und praktischer Freiheitsbegriff

V. Begierde als protopraktisches Phänomen in Hegels „Phänomenologie des Geistes“
V.1. Herr und Knecht: Die Bewährung durch den Tod

VI. Berlins „negative“ und „positive“ Freiheit

VII. Vergleich mit Rawls egalitärem Liberalismus

VIII. Freiheit in philosophischer, politischer und theologischer Perspektive

IX Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

I Thomas Hobbes (1588-1679). Das kontraktualistische Modell des absoluten Staates.

Für Hobbes ist der Staat eine mit absoluter Macht- und Rechtsfülle nach natürlichem und göttlichem Gesetz ausgestattete Institution, eine gleichsam durch einen Sozialvertrag entstandene Schutzmacht der Bürger.[1] Thomas Hobbes‘ politische Philosophie ist wie sein Denken überhaupt vom zeitgleichen englischen Bürgerkrieg mit der Hinrichtung des Königs (1649) beeinflusst. Hobbes geht von der Freiheit und Gleichheit der Individuen aus. Sie bezeugt sich darin, dass in einem fiktiven Naturzustand jeder jeden töten kann. Und dazu sind sie in der ersten Phase des Naturzustandes auch disponiert. Sie sind beseelt von einem uneingeschränkten Freiheitswillen, den man als hemmungslosen Expansionswillen kennzeichnen kann. „Freiheit“ meint in ihrer ursprünglichsten Bedeutung ein Sich-Bewegen-Können-ohne-Ende mit Unterwerfung oder Aneignung aller Hindernisse, ohne großen Unterschied zwischen Sachen und Menschen. „Gleichheit“ gehört insofern zur urtümlichen Freiheit der ersten Naturzustandsphase, als jeder jeden töten kann, und sei es, dass er den anderen im Schlaf aus dem Weg räumt. Angesichts dieser gleichen Machtbefähigung kommt es zu einem wechselseitigen Mißtrauen und zu einem bellum omnium contra omnes, ja zum bellum uniuscuiusque <eines jeden> contra unumquemque. Die Freiheit ist im ersten Abschnitt des Naturzustandes als individuelle Freiheit mit Gleichheit des Könnens und der Furcht verbunden.

Aber es handelt sich bei diesen Wesen um „Menschen“, die über Vernunft verfügen. Sie sehen ein, dass der Krieg, den sie des Gewinns und der Sicherheit wegen führen, aufhören muss. Die Vernunft führt sie auf ein neues (göttliches) Naturgesetz, eine moralisch-normative lex naturae. Dieses energische Sollens-Gesetz sagt jedem: Suche und halte Frieden. Vertrage dich mit den anderen. Schließe mit allen einen Friedensvertrag. Und zwar so, dass alle übereinkommen, ihre Machtbefähigung an Herrschafts-Institutionen zu übertragen. Machtvolle Staatsgesetze sollen die rohe Freiheit und Gleichheit kultivieren, sie in vernünftige Bahnen lenken. Dann darf es für die Bürger „homo homini deus“ heißen, wie im Widmungsschreiben des Verfassers von De Cive, weil Gerechtigkeit und Liebe, die Friedenstugenden zur Gott-Ähnlichkeit führen, während beim Anblick der Staaten „homo homini lupus“ zutrifft, weil sie List, Raublust und Gewalt freien Lauf lassen.

Hobbes persönlich optiert für die Staats- und Regierungsform der absoluten Monarchie. Er argumentiert, dass der absolute Regent von möglichst vielen Untertanen geliebt werden möchte. Er verteile und schütze daher mit seiner Gesetzgebung die Menschen und ihr Gut so, dass er Komplotts nicht zu befürchten habe. Hobbes‘ Theorie schließt aber andere, auch parlamentarische Regierungsformen nicht aus. Das biblische Bild des Seeungeheuers „Leviathan“ passt auf mehrere Namensträger.

II Locke´s Erkenntnistheorie und die Neufassung der Begriffe Freiheit, Gleichheit, Eigentum.

