Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Gabriel García Márquez
2. Die Autobiographie
2.1. Forschungsansätze und Theorien
2.2. Aufbau und Form
2.3. Autobiographie und Roman = ‚Autofiktion‘?
2.4. Erinnerung, Gedächtnis und Wahrheit
3. Faktuales und fiktionales Erzählen
s: Wirklichkeitserzählungen
3.1. Erzählstruktur in Vivir para contarla (2002)
3.2. Erzählstruktur in Cien años de soledad ( 1967)
3.3. Die Erzählperspektive
4. Analyse der Werke
4.1. Orte
4.2. Personen
5. Fazit
Quellen und Literaturverzeichnis
Anhang
Stammbaum der Buendías
1. Einleitung: Gabriel García Márquez
La vida no es la que uno vivió,
sino la que uno recuerda y cómo
la recuerda para contarla
(García Márquez 2002: 7)
Mit diesem eingängigen Zitat beschreibt Gabriel García Márquez das Motto seiner Autobiographie Vivir para contarla, welche im Jahr 2002 erschien. In Verbindung mit dem Erinnern an unser Leben spielt demnach auch das Erzählen eine bedeutende Rolle, es scheint García Márquez sogar relevanter zu sein als das Leben selbst. Aus dem Zitat geht weiterhin hervor, dass es wichtig ist, wie wir uns erinnern und nicht nur an was wir uns erinnern. Die vorliegende Arbeit untersucht daher, inwiefern der Autor in Form einer anekdotischen Sichtweise über sein Leben berichtet und dabei das Erzählen selbst in seiner Autobiographie in den Vordergrund rückt. Der Ausgangspunkt dieser Arbeit ist also das autobiographische Werk. Im Fokus steht allerdings darüber hinaus die Analyse, ob der Autor das Schreiben seiner Autobiographie nutzt, um persönliche Erlebnisse und Erfahrungen, die er bereits in seinem Roman Cien años de soledad (1967) auf fiktive Weise eingebettet hat, nun in einem „angemessenen“ und wahrhaftigen Rahmen erneut thematisiert. Inwieweit lässt sich das Verhältnis von Fakten und Fiktionen voneinander abgrenzen, wo liegen Differenzen und Schnittstellen zwischen Autobiographie und Roman? Einleitend dazu wird im Folgenden ein Einblick in die Biographie des Autors gegeben, um zu verstehen, wer Gabriel García Márquez war, was er erlebte und was ihn prägte.
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[1] Abbildung 1: Gabriel García Márquez
Gabriel García Márquez war ein lateinamerikanischer Journalist und Schriftsteller, der am 6. März 1927 in Aracataca, einem Ort in der kolumbianischen Provinz Magdalena, geboren wurde. Sein Vater war Gabriel Eligio García Martínez, ein Telegrafist in Aracataca, und seine Mutter Luisa Santiaga Márquez Iguarán. Ihr Vater, Oberst Nicolás Ricardo Márquez Mejía, galt als Held der Bürgerkriege und kämpfte auf Seiten der Liberalen gegen die Herrschaft der Konservativen in Kolumbien, wohingegen ihr Ehemann sich als Konservativer bekannte und somit Uneinigkeit hinsichtlich der politischen Ansichten vorherrschte (vgl. Ploetz 1992: 10). García Márquez war der Älteste von elf Geschwistern, wuchs jedoch allein unter Erwachsenen bei seinen Großeltern mütterlicherseits auf. Die Verwandten in seinem Umfeld – der Oberst, die Großmutter sowie einige Tanten – lebten alle einsam oder verwitwet und hielten an ihren Erinnerungen an die Vergangenheit fest, welche sie auch mit dem jungen García Márquez teilten. Sowohl die Großmutter, Tranquilina Iguarán Cotes, als auch der Großvater hatten einen prägenden Einfluss auf ihn: Seine Großmutter erzählte ihm oft Geschichten über den grausamen Bürgerkrieg in Kolumbien oder von phantastischen Geschichten und Visionen, so dass García Márquez bereits früh mit dem Magischen und Mythischen in Berührung kam und dies als alltäglich wahrnahm. Daher galt er als Kind zunächst als sehr ängstlich und schüchtern:
Nunca pude superar el miedo de estar solo, y mucho menos en la oscuridad, pero me parece que tenía un origen concreto, y es que en la noche se materializaban las fantasías y los presagios de la abuela (García Márquez 2002: 93).
