Kohaerenz in Hypertexten Bedingungen und Strategien der Hypertextkommunikation


Magisterarbeit, 2004

97 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Zur Entwicklung und Definition von Hypertext
1.1 Exkurs: Geschichte des Hypertextes
1.2 Definitionsansätze
1.3 Sprachliche Linearität
1.3.1 Linearität in diachroner Betrachtung
1.3.2 Linearität in Hypertexten
1.4 Interaktivität
1.5 Linktypen
1.6 Hypertextstrukturen
1.7 Theorien zur Hypertextrezeption

2. Kohärenz in Text und Hypertext
2.1 Kohärenz als Kriterium für Textualität
2.1.1 Sprachsystematische vs. kommunikationsorientierte Perspektive
2.1.2 Kohäsion
2.1.3 Thematische und funktionale Kohärenz
2.1.4 Wissensmanagement
2.1.5 Globale Schemata und Strukturen
2.2 Möglichkeiten der Kohärenzplanung in Hypertexten
2.2.1 Typen von Kohärenzbildungshilfen
2.2.2 Metaphern
2.2.3 Navigationssysteme und Sitemaps
2.2.4 Guided Tours
2.2.5 Typisierte Links
2.2.6 Layout und Gestaltung

3. Hypertextentwicklung im Internet
3.1 Überlegungen zur Korpusauswahl
3.2 Untersuchungskriterien
3.3 Gruppe A: Nachrichtenangebote
3.3.1 Spiegel Online
3.3.2 Andere Nachrichtenmagazine
3.4 Gruppe B: Informationsangebote
3.5 Wikipedia

4. Diskussion
4.1 Beobachtbare Konventionalisierungsprozesse
4.1.1 Herausbildung eines prototypischen Spaltenlayouts
4.1.2 Omnipräsente Hauptnavigation
4.1.3 Abgeschlossene Dokumente
4.1.4 Optionale Einstiegsangebote
4.1.5 Hierarchischer Zugriff, lineare Organisation
4.2 Interpretation der Ergebnisse
4.3 Konsequenzen für die Kohärenzplanung in Hypertexten

Literaturverzeichnis

Quellen
Artikel und Interviews
Hypertextbeispiele

Einleitung

Als er aber zu den Buchstaben kam, sagte Teuth: „Diese Kunde, o König, wird die Ägypter weiser machen und ihr Gedächtnis erhöhen, denn zur Arznei für Gedächtnis und Weisheit wurde sie erfunden.“ Der aber erwiderte: „O kunstreicher Teuth, ein anderer ist fähig, die Werkzeuge der Kunst zu erzeugen, ein andrer wieder zu beurteilen, welches Los von Schaden und Nutzen sie denen erteilen, die sie gebrauchen werden. Auch Du sagtest jetzt als Vater der Buchstaben aus Zuneigung das Gegenteil dessen, was sie bewirken.“ - Platon, Phaidros

„The engineers seem to have the notion that you can take the documents that are written and dip them in some sort of technical acid and the facts will fall to the bottom and then these facts will roll into their appropriate slots. This is not so.“ - Ted Nelson[1]

Wenn neue Kommunikationstechnologien die Bühne betreten, gehören utopische Voraus­sagen über ihr revolutionäres Potential zu den regelmäßigen Begleiterscheinung. Schon Theuth, der König Thamus in Sokrates’ Erzählung seine Erfindung der Schrift anpreist, schwärmt von der Verbesserung der menschlichen Erinnerungskraft und Weisheit, die durch das Schreiben möglich sei. In neuerer Zeit wurden solche Potentiale in erster Linie im sozialen und politischen Bereich verortet. So hoffte Brecht in seiner Radiotheorie, dass nun das erste wahrhaft demokratische Medium geboren sei.[2] Ähnliche Hoffnungen verknüpften sich mit der Erfindung der Videotechnik, welche die Möglichkeiten zur Filmproduktion nahezu universell zugänglich machen sollte. Und als vor 20 Jahren das Kabelfernsehen Einzug hielt, gab es wiederum Stimmen, welche darin die Grundlage für das erste demokratische Massenmedium feierten.[3] All diese Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen.