Die Erkenntnistheorie hat darüber Rechenschaft zu geben, welche Ideen-Klassen auftreten, nach welchen Operationsregeln die Ideen der sensation und reflection bearbeitet werden, in welchen Grenzen die Gestaltung der Ideen erkenntnisproduktiv ist und welche Funktion der Erkenntnis im menschlichen Leben zukommt. Es wird beschrieben, wie sich das individuelle Bewusstsein, urspünglich ein „white paper“ mit Inhalten auffüllt. Die regelmäßige Art des Zustandekommens der Ideen und Ideenkomplexe gilt als die reguläre Bewusstseinsverfassung. Die Normalität nimmt den Rang des Normativen ein.

Die Auseinandersetzung mit der aristotelisch-scholastischen Lehre von den substantiellen Formen setzt an die Stelle der existenten Wesensart der Dinge (real essence) ihre Beschaffenheit (real constitution), die uns aber unbekannt bleibt, so dass wir uns mit abstrakten Begriffen (nominal essence) zu begnügen haben. „Substanz“ ist der Träger, dem wir eine reale Verfassung, eine strukturelle Beschaffenheit unmittelbarer und mittelbarer, wesentlicher und beiläufiger Eigenschaften zusprechen. Die Substanz ist als Aktor die Ursache der Vereinigung ihrer Determinationen. Das Eintreten der Ideen verweist auf äußere Ursachen. Ihr konstantes und assoziatives Auftreten indiziert das Vorliegen von Sachstrukturen. Die korpuskulare Struktur der makrophysikalischen Gegenstände legt eine mikrophysikalische Verallgemeinerungshypothese nahe.

Das Bewusstsein (consiousness), das mit seiner Kontinuität die Personalität des Menschen begründet, hat nach Locke eine gewisse selbständige Existenz gegenüber den materiellen Dingen der Außenwelt, gegenüber dem „Menschen“ als dem leiblichen Phänomen des Sinnen- und Vernunftwesens und auch mit Bezug auf das Denken und Handeln der Seelensubstanz. Die Seele gilt Locke als das in uns Denkende und Handelnde, nur bleibt die Frage ihrer materiellen oder immateriellen Seinsweise in der Schwebe. Der Versuch, über die Existenz des denkenden Etwas hinaus seine Natur zu bestimmen, führt in den Widerspruch gleich starker bzw. gleich schwieriger Denkmöglichkeiten. Locke versteht die Personalität des Menschen im forensischen Sinne. Sie gründet in der Kontinuität, die sich aus der Beachtung der menschlichen und göttlichen Gesetze ergibt. Conscience ermöglicht consciousness. Das identitätsbildende Interesse impliziert ein durchgehendes Bewusstsein als zweites Identitätskriterium, so dass auch das Gedächtnis Prinzipienrang erhält. Dritte Identitätsbedingung ist der „eigene“ Körper. Personalität wird ursprünglich an der Verantwortlichkeit des handelnden Menschen im Hinblick auf die Besorgung seines irdischen und überirdischen Glücks festgemacht, nicht an der Kontinuität des Selbstbewusstseins noch an der numerischen Identität des Subjekts. Die weltliche Macht hat das Recht, sich über die Erklärung, es fehle am eigenen Identitätsbewusstsein, hinwegzusetzen. Die Konsequenz aber, dass Eine Person für die Taten mehrerer Subjekte Rechenschaft abzulegen hätte, kann dem bei Locke wie bei Descartes auf die Wahrhaftigkeit, Weisheit und Güte des göttlichen höchsten Gesetzgebers und Richters Vertrauenden nicht ernsthaft bedrohlich erscheinen. Und in diesem spekulativen Extremfall bleibt auch dem Unglücklichen wie dem ganzen Volke bei einem Versagen der freiheitssichernden Institution der Gewaltenteilung, die Möglichkeit, den Himmel um gerechte Hilfe anzuflehen.

Locke löst das Problem der Erweiterung der augenblicklichen Existenz des Ich auf moralphilosophischer Grundlage: „consiousness, as far as ever it can be extended, unites Existences, and Actions, very remote in time, into the same Person ..“ Aus dem moralisch-rechtlichen System resultiert auch der Subjektsbegriff des „Eigentümers“ der Person in der Staatsphilosophie des „Second Treatise of Government“: By Property I must be understood here, as in other places, to mean Property, which Men have in their Persons as well as Goods.[2] Locke bewegt sich in seiner Theorie der Substanz zwischen Universalienrealismus, Nominalismus und Konzeptualismus (der Annahme eines verstandeseigenen Begriffsbestandes) auf der Linie einer korpuskulartheoretisch orientierten, erkenntnisanthropologischen und erkenntnistheologisch fundierten Epistemologie, ohne den Titel eines Eklektikers zu verdienen.

