Der berühmte Unvollständigkeitssatz von Gödel, demzufolge in hinreichend starken formalen Systemen notwendig Aussagen existieren, die weder beweisbar noch unbeweisbar sind, spielt für die moderne Mathematik kaum eine Rolle. Man möchte meinen, jener Satz hätte das Potential, einen Grundlagenstreit permanent brennen zu lassen, einen Grundlagenstreit, der die Formalisierung und Axiomatisierung der Mathematik wiederum angreift, etwa im Namen eines verlorengegangenen Gegenstandsbezuges.
Nun, gerade die Anwendungen sind kaum an einem Grundlagenstreit interessiert, solange die Mathematik als Hilfswissenschaft effektiv bleibt und das tut sie offensichtlich: Flugzeuge und Raketen fliegen, Tunnel und Brücken stürzen relativ selten ein, wen kümmert da noch die Frage, ob das Unendliche existiert? Ohne Zweifel ist die Mathematik effektiv darin, „im anschaulichen Kontinuum verborgene Eigenschaften des Kontinuierlichen [...] zu erfassen.“ Das Unendliche aber ist schon ein integraler Begriff im Raum der reellen Zahlen. In diesem Sinne dürfte die Rede von der Mathematik als einer axiomatischen Wissenschaft heute schlicht Gemeinplatz sein; die konventionelle oder fast schon traditionelle Definition der Zahl ist dann eben genau das, was die Axiome in sich logisch vorgeben. Ein Intervall zwischen zwei natürlichen Zahlen beispielsweise umfasst so gemäß dem Vollständigkeitsaxiom unendlich viele reelle Zahlen usw. Schon eher in Vergessenheit dürfte dabei geraten, dass die Zahl in der Mathematik erst um die Wende zum 20. Jahrhundert die Größe abgelöst hat; und dies bezeichnenderweise zum in etwa gleichen Zeitpunkt, an dem der Siegeszug der Mengenlehre, an sich also einer Theorie des Unendlichen, begann. Die Mengenlehre aber wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem umfassenden Aussagerahmen für die gesamte Mathematik überhaupt.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Gegenstandsbezug und Anwendungsorientierung
- Anschauung und Gegenstand
- Anschauung im Widerstreit
- Logizismus
- Pragmatismus
- Naturalismus und Prozess
- Anschauung und Mengenlehre
- Naivität, Paradoxien und Antinomien
- Axiomatische Mengenlehre
- Konstruktive Mengenlehre
- Zwiespältige mathematische Erfahrungen
- Zum Weder-Noch von Unendlichkeit und Endlichkeit
- Zählen und Diskurs
- Fazit und Ausblick
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit befasst sich mit der Frage, ob die Mengenlehre, die die moderne Mathematik maßgeblich geprägt hat, den Ansprüchen des Gegenstandsbezugs genügen kann. Sie untersucht die historische Entwicklung der Mengenlehre und stellt Kants Philosophie der Mathematik als Gegenentwurf zum rein systematischen Denken dar.
- Der Widerstreit zwischen Gegenstandsbezug und Systematik in der Mathematik
- Die Rolle der Anschauung in Kants Philosophie der Mathematik
- Die Entwicklung der Mengenlehre als eine Theorie des Unendlichen
- Die Frage, ob die Mengenlehre die Mathematik von den Zumutungen des Gegenstands befreit hat
- Die Relevanz der Geschichte der Mathematik für das Verständnis aktueller Debatten
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel der Arbeit führt in die Thematik ein und erläutert die Bedeutung von Gödels Unvollständigkeitssatz für die moderne Mathematik.
Das zweite Kapitel untersucht Kants Philosophie der Mathematik und seine Vorstellung von der Anschauung als einem zentralen Element des Erkenntnisprozesses. Es wird gezeigt, wie Kants Begriff der Anschauung den Gegenstandsbezug in der Mathematik gewährleisten soll.
Das dritte Kapitel widmet sich der Mengenlehre und ihrer historischen Entwicklung. Es werden die verschiedenen Ansätze, wie naive, axiomatische und konstruktive Mengenlehre, vorgestellt und deren Bedeutung für die Entwicklung der Mathematik diskutiert.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit der Philosophie der Mathematik, insbesondere mit der Rolle der Anschauung und des Gegenstandsbezugs. Schwerpunkte sind die Mengenlehre, Gödels Unvollständigkeitssatz, Kants Kritik der reinen Vernunft, der Wiener Kreis und der Pragmatismus.
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- Marcel Pilgermann (Autor), 2014, System versus Gegenstandsbezug oder kann die Mengenlehre auf Dauer der Anschauung ausweichen?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/429037