An dieser Stelle wird die Auswirkung der großmütterlichen Erzählungen deutlich. Den Großvater bezeichnete er als seinen besten Freund und als die wichtigste, männliche Bezugsperson in seinem Leben:
Mi abuelo era mi gran compañero, amigo y confidente. La figura más importante de mi vida. Murió cuando yo tenía ocho años. Después todo me resultó plano… Desde entonces no me ha pasado nada interesante (Hernández de Lopez 1985: 347).
Nach dem Tod des Großvaters zog er im Alter von acht Jahren zu seinen Eltern nach Barranquilla und lernte diese dort zum ersten Mal persönlich kennen. Die Beziehung zu seiner Mutter war geprägt von Ernsthaftigkeit: „El distintivo de mi relación con mi madre, desde muy niño, ha sido el de la seriedad“ (Apuleyo Mendoza 1982: 23) und auch sein Vater war im Gegensatz zum Großvater in der Erziehung deutlich strenger (vgl. Ploetz 1992: 14).
Als 12-jähriger besuchte er ein Jesuitenkolleg in Bogotá, erhielt jedoch bald ein Stipendium für das Colegio Nacional de Zipaquirá, an welchem er sich zu einem stillen Schüler entwickelte und seiner Umwelt wenig Beachtung schenkte. In dieser Zeit flüchtete er sich bereits in die Welt der Literatur (vgl. Ploetz 1992: 16). Im Anschluss begann er sein Jurastudium in der Hauptstadt Bogotá, wo er im Jahre 1948 hautnah die Ausbrüche des Bürgerkrieges zwischen den Konservativen und den Liberalen erlebte. Geprägt durch blutige Straßenschlachten und Gewalt, kehrte er nach Cartagena an die Küste Kolumbiens zurück (vgl. Ploetz 1992: 22). In dieser Lebensphase reiste er während der Schul- und Semesterferien häufig zu seiner Familie und lernte während eines Besuches seine zukünftige Frau Mercedes Barcha kennen (vgl. Ploetz 1992: 18f.). In späteren Gesprächen mit seinem Freund Plinio Apuleyo Mendoza im Jahre 1982 beschreibt er seine Ehe sowie die Beziehung zu seinen Söhnen als sehr harmonisch und freundschaftlich (vgl. Mendoza 1982: 117f.).
Bereits zurzeit des Studiums widmete sich García Márquez zunehmend dem Journalismus: Seine ersten Erzählungen werden in der literarischen Beilage von „El Espectador“ herausgegeben. Später arbeitete er zwei Jahre lang in Cartagena für die neu gegründete Zeitung „El Universal“. Anschließend, in Barranquilla, schloss er sich der „Grupo de Barranquilla“ an, einer Gruppe bedeutender Schriftsteller und Journalisten, welcher Alfonso Fuenmayor, Germán Vargas, Ramón Vinyes und Alvaro Cepeda Samudio angehörten (vgl. Ploetz 1992: 25). Diese Bekanntschaften verhalfen ihm zu dem Entschluss sich völlig der Literatur hinzugeben und entgegen der Erwartungen seiner Eltern vom Schreiben zu leben (vgl. ebd.). Er bekam den Auftrag mehrmals in der Woche Nachrichten für die Zeitschrift „El Heraldo“ zu schreiben, gründete in diesem Rahmen die Kolumne „La jírafa“ und verfasste währenddessen etwa vierhundert Jírafas, also kurze Nachrichten (vgl. ebd.). Neben der literarisch vielfältigen Inspiration, die García Márquez durch die „Grupo de Barranquilla“ gewann, widmete er sich völlig einem neuen Lebensgefühl: Berauscht von Alkohol und Literatur, feierten die Männer bis tief in die Nacht, um am nächsten Tag neue Ideen zu Papier zu bringen. In dieser Zeit entstanden zahlreiche Erzählungen und Kolumnen. Autoren die ihn bedeutend prägten