Im allgemeinen kommen wir nicht über ein Wissen von Einzeldingen hinaus, das selbst auch nur eine Kollektion von Ideen der Qualität ausmacht, deren Koexistenz (coexistence, union, necessary connection, dependence on one another) in einem realen Substrat wir bloß vermuten. Die Grenzen der menschlichen Erkenntniskompetenz können nicht überschätzt werden. Nur von unserer eigenen Existenz besitzen wir ein intuitives Wissen, von den Dingen ist uns eine sensitive Erkenntnis ihrer aktuellen Existenz möglich; eine weise Weltursache kann a contingentia mundi demonstriert werden. In allen übrigen Problemen der Erfahrungserkenntnis erreicht unser Wissen allenfalls einen niedrigen Wahrscheinlichkeitsgrad. Die allgemeine Naturkunde wird in der Erkenntnisgewissheit wohl immer hinter der historisch beschreibenden Ideenlehre weit zurückbleiben: „natural philosophy is not capable of being made a science.“[3]

Die Sachlage der theoretischen Ausstattungsmängel des Menschen aber verhilft selbst noch zu der Erkenntnis, dass die menschliche Bestimmung das Handeln nach den Gesetzen der Moral ist, die ihrerseits auf einen höchsten Gesetzgeber zu beziehen sind, der allein ihnen Sinn gibt. Dem moralischen und religiösen Auftrag und noch einmal hernach dem Erhaltungs- und Glücksstreben ist die Erkenntnisfähigkeit des Menschen mit ihrer geringen Reichweite angepasst. Drüber hinaus haben wir weder am Wissen noch am Sein ein Interesse. So sehr aber koinzidieren praktische Reflexion und Einsicht in den Lebenssinn, dass die praktische Selbstbesinnung theoretische Erkenntnishilfe leistet. Das sensitive Wissen der Realität der Außenwelt vermag sich noch über das actual receiving of ideas from without[4] hinaus auf emotionale Zeugnisse zu stützen, sofern die Objekte Lust- und Schmerzempfindungen in uns auslösen und sich auf diese Weise mit unserem Glück und Leid verknüpfen, über die hinaus uns Wissen und Dasein gleichgültig sein können.[5] Genauso ist aus der moralischen Daseinsbestimmung die Folgerung möglich, dass ein immaterielles Wesen in uns denkt und handelt.

„Freiheit“ bedeutet für Locke im „Essay“ und im “Second Treatise of Government“, mit Vernunft wählen zu können, und „Gleichheit“ die aus dem vorstaatlichen Naturzustand überkommene Übereinstimmung mit anderen als Eigentümer des Lebens, der Freiheit und der gewaltfrei, bedarfs- und erhaltungsorientiert erworbenen Güter:

„Da der Geist, wie die Erfahrung zeigt, in den meisten Fällen die Kraft besitzt, bei der Verwirklichung und Befriedigung irgendeines Wunsches innezuhalten und mit allen andern Wünschen der Reihe nach ebenso zu verfahren, so hat er auch die Freiheit, ihre Objekte zu betrachten, sie von allen Seiten zu prüfen, und gegen andere abzuwägen. Hierin besteht die Freiheit, die der Mensch besitzt…“[6]

Die Freiheit des Menschen besteht nicht in der Willensfreiheit, sondern primär als Unabhängigkeit des Geistes in der Hemmung des Begehrens, Wollens und Handeln als überlegtes Sich-Entscheiden, Sich-Bestimmen-Lassen. Begehren ist das Unbehagen des Geistes, das im Streben nach Glück, der größten Freude, derer wir fähig sind, durch den Mangel eines abwesenden Gutes veranlasst wird.