Für die in den 60er Jahren entwickelte Hypertexttechnologie wurde zunächst haupt­säch­lich eine kommunikationstheoretische Utopie formuliert: man vermutete darin die Voraussetzung für eine neue, bessere Textkommunikation, die bereichernd für die verschiedensten kulturellen Bereiche wirken könnte. Ted Nelson, ein Hypertextpionier, war davon überzeugt: „[H]ypertext would be the wave of the future, the next stage of civilization, the next stage of literature and a clarifying force in education and the technical fields, as well as art and culture.“[4] Nelson ging fest von der Verdrängung des Buches aus und David Jonassen, Professor der Pensylvenia State University sagte 1982 voraus: „[I]n ten years or so the book as we know it will be as obsolete as is movebale type today.“[5] In der Tat birgt das Hypertextkonzept scheinbar ein immenses Potential im Bereich der Organisation und Bereitstellung von Informationen. Daher wurde mit dieser Technologie oftmals die Erwartung verknüpft, dass sie die Textkommunikation revo­lu­tio­­­nieren könnte. Grundlage für diese Annahme war zum einen der assoziative Charakter der Hypertextnutzung, der mit den kognitiven Strukturen des menschlichen Geistes verwandt erscheint, zum anderen die unkritische Euphorie, mit der neuen Kom­munikationstechnologien häufig begegnet wird. Nelson etwa war der festen Über­zeugung: „[i]nter­twingu­lar­ity is not generally acknowledged - people keep pretend­ing they can make things hierarchical, categorizable and sequential when they can’t. Everything is deeply inter­twingled.“[6] Und Beeman, der mit dem Lernsystem Intermedia experi­men­tierte, forderte im Rahmen der ersten ACM Conference on Hypertext, dass es nicht ausreiche, lediglich Wissen zu vermitteln. Vielmehr müsse perspektivisches, nichtlineares Denken trainiert werden und Hypertext sei das ideale Medium, um diese Art des Denkens zu fördern.[7]

Ich will in dieser Arbeit der Frage nachgehen, in wie weit sich diese Prognosen für die Hypertextkommunikation bestätigen und in welchem Verhältnis Hypertext zum ge­druckten Text steht. Zur Beantwortung dieser Frage scheint es sinnvoll, bereits ge­wonnene Einsichten in die Bedingungen der nichtelektronischen Textkommunikation auf die Erfahrungen mit dem neuen Medium zu beziehen. Diese Herangehensweise verspricht, in zweifacher Weise fruchtbar zu sein: zum einen helfen die Erkenntnisse der traditionellen Text­linguistik, die Phänomene der Hypertextentwicklung einzuordnen. Zum anderen stellt die dynamisch gewachsene Menge an Hypertexten eine neue Möglichkeit dar, diese Erkenntnisse aus einem anderen Blickwinkel zu überprüfen. In diesem Zusammenhang soll geklärt werden, welche Bedingungen für die Kommuni­kation mit assoziativ verknüpften, elektronischen Texten notwendig wären, um die traditionelle Textkommunikation substantiell zu bereichern oder gar abzulösen, und ob diese Bedingungen im gegenwärtigen Hypertextgebrauch vorzufinden sind.

Zu Begin der Arbeit sollen die Entstehungsgeschichte der Hypertexttechnologie sowie die mit ihr verbundenen Hoffnungen und Visionen beleuchtet werden. Danach folgt eine Übersicht über die noch immer recht uneinheitliche Definition des Begriffs Hypertext. Dabei wird auf gängige Annahmen über die Nichtlinearität und Multimedialität als konstitutive Eigen­schaften von Hypertext eingegangen. Im zweiten Teil wird der Begriff der Kohärenz als grundlegendes Kriterium für Textualität untersucht. Es werden die ein­zelnen Dimensionen der Textkohärenz und ihre Bedeutung für Hypertext­­­kom­munikation erläutert. Im Anschluss werden Möglich­keiten der Kohärenzplanung in Hypertexten vorgestellt.