waren Autoren wie William Faulkner, James Joyce oder Virginia Woolf (vgl. ebd.: 31). Ein einschlägiges Werk war eine 1955 veröffentlichte Reportage über den Schiffbrüchigen Luis Alejandro Velasco, die später als Roman unter dem Titel un relato de un naufrago erschien. Seine Arbeit als Journalist führte ihn immer wieder von Cartagena, der Stadt, in der seine Eltern lebten, nach Barranquilla und umgekehrt. Schließlich bereiste er auch Europa, berichtete unter anderem aus Genf, Rom, Venedig, Paris, London, Polen, Ungarn und der UdSSR (vgl. ebd.: 31f.). Bedeutsame Werke sind La hojarasca, welches im Jahr 1955 publiziert wurde und El coronel no tiene quien le escriba aus dem Jahr 1957. Zur selben Zeit wurde die liberal orientierte Zeitung „El Espectador“ durch das Militärregime geschlossen und García Márquez blieb ohne Einkommen in Europa. Mit Hilfe seines Freundes Plinio Apuleyo Mendoza (s.o.) konnte er in Caracas in einer Wochenzeitung namens „Elite“ veröffentlichen und siedelte daher nach Venezuela über. Währenddessen wurde durch Volksentscheid in Kolumbien das System der Nationalen Front eingeführt, welches die Macht zwischen den Liberalen und Konservativen aufteilte (vgl. ebd.: 58). Bei einem kurzen Besuch in Kolumbien im Jahr 1958 heiratete er seine langjährige Verlobte Mercedes Barcha, kehrte daher nach Kolumbien zurück und gründete zusammen mit Plinio Mendoza die „Prensa Latina“. Im Rahmen dieser Arbeit wurde er 1960 nach Havanna und anschließend nach New York entsandt und schrieb zeitgleich Los funerales de la Mamá Grande. Bereits drei Jahre später gab er seine Arbeit bei der „Prensa Latina“ auf, reiste mit seiner Frau und seinem Sohn nach Mexiko und lebte dort fortan von journalistischen Arbeiten sowie dem Schreiben von Filmdrehbüchern (vgl. ebd.: 65f.). Diese Tätigkeit erwies sich aber schnell als ernüchternd und so fand García Márquez erneut die grenzenlosen Möglichkeiten der Literatur und Einbildungskraft wieder. Er folgte einer plötzlichen Eingebung den Roman „La casa“, den er bereits fünfzehn Jahre mit sich trug, zu vollenden:
Un día, yendo para Acapulco con Mercedes y los niños, tuve la revelación: debía contar la historia como mi abuela me contaba las suyas, partiendo de aquella tarde en que el niño es llevado por su padre para conocer el hielo (Mendoza 1982: 96).
Er verfasste schließlich innerhalb von 18 Monaten Cien años de soledad. Als der Roman 1967 erschien, war er bereits nach wenigen Tagen vergriffen und wurde so euphorisch angenommen und rezipiert, dass der Erfolg 1982 im Erhalt des Nobelpreises für Literatur gipfelte (vgl. Ploetz 1992: 70f.).
Die Betrachtung der Biographie von Gabriel García Márquez‘ soll an dieser Stelle, dem „Durchbruch“ seiner Karriere, enden, da sich die vorliegende Arbeit auf die Verarbeitung seiner Erfahrungen genau dieses Lebensabschnittes konzentriert. Auch seine Autobiographie Vivir para contarla (2002) umfasst etwa diese Lebensphase, da ursprünglich noch weitere Teile geplant waren (vgl. Segura Bonnett 2004: 116). Abschließend bleibt daher noch zu erwähnen, dass Gabriel García Márquez 1999 an Krebs erkrankte, zunehmend an seiner Krankheit und später auch an Demenz litt und 2014 schließlich im Alter von 87 Jahren verstarb (vgl. Gogos 2014).