Da wir mit der Vernunft geboren werden, die keinen Plural kennt, keine unterschiedlichen oder gegensätzlichen Arten, sind wir von Natur aus für das uns allen wesentliche Streben nach Lebensglück gleicherweise ausgestattet. Uns und Unseresgleichen einer juridisch-politischen Rangordnung einzufügen, kann nur unter Gewaltanwendung geschehen, hebt unsere Unabhängigkeit auf und zerstört unsere Ausrichtung und Aussicht auf Lebensglück. Im bürgerlichen Zustand ist Teilhabe an der öffentlichen Vernunft Voraussetzung der Freiheit, weil die Freiheit an die Gesetze gebunden ist, die in der Hand der judikativen (schiedsrichterlichen) Gewalt und der ihr mit den Gesetzen, zumal den Strafgesetzen, zuarbeitenden Legislative Eigenmächtigkeit unterbinden sollen:

„for law, in its true notion, is not so much the Limitation as the direction of a free and intelligent Agent to his proper Interest, and prescribes no farther than is for the general Good of those under that Law: … where there is no Law, there is no freedom: for liberty is, to be free from restraint and violence from others; which cannot be, where there is no law … But a Liberty to dispose, and order, as he lists, his Person, Actions, Possessions, and his whole property, within the Allowance of those Laws under which he is; and therein not to be subject to the arbitrary Will of another, but freely follow his own.“

„Denn in seinem eigentlichen Sinn bedeutet das Gesetz nicht so sehr die Beschränkung, sondern vielmehr die Leitung eines frei und einsichtig Handelnden in seinem eigenen Interesse, und seine Vorschriften reichen nicht weiter, als es dem allgemeinen Wohl derer dient, die unter diesem Gesetz stehen … „Wo es kein Gesetz gibt, da gibt es auch keine Freiheit. Freiheit nämlich heißt frei sein von dem Zwang und der Gewalttätigkeit anderer, was da nicht möglich ist, wo es keine Gesetze gibt … eine Freiheit, innerhalb der erlaubten Grenzen jener Gesetze, denen er untersteht, über seine Person, seine Handlungsweise, seinen Besitz und sein gesamtes Eigentum zu verfügen, und damit zu tun, was ihm gefällt, ohne dabei dem eigenmächtigen Willen eines anderen unterworfen zu sein, sondern frei dem eigenen zu folgen.“[7]

Was bewirkte den Umschwung von der einfachen Lebensform des Naturzustandes, die sich auf voll ausreichende Ressourcen stützen konnte, zur Allgegenwärtigkeit von Recht und Gesetz und ihrer ausgeprägten Schiedsgerichts-Funktion? Nach Locke brachte eine ästhetische Schwärmerei für Gold und Silber die menschliche Gesellschaft auf die schiefe Bahn, das durch Be-arbeitung von Gegenständen, eine Transmission menschlicher Substanz, in anerkannter Weise erlangte Eigentum in einem eingebildeten, aber außerordentlich haltbaren Gegenwert zu horten. Man unterlief damit die naturrechtliche Eigentumsschranke der Unverderblichkeit, aber man verfiel auch in eine bisher unbekannte Gier, Missgunst und Kriminalität. Die Gesellschaft musste sich vertraglich zum unparteiischen und einzigen Gesetzgeber und Schiedsrichter für alle Mitglieder formieren, d. h. die individuelle Freiheit unter ein teils geschriebenes, teils ungeschriebenes Regelwerk stellen, im Vertrauen (trust) auf die Redlichkeit der legislativen, judikativen und exekutiven Autoritäten, z.B. ihre Bereitschaft, verfassungskonforme Mehrheitsbeschlüsse anzuerkennen und das Eigentum nicht ständig anwesender Mitstreiter unangetastet zu lassen.

Für John Locke ist der Staat als Vertragsstaat des Volkes Schutzmacht zur Erhaltung der individuellen Freiheit (Unabhängigkeit), mit einigen Ausnahmeregelungen für verschiedene Notfälle, in denen er eine „Prärogative“, ein Notwehr- oder Nothilferecht z. B. bei Übergriffen des Militärs oder der Justiz wahrzunehmen hat, im Namen des Volkes und für die Bürger, vor dem Hintergrund des Naturzustandes (State of Nature) als der Gemeinschaft der Natur (Community of Nature) und dem Herkunftsbereich des individuellen Urrechts auf Property: Life, Liberty, Estate.[8]

III Der politische Gesellschaftsvertrag bei Jean Jacques Roussseau (Du Contrat Social ou Principes du droit politique)

Thema und Problem beziehen sich nach Aussage des ersten Kapitels auf eine Erklärung der rechtmäßigen und sicheren Staatsgewalt (l‘administration légitime et sure) aus dem contrat (oder pacte) social. Voraussetzung ist die Naturanlage der Freiheit und Gleichheit der Individuen: L‘homme est né libre et partout il est dans les fers.