Im dritten Teil soll ein Überblick über die Entwicklungen im größten existierenden Hyper­textnetz, dem World Wide Web, gegeben werden. Dieser Bereich ist für die text­linguistische Analyse insbesondere deshalb interessant, weil er sich aufgrund seiner nahezu unbeschränkten Publika­tions- und Distributions­möglichkeiten und der sehr großen Anzahl von Autoren und Rezipienten ideal zur Beobachtung sich entwickelnder Konventionen im Umgang mit Hypertext eignet.[8] Insbesondere in den Bereichen der Dokumentation und der Informa­tionsangebote ist zu vermuten, dass potentielle Ver­stehens­probleme antizipiert werden und entsprechende Überlegungen in das Text­design eingehen. Einen Sonderfall bilden die umfangreich etablierten Online-Zeitungen, da schon deren gedruckte Vorläufer einige Aspekte von Hypertextualität aufweisen. Hier stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern die erweiterten Möglichkeiten der elektronischen Form als nützlich bewertet werden und deshalb zum Einsatz kommen.

Abschließend werde ich die Entwicklung der Hypertextkommunikation im World Wide Web den ursprünglichen Erwartungen gegenüberstellen. Dabei werden die Ergebnisse auf die zuvor erörterten Grundlagen der Kohärenzbildung bezogen und einige Vor­schläge zur Kohärenzplanung in Hypertexten unterbreitet, welche dazu beitragen könnten, die Lücke zwischen dem Potential von Hypertext und dem Status Quo zu ver­kleinern.

1. Zur Entwicklung und Definition von Hypertext

1.1 Exkurs: Geschichte des Hypertextes

Trotz der explosionsartigen Verbreitung und Weiterentwicklung von Hypertext, primär bedingt durch die breite Verfügbarkeit leistungsfähiger Computer und Betriebssysteme seit Ende der 90er Jahre sowie die kommerzielle Expansion des World Wide Web, entstanden weder das Hypertext­konzept noch die Technologie über Nacht. Hypertext­systeme wurden seit den 60er Jahren überwiegend im akademischen Kontext verwendet und weiterentwickelt, die zugrunde liegende Idee der technisch gestützten Verknüpfung einer breiten Informationsbasis geht jedoch noch weiter zurück. Bereits lange bevor die technischen Möglichkeiten zur Realisation der Hypertextidee in Sicht waren, tauchte die Idee textueller Netzwerke auf. So entwarf H.G. Wells bereits 1936 eine Welt­enzyklo­pädie, die er folgendermaßen beschrieb: „[The organization of this Worlden­zy­klo­pedia would] spread like a nervous network […] knitting all the intellectual workers of the world through a common interest and a common medium of expression into a more and more conscious co-operating unity.“[9] Diese Vision war eine Reaktion auf die stän­dig wachsende Flut von Informationen, vor allem im wissenschaftlichen Bereich, die sich aufgrund ihres Umfangs und ihrer Komplexität mit den herkömmlichen Methoden der Textverarbeitung und -organisation nicht mehr bewältigen ließen. Ein assoziativ funk­tionierendes, automatisiertes Textnetzwerk erschien als die optimale Lösung des Problems. Einer der ersten Artikel, der in die Richtung des Hyper­text­konzepts deutet, ist Vannevar Bushs[10] „As we may think“ aus dem Jahr 1945. Mit einer ähn­lichen Ziel­setzung wie Wells in seiner World Ezyklopedia formulierte er folgenden Gedanken:

„There is a growing mountain of research. But there is increased evidence that we are being bogged down today as specialization extends. The investigator is staggered by the findings and conclusions of thousands of other workers – conclusions which he cannot find time to grasp, much less to remember, as they appear. Yet specialization becomes increasingly necessary for progress, and the effort to bridge between disciplines is correspondingly superficial.“[11]

Zur Bewältigung dieser Informationsflut entwarf Bush ein Gerät namens Memex (Memory Expander). Dieses Gerät sollte auf der technischen Basis von Mikrofilmen persönliche Bücher, Aufzeich­nungen und Korrespondenzen speichern und schnell und flexibel abrufbereit halten. Referenziert würden die Informationen in diesem System über eine assoziative Indizierung, die es erlaubt, von einer Informationseinheit un­mittel­bar und automatisch zur nächsten zu gelangen. Bush hielt diese assoziative Verknüpfung deshalb für wichtig, weil sie die Funktionsweise des menschlichen Geistes nachbilde. In diesem seien die Beziehungen zwischen den einzelnen Einheiten abges­peichert als ein „intricate web of trails carried by the cells of the brain.“[12]

Der Begriff Hypertext wurde 1965 vom Begründer des Xanadu -Projekts Theodor Nelson geprägt. Als Havard-Student entwickelte er in den 60er Jahren das Konzept für ein computergestütztes Hypertextsystem und gilt als einer der Vordenker der Hyper­textidee. Das Ziel des Xanadu -Projekts besteht darin, eine als „Dokuversum“ bezeich­nete Struktur zu schaffen, welche die gesamte weltweit produzierte Literatur in sinnhafter Weise miteinander verknüpft. Das Ergebnis dieser Verknüpfung wäre nach Nelsons Vorstellung eine universelle Informationsquelle, die das gesamte Weltwissen über ein riesiges computergestütztes Begriffsnetz verfügbar machen würde. Zugleich sollen die Hypertextautoren bei der sinnvollen Verknüpfung ihrer Texteinheiten unter­stützt und die Verfügbarkeit aller referenzierten Dokumente technisch abgesichert werden. Die Leistungsfähigkeit dieses Verknüpfungs­netzwerks ginge mit seinen reich­haltigen Meta­informationen weit über das bestehende Hypertextnetzwerk des World Wide Web hinaus und erinnert in seiner Konsistenz eher an das geordnete Versions­management moderner Software­entwick­lungsumgebungen. Eine redundante Doku­men­ten­verwaltung sollte dafür sorgen, dass einmal verfügbare Texte für immer und zu jeder Zeit abrufbar sind, dass nur die Autoren selbst Änderungen an den Texten durchführen können und dass die Be­ziehungen der Texte zueinander systematisch expliziert werden.[13] Der Ausgangspunkt für Nelsons Idee war seine Unzufriedenheit mit dem Umstand, dass ihrer Natur nach nichtsequentielle Ideenkomplexe zur schriftlichen Kommunikation vom Autor in lineare Form gebracht werden und bei der Rezeption ihre nichtsequentiellen Strukturen wieder rekonstruiert werden müssen:

„[T]he intricacy of taking ideas and sentences and trying to arrange them into coherent, sensible, structures of thought struck me as a particularly intricate and complex task, and I particularly minded having to take thoughts which were not intrinsically sequential and somehow put them in a row because print as it appears on the paper, or in handwriting, is sequential. There was always something wrong with that because you were trying to take these thoughts which had a […] spatial structure all their own, and put them into linear form. Then the reader had to take this linear structure and recompose his or her picture of the overall content, once again placed in this nonsequential structure. […] Why couldn't that all be bypassed by having a nonsequential structure of thought which you presented directly?“[14]

Für Nelson ist die heutige Hypertextkommunikation im World Wide Web nichts weiter als die Emulation dessen, was schon auf Papier möglich war und das kämpferische Manifest „since 1960, we have fought for a world of deep electronic documents […] we fight on.“ auf der Xanadu -Webseite zeigt, mit welchem Eifer er sich noch immer der Verbreitung einer aus seiner Sicht besseren Hypertexttechnologie verpflichtet fühlt. Der Einfluss, den Ted Nelson und das Xanadu -Projekt auf die Entwicklung des WWW nehmen, ist jedoch nach wie vor als eher gering einzuschätzen.