Im Folgenden gilt es zu analysieren, wie García Márquez selbst sein Leben in seiner Autobiographie Vivir para contarla darstellt, ob und auf welche Weise er seine persönlichen Erfahrungen möglicherweise bereits 1967 in seinem herausragenden Werk Cien años de soledad“ eingebettet und verarbeitet hat. Beiden Werken liegt die Gemeinsamkeit der Narrativität zugrunde. Ziel ist es somit herauszuarbeiten, inwiefern sich die Autobiographie literarischer und rhetorischer Mittel bedient und im Gegenzug dazu der Roman auf wahre Begebenheiten referiert. Denn ohne Zweifel gehört die Autobiographie zur Ästhetik der Literatur, gleichzeitig erhebt sie allerdings den Anspruch auf Wahrheit und Lebensnähe. Möglicherweise lässt sich die These aufstellen, dass beide Werke einen Grenzfall darstellen. Dies soll anhand des Verhältnisses von Fakten und Fiktionen untersucht werden. Folglich ergibt sich die Frage, ob es in der Literaturwissenschaft textuelle Kennzeichen gibt, die solch eine Unterscheidung ermöglichen.
Dazu wird zunächst die Autobiographie als Gattung definiert und unter verschiedenen Forschungsstandpunkten beleuchtet, um sie anschließend dem Roman unter der Berücksichtigung von Faktualität und Faktizität gegenüber zu stellen. Zentrale Aspekte, welche in diesem Rahmen analysiert werden, sind die Erzählstruktur, die Behandlung von Zeit und Ort und die Personenstrukturen. Damit einhergehend werden die beiden Werke also miteinander verglichen, um zu ermitteln, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich vorfinden lassen. Die Beispiele in der Analyse stellen eine Selektion dar, um die aufgestellte Hypothese, es handele sich möglicherweise bei beiden Werken um eine „Mischform“ zu belegen. Denn wie bereits in den Gesprächen mit seinem Freund Plinio Apuleyo Mendoza ersichtlich wird, ist sich García Márquez selbst durchaus bewusst, woher er den Stoff für seine literarischen Werke nimmt: „No hay en mis novelas una línea que no esté basada en la realidad“ (Mendoza 1982: 47).
2. Die Autobiographie
Aufgrund einer Vielzahl von Theorien und Konzepten zur Gattung der Autobiographie, ist eine Ausarbeitung der bedeutsamsten Merkmale und Definitionen notwendig, um eine Gegenüberstellung zu fiktionalen Texten zu ermöglichen. Dabei blickt die Autobiographie auf eine lange Tradition zurück: Die ersten biographischen Zeugnisse in Form von Grabinschriften reichen bis ins alte Ägypten in die Zeit um 3000 v. Chr. zurück. Auch im klassischen Griechenland lassen sich Selbstzeugnisse vorfinden, wie zum Beispiel die von Platon verfasste Apologie des Sokrates, eine Verteidigungsschrift. Wie auch später im Christentum wird hier bereits der rechtfertigende Charakter des biographischen Schreibens deutlich (vgl. Wagner-Egelhaaf 2000: 101f.). Bedeutsam ist das Werk Confessiones des Aurelius Augustinus, welcher in den Jahren von 354-430 lebte. Für die Autobiographieforschung gilt der Text als gattungskonstitutiv, da Augustinus sein Leben zusammenhängend darstellt und das eigene Ich reflektiert (vgl. ebd.: 107). In der Epoche des Mittelalters lässt sich das Autobiographische häufig mit dem Ritual der Beichtpraxis verbinden: Längere Lebensabschnitte wurden selbstkritisch überprüft (vgl. ebd.: 123). Weitere einschlägige Texte sind die Bekenntnisse von Rousseau um 1770 sowie Goethes Dichtung und Wahrheit im 19. Jahrhundert. Sie thematisieren den Prozess des Erinnerns. Ein relevantes Merkmal, welches sich also aus den Ursprüngen der Autobiographie entnehmen lässt, ist die Rechenschaft und Verteidigung des eigenen Lebens anderen gegenüber.
2.1. Forschungsansätze und Theorien
Den nachstehenden Ansätzen zu den verschiedenen Blickwinkeln auf die Gattung der Autobiographie soll folgende grundlegende Definition von Georg Misch (1998) vorangestellt werden: „Die Autobiographie soll als Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto) aufzufassen sein“ (Misch 1998: 38).
Misch ist es, der neben dem Zweck die Autobiographie als Selbstzeugnis eines Menschen zu sehen, den Eigenwert als eine eigenständige literarische Gattung in das Blickfeld der Untersuchungen rückt (vgl. ebd.: 35f.).
