Leseprobe
Heterogene Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen
Die Lebensbedingungen von Heranwachsenden können nur entschlüsselt werden, wenn ihre Lebenswelten und Sozialisationsfunktionen in den Blick genommen werden. Denn Lebenswelten werden maßgeblich von Sozialisationsagenten beeinflusst. Die Familie gilt als primäre Sozialisationsinstanz. Die kindliche Entwicklung wird von elementaren Erfahrungen und Interaktionsprozessen mit primären Bezugspersonen geprägt.
Die zweite Sozialisationsinstanz bilden Bildungsinstitutionen und die darin handelnden AkteurInnen. Kindheit ist heutzutage maßgeblich geprägt durch das Aufwachsen im öffentlichen Raum (vgl. Brinkmann 2008: 18ff.). So steigt institutioneller Kontakt immer mehr an und betrifft v.a. auch Kinder unter dem dritten Lebensjahr. Ein Beispiel für die Institutionalisierung der Kindheit liefert der Rechtsanspruch auf einen KiTa-Platz, ab dem ersten Lebensjahr, seit dem ersten August diesen Jahres. Aber auch das Zeitkontingent in der Bildungsinstitution Schule steigt weiter an. So wurde ein erheblicher Teil der Grund- und weiterführenden Schulen (OGGS) in ein ganztägiges Angebot eingebettet.
Die dritte Sozialisationsinstanz bildet der Kontakt mit Peers. Erfahrungen und Aushandlungsprozesse mit Gleichaltrigen sind in heutiger Zeit von hoher Relevanz, weil der Anteil von Einzelkindern in Deutschland, bei 1,3 Kindern pro Familie, ziemlich hoch ist. Kinder bedürfen sozialer Erfahrungen mit Gleichaltrigen, weil im Interaktions- und Aushandlungsprozess wichtige Grundlagen gelegt werden, um u.a. soziale Kompetenzen entwickeln zu können.
Die Medien bilden eine weitere Sozialisationsunktion (vgl. Brinkmann 2008: 20f.). Die Bedeutung digitaler Medien im Alltagsleben von Kindern und Jugendlichen wächst weiter an und Medien spielen eine selbstverständliche Rolle in der heutigen Gesellschaft. Medien ermöglichen Heranwachsenden Handlungswirksamkeit und Mobilität, ohne dass das Elternhaus verlassen werden muss. Die Trennlinie zwischen „offline“ und „online“ wird von Heranwachsenden kaum noch gezogen, weil Medien allgegenwärtig und zu jeder Zeit Verfügbar sind. Wie die Ergebnisse der JIM und KIM Studie aus den vergangenen Jahren zeigen, verschärft der Medienumgang digitale bzw. soziale Ungleichheiten. So ist die Kompetenz, Medien zu nutzen vom sozialen Milieu abhängig. Hierzulande kommt fast jeder dritte junge Mensch aus einem Elternhaus, das entweder von Armut bedroht ist, in dem die Eltern keiner Erwerbstätigkeit nachgehen oder selbst keine ausreichenden Schulabschlüsse nachzuweisen haben. Partizipationsmöglichkeiten sind nach der Kapitaltheorie sozialer Ungleichheit von Pierre Bourdieu vom kulturellen, ökonomischen und sozialen Kapital abhängig. Heranwachsende stehen in Abhängigkeit zu den vorhandenen Kapitalen ihrer Familien und Netzwerke, wodurch soziale Ungleichheiten weitervererbt werden. Heranwachsende haben somit wenige Chancen aufzusteigen, weil ihre Sozialisationsbedingungen maßgeblich vom Kapital ihrer Familien abhängig sind (vgl. Brinkmann 2008: 36ff.).
Zudem reproduzieren politische Entscheidungen und Diskurse durch Gesetze soziale Ungleichheiten und halten sie dadurch weiter aufrecht. Als Risikogruppen im Hinblick auf Armutsgefährdung gelten Alleinerziehende, Hartz 4 Empfänger und Familien bzw. Individuen mit Migrationshintergrund. Solchen Gruppen stehen ungleiche gesellschaftliche Zugangsmöglichkeiten zur Verfügung. Die Politik setzt darauf Risiken frühzeitig zu erkennen, um sie durch Förderung kompensieren zu können.
Benachteiligungen gilt es demzufolge zu fördern, damit der wirtschaftliche Nutzen nicht gefährdet wird (vgl. 14. Kinder- und Jugendbericht 2012: 11ff.). Eine derartige neoliberale Sichtweise gefährdet die Vielfalt unserer Gesellschaft als Chance zu begreifen und Möglichkeiten des voneinander Lernens zu erkennen.
Pluralisierung der Lebensformen
Demografische und familienstrukturelle Veränderungen seit den 1950er Jahren bewirken die Pluralisierung von Lebensformen. Gestiegene gesellschaftliche Erwartungen an deine verantwortungsvolle Elternschaft, der Wunsch nach unabhängiger Lebensgestaltung erschweren Paaren ihre Entscheidung zu eigenen Kindern und bedingen die Reduzierung von Familiengrößen. Kinder und Jugendliche wachsen heutzutage häufig nicht mehr in Familien auf, die dem traditionellen bürgerlichen Familienideal entsprechen. Heterogene Lebensformen, wie z.B. Patchworkfamilien, Ein-Elternfamilien, nicht eheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern und Scheidungsfamilien sind in Deutschland keine Seltenheit mehr. Durch die steigende Berufstätigkeit beider Elternteile ist die gemeinsame Familienzeit reduziert. Die Arbeitsteilung innerhalb von Familien, aufgrund von Erwerbsarbeit geht mit Rollenänderungen einher und löst das bürgerliche Familienideal ab (vgl. Brinkmann 2008: 18f.). Im Zuge dieser Entwicklung trat ein Wertewandel ein, der u.a. Veränderungen von Erziehungsvorstellungen nach sich zog. So entwickelte sich in den 1960er und 70er Jahren die konsumorientierte Wohlstandsgesellschaft. Das Rollenverständnis veränderte sich zugunsten einer Orientierung hin zur Privatsphäre und Betonung partnerschaftlicher Werte. Damit erfuhr auch die Bedeutung von Kindern einen Wertewandel. Die Eltern-Kind Beziehung wurde emotionalisiert, d.h. der materielle Wert bzw. die ökonomische Absicherung durch Kinder trat zurück, zugunsten des immateriellen Werts von Kindern. Kinder wurden als Garanten des Glücks interpretiert, denn sie werden immer weniger gebraucht, stattdessen wünscht man sie sich (vgl. ebd.). „Moderne Kindheit ist ökonomisch wertlos und emotional unbezahlbar“ (Kaufmann 1980: 769). Die Folge ist ein kindzentrierter, partnerschaftlicher, demokratischer Erziehungsstil, im Gegensatz zum traditionellen autoritären Erziehungsstil.
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