Vor der explosionsartigen Popularisierung des Internets haben noch andere Personen zur Entwicklung von Hypertext beigetragen, dies jedoch meist in geschlossenen Um­ge­bungen. So hat beispielsweise Douglas C. Engelbart am Stanford Research Institute ein Hypertextsystem namens H-LAM/T („Human using Language, Artifacts and Methodology“) entwickelt, das zur Verwaltung der Forschungsdokumente und der Kom­mu­ni­kation in seinem Institut eingesetzt wurde. Engelbarts Arbeit stand dabei in einem größeren Zusammenhang mit seinem „Projekt zur Verbesserung des menschlichen Intellekts“ namens Augment, in dessen Rahmen auch die Maus – ein für Hypertext und moderne Betriebssysteme unverzichtbares Eingabegerät – entwickelt wurde. Das ehr­geizige Ziel des Projekts zeigt, welche hohen Erwartungen auch Engelbart mit der Entwicklung von Hypertext verband:

„By ‚augmenting human intellect‘ we mean increasing the capability of a man to approach a complex problem situation, to gain comprehension to suit his particular needs, and to derive so­lutions to problems. Increased capability in this respect is taken to mean a mixture of the follow­ing: more-rapid comprehension, better comprehension, the possibility of gaining a useful degree of comprehension in a situation that previously was too complex, speedier solutions, better solutions, and the possibility of finding solutions to problems that before seemed insoluble. […] Augmenting man’s intellect, in the sense defined above, would warrant full pursuit by an enlight­en­ed society if there could be shown a reasonable approach and some plausible benefits.“[15]

Zeitweise sehr populär und mitverantwortlich für die Verbreitung des Begriffs „Hypertext“ war die von Bill Atkinson entwickelte Autorenumgebung Hypercard für den Mac­intosh. Mit ihr konnten nicht nur Hypertextdokumente erstellt und betrachtet werden, sie enthielt darüber hinaus auch ihre eigene Programmier­sprache, was zeitweise zu der falschen Annahme führte, Hypertext sei eine Entwicklungsumgebung für Programmierer. Auch heute noch wird Hypercard von einer Gruppe nostalgischer Nutzer am Leben erhalten, Apple hat den Support mittlerweile jedoch eingestellt.

Weitaus einflussreicher für die Entwicklung der Hyper­text­kommunikation war Tim Berners-Lee. Während seiner Zeit beim Genfer Kernforschungszentrum CERN[16] ent­wickelte er die technischen Grundlagen für die weltweite Verbreitung des Internets. Dabei war sein ursprüngliches Ziel, die Kommunikation zwischen den örtlich getrennten Forschergruppen zu verbessern. Sein Beitrag bestand in erster Linie in der Definition des HTML[17] -Standards, der Entwicklung des Hypertext Transfer Protocols (http://) und der Entwicklung des ersten Webservers. Zudem entwickelte er den ersten grafischen Web-Browser, der dem World Wide Web (WWW) seinen Namen gab. Im Sommer 1991 wurde dieses Technologiepaket der Welt über das Internet zugänglich gemacht. Während Publikationen wie das Time Magazine Berners-Lee als den „Erfinder des Internets“ feiern, kommt Ted Nelson jedoch zu einer ganz anderen Einschätzung:

„[I]t turns out to be […] simply an extension of the file transfer protocol, in other words it's saying you can anonymously go in and dip in and take out this file and here is a proposed way to look at it. This is called HTML. […T]his is absolutely contrary to the Xanadu idea that you have clean data undefiled. […] All it is is FTP [File Transfer Protocol, DK] with lipstick.“[18]