Die Autobiographieforschung datiert ihren Beginn etwa in der Jahrhundertwende vom 18. ins 19. Jahrhundert und hat in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen (vgl. Niggl 1998: 1). Wilhelm Dilthey weckte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinen neuen Überlegungen zur Autobiographie großes wissenschaftliches und historisches Interesse an dieser Gattung (vgl. ebd.: 2). In seiner Forschung steht der Begriff des „Lebensverlaufes“ im Fokus und meint in diesem Zusammenhang zum einen den Lebens verlauf des Menschen, welcher durch die Geburt und den Tod umgrenzt sei und zum anderen den Lebens zusammenhang, welcher durch die Entscheidungen und Beschlüsse eines einzelnen Menschen erlebbar wird (vgl. Dilthey 1989: 21). Dilthey sieht in der Autobiographie „eine Deutung des Lebens in seiner geheimnisvollen Verbindung von Zufall, Schicksal und Charakter“ (Dilthey 1998: 24). Welche Rolle das Erinnern in diesem Zusammenhang spielt, wird im Kapitel 2.4. näher erläutert.
Eine weitere einschlägige Überlegung zur Autobiographie bezeichnet Philippe Lejeune (1998) als „autobiographischen Pakt “. Während sich Misch in seiner Definition auf die Erläuterung der einzelnen Begriffsfragmente beschränkt, geht Lejeune detaillierter vor und bemüht sich die Autobiographie enger einzugrenzen. Als Ausgangspunkt wählt er die Situation des Lesers[2] und definiert die Autobiographie wie folgt:
Rückblickender Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person über ihr eigenes Dasein erstellt, wenn sie das Hauptgewicht auf ihr individuelles Leben, besonders auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt (Lejeune 1998: 215).
Diese Definition bestimmt also vier Kategorien, die alle zutreffen müssen, damit es sich bei einem Text um eine Autobiographie handelt. In Anlehnung an Lejeune (1998) dient das folgende Schema als Übersicht:
1. Form der Sprache
a. Bericht
b. Prosa
2. Behandelter Gegenstand
Individuelles Leben, Geschichte einer Persönlichkeit.
3. Situation des Autors
Identität des Autors (dessen Name auf eine wirkliche Person verweist) und des Erzählers.
4. Position des Erzählers
a. Identität des Erzählers mit der Hauptfigur,
b. Rückblickende Perspektive des Berichts.
Demnach lassen sich zunächst einige eng verwandte Gattungen aufgrund einer nicht erfüllten Bedingung abgrenzen: Die Memoiren thematisieren nicht ein individuelles Leben, da sie tendenziell in einen historischen Kontext eingebettet oder Personen des öffentlichen Lebens vorbehalten sind. In einer Biographie ist keine Übereinstimmung der Identität des Erzählers mit der Identität der Hauptfigur vorhanden, in einem persönlichen Roman stimmt die Identität des Autors nicht mit der des Erzählers überein und ein autobiographisches Gedicht ist nicht in Prosa verfasst. Dem intimen Tagebuch, sowie dem Selbstporträt oder Essay fehlt die rückblickende Erzählperspektive (vgl. Lejeune 1998: 216).
Die verschiedenen Kriterien müssen laut Lejeune nicht gänzlich erfüllt sein, zwei Aspekte seien allerdings unerlässlich: Die Identität des Autors und des Erzählers sowie die Identität des Erzählers mit dem Protagonisten. Der Autor geht mit dem Leser demnach einen „Pakt“ ein, indem er diesem seine Identität versichert. Zählt das Titelblatt zum Text, ist das Kriterium der Namensidentität zwischen Erzähler, Autor und Hauptfigur bereits gegeben. Diese Namensidentität kann jedoch auch auf andere Weise deutlich gemacht werden: Zum einen implizit durch die Verwendung eindeutiger Titel (z.B. „Meine Lebensgeschichte“) oder durch einen Eingangsabschnitt des Textes, in dem der Erzähler dem Leser deutlich macht, dass es sich um den Autor handelt. Andererseits kann die Namensidentität explizit vorhanden sein, in dem die Erzählfigur sich selbst den Namen des Autors gibt (vgl. ebd.: 232). Der „autobiographische Pakt“ ist laut Lejeune also ein „Vertrag“, in dem der Autor seiner Leserschaft versichert, dass alles auf ihn zurückzuführen sei. Relevant dabei ist ebenfalls, dass der Leser diesem Vertrag zustimmt (vgl. ebd.: 255).