Es muss von einer Naturanlage gesprochen werden, denn zu Naturrechten hat es die Menschheit erst mit dem Contrat social /pacte social gebracht. Erst mit diesem Vertrag aller untereinander kam es zu einem Rechtsdenken. Voraus ging ein von Rousseau fingierter Naturzustand und ein Übergang zum bürgerlichen Zustand: die allmähliche Zivilisation des homme sauvage. Die Wilden lebten nicht nur in räumlicher Nähe zu den Tieren. Sie mussten Sprache, Gesang und familiäre Zweisamkeit erst noch kennenlernen. Und sie waren, wie gesagt, noch nicht zum juridischen Vertragsdenken und damit zum Staatsrecht vorgedrungen. Pitié genügte als Grundlage einer bonté naturelle. Rousseau meint diese vorbürgerliche Existenz, wenn er schreibt: „Der Mensch ist von Natur aus gut“ und „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt, alles entartet unter den Händen des Menschen.“[9] Genau Letzteres aber führte zur Einsicht, dass ein Gesellschaftsvertrag als Staatsgründung an der Zeit sei.

Als es so weit war, bestanden in Rousseaus Fiktion schon vorstaatliche Zusammenschlüsse, z. B. Großfamilien. Es gab Eigentum, Versklavung als Auswuchs von Arbeit und Arbeitsspezialisierung (v.a. auf Ackerbau und Eisen-Schmiedekunst), Achtung für wenige, auch amour-propre (Selbstachtung), und im Gegensatz zum Instinkt den freien Willen (nicht die Vernunft). Die Reichen hatten ihre Vorherrschaft durch einen eigennützigen Pseudo-Kontrakt konsolidiert. Anders als nach Hobbes war im Naturzustand, in der Kindheit und Jugend der Menschheit und in der disharmonischen société naissante der „Kampf aller gegen alle“ herangereift.

Da entspringt aus dem allgemeinen Interesse (intérêt commun) an einem wohlgeordneten und prosperierenden Zusammenleben Ein allgemeiner Wille (volonté générale). Der allgemeine Wille fordert einen Vertrag der von Natur aus Freien und Gleichen untereinander, in dem sie ihm gemeinsam ihre Person und Kraft unterwerfen, ohne ihre Freiheit zu verschenken. Die Unterwerfung unter den allgemeinen Willen bewirkt keinen Freiheitsverlust, sondern eine Metamorphose der Freiheit und Gleichheit, ihre rechtlich-moralische Veredelung und Sicherstellung gegen rohe Unterdrückung. Indem sich jeder mit allen vereinigt, gehorcht er nur sich selbst und bleibt so frei wie bisher. Nicht so sehr das Erkenntnisvermögen, sondern die Willensfreiheit unterscheidet den Menschen vom Tier:

„La nature commande à tout animal, et la bête obéit. L´homme éprouve la même impression, mais il se reconnaît libre d’acquiescer ou des résister; et c’est surtout dans la conscience de cette liberté que se montre la spiritualité de son âme.“

„Die Natur befiehlt jedem Wesen, und das Tier gehorcht. Der Mensch fühlt gleichfalls ihr Drängen, aber er erkennt sich als frei, um nachzugeben oder zu widerstehen. Und gerade in diesem Bewußtsein seiner Freiheit zeigt sich die Geistigkeit seiner Seele.“[10]

Aber er wird allererst ein wahrer Mensch mit praktikablen Menschenrechten durch die Errichtung und Machtausstattung eines „geistigen Kollektivkörpers“[11] (corps moral et collectif). Hiervon sollen Parteien und andere politische Interessenverbände als virtuelle Sondermächte ausgeschlossen werden. Weitere Merkmale des Vertragsstaates der Freiheit und Gleichheit, der „Republik“, sind direkte Demokratie und Gewaltenmonismus. Das Volk handelt subjektiv und objektiv allgemein. Es beschließt in Generalversammlungen Gesetze (allgemeine Dekrete) für alle seine Mitglieder. Wer sich aber einer Mehrheitsentscheidung und damit dem allgemeinen Willen nicht fügt, kann zu seiner Freiheit gezwungen werden. Auch kann das Volk irregeführt werden. Es kann sich aber nicht irren und auch nicht verdorben werden. Es soll nur Rechts- und Verwaltungskommissare (Beauftragte) geben. Eine strikt hoheitliche Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative würde den besonderen Willen <volonté particulière>, das besondere Interesse und das besondere Wohl begünstigen. Richter könnten z.B. Angeklagte formell rechtmäßig mild bestrafen, wenn sie in der Volksversammlung mit ihren Freunden für den Bau eines neuen bequemen Gerichtsgebäudes stimmten.