Schon früh zeichnete sich die Diskrepanz ab zwischen dem, was Hypertext hätte sein können – und nach Nelson hätte sein sollen – und dem, was tatsächlich auf den Weg gebracht wurde. Diese reduzierte Version der Hypertextidee schöpft für Nelson das in ihr enthaltene Potential bei weitem nicht aus. Ohne brauchbare Metadaten, ein koordiniertes Dokumenten­­management und technisch gesteuerte und thematisch explizierte Vernetzung sah er den Trend zur bloßen Emulation gedruckter Kommunikation voraus. Für ihn war klar, dass die elektronische Entsprechung zu Bushs „intricate web of trails“ sich nicht von selbst einstellen würde, sondern ein Hypertextautorensystem die Erstellung eines solchen Netzes umfangreich unterstützen und steuern müsste. Und auch Berners-Lee, der heute als Direktor des Word Wide Web Konsortiums (W3C)[19] maßgeblich die Ent­wicklung der entscheidenden technischen Internetstandards mitbestimmt, muss zugeben:

„So far, the richness of the things you find on the web has been amazing, but the ability of a real user to create things and organize information, for example, by making links, is fairly limited.“[20]

Bestrebungen des W3C, sich dieses Mangels anzunehmen, finden unter anderem in dem Projekt des Semantic Web Ausdruck, welches den semantischen Gehalt von Hypertext­dokumenten für Computer verständlich repräsentieren soll. Dabei wird mit Rückgriff auf ebenfalls vom W3C standardisierte Technologien wie XML und RDF eine reduzierte Be­schreibungs­sprache entwickelt, die Eigenschaften von Hypertextdokumenten und deren Relation zu anderen Dokumenten wiedergeben kann. Vorrangiges Ziel dieser Be­mühungen ist jedoch nicht die Unterstützung von menschlichen Autoren und Lesern im Umgang mit Hypertext, sondern die maschinelle Interpretierbarkeit solcher Dokumente, welche komplexe organisatorische Vorgänge automatisieren soll. Es ist absehbar, dass die wichtigste Triebfeder auch für diese Entwicklung im Bereich der kommerziellen Verwertung liegen wird. Die Vision, welche die Entwickler dennoch mit dem Semantic Web verbinden und die Nelsons Zielsetzung für das Xanadu -Projekt auffallend ähneln, erscheinen vor diesem Hintergrund eher naiv:

„Properly designed, the Semantic Web can assist the evolution of human knowledge as a whole […] This structure will open up the knowledge and workings of humankind to meaningful analysis by software agents, providing a new class of tools by which we can live, work and learn together“[21]

Für die technische Entwicklung, Standardisierung und globale Ausbreitung des Internets waren von Anfang an in erster Linie marktabhängige Faktoren ausschlaggebend. Bereits gegen Ende der 80er Jahre wurde das Marktpotential von Hypertext-Produkten entdeckt und es zeichnete sich eine Kommerzialisierung der Hypertext­technologie ab. Die Entscheidung Microsofts, die Internet­browser­technologie zu einem integralen Bestandteil des Betriebssystems Windows zu machen, hat wesentlich dazu beigetragen, das Internet als kommerzielle Platform zu etablieren und die Be­deutung der Hypertexttechnologie für die Alltags- und Geschäfts­kommunikation beträchtlich zu steigern. Ebenso haben der darauf folgende dot.com-Boom an den Aktienmärkten und die Entwicklung erfolgreicher Geschäftsmodelle wie z.B. Online-Buchhandel und Auktionen ihren Teil zur Popularisierung des Internets bei­ges­teuert. Eine im August 2003 ver­öffentlichte Studie[22] kommt zu dem Ergebnis, dass in Deutschland mittlerweile 26,3 Millionen Menschen (47,7 Prozent der Altersgruppe zwischen 14 und 69 Jahren) Erfahrungen mit dem Internet – und folglich mit Hypertext – gesammelt haben. 90 Prozent der Internetnutzer gehen dabei mindestens einmal pro Woche ins Netz, täglich tun dies sogar 53 Prozent. Das meistgenutzte Informations­angebot stellen dabei Onlinezeitungen dar (43 Prozent), kommerziell am erfolgreichsten sind der Buchhandel und Onlineauktionen. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass das Internet (oder genauer: das WWW ) sich damit zum Alltags- und Massenmedium entwickelt hat.