Viele wissenschaftliche Überlegungen bauen auf der Grundidee Lejeunes auf. Elizabeth Bruss (1998) setzt in ihrem Aufsatz „die Autobiographie als literarischer Akt“ dem autobiographischen Pakt entgegen, dass dieser heutzutage nicht mehr vollständig zur Geltung kommen kann, da ein Leser des 20. Jahrhunderts keinesfalls mit einem Autor aus dem 18. Jahrhundert einen Pakt schließen könne. Auch die Haltung des damaligen Lesers könne nicht mit dem heutigen Leser übereinstimmen (vgl. Bruss 1998: 259).
2.2. Aufbau und Form
Hinsichtlich des Aufbaus bedient sich Wayne Shumaker (1998) der aristotelischen Dramengliederung, da sich diese auf alle in Prosa verfassten Texte anwenden lässt und unterteilt die Autobiographie in Anfang, Mitte und Ende. Der Beginn handelt laut Shumaker in acht von zehn Autobiographien von der Geburt und Kindheit sowie den Vorfahren eines Autors. Auch das Ende folge einem gleichbleibenden Muster. War die Thematik der Autobiographie eine spezielle Handlung, wie etwa eine Reise, so endet sie mit deren Abschluss. Relevant dabei ist zudem, dass der Autor sich zum Zeitpunkt des Verfassens in einem Stadium befindet, in dem die Karriere beendet und das Leben ausgeschöpft sei und der Schreiber somit nun eine gewisse geistige Stabilität mit sich bringt (vgl. Shumaker 1998: 103f.). Das dazwischen Geschehene thematisiert meist Stoffe, „die besondere Beachtung der Erziehung, ferner Berufsleben oder Karriere, Heirat und Familienleben (häufig stark gekürzt), gesellschaftliche Verbindungen und Reisen“ (ebd.: 109) beinhalten. Es liegt nahe, dass diese Ereignisse rein chronologisch erzählt werden, dennoch bedienen sich die Autoren üblicherweise Zeitsprüngen, da sie ihre Autobiographie bereits zu einem Zeitpunkt verfassen, an welchem sie „allwissend“ die damalige Situation überblicken. Vorwegnahmen und Rückblicke sind somit fast unumgänglich (vgl. ebd.: 110). Shumaker weist auf drei unterschiedliche Möglichkeiten der Aneinanderreihung von Handlungen hin. Zum einen die feststellende Aneinanderreihung von Handlungen, die auch allein stehen könnten, ohne ihren Sinn zu verlieren, außerdem die erzählerische Aneinanderreihung, bei der die Handlungen in einem Zusammenhang stehen und ohne eine Fortführung keinen Sinn tragen und zuletzt die „Mischform“, bei welcher sich die Darlegung und Erzählung abwechseln (vgl. ebd.: 104).
Darüber hinaus unterscheidet Waldmann (2004) zwischen dem literarischen autobiographischen Erzählen und dem alltäglichen literarischen Erzählen. Ersteres findet statt, wenn das Aufschreiben der eigenen Lebensgeschichte am Schreibtisch stattfindet. Die zweite Form meint das mündliche Erzählen gegenüber Verwandten, Freunden und Bekannten. Ein wesentlicher Unterschied im Bezug auf den Aufbau besteht darin, dass das mündliche Überliefern weniger linear und bewusst abläuft, sondern tendenziell eher durch Abschweifungen und Unterbrechungen gekennzeichnet ist (vgl. Waldmann 2004: 103f.) Des Weiteren gilt hinsichtlich der Form der Autobiographie die „logische und sachgerechte“ Ich-Erzählung als üblich (vgl. Müller 1976: 56). Zusammenfassend lässt sich daher mit einem Zitat Shumakers festhalten:
Die eigentliche Autobiographie ist ein Resümee, ein Rückblick auf das ganze Leben oder auf einen wesentlichen Teil desselben – wie ein Maler einen Schritt zurücktritt, um das fertige Gemälde zu betrachten (Shumaker 1998: 78).