Für Rousseau ist aus politikphilosophischer Sicht nur Eine Religionsart annehmbar: die „bürgerliche Religion“ (religion civile). Das Staatsoberhaupt formuliert hierzu „einige allgemeine Ansichten, ohne deren Befolgung man weder ein guter Bürger noch ein treuer Untertan sein kann“, sondern vielmehr den Gesellschaftsvertrag verletzt und Strafe bis hin zur Todesstrafe verdient. Die Dogmen der bürgerlichen Religion sollen das „Dasein einer allmächtigen, weisen, wohltätigen Gottheit“ zum Inhalt haben, die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze, und Unduldsamkeit (Intoleranz) anprangern. Rousseau erörtert den politischen Nutzen von noch drei weiteren Religionsarten. Die einfache, introvertierte „Religion des Menschen“ oder auch des Evangeliums ist ihm allzu jenseitsgläubig und militärisch desinteressiert. Die „Religion des Staatsbürgers“ (religion du citoyen) entfaltet Lehre und Kultus nur landesweit und neigt zu nationalistischer Aggressivität. Die „Priesterreligion“ (religion du prêtre) findet Rousseau zwiespältig mit den zwei Gesetzgebungen, Oberhäuptern und Vaterländern.

[...]


[1] The Elements of Law, Natural and Politic (1640), Elementa Philosophiae: De Corpore (1655), De homine (1658), De Cive (1642); Leviathan or The Matter, Forme and Power of a Common Wealth Ecclesiastical and Civil (1651).

[2] Zwei Abhandlungen über die Regierung, Ed. Walter Euchner, Frankfurt am Main, 1967, §173, 319.

[3] Über den menschlichen Verstand, IV, 10, Ph. Bibl. Meiner, Bd.76, 331.

[4] Über den menschlichen Verstand, IV, 11, Ph. Bibl. Meiner, Bd.76, 1.

[5] Über den m. Verstand, Ph. Bibl. Meiner, Bd.76 III,2,14; IV,11, 3.

[6] Über den m. Verstand, Ph. Bibl. Meiner, Bd.76 I, <20-21, 297-346, 286, 288, 290, 292, 294, 296> 315.

[7] Locke’s Two Treatises of Government, a critical edition by Peter Laslett, second edition, Cambridge 1970, 323 f. - John Locke. Zwei Abhandlungen über die Regierung. Hg. u. eingeleitet von Walter Euchner, Frankfurt a. M, 1967, 236 f.

[8] S. Second Treatise, <& 87>, Ed. Laslett, 349; Ed. Euchner, 256.

[9] Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen), Amsterdam 1755. //Schriften zur Kulturkritik, Franz.-D. Meiner Verlag Hamburg, Bd.243, 110/111

[10] Zweiter Diskurs (Über die Ungleichheit), a.a.O., 106/107. Vgl. hier Fn. 6, zu Locke.

[11] Der Gesellschaftsvertrag, Reclam, 44.

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Von Hobbes bis Rawls. Sieben Kapitel aus der Problemgeschichte der Freiheit
Autor
Jahr
2017
Seiten
36
Katalognummer
V424867
ISBN (eBook)
9783668705432
ISBN (Buch)
9783668705449
Dateigröße
671 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hobbes, Rawls, Freiheit, Gleichheit, Staat, Isaiah Berlin. Negative und positive Freiheit John Rawls: Justice as Fairness Rawls: egalitärer pluralistischer Liberalismus Berlin Ideengeschichte des Liberalismus
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Peter Baumanns (Autor:in), 2017, Von Hobbes bis Rawls. Sieben Kapitel aus der Problemgeschichte der Freiheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/424867

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