1.2 Definitionsansätze

Seit der technische Fortschritt der Computertechnologie Mitte der 60er Jahre die Realisation der Hypertextidee ermöglichte, wurde sie in sehr unter­schiedlichen Projekten weiter entwickelt. Während es sich dabei zunächst noch um proprietäre, geschlossene Systeme mit eigenen Regeln und Darstellungsformen handelte (Hypercard, HES, NLS), ist durch die breite Akzeptanz des World Wide Web das HTML-Regelwerk des W3C zur bislang bedeutendsten institutionellen Hypertextkonvention geworden. Parallel entwickeln sich jedoch weiterhin geschlossene Systeme, hauptsächlich im Bereich der Lehrmaterialien und kommerziellen Präsentationsmedien. Diese Vielfalt bedingt, dass bis heute keine eindeutige und umfassende Definition für den Begriff Hypertext vorliegt und teilweise sogar eher von einer faszinierenden Idee als von einem klar umrissenes Konzept gesprochen wird.[23] Während einige Autoren zur Definition den Schreibprozess berücksichtigen (Nelson: „hypertext is non-sequential writing“), konzentrieren sich andere darauf, dass Hypertext potentiell das nichtlineare Denken beim Leser fördert (vgl. Beeman et al., 1987). Im All­ge­meinen werden jedoch eher die Eigenschaften des fertigen Textes heran­gezogen. Das Hypertext/Hypermedia Handbook von Berk/Devlin definiert Hypertext folgender­­maßen:

„Hypertext: The technology of non-sequential reading and writing. Hypertext is technique, data structure, and user interface. […] A hypertext (or hyperdocument) is an assemblage of texts, images, and sounds – nodes – connected by electronic links so as to form a system, whose existence is contingent upon the computer. The user/reader moves from node to node either by following established links or by creating new ones.“[24]

[...]


[1] Whitehead (1996)

[2] Brecht postulierte die politische Dimension, die das World Wide Web zum Ende des Jahrhunderts erlangte, bereits kurz nach 1930 für die damals neue Radiotechnologie. Er forderte in seiner Radiotheorie, den Rundfunk so zu demokratisieren, dass „das Publikum nicht nur belehrt [wird], sondern auch belehren muss“. Der Hörfunk sollte also nicht nur senden können, sondern auch empfangen – der Hörer sollte sich also bei Bedarf in einen Sender verwandeln. Bekanntermaßen hat sich diese Hoffnung für das Radio nicht erfüllt – durch das Internet ist sie jedoch 70 Jahre später Realität geworden. So schreibt die New York Times beispielsweise über den politische Prozess in Südkorea: „For years, people will be debating what made this country go from conservative to liberal, from gerontocracy to youth culture and from staunchly pro-American to a deeply ambivalent ally - all seemingly overnight... But for many observers, the most important agent of change has been the Internet.“ (Howard French, 'Online Newspaper Shakes Up Korean Politics', The New York Times, 6.3.2003); Und Der Spiegel urteilt über Howard Deans dezentralen Internet-Wahlkampf, dass dieser „die Politwerbung für immer verändert“ habe. Vgl. http://www.spiegel.de/netzwelt/politik/0,1518,268915,00.html