2.3. Autobiographie und Fiktion gleich ‚Autofiktion‘?
Das Verhältnis von Autobiographie und Fiktion ist sehr kontrovers. Über eine geraume Zeit stellte man beides als gegensätzlich dar, indem die Autobiographie nur eine reale Wirklichkeit und die Fiktion eine erfundene, fantasierte Wirklichkeit behandelt (vgl. Waldmann 2000: 104). Mittlerweile geht man davon aus, dass sich das Fiktionale und das Autobiographische einschließen: Das Erinnern an wahre Begebenheiten erfolgt selektiv, wird modifiziert oder vermischt, so dass bereits Eingriffe enthalten sind. Die literarische Fiktion wiederrum enthält selten völlig frei Erfundenes, in der Regel greift der Autor auf autobiographische Erfahrungen und Erlebnisse zurück, wodurch sich also beides wechselseitig bedient (vgl. ebd.: 104). Die Grenzen der beiden Gattungen nähern sich demnach zunehmend an, da die Autobiographie immer mehr fiktionale Elemente beinhaltet und der Roman immer persönlicher wird (vgl. Shumaker 1998: 85).
Im Kontext des „autobiographischen Pakts“ stellte Lejeune ebenfalls die Überlegung eines „romanesken Pakts“ an, der dem autobiographischen analog gegenübersteht: Die offensichtliche Nicht-Identität zwischen Autor und Figur und die Bestätigung der Fiktivität seien zwei Aspekte, die den Roman deutlich von der Autobiographie abgrenzen (vgl. Lejeune 1998: 232). Die beiden differenzierten „Paktformen“ schaffen einen Gattungsunterschied zwischen Roman und Autobiographie, der sich folgendermaßen darstellen lässt:
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Tabelle 1: Namensidentität in Roman und Autobiographie
Die Tabelle 1 wurde in Anlehnung an Lejeune (1998) übernommen, allerdings um die beiden Komponenten 4a und 4b ergänzt. Hier anzusetzen wäre ein weiterer Typus von Texten, die sich weder dem autobiographischen, noch dem romanesken Pakt beugen.
Da der „autobiographische Pakt“ jene Texte impliziert, in denen die Hauptfigur identisch mit dem Autor ist (vgl. ebd.: 217) handelt es sich um sogenannte „autobiographische Romane“ und somit vermeintlich um Fiktion.
Darüber hinaus ist häufig in Abgrenzung zu den Begriffen „Autobiographie“ und „autobiographischer Roman“ der Terminus „Autofiktion“ in der Forschung geläufig geworden. Der Begriff wurde von dem französischen Literaturwissenschaftler Serge Doubrovsky im Zusammenhang mit seinem Roman Fils (1977) eingebracht und folgendermaßen definiert:
Fiktion strikt realer Ereignisse und Fakten; wenn man so will ist Autofiktion: Die Sprache über das Abenteuer zu einem Abenteuer über Sprache zu machen, jenseits von Konvention und Syntax des Romans, sei er neu oder traditionell (Doubrovsky 2004: 117).
Der Roman erzählt einen Tag aus dem Leben des New Yorker Literaturprofessors Julien Serge Doubrovsky, der schnell mit dem Autor verschmilzt. Christina Schäfer (2008) erläutert in ihrem Beitrag zur Autofiktion die Doppeldeutigkeit des Romans von Doubrovsky – Zum einen stimmen die Namen, Fakten, Orte und Ereignisse mit denen seines Lebens überein, zum anderen reduzieren sie sich auf die Erfindung eines ‚Pseudo-Tages‘, an welchem alles stattgefunden haben soll, und der dem Ganzen einen Rahmen gebe. Aufgrund dieser „Doppelgesichtigkeit“ des Textes, grenzt Doubrovsky ihn sowohl von der Autobiographie als auch vom Roman ab (vgl. Schäfer 2008: 300). Es wird also deutlich, dass wirklich Geschehenes in eine „fiktive Form“ gegossen wird und der literarische Charakter autobiographischer Erzählsituationen in den Vordergrund rückt. Im Gegensatz zur Autobiographie verbirgt die Autofiktion ihre fiktionalen Anteile nicht und kann daher sowohl fiktional als auch faktual rezipiert werden. Demnach lässt sich in der Tabelle 1 die Konstituente 4a als „Autofiktion“ bezeichnen und die Konstituente 4b mit „autobiographischer Roman“, so dass zwei Grenzfälle zwischen autobiographischem und fiktionalem Schreiben hervortreten.
2.4. Erinnerung, Gedächtnis und Wahrheit
In Anlehnung an Wagner-Egelhaaf (2000) soll im Folgenden das ‚Gedächtnis‘ und die ‚Erinnerung‘ im Zusammenhang mit der Autobiographie skizziert werden.
Die Hauptquelle einer Autobiographie ist das Gedächtnis sowie das Erinnerungsvermögen des Autors (vgl. Wagner-Egelhaaf 2000: 12). Das Erinnerungsvermögen wird dabei in zwei verschiedene Arten unterteilt: Zum einen die ungeplanten und unbewussten Erinnerungen und zum anderen die autobiographischen Erinnerungen, die bewusst hervorgerufen werden, um die Vergangenheit aufzuschreiben (vgl. ebd.: 12). Doch sowohl das ‚Erinnern‘ als auch das ‚Gedächtnis‘ tragen die negative Begleiterscheinung des Vergessens mit sich. Somit ist im Hinblick auf die Überprüfung des Wahrheitsgehaltes einer Autobiographie zu beachten, dass der Autor diesem Prozess des Vergessens unterliegt und Details möglicherweise nicht mehr erinnert. Auf der anderen Seite besteht die Option, Erinnerungen auszulassen oder „Erinnerungslücken“ fingiert auszuschmücken (vgl. ebd.: 13). „D.h. die Wahrheit der Autobiographie ist auch dann gegeben, wenn das Ich, das ja zugleich erzählendes und erzähltes Ich ist, die dargestellte Welt grundsätzlich verkennt.“ (Müller 1976: 226).
Auch Waldmann bestätigt mit Rückbezug auf die psychologische Gedächtnisforschung „dass Erinnerung nie nur wirklich Geschehenes wiedergibt, sondern es vermischt, ergänzt, verändert und teilweise rein Erfundenes: Fiktion, wenn man so will, enthält“ (Waldmann 2000: 104). Resümierend lässt sich demnach festhalten, dass Autobiographien grundsätzlich auf Erinnerungen basieren und somit einhergehend ein Konstrukt sind, welches fiktionale Elemente beinhaltet. Daher steht der Leser vor der Frage, inwieweit eine Referenz zur Wirklichkeit gegeben ist.
Neben dem von Lejeune formulierten „autobiographischen Pakt“ und dem „romanesken Pakt“ steht der „referentielle Pakt“, denn im Unterschied zu allen fiktionalen Textformen bezieht sich die Autobiographie laut Lejeune auf eine historische Realität und könne sich somit einer Prüfung der Verifizierbarkeit unterziehen: „Ihr Ziel ist nicht die bloße Wahrscheinlichkeit, sondern die Ähnlichkeit mit dem Wahren. Nicht die ‚Wirkung des Realen‘ sondern das Abbild des Realen“ (Lejeune 1998: 244). Würde nun eine Eidesformel des Autors für den „autobiographischen Pakt“ „Ich, der Unterzeichnete“ lauten, könnte für den „referentiellen Pakt“ folgende Formel stehen: „Ich schwöre, daß [sic!] ich die Wahrheit sage, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit“ (ebd.: 244). Relevant ist daher nicht die Tatsache, ob das Erzählte des Autors mit der realen Welt des Autors übereinstimmt oder nicht, sondern das äußerliche Kriterium der Namensidentität. Daher ist die Haltung des Lesers in erheblichem Maße bestimmt:
[...]
[1] Tobias Carroll: „Between Literature and Journalism: Notes on Gabriel García Márquez” (Stand: 19.02.2015), http://www.signature-reads.com/2015/02/between-literature-and-journalism-notes-on-gabriel-garcia-marquez/ (Zugriff:15.07.2016)
[2] Aus sprachökonomischen Gründen und für eine bessere Lesbarkeit wird während der gesamten vorliegenden Arbeit bei personenbezogenen Bezeichnungen die männliche Bezeichnung benutzt, impliziert aber gleichermaßen das weibliche Gender.