[3] Alvin Toffler z.B. sprach damals vom Anbruch einer „truly new era – the age of de-massified media.“ Heute jedoch gehören 20 der 25 größten amerikanischen Kabelkanäle den fünf größten Medienunternehmen des Landes. Vgl. http://www.zmag.org/content/showarticle.cfm?SectionID=21&ItemID=4219

[4] Nelson (1982: 2)

[5] Vgl. McKnight et al (1991: 2)

[6] Nelson: „Dream Machines“; zit. n. McKnight et al. (1991: 1)

[7] Vgl. Beeman et al. (1987)

[8] Mayfield/Nicholas konstatierten bereits 1997: „[F]or many people the Web ist the only hypertext system they have ever used or even heard of“ (1997: Abschn. V)

[9] zit. n. McKnight et al. (1991: 8)

[10] Vannevar Bush: erster Direktor des 1941 von Theodore Roosevelt gegründeten American Office of Scientific Research

[11] Bush (1945)

[12] a.a.O.; Die hier erstmals formulierte Annahme einer Ähnlichkeit einer solchen Netzstruktur mit der des menschlichen Geistes bildet die Grundlage für spätere kognitivistische Mutmaßungen über die Potentiale der Hypertextkommunikation und –wissensvermittlung; vgl. Abschnitt 1.7.

[13] Für eine Zusammenfassung des Xanadu -Paradigmas und eine Übersicht über die Entwicklung vgl. http://xanadu.com.au/general/faq.html

[14] Ted Nelson in einem Interview mit dem amerikanischen Radiosender KUCI (1996), zit. n. „Cyberspace Report“ http://www.ics.uci.edu/~ejw/csr/nelson_pg.html

[15] Engelbart, Augmenting Human Intellect, 1962, zit. n.: http://www.liquidinformation.org/ohs/62_paper_augm_hum_dig_pt1.html

[16] Organisation Européenne pour la Recherche Nucléaire

[17] Hypertext Markup Language

[18] Nelson, a. a. O.

[19] Das 1994 gegründete W3C am Massachusetts Institute of Technology mit seinen über 400 Mitgliedsorganisationen sorgt für die Entwicklung und Dokumentation der technischen Standards für diverse Internettechnologien, darunter HTML, XML, XML Schema, RDF (Resource Description Framework) und Semantic Web.

[20] Time Online -Interview mit Berners-Lee vom 29.09.1999, http://www.time.com/time/community/transcripts/1999/092999berners-lee.html

[21] Berners-Lee, Tim: The Semantic Web, Scientific American, Ausgabe Mai 2001

[22] Vgl. „Online Reichweiten Monitor 2003 II“ der Arbeitsgemeinschaft Internet Research (AGIREV). http://www.agirev.de/download/AGIREV_ORM2003_II.pdf

[23] Vgl. Storrer (1999: 33)

[24] Berk/Devlin (1991: 543)

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Details

Titel
Kohaerenz in Hypertexten Bedingungen und Strategien der Hypertextkommunikation
Hochschule
Universität Hamburg
Note
1,1
Autor
Jahr
2004
Seiten
97
Katalognummer
V42836
ISBN (eBook)
9783638407731
Dateigröße
2850 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit gibt einen Überblick über die Bedingungen und Strategien der Hypertextkommunikation. Zu diesem Zweck wird ein Abriß der Entwicklung sowohl des Hypertextkonzepts als auch der konventionellen Textkommunikation gegen. Anschließend wird die Bedeutung der grundlegenden Organisationsprinzipien von Texten für Hypertexte untersucht. Im Zentrum des Interesses steht dabei der Begriff der Nichtlinearität.
Schlagworte
Kohaerenz, Hypertexten, Bedingungen, Strategien, Hypertextkommunikation
Arbeit zitieren
Dennis Kaltwasser (Autor:in), 2004, Kohaerenz in Hypertexten Bedingungen und Strategien der Hypertextkommunikation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42836

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